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Amelie von Engelsbach hat alles, was man für ein vermeintlich erfolgreiches Leben braucht: Ein finanzstarkes Elternhaus, das ihr neben dem traditionsreichen Namen eine exzellente Ausbildung garantiert und die Tür zur Welt der Schönen und Reichen öffnet. Nach einem Unfall gerät Amelies Welt allerdings vollkommen aus den Fugen. Sie verliert sich in einer selbst gewählten Isolation, nennt sich lieber Angel, läuft mit Second-Hand-Klamotten herum und rebelliert, wo sie nur kann. Dementsprechend herrscht zu Hause ständig dicke Luft. Völlig allein gelassen bringt sie sich selbst immer wieder in gefährliche Situationen. Im Internet lernt sie Striker kennen, mit dem sie täglich chattet. Er gibt ihr Halt und wird zu ihrem einzigen Freund. Als sie während eines Treffens erfährt, wer wirklich hinter dem Nickname steckt, droht auch diese Freundschaft zu zerbrechen. Doch dann erschüttert die nächste Katastrophe Amelies Leben und ihr wird klar, dass sie niemanden hat, der zu ihr steht - außer Striker. Der hat jedoch seine eigenen Probleme. Auch er verbringt einen Teil seiner Freizeit im Internet. Dort gerät er an einen üblen Typen, der ein Spiel vorschlägt, das nicht nur Striker in höchste Lebensgefahr bringt. "Du oder ich, Striker? Wir sind die Letzten ..."
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Level I
Level II
Level III
Level IV
Level V
Level VI
Level VII
Level VIII
Level IX
Level X
Level XI
Level XII
Level XIII
Level XIV
Level XV
Level XVI
Level XVII
Impressum
„Vielleicht sind wir zu zweit einfach ein bisschen weniger allein.“
(Lennard Patrick von Heerens)
Von Angel
(Mittwoch, 15.November, 20:46)
„Demjenigen, den du liebst, gibst du die Macht dich zu verletzen. Doch nur derjenige, der diese Macht nicht ausnutzt, ist es wert, von dir geliebt zu werden.“
Ein Spruch vom Mädchenklo in meiner Schule, den ich einfach nicht mehr aus meinem Kopf bekomme. Manchmal laufe ich extra noch einmal hin und schaue, ob er wirklich an dieser Wand steht. Irgendwie beruhigt es mich, wenn ich es dort schwarz auf weiß sehe. Das Einzige, was mich seit einem Jahr berührt, etwas in meiner Leere angestoßen hat.
Ab und zu starre ich auf die Buchstaben und weine ohne Tränen in mich hinein. Ich glaube, ich habe verlernt, wie es anders geht.
Von Striker
(Mittwoch, 15.November, 20:57)
Hi ☺
Wenn ich könnte, würde ich dich jetzt in den Arm nehmen.
Weißt du, worüber ich andauernd nachdenke? Es wäre möglich, dass wir uns täglich sehen, ohne einander wahrzunehmen. Vielleicht laufen wir ständig aneinander vorbei und merken es gar nicht.
Von Angel
(Mittwoch, 15.November, 21:03)
Zwei Welten, die nebeneinander existieren, als seien es Paralleluniversen, die nichts von der Existenz des anderen wissen … Verrückt!
Was würde wohl passieren, wenn in der dünnen Membran, die uns trennt, ein kleines Loch entstünde, durch das einer von uns beiden hindurchsehen könnte?
Von Striker
(Mittwoch, 15.November, 21:05)
Ich würde meinen Zeigefinger hineinbohren, das Loch weiter aufreißen und dir die Hand reichen, um dich zu mir zu holen. ☺
Dann könnte ich sehen, wer du bist. Es macht mich verrückt, zu wissen, dass wir in der gleichen Stadt leben, aber nicht, ob ich dir bereits begegnet bin.
Von Angel
(Mittwoch, 15.November, 21:08)
Warum haben wir nur die Regeln missachtet und uns geschrieben, wo wir wohnen? Jetzt ist es viel schwieriger, seine wahre Identität zu verbergen.
Außerdem bin ich online authentischer, als wenn ich dir gegenüberstehen würde.
