Angela Merkel - Ralph Bollmann - E-Book

Angela Merkel E-Book

Ralph Bollmann

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Beschreibung

Mit Angela Merkel zog 2005 erstmals eine Frau und ehemalige Bürgerin der DDR ins Kanzleramt ein. Aus «Kohls Mädchen», der Ministerin und Generalsekretärin der CDU, wurde die beliebteste deutsche Politikerin und eine der mächtigsten Frauen der Welt. Ralph Bollmann zeichnet in seiner grundlegenden Biografie den Lebensweg Merkels nach und erzählt mit kritischer Sympathie die Geschichte ihrer Kanzlerschaft, die von der Finanzkrise über die Flüchtlingskrise bis zur Covid 19-Pandemie enorme Anforderungen an sie stellen sollte. Sein glänzend geschriebenes Buch zeigt uns eine außergewöhnliche Frau im Zentrum der Macht, deren Politik ein ganzes Zeitalter geprägt hat. In der Regierungszeit von Angela Merkel begannen sich Gewissheiten aufzulösen. Die vertraute Weltordnung der Nachkriegszeit verschwand, eine neue Unsicherheit trat an ihre Stelle, zuletzt in der Corona-Krise sogar bis in den Alltag der Menschen hinein. Durch die Erfahrung des Systembruchs von 1989/90 war die ostdeutsche Politikerin darauf besser vorbereitet als viele ihrer Kolleginnen und Kollegen. Sie wurde nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil sie von den veränderungslustigen Deutschen alle Zumutungen konsequent fernhielt. Doch mit der Flüchtlingsdebatte endete diese Harmonie. Merkel konnte und wollte Deutschland nicht länger von den Weltläufen abschirmen und polarisierte selbst im Konflikt zwischen nationaler Abwehr und Weltoffenheit. Ralph Bollmanns Biografie ist nicht nur ein fesselndes Lesevergnügen, sondern auch eine eindrucksvolle Geschichte Deutschlands und Europas seit der Wende.

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Ralph Bollmann

Angela Merkel

Die Kanzlerin und ihre Zeit Biografie

C.H.Beck

Zum Buch

«Kenntnisreich und detailliert (…) Dieses Buch setzt, sorgfältig mit Nachweisen versehen, fürs Erste einen Standard für die Merkel-Forschung.»

die tageszeitung, Stefan Reinecke

«Bollmanns Biographie über Angela Merkel ist das derzeit beste Buch über ihre Regierungszeit, ausgesprochen informativ und ausgewogen, klarsichtig und ein Genuss zu lesen.»

FOCUS Online, Thomas Jäger

In der Regierungszeit von Angela Merkel begannen sich Gewissheiten aufzulösen. Die vertraute Weltordnung der Nachkriegszeit verschwand, eine neue Unsicherheit trat an ihre Stelle, zuletzt in der Corona-Krise sogar bis in den Alltag der Menschen hinein. Durch die Erfahrung des Systembruchs von 1989/90 war die ostdeutsche Politikerin darauf besser vorbereitet als viele ihrer Kolleginnen und Kollegen. Sie wurde nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil sie von den veränderungsunlustigen Deutschen alle Zumutungen konsequent fernhielt. Doch mit der Flüchtlingsdebatte endete diese Harmonie. Merkel konnte und wollte Deutschland nicht länger von den Weltläufen abschirmen und polarisierte selbst im Konflikt zwischen nationaler Abwehr und Weltoffenheit.

Ralph Bollmanns Biografie ist nicht nur ein fesselndes Lesevergnügen, sondern auch eine eindrucksvolle Geschichte Deutschlands und Europas seit der Wende.

Über den Autor

Ralph Bollmann ist Historiker, Journalist und wirtschaftspolitischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Er hat bereits 2013 ein Buch über Angela Merkel und die Deutschen geschrieben und für diese Biografie u.a. zahlreiche Gespräche mit Zeitgenossen und Weggefährten von Angela Merkel geführt.

Inhalt

Vorwort

Erster Teil: Pfarrhaus und Physik (1954–1989)

1. Herkunft (1954–1961)

Hamburg

Posen

Danzig

Quitzow

Templin

Der Vater

Die Mutter

Mauerbau

2. Schule im Sozialismus (1961–1973)

Außenseiterin

1968

Bekenntnisse

Leistungen

Kulturstunde

Abschiede

3. Studium in Leipzig (1973–1978)

Großstadt

Physik

Heirat

Diplom

4. Berliner Bohème (1978–1989)

An der Akademie

Hausbesetzerin

Urlauberin

Lebensgefährtin

Kollegin

Aktivistin

Doktorin

Prägungen

Zweiter Teil: Politik als Beruf (1989–2008)

1. Wende (1989/90)

Hoffnung im Osten

Aufbruch in der DDR

Grenzöffnung

Schritt in die Politik

Parteisprecherin

Volkskammerwahl

Regierungssprecherin

Einigungsvertrag

Abgeordnete

2. Ministerin in Bonn (1991–1998)

Kohls Mädchen

Frauenministerin

Machtfragen

Die Ministerin, die sich enthält

Jugendgewalt

Umweltministerin

Atomphysik

Klimakonferenz

Intimfeind Schröder

Transportprobleme

Kanzlerdämmerung

3. Opposition (1998–2005)

Generalsekretärin

Parteispenden

Scheidungsbrief

Regionalkonferenzen

Parteivorsitzende

Missgriffe

Wolfratshausen

Oppositionsführerin

Agenda

Krieg

Ruck

Tätervolk

Leipzig

Merkels Präsident

Herbst des Missvergnügens

4. Kanzlerin auf Probe (2005–2008)

Machtwechsel

Elefantenrunde

Kanzlerin

Normalität

Regieren

Außenkanzlerin

Innenpolitik

Dritter Teil: Krisenjahre: die Weltpolitikerin (2008–2021)

1. Finanzkrise (2008–2009)

Linsensuppe

Regieren auf Sicht

Lehren aus Lehman

Schwäbische Hausfrau

Gespenstischer Wahlkampf

Schwarz-Gelb

2. Euro (2010–2013)

Griechenland

Kehrtwende

Vernunfteuropäerin

Düsseldorfer Debakel

Ausnahmezustand

Wehrpflicht

Lagerkanzlerin

Fukushima

Libyen

Marktkonforme Demokratie

Tränen in Cannes

Wulff und Gauck

Röttgen

Ende der Hegemonie

Griechische Lösung

Alternative für Deutschland

Zwischenbilanz Euro

3. Ukraine (2013–2015)

Vor dem Triumph

Im Zenit

Der Bruch

Im Zentrum des Krisenmanagements

Von der Normandie nach Minsk

Tsipras

Griechischer Showdown

4. Flüchtlinge (2015–2016)

Rostock

Hass im Herzen

800.000

Heidenau

«Wir schaffen das»

Die Nacht der Entscheidung

Willkommenskultur

Grenzschließung?

Motive

Wirkungen

Herbst des Missvergnügens

Bayerische Demütigung

Silvester und die Folgen

Durchbruch der AfD

Türkisches Dilemma

5. Annus horribilis (2016–2017)

Brexit

Terror in Deutschland

Geständnisse

Trump

Kanzlerin der freien Welt

Ende des Westens?

Schulz

Macron

Zäsuren

Ehe für alle

Rückkehr der Flüchtlinge

6. Dämmerung (2017–2020)

Grenzen der Macht

Jamaika

Große Koalition

Zurückweisung

Maaßen

Abschiede

Klimakanzlerin

Neue Freiheit

Vermächtnisse

Rechte Gefahr

7. Corona (2020–2021)

Lockdown

Lockerung

Dauerwelle

Nachfolge

Kassandra

Bilanz

Nachbemerkung und Dank

Nachwort zur Paperbackausgabe

Anmerkungen

Vorwort

Erster Teil:Pfarrhaus und Physik (1954–1989)

1. Herkunft (1954–1961)

2. Schule im Sozialismus (1961–1973)

3. Studium in Leipzig (1973–1978)

4. Berliner Bohème (1978–1989)

Zweiter Teil:Politik als Beruf (1989–2008)

1. Wende (1989/90)

2. Ministerin in Bonn (1991–1998)

3. Opposition (1998–2005)

4. Kanzlerin auf Probe (2005–2008)

Dritter Teil:Krisenjahre: die Weltpolitikerin (2008–2021)

1. Finanzkrise (2008–2009)

2. Euro (2010–2013)

3. Ukraine (2013–2015)

4. Flüchtlinge (2015–2016)

5. Annus horribilis (2016–2017)

6. Dämmerung (2017–2020)

7. Corona (2020–2021)

Bilanz

Nachwort zur Paperbackausgabe

Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Quellen

Amtliche Dokumente und Reden

Gedruckte Quellen und Selbstzeugnisse

Durchgehend ausgewertete Zeitungen

Weitere benutzte journalistische Quellen

Gespräche

II. Literatur

Abbildungsverzeichnis

Personenregister

Dem Andenken an Bettina

Vorwort

Es war im November 2015, ein eiskalter, aber ziemlich sonniger Novembertag in Hamburg. Angela Merkel hatte über die Jackenfarbe an diesem Morgen nicht nachdenken müssen, Schwarz stand außer Frage. Die Bundeskanzlerin sprach in der Hauptkirche St. Michaelis auf der Trauerfeier für Helmut Schmidt, den im Alter von 96 Jahren verstorbenen Amtsvorgänger. Sie hielt eine ihrer persönlichsten Reden, zeichnete so etwas wie ein Selbstporträt in der dritten Person. Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen: Merkel wagte es sogar, Schmidts berüchtigtsten Satz zustimmend zu zitieren, ihn sich zu eigen zu machen. Den nüchternen Pragmatismus des Verstorbenen rühmte sie, seine Resistenz gegenüber ideologischer Einengung. Sie lobte Schmidts Überzeugung, dass eine Entscheidung nur dann reif zu fällen war, wenn sie vorher durchdacht und mit Vernunft durchdrungen war. Und sie schloss mit einer Bilanz seiner Regierungszeit: Die Leistungen dieses Bundeskanzlers zeigten sich in den Krisen, die er zu bewältigen hatte. Ein pragmatischer Politiker, der über Entscheidungen lange nachdenkt und der sich während seiner Amtszeit als Regierungschef vor allem als Krisenmanager bewähren muss: Hier sprach eine Frau über sich selbst, die damals ziemlich genau zehn Jahre im Amt war – und über die es wie bei Schmidt lange Zeit hieß, sie sei die richtige Kanzlerin in der falschen Partei.[1]

Das Bekenntnis erstaunte umso mehr, als der bei den Deutschen so beliebte Hamburger nicht immer positiv über die Nachfolgerin gesprochen hatte. Aber die Parallelen liegen auf der Hand. Ähnlich wie Schmidt war Merkel eine Kanzlerin, die das Land durch eine Serie von zuvor kaum vorstellbaren Krisen steuerte. Wo Schmidt mit den ökonomischen Problemen nach dem Ende des Wirtschaftswunders kämpfte oder mit dem Terrorismus in Deutschland, hatte sich Merkel mit der Finanz-, Euro-, Ukraine- und Flüchtlingsfrage auseinanderzusetzen, die spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten in eine umfassende Krise des Westens mündeten; ein Virus, das die Welt überrollte wie einst eine Sturmflut die Hansestadt, kam am Ende ihrer Amtszeit noch hinzu. Der nüchterne Pragmatismus, mit dem Schmidt und Merkel diesen Herausforderungen begegneten, beruhte in beiden Fällen auf der Erfahrung eines historischen Bruchs: Helmut Schmidt war 26 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, Angela Merkel erlebte mit 35 Jahren den Zusammenbruch des Staates, in dem sie aufgewachsen war.