Von Striker
(Mittwoch, 15.November, 21:10)
Lass es doch darauf ankommen. Wir treffen uns an einem Ort, an dem viele Menschen sind und schauen, ob wir uns erkennen.
Von Angel
(Mittwoch, 15.November, 21:10)
Nein.
***
Die Welt drehte sich, als würde sie gerade ausflippen. Sie kreiste nicht um Amelie, aber so im Allgemeinen. Sie fühlte sich elend und ihr Magen rebellierte garantiert jeden Augenblick. Eine Frau saß ihr in der Straßenbahn gegenüber und ließ ihren verstohlenen Blick immer wieder auf diese unglaublich spießige Art über ihren Körper streifen - eben so, wie es nur Erwachsene beherrschen.
Langsam schaute Amelie an sich herunter und staunte nicht schlecht. Der ultrakurze Minirock bot durch ihre breitbeinige Sitzposition mehr Einblicke, als es ihr bis dahin bewusst gewesen war. Die knallrote Kunstfelljacke passte zwar zu ihrem Lippenstift, wirkte allerdings, zugegebenermaßen, überaus gewöhnlich. Die zerrissene Netzstrumpfhose und die schwarzen Springerstiefel mit Stahlkappen, die ihr Outfit abrundeten, fand sie jedoch extrem cool. Bei diesem Gedanken grinste Amelie die Dame an und erntete einen empörten Grunzton. Sie sah der Fremden an, wie es sie irritierte, am frühen Morgen auf dem Weg zur Arbeit einer völlig betrunkenen jungen Frau zu begegnen. Sie ahnte ja nicht, dass unter all der verschmierten Schminke auf der ansonsten makellosen Haut ein bildhübsches Gesicht verborgen lag, das darüber hinaus einem Familienmitglied einer der reichsten und angesehensten Familien der Stadt gehörte.
Irgendwie nervten diese Blicke und deutlich erkennbaren Gedanken und machten Amelie wütend. Innerlich verweigerte sie sich dem Bild, das sich ihre Beobachterin von ihr zeichnete. Gleichzeitig wusste sie, dass ihr momentanes Erscheinungsbild die nackte Wahrheit über ihr verdammtes Leben erzählte.
Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie schloss die Augen und presste ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe.
Noch vier Haltestellen.
Die Entscheidung der Frau, sich wegzusetzen, kam keine Sekunde zu früh. Kaum hatte sie den Platz verlassen und auf der anderen Seite der Bahn einen leeren Sitz eingenommen, da verspürte Amelie dieses typische Ziehen unter der Zunge, als krampfe sich alles zusammen. Ihr Mageninhalt entleerte sich auf dem Boden und bespritzte ihre Stiefel.
„Verdammter Mist!“, murmelte sie und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Sie hörte genau, wie sich die Leute in ihrer Nähe das Maul über sie zerrissen.
Liebend gern wäre Amelie im Boden versunken. Eben hatte sie ihre Umgebung noch wie hinter einem nebligen Vorhang wahrgenommen, der jegliche Empfindung gedämpft hatte. Doch mit einem Schlag prallte ihr jetzt die nüchterne Welt entgegen und sie schämte sich für das, was sie vor all diesen Leuten von sich preisgab. Sie fühlte sich schrecklich. Nicht nur der Alkohol war daran schuld.
Als sie zügig aufstand, rutschte sie beinahe in ihrem Erbrochenen aus. Mit gesenktem Kopf drängelte sie zur Tür und ließ insgeheim mehrere Stoßgebete los. Hoffentlich erkannte keiner der Umstehenden in ihr die Tochter des vermögenden und stadtbekannten Großindustriellen Friederich von Engelsbach.
***
Von Angel
(Freitag, 17.November, 16:08)
Blackout.
Ein geheimnisvolles Wort für einen beängstigenden Zustand. Es hat etwas mit Kontrollverlust zu tun, denn schließlich vergisst man schlichtweg ein gravierendes Puzzleteil seines Lebens und das meistens dauerhaft.
Das ist krass.
Wenn ich morgens nackt in einem fremden Bett neben einem Kerl aufwache, dessen Namen ich noch nicht einmal kenne und den ich normalerweise niemals ansprechen würde … Wow, da geht mir schon ganz schön die Düse!!
Von Striker
(Freitag, 17.November, 16:10)
Und dann trinkst du einfach weiter? Verstehe ich nicht! Wieso?
Von Angel
(Freitag, 17.November, 16:11)
Um die Kopfschmerzen zu betäuben und den fauligen Geschmack hinunterzuspülen. Danach verschwinde ich so schnell wie möglich und versuche, das alles zu vergessen.
Von Striker
(Freitag, 17.November, 16:13)
Hast du keine Angst? Ich meine, da kannst du doch an wer weiß wen geraten. Könnte ekelig werden … und gefährlich obendrein, oder?
Von Angel
(Freitag, 17.November, 16:16)
Hehe, ich weiß mich zur Wehr zu setzen, wenn es sein muss.
Na ja, und ansonsten ist doch vor allem das der Kick daran.
Ich fliege los und weiß nie, wo ich landen werde. Morgens knallt mir - bang! - die Realität mitten ins Gesicht und das ist superhart, sage ich dir.
…
Von Angel
(Freitag, 17.November, 16:24)
Striker?
Von Striker
(Freitag, 17.November, 16:28)
Pffff, was soll ich dazu sagen? Ich weiß, das fragt dich der Richtige … aber … Bist du dir nicht zu schade dafür? Ich meine … wie alt bist du? Siebzehn? Da schleppt dich irgendein Typ ab und du merkst erst am nächsten Morgen, was das für einer ist.
Angel, jetzt mal ehrlich! Findest du nicht, dass das ein bisschen krank ist?
Wenn ich mir vorstelle, mir würde das passieren und ich würde neben irgendeiner abgedrehten Irren aufwachen …
Ich weiß nicht … wäre nix für mich.
Von Angel
(Freitag, 17.November, 16:30)
Mir ist klar, wie durchgeknallt sich das anhört, ist ja auch erst zwei Mal passiert, aber … wenn ich da morgens liege und mir vor Angst das Adrenalin durch den Körper jagt … dann spüre ich wenigstens für einen kleinen Augenblick, dass ich noch lebe …
***
'Amelie Nerina Gesine von Engelsbach, auch für dich wird es langsam Zeit, dich deines Namens und deiner Herkunft entsprechend zu benehmen, anstatt wie ein Straßenflittchen am frühen Morgen betrunken durch die Gegend zu torkeln.'
Die Begrüßung ihrer Mutter.
Amelie hatte eine Stunde nach Verlassen der Straßenbahn endlich die Villa der Familie gefunden und es nach mehreren Versuchen geschafft, den korrekten Code am Eingangstor einzugeben. Jetzt stieß sie in der Eingangshalle mit ihrer Mutter zusammen.
Allerdings verbalisierte Nadine von Engelsbach diese Vorwürfe niemals. Eigentlich sprach sie bestimmt seit einem Jahr nicht mehr mit ihrer Tochter.
Seitdem es passiert war.
Diese Anklage lag vielmehr unausgesprochen in ihrem verstörten, verletzten Blick, den sie dem jüngsten Familienmitglied entgegen schmetterte. Zum Erstaunen seiner einzigen Tochter trat zudem Friederich von Engelsbach persönlich aus dem Esszimmer hinter seine Frau. Beschützend legte er seine kräftigen Hände auf deren Schultern und atmete deutlich hörbar ein.
„Was machst du denn hier?“, rutschte Amelie heraus. Ihr fiel nichts Sinnvolleres zu seiner eher ungewohnten Anwesenheit im Hause von Engelsbach ein.
Der Blick ihres Vaters wanderte ausdruckslos an ihrer Erscheinung hinunter. „Wir wollen heute deinen Bruder besuchen.“ Dann sah er ihr direkt in die Augen. „Leg dich ein paar Stunden hin und zieh dir etwas Vernünftiges an.“
Amelie entließ zischend die Luft aus ihrem Mund. Das konnte er gut: Befehle erteilen. Selbst seinen Kindern gegenüber legte er jenen Umgangston nicht ab, den er im traditionsreichen Familienunternehmen mit den Angestellten pflegte.