Auf den ersten Blick stehen die Krisenkanzler Schmidt und Merkel im Schatten zweier Gründerfiguren. Konrad Adenauer prägte die Bundesrepublik in ihrer Anfangszeit nach 1949, vor allem, was ihre Integration in den Westen betraf. Helmut Kohl vollzog 1990 den Beitritt der DDR mit einem Sinn für die Erfordernisse der historischen Stunde, und er versuchte das von Adenauer begonnene Projekt der europäischen Einigung zum Abschluss zu bringen. In der Reihe der prägenden Kanzler wäre trotz seiner kurzen Amtszeit noch Willy Brandt zu nennen, dessen Name mit der Entspannungspolitik und einer inneren Demokratisierung der Bundesrepublik verbunden ist.

Solche Leistungen stehen für sich. Das Urteil über die Krisenmanager hängt dagegen von Erfolg oder Misserfolg ab, auch über das Ende der Amtszeit hinaus: Werden die Deutschen dereinst die «Ära Merkel» zu einer guten alten Zeit verklären, die trotz aller Krisen noch Sicherheit und Kontinuität bot? Oder wird Angela Merkel als eine Frau gelten, die durch ihre Politik den Niedergang des Westens wenn nicht verursacht, so doch zumindest nicht aufgehalten hat?

Lange Zeit war die Kanzlerin bei den Wählern wohlgelitten, weil sie alle Unbilden der Welt von ihnen fernhielt, obwohl sie selbst diesen risikoscheuen Zug der Deutschen skeptisch sah. Mit der Ankunft der Flüchtlinge im Spätsommer 2015 änderte sich das, wenigstens bei einem Teil der Bevölkerung. Als die vermeintlich stets Lavierende auf einmal eine Richtung vorgab, war es manchen Kritikern von einst auch wieder nicht recht. Andere bewunderten die neue Entschlossenheit, bisweilen sogar, wenn sie Merkels Vorgehen gar nicht billigten.

Dabei war eigentlich nicht die Flüchtlingsfrage die Wasserscheide in ihrer politischer Karriere, sondern die Finanzkrise im Jahr 2008. Hatten Merkels spektakulärem Aufstieg von der Pressesprecherin einer ostdeutschen Oppositionsbewegung zur ersten Frau an der Spitze der damals drittgrößten Wirtschaftsnation der Welt noch der Sinn und das Ziel gefehlt, so wurde sie nun zur Krisenkanzlerin. Ein Ereignis nach dem anderen stellte den Fortbestand der vertrauten Welt in Frage. Angela Merkel, die 1989/90 bereits den Zusammenbruch eines Systems und die Umwälzung ihres gesamten Alltagslebens erfahren hatte, war darauf womöglich besser vorbereitet als andere Politiker. Dass sie die einzige Politikerin aus dem früheren Ostblock an der Spitze eines überwiegend westeuropäischen Staates war, prägte ihre Politik nachhaltig.

Die Krisen veränderten allerdings auch die Rolle Deutschlands und Europas in der Welt. Helmut Schmidt nutzte das wirtschaftliche Gewicht der Bundesrepublik gezielt, um ihr – etwa über die Gipfeltreffen der G7 – auch politischen Einfluss zu verschaffen. Das hatte Merkel gar nicht mehr nötig. Unter ihrer Führung fiel den Deutschen eine Rolle zu, die sie bestenfalls widerwillig annahmen. Wo sie sich auch umsahen: Auf einmal war niemand mehr da, in dessen Schatten sich die Bundesrepublik hätte kleinmachen können. Schon in der Schuldenkrise richteten sich alle Augen auf das große und vergleichsweise stabile Land in der Mitte des Kontinents, und im Konflikt um die Ukraine fiel Deutschland die entscheidende Vermittlerfunktion zu. Das bodenständige Image Merkels, das sie mit Anekdoten über Kartoffelsuppe oder Pflaumenkuchen selbst förderte, machte die neue Macht der Deutschen für die Nachbarn erträglicher.

Internationale Beobachter blickten früher und schärfer auf die Person Merkel als die Deutschen selbst. Während die meisten Bundesbürger zumindest bis 2015 annahmen, über die Kanzlerin sei alles gesagt, wuchs das Interesse im Ausland schon früh. Das lag nicht nur an der zunehmenden Bedeutung des von ihr regierten Landes, sondern auch an ihrer Lebensgeschichte, deren Besonderheiten man aus der Ferne besser erkannte, bisweilen allerdings auch überzeichnete. Kindheit und Jugend im Sozialismus, die vermeintlich unscheinbaren Jahre als Ministerin unter Kohl, der plötzliche Aufstieg in der Parteispendenaffäre, der unerwartete Machterhalt gegen alle Opponenten aus der eigenen Partei – all dies gelang Merkel aus der Rolle einer dreifachen Außenseiterin heraus: Unter den maßgeblichen Akteuren der deutschen Politik war sie die einzige Ostdeutsche, eine von wenigen Frauen und eine Naturwissenschaftlerin unter vielen Juristen.

Das Unwahrscheinliche dieses Aufstiegs nährte, zumindest an den politischen Rändern, eine ganze Reihe von Verschwörungstheorien, von gezielt gestreuten Behauptungen über eine angebliche Stasi-Mitarbeit bis hin zu angeblichen Plänen für eine «Umvolkung» Deutschlands. Bis in die Mitte des politischen Spektrums reichte die Vermutung, es müsse sich hinter der Fassade der Harmlosigkeit irgendein Geheimnis verbergen. Dabei artikulierte Merkel ihre Absichten oft deutlicher, als Gegner und Bewunderer ihr unterstellen. Wer sich ihre Reden oder Interviews mit dem Abstand einiger Jahre noch einmal vornimmt, der entdeckt an entscheidenden Wendepunkten erstaunlich präzise Beschreibungen ihrer Pläne und Absichten, die sogar die Zeitgenossen oft überhörten, wohl wegen des spröden Tons, in dem sie vorgetragen wurden.

In der Spätphase ihrer Karriere polarisierte die einst so konsensual agierende Merkel die deutsche Öffentlichkeit so stark, wie es in angeblich postideologischen Zeiten schon lange kein Politiker vermocht hatte. Dem Ruf «Merkel muss weg» einer lautstarken Minderheit stand eine noch immer beträchtliche Popularität in einer breiten gesellschaftlichen Mitte gegenüber, die vom liberalen Flügel der Unionsparteien bis weit ins rot-grüne Spektrum reichte. Das hing mit einer neuen Spaltung der westlichen Gesellschaften zusammen, die sich in Deutschland später vollzog als andernorts. Wie jeder Politiker handelte Merkel im Schnittpunkt von Interessen und übergreifenden Kräften der Geschichte, sie war in ihren Entscheidungen wie jeder ihrer Vorgänger nicht frei. Der globale Großkonflikt zwischen liberalen Kosmopoliten und ängstlichen Protektionisten überschattete die letzten Jahre ihrer Kanzlerschaft, ließ die Regierungschefin allerdings zu einer vorher nicht gekannten Form der Deutlichkeit finden: Nun galt sie als eine der letzten Verteidigerinnen der liberalen Demokratie.

Viele Bücher sind über Merkel veröffentlicht worden, im Ausland sogar noch mehr als hierzulande. Allerdings erschienen in deutscher Sprache bislang nur vier klassische Biografien, die letzte davon im Jahr 2005, wenn man von späteren Überarbeitungen absieht – also zu Beginn von Merkels Kanzlerschaft. Seither ließ sich, mitten in die laufenden Ereignisse hinein, kein vollständiger Abriss ihrer Lebensgeschichte schreiben. Jetzt, am Ende ihrer Amtszeit, ist die Zeit dafür reif.

Erster Teil:

Pfarrhaus und Physik (1954–1989)

1. Herkunft (1954–1961)

Hamburg

Angela Merkel wurde am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren, wo sie die ersten Monate ihres Lebens verbrachte. Ihre Mutter kam aus Danzig, als Deutsche hatte sie die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen müssen. Merkels Vater war der Sohn eines Polen, der aus Posen stammte und der Stadt nach dem Ersten Weltkrieg den Rücken gekehrt hatte. Das ist erst einmal nichts Ungewöhnliches. Wie viele der heute lebenden Bundesbürger polnische Vorfahren haben, das lässt sich schon an den Familiennamen ablesen. Und die Zahl der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten, die nach 1945 in den vier Besatzungszonen alles andere als willkommen waren, betrug rund 13 Millionen.

Merkels Familiengeschichte, auch die erste Hälfte ihres eigenen Lebens spiegelt das Deutschland des 20. Jahrhunderts. Lange war dieses Land ein chaotischer Faktor der europäischen Politik – mit unklaren Grenzen, wechselnden Währungen, zerrütteten Finanzen, stets neuen politischen Regimen, als Urheber von Kriegen. Die alte Bundesrepublik suchte mit ihrer Stabilitätskultur, dem Streben nach Sicherheit, dieser Geschichte zu entkommen. Das gelang, und entgegen vielen Befürchtungen kehrte das vergrößerte Deutschland zumindest fürs Erste nicht in den alten Zustand zurück, erwies sich in den Krisenjahren nach 2008 sogar als der Stabilitätsanker des Kontinents.