Amelie wollte schreien. All solche Dinge wie: Ihr könnt mich mal! Ben erst recht! Ich hasse ihn! kamen ihr dabei in den Sinn. Ja, das hätte sie ihren Eltern gern an den Kopf geschleudert.
Doch was hätte es gebracht?
Würden sie dadurch endlich ihre Tochter wieder wahrnehmen?
Sie sehen? Hören, was sie zu sagen hatte?
Würden diese Worte irgendetwas in ihnen berühren?
Irgendeine emotionale Regung in ihnen auslösen?
Amelies Vater drehte seine Frau an den Schultern weg und schob sie in das Esszimmer, in dem sie offenbar gefrühstückt hatten. Aus der Sicht des Geschäftsmannes gab es nichts mehr zu besprechen. Alles war bereits gesagt!
Die Mauer zwischen ihren Eltern und Amelie war eindeutig zu hoch.
Selbst den Vorwurf im Blick ihrer Mutter bildete sie sich anscheinend nur ein. Gleichgültigkeit sprang ihr stattdessen entgegen. Sie war ihren Eltern schlichtweg egal.
Und sie sich auch.
Ganz gleich, was sie tat, die unüberwindbare Hürde zu ihren Eltern wurde immer höher und machte jeden Versuch unmöglich, sie doch noch zu bezwingen und aufeinander zuzugehen. Derlei Vorhaben schien die reinste Energieverschwendung zu sein.
Vor allem in solchen Momenten sehnte Amelie ihren achtzehnten Geburtstag herbei, denn an genau diesem Tag wollte sie jenes leere, ausgehöhlte Zuhause verlassen, ohne jemals zurückzublicken.
Verloren und erstarrt von der Kälte, die die Wände ihres Elternhauses zwischen sich einschlossen, stand sie mit hängenden Schultern in der Eingangshalle, die all das repräsentierte, worauf insbesondere ihr Vater einst so stolz gewesen war.
In Momenten solch einer Ablehnung hatte ihr Bruder sie früher in den Arm genommen und ihr die Wärme geschenkt, nach der sie sich jetzt sehnte.
Als Ben ging, hatte er auch das mitgenommen.
***
Wasser.
Sprudelt, läuft, ist in Bewegung.
Bewegte sich über ihren Körper.
Wäre Wasser Berührung, sie stünde ihr Leben lang unter der Dusche.
Ja, die Sehnsucht nach Berührung, nicht nur äußerlich, sondern auch im Innern, tief in ihrem Herzen, in ihrer Seele, war es, die sie jetzt schon zum zweiten Mal in der Fremde mit einer noch auswegloseren Leere hatte erwachen lassen.
Bedeutete Wasser nicht Leben?
Ihr Leben war tot.
Sie drehte den Hahn zu, verließ die Dusche und legte sich nass ins Bett.
War doch ohnehin alles egal.
***
Die Nacht gehört mir. Mir und dir. Sie hüllt uns ein, wie die Wolldecke, unter der wir uns früher immer versteckt haben, um uns vor all den Monstern zu verstecken. Wir betrinken uns daran frei zu sein und lachen wie bescheuert. Ohne Ängste, losgelöst von Sorgen. Wir fahren dahin und schweben ins Nirgendwo.
Plötzlich ändert sich jedoch die Stimmung. Komme mir vor, als fiele ich mitten in einen David-Lynch-Film. Alles ist finster um uns herum, keine Laternen an den Straßenrändern. Nur dunkler Asphalt und die Mittellinie, die sich im Scheinwerferlicht ständig und regelmäßig mit einem Nichts von gar nichts abwechselt. Die Musik im Radio wird rückwärts abgespielt. Ich spüre, wie sich die Härchen auf meiner Haut aufstellen. Von der Seite siehst du vollkommen normal aus. Erst als du deinen Kopf zu mir drehst und mich in der für dich so typischen Art angrinst, sehe ich den Tropfen, der an deiner Wange hinunterläuft und einen roten Fleck auf deinem weißen T-Shirt hinterlässt.
Im nächsten Moment legt sich Panik über deine erstarrte Miene. Bedrohlich nähert sich dein Kopf meinem eigenen, weil du dich vorbeugst und nach etwas hinter meinem Rücken greifst.
„Spring, Amy! Sofort!“
Dein Gesicht verzieht sich zu einer Fratze, deine Hand packt mich am Kragen und schubst mich aus der geöffneten Tür.
Ich sehe mich selbst blutüberströmt mitten auf der Straße stehen. Wie ein Adler segle ich, losgelöst von meinem eigenen Dasein, vom Himmel auf diese bebende Gestalt hinab und erkenne immer deutlicher, was in deren Augen steht.
Pures Entsetzen.
Ich stürze zunehmend schneller auf mich zu. Millimeter vor dem Gesicht verharre ich in der Bewegung. Höre ein Herz schlagen, es rast vor Angst. Es überschlägt sich, während ich meinen eigenen Atem stoßweise auf der Oberlippe spüre.
Ich starre mich an.
Was sehen diese Augen?
Was geschieht dort hinter meinem Rücken?
Ich höre auf zu atmen, der Herzschlag stoppt.
Stille. Nichts.
Perspektivenwechsel.
Ich stehe auf der Straße und betrachte die durchbrochene Leitplanke. Der flammende Sonnenaufgang taucht alles in ein tiefes Blutrot. Ich falle auf die Knie und schreie deinen Namen.
Doch du wirst niemals mehr antworten.
***
Ihre Finger krallten sich in das Laken, das schweißnass an ihrem Körper klebte. Vom eigenen Ruf nach ihrem Bruder aufgeschreckt, erwachte Amelie atemlos aus dem Traum, der nach Bens Tod ihr treuer Begleiter geworden war.
Weinend rollte sie sich zusammen und sehnte sich nach ein bisschen Wärme. Alles schmerzte, innen und außen. Am liebsten wollte sie ihrem Bruder folgen, einfach verschwinden. Wer würde sie schon vermissen?
***
Von Striker
(Samstag, 18.November, 14:32)
Angel? Bist du on?
…
Von Striker
(Samstag, 18.November, 17:56)
Angel, was ist los? Du bist doch online, oder?
…
Von Striker
(Samstag, 18.November, 18:26)
Ich weiß, dass du glaubst, ich sei ein absolut oberflächlicher Typ, und in mancherlei Hinsicht mag das sogar zutreffen. Aber nichtsdestotrotz habe ich Gefühle und eines davon flüstert mir gerade, dass es dir nicht gut geht.
Muss ich mir Sorgen machen?
…
Von Striker
(Samstag, 18.November, 19:46)
Okay, ich werde gleich von meinem Kumpel abgeholt. Melde dich kurz, wenn du wieder da bist. Hast du vergessen, dich abzumelden?
… bin später noch einmal hier.
***
Es gibt Menschen, deren Bedeutung in deinem Leben stetig anwächst und für die du eine Art bedingungslose Loyalität empfindest, obwohl du ihnen niemals physisch begegnet bist. Sie treten durch eine virtuelle Tür ein, nehmen Platz und mischen sich uneingeladen ein. Das tun sie jedoch auf eine so liebenswerte Art, dass du sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr missen möchtest.
Diesen Striker hatte Amelie in einem Forum für Jugendliche kennengelernt. Dort trafen sich Leute, die Probleme mit ihren Eltern, Alkohol, Drogen oder dem Gesetz hatten. Einige waren Grenzgänger. Der Reiz war die explosive Mischung, die die unterschiedlichen Persönlichkeiten und ihre Geschichten ergaben. Immer wieder kam es vor, dass Selbstmorde oder Amokläufe angekündigt wurden. Doch Amelie war sich sicher, dass sich unter den vielen durchgeknallten Typen auf dieser Seite ebenfalls genügend Polizisten oder Psychologen aufhielten. Die wussten das Schlimmste zu verhindern und die Wichtigtuer von den ernsthaft Hilfesuchenden zu unterscheiden.
Als Striker den Kontakt zu ihr suchte, vermutete sie zunächst, dass auch er ein Erwachsener war, und vermied es, zu detaillierte Antworten zu geben. Mit Sicherheit gab es auch dort schräge Typen, die auf junge Mädchen standen. Deshalb war Amelie vorsichtig und gab kaum etwas von sich preis.