Das geschah ausgerechnet unter der Führung einer Kanzlerin, der das Sicherheitsdenken der meisten Deutschen zunächst sehr fremd war, auch weil sie wusste, dass es gegen künftige Unsicherheiten nicht schützt. Mehr noch: Ihre Aufgabe wurde es, das Land an eine Welt heranzuführen, in der die überwunden geglaubten Risiken Stück für Stück zurückkehrten. Man muss sich ihre Familiengeschichte vor Augen führen, um ihre tiefe Prägung durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen.

Posen

Väterlicherseits kam die Familie aus Posen. Der Großvater Ludwig Kaźmierczak wurde dort 1896 in einem Mietshaus in der Grubenstraße 14 als Sohn eines Dienstmädchens geboren, der Vater hatte das Weite gesucht. Die Provinz gehörte zu den Gebieten, die durch die polnischen Teilungen im späten 18. Jahrhundert zu Preußen gekommen waren, obwohl die Bewohner – vor allem auf dem Land – mehrheitlich polnisch sprachen. In Posen selbst bezeichneten sich von 158.000 Einwohnern am Ende der preußischen Zeit 60.000 als Deutsche. Polen und Deutsche lebten hier jahrhundertelang zusammen, anders als in rein deutschen Städten wie Breslau oder Stettin, die erst nach 1945 zu Polen kamen.[1]

Das förderte jedoch nicht das gegenseitige Verständnis, vielmehr wurde die Stadt während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Schauplatz eines von beiden Seiten so kleinlich wie bösartig geführten Nationalitätenkonflikts. Diese Phase begann mit dem «Kulturkampf» des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, sie setzte sich mit der teils erzwungenen Polonisierung zwischen den beiden Weltkriegen fort und endete mit der Vertreibung der verbliebenen Deutschen nach 1945. Der Posener Aufstand des Jahres 1919 gab den unmittelbaren Anstoß zur Wiedererrichtung des polnischen Staates.[2]

In dieses Konfliktfeld hatte sich Merkels Großvater Ludwig Kaźmierczak einzuordnen. Zunächst tat er das offenbar auf der polnischen Seite. Ein entfernter Onkel der Kanzlerin präsentierte der polnischen Presse ein Foto, das deren Großvater wohl Anfang 1919 in der Uniform der «Blauen Armee» zeigt, die unter der Führung des früheren k. u. k. Generals Józef Haller erst in Frankreich gegen die Deutschen, dann im neu erstandenen Polen gegen Sowjetrussland focht.

Im Jahr 1915 war Kaźmierczak als 19-Jähriger, wie alle männlichen Posener gleich welcher Nationalität, in die preußische Armee einberufen worden. An der Westfront gelangte er wohl in französische Kriegsgefangenschaft, vielleicht desertierte er auch; jedenfalls scheint er sich – wie zahlreiche andere Polen aus deutschen oder österreichischen Einheiten – der Haller-Armee angeschlossen zu haben. Kurz vor Kriegsende kam die Truppe bei den Kämpfen in der Champagne noch zum Einsatz; daraus wurde später die Meldung, ausgerechnet der Großvater der deutschen Kanzlerin habe gegen Deutschland gekämpft.[3]

Unüberwindbar scheinen Kaźmierczaks Vorbehalte gegen die preußische Besatzungsmacht allerdings nicht gewesen zu sein. Als Posen nach dem Versailler Vertrag 1920 offizieller Bestandteil des neu geschaffenen polnischen Staates wurde, optierte Merkels Großvater für Deutschland und zog gemeinsam mit seiner aus Berlin stammenden Verlobten Margarethe, geborene Pörschke, in die deutsche Hauptstadt. Am 6. August 1926 kam ein Sohn zur Welt: Merkels Vater wurde als Horst Kaźmierczak in Berlin-Wedding geboren. 1930 ließ der Großvater den Familiennamen zu «Kasner» eindeutschen.[4]

Merkels Großvater wohnte nun in Berlin-Pankow und arbeitete bei der Berliner Schutzpolizei, zweimal wurde er befördert, 1931 zum Oberwachtmeister und 1943 zum Hauptwachtmeister. Möglicherweise war die Polizeilaufbahn ein Grund für den Namenswechsel, der offenbar mit einem Übertritt von der katholischen zur protestantischen Konfession einherging. Die Berliner Verhältnisse, sagte die Kanzlerin später mit Blick auf diese Frage, hätten sich eben schon damals durch eine gewisse Unübersichtlichkeit ausgezeichnet.[5] In diesem Fall konnte die Verwandlung eines katholischen Polen in einen protestantischen Preußen eher als recht übersichtlicher Fall von Assimilation gelten.

Seine Heimatstadt Posen besuchte Merkels Großvater ein letztes Mal zur Beerdigung seiner Mutter im Jahr 1943, also während der brutalen deutschen Okkupation, wie sich der Posener Onkel erinnerte. «Er ging zur Bäckerei und kaufte uns Kindern Mohnbrötchen», berichtete er. «Ich vergesse nie diesen Duft. Die Polen durften während der deutschen Besatzung keine Brötchen kaufen.»[6] Der Großvater starb 1959 im Alter von 63 Jahren, fünf Jahre nach der Geburt der Enkeltochter Angela. Seine Witwe Margarethe überlebte ihn um viele Jahre. Sie bekam später regelmäßig Besuch von der heranwachsenden Enkelin, die sich als Jugendliche im kleinen Templin nach der hauptstädtischen Hochkultur sehnte: In den Ferien bin ich zu meiner Großmutter nach Berlin gefahren.[7]

Merkels Vater, 1926 noch als Horst Kaźmierczak katholisch getauft, wurde 1940 protestantisch konfirmiert. Der Geburtsjahrgang wies ihn als Angehörigen einer Generation aus, die man im Westen die «skeptische» nannte: durch den Krieg aller Illusionen beraubt, verantwortungsbewusst, dem Hedonismus abhold. Nach dem Krieg entschloss er sich zum Studium der Evangelischen Theologie. Das wäre theoretisch auch in der DDR möglich gewesen. Die Theologischen Fakultäten waren nach Kriegsende von der russischen Besatzungsmacht wieder eröffnet worden, allerdings mit bald einsetzendem politischen Druck. Daneben gab es kirchliche Ausbildungsstätten in Naumburg, Leipzig und Berlin; das Ostberliner Sprachenkonvikt wurde jedoch erst nach dem Bau der Mauer in eine theologische Ausbildungsstätte umgewandelt, als Ersatz für die Kirchliche Hochschule im Westberliner Bezirk Zehlendorf.[8]

Die Bedingungen in diesen Einrichtungen, die sich erst in der späteren DDR konsolidierten, waren während der Anfangsjahre schwierig und unsicher. So lässt sich Merkels Hinweis verstehen, dass man im Osten nicht Theologie studieren konnte.[9] Auch dürfte Kasners intellektueller Anspruch, den er später auch an seine Kinder weitergab, den angehenden Theologen an namhafte Universitäten gelockt haben. So schrieb er sich 1948 an der Heidelberger Ruprecht-Karls-Universität ein, ging anschließend nach Bethel und schließlich nach Hamburg, wo er 1954 sein Examen ablegte. Den Wunsch, dauerhaft im Westen zu bleiben, hatte Kasner mit seinem Studium in der Bundesrepublik nicht verbunden. Er sah sich als einen Mann, der sich im Auftrag seiner ostdeutschen Kirche im Westen ausbilden ließ, um anschließend in deren Dienste zurückzukehren.[10] Das war damals ein üblicher Weg, den auch die späteren Landesbischöfe von Sachsen, Thüringen und Berlin-Brandenburg gingen: Johannes Hempel, Werner Leich und Gottfried Forck. Schließlich gehörten die ostdeutschen Landeskirchen damals noch der gesamtdeutschen EKD an, erst 1969 wurde in der DDR ein eigener Bund der Evangelischen Kirchen gegründet, was Kasner sehr befürwortete.

Danzig

In Hamburg lernte der angehende Theologe eine Lehramtsstudentin für Latein und Englisch kennen. Die zwei Jahre jüngere Herlind Jentzsch war am 8. Juli 1928 in Danzig-Langfuhr zur Welt gekommen, ein Jahr später als der bekannteste Sohn der Stadt, der Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Schon ihr Vater Willi Jentzsch hatte dort den Beruf des Gymnasiallehrers ausgeübt und eine Schule geleitet. Er stammte ursprünglich aus Wolfen bei Bitterfeld, seine Frau aus Glogau in Schlesien. Bevor die beiden nach Danzig kamen, hatten sie eine Weile im ostpreußischen Elbing gelebt.[11]

Als Merkels Mutter geboren wurde, stand die Freie Stadt Danzig nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags unter der Aufsicht des Völkerbunds. Die mehrheitlich deutschsprachige Bevölkerung strebte nach einer Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich. Um den rechtlichen Status der Stadt stritt man auf kleinlichste Weise, etwa in Bezug auf die Frage, wie viele Briefkästen die polnische Post in dem Stadtstaat aufstellen dürfe. Im Alter von elf Jahren erlebte die kleine Herlind den Beginn des Zweiten Weltkriegs, der hier in Danzig von den Deutschen begonnen wurde. Geschickt nutzte der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler die komplizierte völkerrechtliche Lage der Stadt aus. Statt seine Armee auf geradem Weg in Polen einmarschieren zu lassen, ließ er zunächst den polnischen Militärstützpunkt auf der Westerplatte in der Nähe der Danziger Hafeneinfahrt sowie das polnische Postamt der Stadt besetzen. Beides waren exterritoriale Einrichtungen des polnischen Staates, deren Existenz der Versailler Vertrag ausdrücklich garantierte.

Der Krieg führte die traditionsreiche Hansestadt am Ende nicht zurück nach Deutschland, sondern machte sie nunmehr ganz zum Bestandteil Polens. Die deutsche Mehrheitsbevölkerung musste Danzig verlassen, unter den Flüchtlingen befand sich auch die Familie Jentzsch. An eine baldige Rückkehr war nicht zu denken: Der Weg in die alte Heimat blieb durch die politischen Verhältnisse versperrt, wenngleich viele Vertriebene diesen Verlust damals noch nicht als dauerhaft akzeptierten. Bis auf weiteres schien die Perspektive für Herlind Jentzsch klar zu sein: Sie war nun zu einer Hamburgerin geworden und würde nach dem Ende ihres Studiums in der neu gegründeten Bundesrepublik als Lehrerin arbeiten.

Quitzow

Aus dieser Lebensplanung wurde nichts. Das war bereits beschlossene Sache, als die inzwischen verheiratete Herlind Kasner ihr erstes Kind zur Welt brachte. Am 17. Juli 1954, neun Tage nach ihrem 26. Geburtstag, gebar sie im Eimsbütteler Krankenhaus Elim ihre Tochter, am selben Tag, an dem die Bundesversammlung in Westberlin Theodor Heuss ein zweites Mal zum Präsidenten wählte. Das Mädchen erhielt den Namen Angela, zu Deutsch «Engel». Später sollte diese Tochter Wert darauf legen, dass man ihren Namen auf dem ersten «A» betonte, wie im Westen üblich. Die Berliner hielten sich nicht daran und legten den Akzent auf das «e», so auch der erste demokratisch gewählte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, dessen stellvertretende Regierungssprecherin Merkel war. Er wisse um den Aussprachewunsch, erklärte er später einem Reporter. «Aber dann vergisst man’s ja doch immer wieder.»[12]

«Es ist ein Mädchen», titelte die taz zu diesem Bild, als Angela Merkel im Jahr 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wurde.

Die Folgen des Krieges waren 1954 allenthalben noch sichtbar, das galt in Hamburg noch mehr als andernorts. Erst im Jahr vor Angela Kasners Geburt hatte die Stadt die Trümmerräumung für beendet erklärt und in Anwesenheit des Bundespräsidenten Theodor Heuss den Alsterpavillon sowie die neue Lombardbrücke eröffnet.[13] Nach dem kurzen wirtschaftlichen Einbruch, den Währungsreform und Preisfreigabe 1948 ausgelöst hatten, ging es nun unverkennbar aufwärts, auch wenn die Zerstörungen das Stadtbild noch lange bestimmten.

Als Angela Merkel in Hamburg zur Welt kam, stand bereits fest, dass sie hier nicht aufwachsen würde. Ihr Vater hatte gerade sein theologisches Examen hinter sich gebracht und eine Pfarrstelle auf einem kleinen Dorf in der DDR angetreten. Frau und Kind sollten nach der Geburt so schnell wie möglich folgen, was drei Monate später auch geschah. Den Sommer verbrachten die beiden noch bei Angelas Großmutter in der Eimsbütteler Isestraße. Auch nach dem Umzug blieben die Kontakte eng. Als in Templin Angelas kleine Schwester geboren wurde, schickten die Eltern ihre Älteste für zehn Wochen nach Hamburg, und später verdankte sie den Paketen der Großmutter unter anderem die begehrten Jeans aus dem Westen.

Westdeutsche Nachgeborene haben viel darüber gerätselt, was den Vater der späteren Bundeskanzlerin zu dem Schritt in den Osten bewog. Spätestens seit dem gescheiterten Arbeiteraufstand vom 17. Juni des Vorjahres nahmen weitaus mehr Menschen den umgekehrten Weg und siedelten von Ost- nach Westdeutschland über. Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 1954 kamen 180.000 Menschen über die Zonengrenze in die Bundesrepublik, während des gesamten Zeitraums von 1949 bis zum Mauerbau 1961 waren es rund 2,5 Millionen. Horst Kasner berichtete später selbst, der Umzugsunternehmer habe damals gesagt, er kenne nur zwei Sorten von Leuten, die von West nach Ost wechselten: «Kommunisten und wirkliche Idioten.»[14]

Für einen Idioten hielt sich Kasner nicht, trotz aller Distanz zum Kapitalismus auch nicht für einen Kommunisten. Er war in den Westen gegangen mit der festen Absicht wiederzukommen. Er hat es immer so empfunden, dass er als Pfarrer eine Aufgabe hat, es müsse eben auch Pfarrer geben in der DDR, sagte die Tochter später.[15] Sie behauptete im Rückblick auch, diese Entscheidung des Vaters sei in der Familie kein kontroverses Thema gewesen, aber zumindest die Mutter haderte gelegentlich mit dem Schritt.[16]

Viele ostdeutsche Theologen kehrten nach einem Studienaufenthalt an westdeutschen Hochschulen in die DDR zurück, nicht nur die erwähnten prominenten Bischöfe. Es gingen sogar Pfarrer in den Osten, die anders als Kasner ursprünglich aus Westdeutschland stammten. Sie wollten der bedrängten Kirche helfen und entschieden sich bewusst gegen den bequemen Weg des materiellen Wohlstands. «Wir wollten nicht bei den Fleischtöpfen Ägyptens herumhängen. Wir wurden doch im Osten gebraucht», sagte Horst Kasner später.[17] Bei anderer Gelegenheit formulierte er es so: «Ich wäre auch nach Afrika gegangen, wenn man mich geschickt hätte.»[18]

Ohnehin waren die deutschen Welten bis zum Mauerbau nicht so getrennt wie in späteren Jahrzehnten. Das betraf zunächst Alltag und Lebensgefühl, die auf beiden Seiten der Systemgrenze von der Kargheit der Nachkriegszeit gekennzeichnet waren. Auch im Westen wurden seinerzeit noch viele Wohnungen mit Kohle beheizt, nur eine winzige Minderheit der Haushalte verfügte über einen eigenen Telefonanschluss, und auf fast allen Bahnstrecken waren Dampfloks unterwegs. Die wirtschaftliche Überlegenheit des Kapitalismus zeichnete sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht so überwältigend ab wie später, und der Wiederaufbau schritt auch im Osten voran, mit spektakulären Projekten wie der Berliner Stalinallee. 1957 löste der Start der ersten sowjetischen Rakete ins Weltall in den westlichen Ländern den «Sputnik-Schock» aus, der mit erheblichen Zweifeln an den eigenen technologischen Fähigkeiten verbunden war. Die Angst ging um, der Osten könne mit seinen dirigistischen Methoden womöglich doch ein größeres materielles Potenzial aus der Bevölkerung herauspressen.

Auch politisch waren die Grenzen in Angela Merkels Geburtsjahr fließender als später. Die Bundesrepublik war der Nato noch nicht beigetreten, der Warschauer Pakt noch nicht gegründet, die Spaltung Deutschlands keineswegs als vollendete Tatsache akzeptiert. Erst zwei Jahre zuvor hatte das Angebot Josef Stalins, der Wiedervereinigung eines neutralen Deutschland zuzustimmen, erhebliche Diskussionen ausgelöst: Beträchtliche Teile der Bevölkerung zweifelten daran, dass die brüske Ablehnung durch Konrad Adenauer richtig war.[19] Wenig später ließ dann der Tod des sowjetischen Diktators für kurze Zeit auf ein weltpolitisches Tauwetter hoffen. Auch der zunächst sehr starke Druck auf die ostdeutsche Kirche ließ in dieser Zeit nach.

Die SPD Kurt Schumachers und auch die protestantisch-konservativ geprägte Gesamtdeutsche Volkspartei lehnten Adenauers Politik der Westbindung ab, weil sie die Spaltung Deutschlands zementiere. Ähnlich argumentierte in seinen Leitartikeln Paul Sethe, Gründungsherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Aus diesem Milieu stammte der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, Befürworter einer neuen Ostpolitik. In der Praxis war der wichtigste Aspekt der noch nicht völlig vollzogenen Teilung, dass es in Berlin keine Mauer gab, auch die S-Bahn fuhr über die Sektorengrenze hinweg. Auf dem Weg über die Hauptstadt war der Rückweg für die Kasners also prinzipiell möglich. Sollten die Verhältnisse im Osten unerträglich werden, könnte sich die Familie wiederum in den Strom jener Millionen einreihen, die den Weg in den Westen nahmen. Ein Trost blieb das vor allem für Merkels Mutter, die als Frau eines Pfarrers in der DDR nicht an staatlichen Schulen unterrichten konnte.[20] Sie brachte für die Liebe das größere Opfer.

Im September 1954 wurde aus der gebürtigen Hamburgerin Angela Kasner also eine Ostdeutsche. Im Alter von acht Wochen hat man mich in einer Tragetasche nach Brandenburg gebracht.[21] Die Kasners kamen in eine karge Welt. Quitzow hieß das kleine Dorf in der nordwestbrandenburgischen Prignitz, in dem Horst Kasner seine erste Pfarrstelle antrat, heute gehört es zur Stadt Perleberg. Die Gegend hatte noch nie zu den wohlhabenden gezählt, die Folgen des Krieges taten ein Übriges. Nach 1945 wuchs die Bevölkerungszahl des Ortes durch die Ankunft von Flüchtlingen kurzzeitig von rund 300 auf fast 500 an. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte im Zuge der Bodenreform alle Landbesitzer enteignet, die über mehr als hundert Hektar verfügten. Damit wollte sie die Macht der ostelbischen Großgrundbesitzer brechen, im Anschluss an Diskussionen, die vor 1933 auch in nichtkommunistischen Kreisen geführt worden waren.

Das Land hatten, als die Kasners in Quitzow eintrafen, längst Neubauern erhalten, die sich allerdings schwertaten. Die Flächen waren für eine effiziente Bewirtschaftung meist zu klein, die Familien verfügten über zu wenige Geräte und besaßen kaum Erfahrung in der Landwirtschaft. Erste Produktionsgenossenschaften waren seit 1952 gegründet worden, die forcierte Kollektivierung setzte erst einige Jahre später ein. Ein beträchtlicher Teil von Kasners Gemeindemitgliedern waren solche Kleinbauern, Einheimische oder Vertriebene, die täglich ums Überleben kämpften.

Der Alltag der Pfarrersfamilie gestaltete sich kaum komfortabler. Sie lebte in einem kleinen Pfarrhaus, der Vater predigte in der wuchtigen mittelalterlichen Feldsteinkirche, ein Stück «Pfarrland» diente dem Lebensunterhalt der bald vierköpfigen Familie. Im Sommer 1957 bekam die dreijährige Angela einen Bruder, den die Eltern auf den Namen des Evangelisten Marcus tauften. Mein Vater musste Ziegen melken lernen, und meiner Mutter wurde von einer alten Frau beigebracht, wie man Brennnesselspinat macht. Die Beförderungsmittel waren ein seltsames Moped und ein Fahrrad.[22] Einen spärlich bedienten Bahnanschluss gab es, an einer Nebenstrecke nach Perleberg. Nicht nur die materiellen Bedingungen waren bescheiden. Auch die intellektuelle Anregung, die Horst und Herlind Kasner aus ihrer Studienzeit kannten, fehlte in der brandenburgischen Provinz vollkommen. Wäre Angela Kasner tatsächlich in einem gewöhnlichen Pfarrhaus auf dem Lande aufgewachsen: Sie hätte wichtige Prägungen für ihren späteren Aufstieg in der Politik nicht erhalten. Zu ihrem Glück blieb es nicht dabei.