Dieser Striker schien in seinem Offline-Leben jemand zu sein, der sich anders darstellte, als es seiner Persönlichkeit entsprach. Er schrieb ihr häufig, welch oberflächliche Ansichten seine Kumpel hatten, deren Freundschaft er aber dennoch schätzte, weil er so immer Gesellschaft hatte, um mit ihnen um die Häuser zu ziehen. Er spielte gerne Fußball und schleppte ständig irgendwelche Mädchen ab, vermutlich ebenfalls, um keinesfalls allein sein zu müssen.
Warum sie ausgerechnet an ihm hängengeblieben war, konnte sie selbst nicht erklären. Zunächst wirkte er übertrieben arrogant, sodass Amelie in den öffentlichen Foren verschwand, sobald er auftauchte. Vermutlich lag es an der hartnäckigen Art, mit der er ihre virtuelle Nähe suchte. Schließlich gab sie auf, vor ihm zu flüchten, hielt inne und unterbreitete ihm ihre Meinung über Typen wie ihn. Doch wenn sie gehofft hatte, ihn dadurch loszuwerden, hatte sie sich geirrt. Ihre Ablehnung schien ihn vielmehr zu bestärken, Amelie beweisen zu wollen, dass ihr Bild von ihm nicht der Realität entsprach. Immerhin entpuppte er sich in einem privaten Chatroom als netter Kerl, der ihre Neugier immer mehr entfachte. Mittlerweile waren drei Monate ins Land gezogen, sie chatteten nahezu täglich und er war zu ihrem einzigen Freund geworden.
***
Den Großteil deines Lebens vergeudest du allerdings mit denjenigen, die derart bedeutungslos für dich sind, dass du alles daran setzt, sie zu ignorieren. Meistens gelingt es. Doch es kostet Kraft, die manchmal nicht vorhanden ist. Als würden sie wie Hyänen diese Momente der Schwäche wittern, drängen sie auf eine besonders unangenehme Art in dein Leben; immer genau in den Augenblicken, in denen es dir am allerwenigsten passt.
Seit etwas mehr als zwei Jahren ging Amelie auf diese Privatschule. Ihr Bruder hatte sie bereits besucht und der Name der Einrichtung machte auf dem Abschlusszeugnis einen besseren Eindruck als der der städtischen Schule, die Amelie zuvor wegen all ihrer Freundinnen ausgewählt hatte. Dies war für ihre Eltern Grund genug, sie gegen ihren Willen dort anzumelden. Hervorragende Referenzen hatten in ihrer Familie schon immer ein höheres Gewicht als tiefe Gefühle. Trotz aller Proteste zwangen sie Amelie zu dem Wechsel.
Sie hasste diese Schule. Und noch mehr ihre Mitschüler.
Im Bio- und im Englischkurs fühlte sie sich am unwohlsten. Dort hatte sie mit einer Gruppe von fünf Typen Unterricht, die sich so gaben, wie sie sich diesen Striker im Reallife vorstellte.
Sie waren attraktiv, reich und sexy und das war ihnen mehr als bewusst.
Jedenfalls glaubten sie daran und bekamen entsprechendes Feedback von ihren Mitschülern. Entweder man bewunderte sie, oder man hasste sie. Die meisten taten das erste, Amelie gehörte eindeutig zur letzteren Gruppe.
Wenn Jonas, Sebastian, Jan, Lennard und Philipp den Klassenraum betraten, empfand sie deren Auftritt so, als säße sie in einer dieser albernen Teenie-Komödien.
Wie in Zeitlupe schwebten die fünf heiß begehrtesten Jungs der Schule von der Tür aus in den Raum, hin zu ihren Plätzen genau in der Mitte. Währenddessen wurde in der gesamten Umgebung langes Haar geschüttelt, Knöpfe an Ausschnitten geöffnet und affig gekichert und getuschelt.
Amelie musste sich jedes Mal zusammenreißen, nicht in die Tischplatte zu beißen. Zu Beginn hatte sie nur mit offenem Mund auf ihrem Stammplatz hinten in der letzten Reihe am Fenster gesessen und fassungslos das Schauspiel beobachtet, das sich ihr bot. Mittlerweile versuchte sie, auch das zu ignorieren.