Templin

Im Oktober 1957 erhielt der 31-jährige Horst Kasner vom Brandenburger Superintendenten Albrecht Schönherr einen Auftrag, der sein weiteres Leben und auch den Weg seiner Tochter prägte. Als Pfarrer in Quitzow hatte Kasner den Kirchenfunktionär kennengelernt, der später zum Vorsitzenden des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR aufstieg. Schönherr schätzte den jungen Kollegen wohl nicht nur wegen dessen pädagogischer Fähigkeiten. Die beiden Theologen verband neben der Prägung durch die Bekennende Kirche Dietrich Bonhoeffers während der Nazi-Diktatur auch ihre kirchenpolitische Position: Sie standen nicht nur wie eine Vielzahl von Pfarrern und Christen in Ost und West dem Kapitalismus westlichen Zuschnitts skeptisch gegenüber, sie plädierten auch dafür, dass sich die Kirche mit dem bestehenden Staat im Osten Deutschlands arrangieren solle. Schönherr sah die deutsche Teilung, wie später auch viele Intellektuelle in der Bundesrepublik, als zwingende und dauerhafte Konsequenz der nationalsozialistischen Verbrechen an.

Nun betraute Schönherr, der damals in der Stadt Brandenburg auch das Predigerseminar leitete, den jungen Pfarrer mit dem Aufbau eines Seminars für kirchlichen Dienst, das zunächst nicht nur Pfarrern offenstand, sondern sämtlichen Kirchenmitarbeitern und vor allem «Rüstzeiten» und Verwaltungskurse anbot. Nach und nach wurde es in ein reines Pastoralkolleg umgewandelt, es konzentrierte sich dann also ganz auf die theologische Aus- und Fortbildung von Pfarrern und Vikaren. Der erste Verwaltungslehrgang fand im Oktober 1958 statt. Die finanziellen Mittel für die Arbeit kamen zu einem beträchtlichen Teil aus der Bundesrepublik, bis zum Mauerbau 1961 holte Kasner regelmäßig Geld bar im Westen Berlins ab. Entstehen sollte die Einrichtung in der uckermärkischen Kleinstadt Templin, knapp 80 Kilometer nördlich von Berlin, weil dort gerade eine größere kirchliche Immobilie ihre alte Nutzung verlor.

«Ich habe damals gelernt, mit Behinderten normal umzugehen», sagte Angela Merkel später über ihre Zeit auf dem Waldhof.

Der «Waldhof», rund einen Kilometer außerhalb des historischen Zentrums gelegen, hatte seit 1854 als eine Art Erziehungsanstalt für unangepasste Jugendliche aus prekären sozialen Verhältnissen gedient. In der DDR-Zeit geriet die Einrichtung in Bedrängnis, weil die DDR für diesen Zweck die staatlichen «Jugendwerkhöfe» vorsah. Die Zahl der Schützlinge ging stark zurück, wohl auch deshalb gab es nun Platz; im Jahr nach Kasners Ankunft wurde die Einrichtung zwangsweise geschlossen. Stattdessen zogen nun geistig Behinderte in die Anstalt ein, die mit Kasners Seminar nur räumlich, aber nicht institutionell zusammenhing. Sie lebten dort anfangs in Verhältnissen, die eine kirchliche Festschrift rückblickend als «unzumutbar» beschrieb.[23] Erst die innerkirchliche Übertragung der Grundstücke an die Ostberliner Stephanus-Stiftung, die bis heute den Waldhof betreibt, ermöglichte 1972 den Ausbau der Infrastruktur und die Auflösung der großen Schlafsäle, kurz bevor Angela Kasner aus Templin wegging.

Über Raumfragen kam es immer wieder zu Reibereien zwischen den beiden Institutionen, die sich den Platz auf dem Waldhof teilen mussten. Der technische Leiter der Behinderteneinrichtung und spätere Nachwende-Bürgermeister von Templin, Ulrich Schoeneich, beschwerte sich, Kasner habe das Pastoralkolleg «auf Kosten der Behinderten» ausgeweitet.[24] Kasner wollte seine intellektuellen Ansprüche offenkundig nicht hinter die Bedürfnisse der Sozialfürsorge zurücktreten lassen. Unreflektiert ein «großes Herz» zu zeigen, das zählte jedenfalls nicht zu den Erziehungszielen im Hause Kasner.

Allerdings legte Merkel durch die Nähe zu den Behinderten, die bisweilen auch bei den Kasners im Garten aushalfen, jede Scheu im Umgang mit ihnen ab. Das zählte zu ihren frühen Fremdheitserfahrungen. Im Deutschland der sechziger Jahre blieben das ungewöhnliche Erlebnisse. Auch in der Bundesrepublik nannte man Menschen mit geistiger Behinderung damals noch so selbstverständlich «Schwachsinnige», wie man Personen mit körperlicher Einschränkung als «Krüppel» bezeichnete.

Ich habe damals gelernt, mit Behinderten normal umzugehen. Es gab dort Mongoloide, und viele von ihnen waren bettlägerig. Die wurden in der DDR unsäglich schlecht behandelt. Es gab keine pflegerische Erfahrung in den sechziger Jahren. Ich habe noch Bilder in meinem Kopf – einige mussten ständig angebunden auf Bänken sitzen. Bei uns hat immer jeweils einer der erwachsenen Patienten gearbeitet. Wenn in der Familie jemand Geburtstag hatte, kamen sie gerne, um Kuchen zu bekommen. Wir hatten zu ihnen ein gutes Verhältnis. Das sind prägende Kindheitserinnerungen.[25] Bisweilen hatten die Eltern von Merkels Mitschülerinnen und Mitschülern aus der Stadt Bedenken, ihre Kinder zu den Kasners auf den Waldhof zu schicken, weil sie dort mit den «Bekloppten» in Kontakt kommen könnten.

Der Vater

Die prägende Zeit vom dritten bis zum zwanzigsten Lebensjahr verbrachte Angela Kasner in einer Umgebung, die das Wort «Pfarrhaus» nur sehr unzureichend beschreibt. Auch wenn ihr Vater gelegentlich in der Templiner Maria-Magdalenen-Kirche predigte, arbeitete er doch nicht als Gemeindepfarrer, der sich den Alltagsproblemen der Kirchenmitglieder gewidmet hätte, für Taufen und Konfirmationen, Eheschließungen und Beerdigungen zuständig gewesen wäre. Kasner entwickelte sich in seiner neuen Rolle zu einer wichtigen Figur innerhalb der berlin-brandenburgischen Kirche, allerdings kaum darüber hinaus. In der Region blieb er eine feste Größe auch über die Wende hinaus bis zu seinem Tod 2011 im Alter von 85 Jahren, ob er nun die Revitalisierung der romantischen Fachwerkkirche in Alt-Placht auf den Weg brachte oder den Protest gegen eine Schweinemastanlage in Haßleben vorantrieb.

Das Pastoralkolleg betrieb die Aus- und Fortbildung der Pfarrer für Ostberlin und Brandenburg, es herrschte eine intellektuell anspruchsvolle Atmosphäre. Mit dieser akademischen Prägung wuchs die Tochter des Leiters auf, worüber sich westdeutsche Beobachter später durch den berlin-brandenburgischen Zungenschlag Merkels leicht hinwegtäuschen ließen. Mit den Jahren entwickelte sich Kasners Seminar zu einer zentralen Anlaufstelle innerhalb der Landeskirche, deren Pfarrer in der Regel mindestens einmal im Leben ein Seminar in Templin absolvierten. In der übersichtlichen Szene der Landeskirche kannte Kasner buchstäblich jeden Pfarrer, er verfügte über beträchtlichen Einfluss, auch auf Personalentscheidungen. Eine besondere Rolle spielte dabei der kurze Draht zu seinem Förderer Schönherr, der seit 1967 in Ostberlin und Brandenburg faktisch die Funktion des Landesbischofs innehatte, weil der in Westberlin ansässige Amtsinhaber Kurt Scharf nicht mehr in die DDR einreisen durfte. Seit 1972 amtierte Schönherr dann auch offiziell als erster Bischof der Region Ost innerhalb der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg.

Kasner und Schönherr teilten die Vorstellung einer «Kirche im Sozialismus», die sich mit dem bestehenden Staat arrangieren müsse. In einem Gespräch mit dem viel jüngeren Pfarrer Rainer Eppelmann soll sich Kasner später sogar als der eigentliche Erfinder dieser Konzeption dargestellt haben.[26] Der «rote Kasner», wie ihn Kirchenleute vom anderen Flügel nannten, gehörte zum Umfeld des «Weißenseer Arbeitskreises», den eine Gruppe um Schönherr im Januar 1958 im gleichnamigen Berliner Stadtteil gegründet hatte. Der Kreis setzte sich dafür ein, die Wirklichkeit der deutschen Teilung zu akzeptieren und mit den staatlichen Stellen der DDR zusammenzuarbeiten: Die Kirche habe nicht selbst Politik zu machen, so lautete das Argument, sondern der Gesellschaft zu dienen.

Angela Merkel sagte später über ihren Vater: Er wollte, dass die Kirche sich an der Realität orientiert, um gleichsam nicht immer in der Fremde zu leben.[27] Die Teilung zu akzeptieren, galt den Anhängern einer «Kirche im Sozialismus» auch als eine Frage der Friedenspolitik. Horst Kasner kritisierte die Wehrpflicht und die Notstandsgesetze in der Bundesrepublik, allerdings auch den Militärdienst in der DDR.[28] Im Juni 1961, kurz vor dem Mauerbau und Angela Kasners Einschulung, trafen sich die Anhänger dieser kirchenpolitischen Linie aus den Ostblockstaaten zu einer ersten «Allchristlichen Friedensversammlung» in der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag. Daraus ging die «Christliche Friedenskonferenz» hervor, die vor allem die Rüstungspolitik der westlichen Länder kritisierte.