Sechs Monate noch!
Danach kehrte sie endlich diesem Cocktail aus Pheromonen und Testosteron den Rücken zu.
Normalerweise zog sich Amelie möglichst zurück, sobald diese Typen auftauchten, um jeglichen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Durch ihr provokant unkonventionelles Äußeres gab sie ihnen sicherlich keinen Anlass, sie in ihr Beuteschema einzubeziehen. Mit ihrem schroffen, absolut unweiblichen Verhalten hielt sie andere weitestgehend auf Abstand und grenzte sich selbst dadurch aus.
Gleichzeitig hatten Jonas und Co spitzbekommen, dass Amelie nicht davor zurückschreckte, entsprechend zu kontern und dabei gern ein Ziel unterhalb der Gürtellinie anvisierte. Daher versuchten sich alle, so gut wie möglich gegenseitig auszublenden.
An manchen Tagen schien aber gerade ihr Verhalten, gepaart mit ihrer rigorosen Ignoranz diesen Idioten gegenüber, jedoch genau jene dazu einzuladen, mit ihr auf Konfrontation zu gehen. Dann wurden pausenlos provozierende Beleidigungen auf sie losgelassen oder unangebrachte Witze auf ihre Kosten gemacht.
Und solch ein Tag musste ausgerechnet der Montagmorgen sein, an dem Amelie in der Mädchentoilette gehockt und auf jenen Spruch gestarrt hatte, um sich für den Tag zu wappnen. An irgendeinem Ort in dieser Welt existierte jemand, der es wert schien, dass sie auf ihn wartete. Das versicherten ihr diese Worte auf eine subtile Art und das bildete sie sich auf keinen Fall nur ein. Immerhin stand es schwarz auf weiß an der Wand!
Welchen Sinn hätte der Mist in ihrem Leben denn sonst?
Leider hatte sie bei ihrer Träumerei die Zeit vergessen und ahnte bereits, was sie im Klassenzimmer erwarten würde. Auf dem Weg dorthin versuchte sie sich vorzubereiten, indem sie ihre immerwährende Wut innerlich schürte. Einige Meter vor der Klassentür zögerte Amelie und blieb kurz stehen.
Der Vorfall vom Wochenende wühlte sie immer noch auf und machte sie angreifbar. Sie musste unbedingt darauf achten, sich nicht zu heftig auf deren Provokationen einzulassen. Ihre eiskalten Hände schmerzten, als sie diese zu Fäusten zusammenballte. Für einen Moment schloss sie die Augen, atmete tief durch und betrat schließlich den Raum.
Sie schlich vorn an der Tafel entlang, am unbesetzten Lehrerpult vorbei und bog in den zweiten Gang ein, der sich zwischen den Tisch- und Stuhlreihen auftat. Mit gesenktem Blick steuerte sie auf den letzten Stuhl hinten rechts, direkt neben dem Fenster, zu.
Amelie wollte alles dafür tun, um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Der Besuch an Bens Grab hatte sie tiefer heruntergezogen, als sie es erwartet hatte.
Die Kapsel, in der sich ihre Mutter nach seinem tödlichen Unfall verschanzt hatte, war dort stillschweigend zerplatzt, sodass sie auf fast unerträglich dramatische Art auf dem Friedhof zusammengebrochen war. Einer unaufhaltsamen Kettenreaktion gleich war in diesem Moment bei Amelie ebenso etwas ausgeklinkt und sie hatte all ihre Wut und ihren Schmerz in das verstörte Gesicht ihres Vaters geschrien. Daraufhin schlug er Amelie - sei es aus Hilflosigkeit oder ebenfalls aus Wut - mit der Faust ins Gesicht. Jetzt umrahmte ein dunkelblaues Veilchen ihr linkes Auge, das sie mit einer Sonnenbrille auf der Nase zu verbergen versuchte.
Doch solche Typen wie Jonas und seine Kumpel nutzten gerne eine Schwachstelle aus, vor allem wenn ihnen auffiel, wie sehr man sich bemühte, diese zu verstecken. Daher kam ihre Reaktion für Amelie nicht unerwartet.