Um diese Fragen gab es in der ostdeutschen Kirche erheblichen Streit. Für eine kompromisslose Abgrenzung gegenüber dem System trat allerdings nur eine Minderheit der Pfarrer ein. «Das sind keine hundert gewesen, keine hundert unter uns allen», sagte Eppelmann rückblickend über die Zahl der wirklichen Dissidenten unter den zuletzt gut 4000 Pfarrern in der DDR.[29] Selbst der spätere Bundespräsident Joachim Gauck, der sich im Herbst 1989 dem Bürgerprotest anschloss, hatte zuvor keineswegs Fundamentalopposition betrieben, wie er in seinen Memoiren selbst schreibt.[30]

Zu den entschiedenen Gegnern von Kasners Linie zählte etwa der Nauener Superintendent Reinhard Steinlein. Als Ausdruck einer unverantwortlichen Anpassungspolitik kritisierte er das Treffen zwischen Schönherr und dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker im März 1978, das die westlichen Medien überwiegend als Entspannungssignal lobten. Sein Sohn Stephan Steinlein wurde später der engste Vertraute des SPD-Politikers Frank-Walter Steinmeier, der die Kanzlerin Merkel während ihrer Regierungszeit acht Jahre lang als Außenminister, vier Jahre als Oppositionsführer und schließlich als Bundespräsident begleitete. Steinmeier machte Steinlein im Bundespräsidialamt zum Staatssekretär, dem ranghöchsten in Deutschland.

An eine große Zukunft der amtskirchlichen Strukturen glaubte Kasner offenkundig nicht. Eppelmann entrüstete sich bei einem Aufenthalt auf dem Waldhof über eine Prognose des Seminarleiters, dass es irgendwann keine hauptamtlichen Pfarrer in der DDR mehr geben werde. Der junge Theologe empfand das als Zynismus, weil es dem Nachwuchs die Berufsperspektive raube. Kasner zog aus seiner Sicht damit nur die Konsequenz aus der Minderheitenposition alles Religiösen in der DDR. Zuletzt gehörte nur noch rund ein Drittel der Bevölkerung einer Kirche an. Nach der Wiedervereinigung ging die Zahl der Mitglieder noch weiter zurück, so dass Ostdeutschland heute zu den am stärksten säkularisierten Regionen der Welt zählt.

Auch Merkel berichtete später, dass mein Vater die amtskirchlichen Strukturen nicht mochte und lieber eine Basiskirche wollte wie in Amerika.[31] Ein distanzierter Blick auf die enge Kooperation von Staat und Kirche, wie sie in Westdeutschenland praktiziert wurde, war in der ostdeutschen Kirche weit verbreitet, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Über die Vermischung von Politik und Religion in der Bundesrepublik zeigte sich auch Merkel öffentlich irritiert. Anfangs hatte ich auch Schwierigkeiten damit, dass es vor den Parteitagen Gottesdienste gab, sagte sie noch 2005. Für mich waren Gottesdienste etwas Persönliches.[32]

Aus der Perspektive der Nachwendezeit mochte das Verhalten des Templiner Seminarleiters manchen opportunistisch erscheinen, zumal sich einige Angehörige seiner kirchenpolitischen Strömung – im Gegensatz zu Kasner selbst – später als Stasi-Zuträger entpuppten. Er war von seiner Linie jedoch überzeugt. Außerdem fiel der Beschluss der ostdeutschen Protestanten, sich mit ihrem Staat zu arrangieren, in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der westdeutschen Entspannungspolitik. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gründete sich 1969, im selben Jahr, in dem in Bonn der neue Bundeskanzler Willy Brandt und sein Außenminister Walter Scheel ihre Ämter antraten. Schönherr wurde der erste Vorsitzende des neuen Dachverbandes, nachdem die Staatsführung alle grenzüberschreitenden Organisationen verboten und damit die Abspaltung von der gesamtdeutschen EKD erzwungen hatte. Das Sekretariat des Bundes leitete fortan der Kirchenjurist Manfred Stolpe.

Auch wenn sich Kasners Sicht auf das zunehmend verknöcherte Regiment der SED-Bürokraten spätestens seit den siebziger Jahren eintrübte, blieb er im Gegensatz zu seiner Tochter bis zuletzt ein Kritiker des Kapitalismus. «Das Staatsgebilde DDR war politisch und wirtschaftlich längst bankrott», sagte er in einer bewegenden Rede, die er am Vorabend des 3. Oktober 1990 auf dem Templiner Marktplatz hielt, «mit diesem Staat konnte man sich nicht mehr identifizieren.» Aber er fügte hinzu: «Die Freiheit ist bedroht von der Gefahr sozialer Konflikte bis hin zur Herrschaft von Kommerz und Konsum.»[33] Auf einer Demonstration gegen die Schweinemastanlage im 20 Kilometer nordöstlich von Templin gelegenen Haßleben rechnete er 2004 mit der Unmoral der Märkte ab. «Was zählt, ist das Geld. Für die Produzenten: Gewinne machen; ein ‹Schweinegeld› verdienen. Und für die Konsumenten: Kaufen, möglichst billig kaufen und mehr als man braucht», sagte er. «Marktwirtschaftlich sollen wir denken, wird uns eingehämmert, und nicht nachdenken. Alles soll Markt werden, auch die Natur. Mache dich frei von moralischen Bedenken.»[34]

Mit Skepsis begegnete der Theologe auch der Parteiendemokratie westlichen Zuschnitts. «Wir bemerken nun, wie sich die etablierten Parteien den Staat zur Beute gemacht haben, und dass der Staat zum Selbstbedienungsladen für Politiker geworden ist», schrieb Kasner 1992 in einer Kirchenzeitung, zu einem Zeitpunkt also, zu dem seine Tochter bereits als stellvertretende Vorsitzende der ziemlich etablierten CDU amtierte.[35] Er freute sich nicht darüber, dass seine Tochter nach 1990 in die Politik ging, und dann auch noch in die CDU. Lieber hätte er es wohl gesehen, wenn sie in der Wissenschaft geblieben wäre.[36]

Die Distanz zu Kapitalismus und westlichem Parteiensystem teilte Kasner mit vielen ostdeutschen Kirchenleuten, bis weit hinein in die Oppositionsbewegung. «Wahrscheinlich würden unsere damaligen Debatten, wenn man aus heutiger, westlicher Sicht draufschaut, als ziemlich linkslastig erscheinen», urteilte im Rückblick etwa der Physiker und spätere CDU-Politiker Günter Nooke, der auch zu Diskussionen auf den Waldhof kam.[37] Das änderte nichts an der Bedeutung von Räumen wie dem Templiner Pastoralkolleg, die in der Diktatur eine vergleichsweise freie Diskussion ermöglichten, die sonst allenfalls im privaten Kreis möglich gewesen wäre. Zur Infrastruktur zählte sogar ein Kopiergerät, ungewöhnlich genug in einem Staat, der alle Publikationen strikt kontrollierte.

Die DDR-Oberen verfolgten das Treiben selbstverständlich mit größtem Misstrauen, das Ministerium für Staatssicherheit forschte Einrichtungen wie den Waldhof systematisch aus. Die Zuträger registrierten penibel, wer den Leiter des Pastoralkollegs besuchte und wer an seinen Seminaren teilnahm. «Kasner kam 1954 aus Hamburg/Westdeutschland und ist ein Gegner unseres Arbeiter- und Bauernstaates», heißt es etwa in einem Bericht.[38] Nach Hinweisen, der Vater könnte seinerseits Informationen an die Stasi geliefert haben, suchten Merkels Kritiker später vergebens.[39]

Im Jahr 1972 scheiterten die Stasi-Agenten mit dem Versuch, Kasner als Inoffiziellen Mitarbeiter anzuwerben. Die Geheimdienstleute wollten den Theologen erpressen, nachdem sie bei ihm eine in der DDR verbotene Schrift des sowjetischen Dissidenten Andrei Sacharow entdeckt hatten. Als sie jedoch bemerkten, dass Kasner seiner Kirchenleitung über die Gespräche berichtete, schlossen sie die Akte: «Er hat eine stark ablehnende Haltung zum MfS. – Er hat sich dekonspiriert.»[40] Aufhorchen lässt daran auch das Datum: Der Theologe entzog sich dem Werben im Jahr 1972, als seine älteste Tochter Angela kurz vor dem Abitur stand. Dabei konnte ein solches Verhalten in der DDR den Studienplatz gefährden. Seinen drei Kindern – in Templin war 1964 noch Angelas jüngere Schwester Irene hinzugekommen – empfahl Kasner, sich im Fall eines Anwerbeversuchs ebenso zu verhalten. Als sich Merkel sechs Jahre später um eine Stelle als Wissenschaftlerin in Ilmenau bewarb und dabei von Stasi-Leuten angesprochen wurde, folgte sie dem Ratschlag.

Aus seiner Sicht fand Kasner für sich und seine Familie eine Balance aus eigener Haltung und nötiger Anpassung, die ihn später erhobenen Hauptes in die Bundesrepublik führte. Besucher berichteten auch nach der Wiedervereinigung von einer Aura intellektueller Unabhängigkeit. Nach Kasners Pensionierung und der Auflösung des Pastoralkollegs verließ das Ehepaar den Waldhof und zog in ein privates Einfamilienhaus, ebenfalls in Templin. Auch der Reporter Alexander Osang, der den 74-Jährigen kurz vor der Wahl seiner Tochter zur CDU-Vorsitzenden im Jahr 2000 besuchte, konnte sich dieser Atmosphäre nicht entziehen. «Es ist ein klares Zimmer, neu, aber nicht angepasst», schrieb er mit Blick auf die vielen Bücher und die geschmackvolle Schrankwand aus den Hellerauer Werkstätten in Dresden. «Es hat die deutsche Einheit gut überstanden.»[41]

Als Merkel im Spätsommer 2015 eine Biografie über ihren Amtsvorgänger Gerhard Schröder vorstellte, strich sie als Gemeinsamkeit das Außenseitertum der beiden Kanzler der Berliner Republik heraus. Schröder wurde Regierungschef als Sohn einer Putzfrau, der auf dem zweiten Bildungsweg studiert hatte. Merkel schaffte diesen Aufstieg als Ostdeutsche, die als Pfarrerstochter nur mit Glück hatte studieren dürfen und bis zum 35. Lebensjahr keiner politischen Partei angehört hatte.

Die Parallele erscheint schlüssig, was das ganz und gar Unwahrscheinliche des jeweiligen Aufstiegs betrifft. Aber Schröder und Merkel wurde doch ein sehr unterschiedliches Rüstzeug vom Elternhaus mitgegeben. Die spätere Christdemokratin erhielt daheim eine Fülle intellektueller Anregungen, sie lernte eine Vielzahl interessanter Persönlichkeiten kennen – und sie konnte bei ihrem Vater beobachten, wie man Netzwerke knüpft und innerhalb der Kirche Politik macht. All das musste sich Schröder, der diesen bildungsbürgerlichen Hintergrund entbehrte, selbst erkämpfen.

Kasners Horizont blieb stets weiter als jener der SED-Genossen, mit denen er kooperierte, oder der Stasi-Leute, die ihn ausspionierten. Er hielt gesamtdeutsche Verbindungen aufrecht, bezog Literatur aus dem Westen, las die Bücher, die er lesen wollte. In dieser Hinsicht ließ er sich nichts verbieten. Wenn die Autoritäten es versuchten und an ihn gerichtete Sendungen aus der Bundesrepublik konfiszierten, beschwerte er sich offensiv – und kam damit offensichtlich durch.

Matthias Rau, ein Mitschüler Merkels, dessen Vater die Behinderteneinrichtung auf dem Waldhof leitete, lernte bei Kasner systemkritische Literatur kennen, etwa Wolfgang Leonhards Die Revolution entlässt ihre Kinder oder den Lebensbericht der deutschen Kommunistin Margarete Buber-Neumann, die erst in Stalins Sowjetunion zu Lagerhaft verurteilt und dann in Hitlers Konzentrationslager abgeschoben worden war. In Kasners Arbeitszimmer unter dem Dach des Wohnhauses stapelten sich bis zur Decke die Bücher, «die es in der DDR in keiner Buchhandlung gab und deren Besitz einem die allergrößten Schwierigkeiten bereiten konnte», wie selbst Chronisten einräumten, die dem «roten Kasner» alles andere als wohlgesonnen waren.[42]

Die Stasi-Akten beleuchten das Bildungsgefälle zwischen dem geistig unabhängigen Kasner und den Zuträgern, die ihn observierten. Sie verstanden oft nicht, womit ihr Beobachtungsobjekt sich beschäftigte. Wenn es um seine Nähe zum Westberliner Bischof Otto Dibelius ging, schrieben sie, er sei «debiliushörig»; sprachen sie von seiner Abneigung gegen die westdeutschen Konfessionsschulen, machten sie daraus «Konzessionsschulen»; den Anstoß erregenden Text Sacharows, den Kasner besaß, nannten sie ein «Phamfleth».[43] Kasner zählte zu einer Bildungsschicht, die sich mit dem System arrangierte und sich zugleich intellektuell überlegen fühlte.[44]

Bei Kasners Templiner Seminar handelte es sich um eine Art Insel, die schon aus geographischen Gründen von der Welt des ostdeutschen Festlands abgeschieden war: Den Waldhof trennten nicht bloß die zwei Kilometer räumlicher Abstand vom städtischen Leben in Templin, das mit seinen damals rund 11.000 Einwohnern seinerseits 80 Kilometer vom Zentrum Ostberlins entfernt lag. Die räumliche Distanz drückte zugleich den Abstand aus, in dem die Familie eines Pfarrers von der Mehrheitsgesellschaft lebte. Dass der Vater dem weniger staatsfernen Flügel seiner Kirche angehörte, änderte daran wenig. Jenseits der eigenen vier Wände begann das fremde Terrain, vor allem später in Schule und Beruf.[45]

Mit ihrem so anregenden wie anspruchsvollen Vater hatte es die Tochter nicht immer leicht, zumal sie sich stark auf ihn fixierte. Er hat immer viel gearbeitet. Arbeit und Freizeit flossen bei ihm zusammen, und manchmal hat er sich mit der Arbeit vielleicht auch von den Familienpflichten ferngehalten. Er ist emsig und sehr gründlich. Leider. Als Kind war es nicht einfach, wenn alles immer ordentlich und perfekt sein musste. Er kann auf Menschen zugehen und mit ihnen gut ins Gespräch kommen. Was mich als Kind manchmal fuchsig gemacht hat, war seine Art, verständnisvoll gegenüber jedermann zu sein. Aber wenn wir selbst irgendetwas verbockt hatten, reagierte er völlig anders.[46]

Ein ungewöhnliches Elternhaus: Horst Kasner, der Theologe, und Herlind Kasner, die Lehrerin, vermittelten der Tochter die intellektuelle Prägung. 2005 verfolgten sie von der Besuchertribüne die Wahl der Tochter zur Bundeskanzlerin.

Es sollte dem Vater später schwerfallen, die Kinder loszulassen und deren eigenen Weg zu akzeptieren, wenn er ihm nicht gefiel. Lange nach der Wende sagte er fast schon resigniert über seine ältere Tochter: «Sie macht doch sowieso, was sie will.»[47] Dabei zählte gerade Angela Kasners Eigensinn, ihr Streben nach innerer Unabhängigkeit bei allem äußeren Pragmatismus, zu den Prägungen durch den Vater, neben dem kulturprotestantischen Leistungsethos, mit dem sie ihm vermutlich immer noch etwas beweisen wollte. «Er hat ihr das Laufen beigebracht, nicht die Richtung», notierte ein Reporter. «Und irgendwann war das Mädchen weg.»[48]

Die Mutter

Anders verhielt es sich mit der Mutter. Sie verkörperte in manchem das Gegenteil ihres Mannes: weniger streng, der Familie stärker zugewandt, allerdings genauso darauf bedacht, dass es die Kinder zu etwas bringen. Und sie führte, obwohl sie notgedrungen keiner Erwerbsarbeit nachging, ihr eigenes Leben. Sie unterrichtete nebenher «Englisch für die Weltkirche»,[49] bis ins hohe Alter bot sie später Sprachkurse an der Volkshochschule an. Ebenso wie ihr Mann verfügte sie zudem über ein eigenes Auto, was für DDR-Verhältnisse luxuriös anmutete. Nach der Wende saß sie viele Jahre lang für die SPD im Kreistag. Als sie zuletzt nicht mehr genügend Stimmen bekam, ärgerte sich ihr Mann maßlos, mehr womöglich als Herlind Kasner selbst. Sein brennender Ehrgeiz erstreckte sich auf die ganze Familie.[50]

Der Tochter Angela diente die Mutter trotz ihrer für die DDR ungewöhnlichen Hausfrauenrolle als Vorbild einer selbständig denkenden und handelnden Frau. Als Merkel Anfang 1990 das Frauenministerium übernahm, stieß sie im Westen auf eine fremde Welt: Dort verfügten Frauen aus Herlind Kasners Generation bisweilen noch nicht einmal über eine Fahrerlaubnis, sie übten oftmals ihren Beruf nicht aus, was vor 1977 zudem die Zustimmung des Ehemanns erforderte, und sie wären möglicherweise auch nicht auf die Idee gekommen, im Alter von mehr als 60 Jahren noch in die Kommunalpolitik einzusteigen.

Im Gespräch mit der Fotografin Herlinde Koelbl zeichnete Merkel ein sehr positives Porträt ihrer Mutter. Sie ist eher fröhlich, lebenslustig und offenherzig. Sie fällt ihre Urteile aus der Kommunikation mit anderen heraus. Meine Mutter hatte sehr klare Vorstellungen über ihre Kindererziehung. Für sie war es schwer, meinem Vater in die DDR zu folgen, da sie die Sorge hatte, dass wir als Kinder dort geistig veröden. Aus ihrer bürgerlichen Herkunft heraus wollte meine Mutter gerne, dass wir studieren.[51]

Zunächst standen für Angela Kasner jedoch andere Herausforderungen an. Kopfgesteuert und vorsichtig, wie sie war, konnte sie früh reden, aber erst spät laufen. Ich war ja ein kleiner Bewegungsidiot. Ich konnte mit fünf Jahren noch keinen Berg hinuntergehen. Was ein normaler Mensch ganz von selbst kann, musste ich erst geistig verarbeiten und mühsam üben. Sport sei immer ihre schwache Seite gewesen. Ich musste mich für nichts anstrengen außer für Zeichnen, Werken und Sport.[52] Von einer «Bergabphobie» sprach ihre frühe Biografin Evelyn Roll deshalb.[53]

Im Schwimmunterricht konnte sich die Schülerin einfach nicht entschließen, vom Dreimeterbrett zu springen. Eine ganze Schulstunde lang stand sie oben und wartete. Erst kurz vor dem Klingeln sprang sie dann doch – ganz ähnlich, wie sie es später oft in der Politik tun sollte: Ich bin, glaube ich, im entscheidenden Moment mutig. Aber ich brauche beachtliche Anlaufzeiten, und versuche, möglichst viel vorher zu bedenken. Spontan mutig bin ich nicht.[54]

Mauerbau

Das Jahr 1961 brachte für die Siebenjährige einschneidende Veränderungen. Im Sommer reisten die Kasners vier Wochen lang durch Bayern, die Hamburger Großmutter hatte die Unterkünfte und einen VW Käfer organisiert.[55] Kurz nach der Rückkehr wachten sie mit der Nachricht auf, dass die DDR-Regierung in Berlin einen «antifaschistischen Schutzwall» errichtet hatte. Diese Grenzerfahrung blieb die älteste politische Erinnerung der späteren Bundeskanzlerin. Auch wenn sie die Einzelheiten noch nicht verstand: Die Reaktionen in der Familie machten ihr klar, dass etwas schrecklich Trauriges passiert sein musste. Da habe ich meine Eltern zum ersten Mal völlig ratlos und fassungslos erlebt. Ich habe erst gar nicht begriffen, warum und was der Bau der Mauer bedeutet. Meine Mutter hat den ganzen Tag geweint. Ich wollte ihnen helfen, hätte sie gerne wieder fröhlich gemacht, aber das ging nicht.[56]

Der Mauerbau machte die Entscheidung endgültig, die ihre Eltern sieben Jahre zuvor getroffen hatten. Die Option, wieder in den Westen zu gehen, stand der Familie nicht mehr offen. Horst und vor allem Herlind Kasner waren 1954 in dem Bewusstsein nach Ostdeutschland gezogen, dass notfalls ein Rückweg möglich sei. Zwar hatte die DDR-Regierung schon seit 1952 die Außengrenze zur Bundesrepublik geschlossen, auch gab es Kontrollen des Verkehrs zwischen Ostberlin und der übrigen DDR. Aber die Sektorengrenzen innerhalb Berlins blieben aufgrund des Viermächtestatus zunächst offen. Die meisten der rund 2,5 Millionen Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt aus der DDR in die Bundesrepublik gingen, nutzten diese Möglichkeit.

Wenn die Mauer weg ist, gehen wir alle ins Kempinski, Austern essen, sagten die Kasners nun. Sie rechneten nicht mit einer kurzfristigen Perspektive. Später hatte ich immer die Vorstellung, so im Jahr 2000 ziehen die Russen ab, sagte Merkel just in ebendiesem Jahr 2000, in dem sie zur Vorsitzenden der CDU aufrückte. Für die meisten Menschen bedeutete der Mauerbau, dass sie frühestens im Rentenalter in den Westen würden reisen können: Um jeden Preis halten wollte die DDR nur Arbeitskräfte, nicht die Empfänger von Sozialleistungen. Allerdings habe es auch die Vorstellung gegeben, so Merkels Erinnerung, dass man im Prinzip schon irgendwie in den Westen kommen würde, wenn es einem mal ganz schlecht geht.[57] Tatsächlich verließen zwischen 1961 und 1989 rund 600.000 Menschen die DDR, die meisten davon über offizielle Ausreiseanträge, trotz der damit verbundenen Schikanen. In rund 250.000 Fällen zahlte die Bundesrepublik Geld, damit die DDR ihre Staatsbürger gehen ließ. Grenzen zu öffnen, nicht zu schließen: Das zählte fortan zu den Grundüberzeugungen der Templiner Pfarrerstochter.

2. Schule im Sozialismus (1961–1973)

Außenseiterin

Für Angela Kasner hielt das Jahr 1961 eine neue Erfahrung bereit, die den Alltag des Mädchens stärker prägte als der Mauerbau: Im August kam sie in die Schule. Da die Mutter nicht arbeitete, hatte das Kind keine Krippe und keinen Kindergarten besucht. Das war für DDR-Verhältnisse in den sechziger Jahren bereits ungewöhnlich. Daher änderte sich das Leben für Angela Kasner mit der Einschulung grundlegender als für ihre neuen Mitschüler. Sie verließ nun die behütete Welt ihres Elternhauses und des Waldhofs, um jeden Tag die rund zwei Kilometer in die Stadt zurückzulegen. Heutige Helikopter-Eltern hätten angesichts der einsamen Wege das Schlimmste befürchtet. In den frühen sechziger Jahren störte sich niemand daran, trotz vergleichsweise hoher Unfallzahlen und Kriminalitätsraten, die in der DDR allerdings nicht den Weg an die Öffentlichkeit fanden. Der lange Schulweg verstärkte den Eindruck, dass sich die Siebenjährige jeden Tag aufs Neue in eine andere Welt begab. Erst nachdem sie die Altstadt hinter sich gelassen hatte, erreichte sie das Schulgebäude am Templiner See: einen dreistöckigen Backsteinbau aus dem Jahr 1910 mit neugotischen Spitzbögen an der Fassade, die heutige Grundschule Johann Wolfgang von Goethe.

Acht Jahre lang ging Angela Kasner täglich diesen Weg. So lange besuchten in der DDR alle Schüler denselben Schultyp. Das entsprach internationalen Standards, die allerdings in der Bundesrepublik nicht galten, wo selbst die amerikanische Besatzungsmacht kein egalitäreres Schulsystem durchsetzen konnte. Polytechnische Oberschule (POS) hieß diese Form der Gemeinschaftsschule in der DDR. 1969 wechselte Angela Kasner dann auf die Erweiterte Oberschule (EOS), die dem westdeutschen Gymnasium entsprach. Sie umfasste damals die neunte bis zwölfte Klasse; später, in den achtziger Jahren, begann die EOS erst mit der elften Klasse.

Das Mädchen musste nun schnell lernen, dass eine Pfarrerstochter in der Schule manches besser für sich behielt. Ihre Eltern schärften ihr früh ein, dass sie keinen Anlass für Beschwerden liefern sollte, um ihre Schulkarriere nicht zu gefährden. Es gab viele Dinge, über die sie gegenüber Lehrern oder linientreuen Mitschülern lieber schwieg: die Gespräche, die sie zu Hause führte; die Besucher, die zu den Kasners kamen; die Bücher, die ihr Vater besaß; die Westmedien, die sie konsumierte. Bei den Kasners daheim geschahen mehr Dinge, die in der Schule zu Problemen führen konnten, als anderswo.

Das galt umso mehr, als sich Angela Kasner nach eigener Darstellung schon früh für westdeutsche Politik interessierte, wie sich überhaupt der Osten sehr viel mehr mit dem Westen beschäftigte als umgekehrt. Jedenfalls berichtete sie später, sie habe die Namen der westdeutschen Kabinettsmitglieder auswendig gewusst und mit 14 Jahren auf der Schultoilette per Taschenradio die Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten verfolgt.[1] Angesichts ihrer Sozialisation verwundert es nicht, dass sie sich von dem kirchlich gebundenen und gesamtdeutsch orientierten Politiker angezogen fühlte, der noch dazu jeden engstirnigen Nationalismus strikt ablehnte. Ausgerechnet die spätere CDU-Politikerin erklärte den Wegbereiter der sozialliberalen Koalition zu ihrem Helden; seit Merkel den CDU-Parteivorsitz innehatte, erzählte sie davon allerdings nicht mehr so oft. Eine Mitschülerin berichtete zudem von einem Faible der Klassenkameradin für Helmut Schmidt, der während ihrer Schulzeit erst SPD-Fraktionsvorsitzender, dann Verteidigungsminister und schließlich Superminister für Finanzen und Wirtschaft war. Ihn habe sie wegen seiner Souveränität bewundert.[2]

1968

Selbst scheinbar harmlose Urlaubsreisen konnten zum Stein des Anstoßes werden. Im Sommer 1968 fuhr die Familie Kasner in die Tschechoslowakei, nach Pec pod Sněžkou, dem beliebten Ferienort auf der Südseite des Riesengebirges direkt zu Füßen der gut 1600 Meter hohen Schneekoppe.[3] Aufgrund der politischen Ereignisse wurde daraus mehr als bloß ein gewöhnlicher Aufenthalt in den Bergen. Zu Jahresanfang hatte der Reformkommunist Alexander Dubček die Parteiführung übernommen und im Frühjahr ein Programm liberaler Neuerungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vorgestellt: einen «dritten Weg», wie es bald heißen sollte, zwischen den Systemen in Ost und West. Auf den «Prager Frühling» setzten die Menschen in allen sozialistischen Ländern große Hoffnungen, auch in der DDR. All dies verfolgte die Vierzehnjährige nun schon mit einem erheblich wacheren politischen Bewusstsein als sieben Jahre zuvor den Mauerbau. Später erinnerte sie sich, dass der kleine Sohn der Gastgeberfamilie die Briefmarken zerschnitt, die noch das Antlitz des gestürzten Hardliner-Präsidenten Antonín Novotný trugen.

Als Angela Kasner nach den Ferien in die Schule zurückkehrte, lagen diese Hoffnungen schon in Trümmern. Am 21. August rückten Truppen des Warschauer Pakts in Prag ein und beendeten das Experiment. Die Schüler sollten über ihre Ferienerlebnisse berichten, Kasner begann zunächst unbefangen von den Erlebnissen in der Tschechoslowakei zu erzählen. Doch sie merkte schnell, dass die Sache brenzlig wurde. Da sei sie abgeschwiffen, sagte sie sehr viel später in der ihr eigenen Diktion: ein Verhaltensmuster, das später in der Politik sehr von Nutzen sein sollte.[4] Auch ihr Vater vermied es, die Niederschlagung des Prager Frühlings öffentlich zu missbilligen.[5]

Für viele DDR-Bürger markierte «1968» einen Wendepunkt. Die Hoffnung, dass sich das Leben im Sozialismus auf evolutionärem Weg verbessern könnte, hatte sich für lange Zeit erledigt. Illusionslos versuchten sich die meisten Ostdeutschen irgendwie einzurichten, während die SED mit einer Doppelstrategie auf die entstandene Unruhe reagierte: An die Seite der Repression trat der Versuch, mit einer bescheidenen Verbesserung des Lebensstandards möglichen Ausbrüchen von Unzufriedenheit im eigenen Land vorzubeugen. Die Parteiführung räumte der Produktion von Konsumgütern und dem Neubau von Wohnungen nun hohe Priorität ein. Der 1976 ins Amt gelangte neue Generalsekretär Erich Honecker propagierte diese Ziele unter dem Schlagwort der «Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik», wobei das Soziale wegen der geringen ökonomischen Leistungskraft auf Dauer unfinanzierbar blieb.

So konnte Honecker nicht verhindern, dass der Osten in der neuen Zeit des Konsumkapitalismus viel stärker hinter den Westen zurückfiel als in den alten Zeiten der Schwerindustrie, die sich viel besser planwirtschaftlich steuern ließ. Die beiden Ölpreisschocks von 1973 und 1979, die auch die Rohstoffimporte aus der Sowjetunion verteuerten, taten ein Übriges. Die allermeisten Menschen in Ost und West hielten den Wettlauf der Systeme jetzt für entschieden.

Im Westen stand die Chiffre «1968» dagegen für etwas ganz anderes: für die Studentenrevolte, die von Berkeley über Paris bis nach Westberlin reichte. Gut zwei Jahrzehnte nach Kriegsende wollte eine neue Generation in Ost und West die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr unwidersprochen akzeptieren. Diese Gemeinsamkeiten nahmen die Akteure allerdings kaum wahr. Die Hoffnung auf den «dritten Weg» der neuen Prager Regierung blieb im Westen ein Randaspekt, erst recht nach deren Scheitern. Im Vordergrund standen die innerwestlichen Streitfragen, vor allem die Kritik an der Außenpolitik der Vereinigten Staaten und dem Vietnamkrieg.

Umgekehrt mochten sich Ostdeutsche angesichts der Studentenproteste im Westen fragen, was am System der Bundesrepublik eigentlich so schlecht sein sollte. Die 14-jährige Schülerin Angela Kasner jedenfalls wäre in ihrer Begeisterung für Heinemann und Schmidt kaum auf die Idee gekommen, ausgerechnet die sozialliberalen Regierungen der siebziger Jahre als repressiv anzusehen. Als sie nach der Jahrtausendwende erfuhr, dass der spätere Bundesaußenminister Joschka Fischer damals in Frankfurt am Main Polizisten verprügelte, reagierte sie verständnislos.

Nach dem Ende der Prager Hoffnungen empfahl es sich mehr denn je, in der Schule zu schweigen. Deshalb entwickelte Angela Kasner, die schon als Kind schlecht schauspielern konnte, früh die Fähigkeit, bei heiklen Themen zumindest ein neutrales Gesicht zu machen: Mein Name ist Kasner, ich weiß von nichts, wie es die Biografin Evelyn Roll formulierte. Das half ihr später als Politikerin. Es ist ein großer Vorteil aus DDR-Zeiten, dass man gelernt hat zu schweigen. Das war eine der Überlebensstrategien, sagte sie sehr viel später als CDU