„Oh, Miss von-und-zu mag es offensichtlich auf die etwas derbere Art.“
Es war Jan, der Schlimmste von ihnen. Er hatte eine Härte in seinem Blick, die sie innerlich zusammenzucken ließ. Sie ignorierte ihn und seine Bemerkung einfach. Als sie nicht reagierte, erhob er sich blitzschnell vom Stuhl und baute sich vor ihr auf, sodass sie stehen bleiben musste.
Amelie spürte, wie sich ihre Fingernägel in die Innenflächen ihrer Hände bohrten. Unter ihrer Haut brannte Wut. Dennoch versuchte sie, ruhig zu bleiben, und sagte sich: Nein, Amy, du vermöbelst ihn jetzt nicht nach Strich und Faden, auch wenn du es könntest. Egal was er tut, es hat nicht die geringste Bedeutung.
Angespannt blieb sie in einer genervten Körperhaltung vor ihm stehen, verdrehte stöhnend die Augen und schaute seitlich aus dem Fenster. Durch diese kleine Unaufmerksamkeit entging ihr allerdings, wie Jans Hand vorschnellte, um ihr die Sonnenbrille von der Nase zu ziehen. Noch im letzten Moment erwischte sie sein Handgelenk und hielt es fest. Ihre Brille steckte bereits zwischen seinen Fingern und ihr Kopf fuhr in seine Richtung. Die abwertende Bemerkung über ihr blutunterlaufenes Auge blieb jedoch zu ihrer Überraschung aus. Stattdessen sog er die Luft scharf ein und machte dabei ein zischendes Geräusch. Im selben Moment sah Amelie in seinen Pupillen etwas aufblitzen, dem die sonst darin liegende Härte gewichen war.
„Oh, fuck, das sieht ja vielleicht Scheiße aus.“
Keiner von ihnen bewegte sich. Es herrschte Grabesstille. Alle im Raum starrten die beiden an.
Seine Reaktion verwirrte selbst Amelie, sodass sie für einen Augenblick völlig vergaß, dass sie ihm am liebsten ebenfalls eine verpasst hätte.
Erst nach einer kleinen Verzögerung, die vielleicht nur sie beide bemerkten, biss sie die Zähne zusammen und presste ihre Wörter zwischen ihnen hindurch, während sie mit einem Zeigefinger auf die Verletzung zeigte: „Wenn du vermeiden willst, dass du genauso im Krankenhaus landest wie derjenige, der mir das hier angetan hat, nimmst du lieber schleunigst deine Drecksgriffel von mir!“
Das mit dem Gegner war zwar eine Lüge, doch die hatte Amelie so überzeugend hervorgebracht, dass sie die entsprechende Wirkung erzielte. Das dreckige Lachen, mit dem Jan versuchte, die seltsame Situation zu überspielen, blieb ihm im Hals stecken. Die Irritation, die ihm ins Gesicht geschrieben schien, nutzte sie für sich, riss ihm die Sonnenbrille aus der Hand und schleuderte ihm den eigenen Arm gegen den Oberkörper. Während sie sich an ihm vorbeidrückte, setzte sie die Brille auf und zischte ihm ein Schimpfwort entgegen.
Dabei traf sie der Blick von einem seiner Freunde, der sie noch wütender machte. Bei derartigen Zusammenstößen glotzte sie dieser Lennard immer an, als sei sie ein außerirdisches Schleimwesen. Schnaufend wich sie auch ihm aus und verzog sich in die letzte Reihe.
Während sie aus dem Fenster starrte und versuchte, ihren Puls zurück auf eine erträgliche Frequenz zu senken, hörte sie, wie Jonas ihrem Kontrahenten mit der flachen Hand auf die Schulter schlug und lachend flüsterte: „Klasse, Jan, haste gut gemacht … dich von einem Mädchen fertigmachen zu lassen.“
Noch nie hatte Amelie einen Lehrer so sehr herbeigesehnt wie an diesem Morgen. Endlich begann der Unterricht und sie schaute währenddessen aus dem Fenster. Sie schwebte auf ihren Gedanken in die Ferne, weit weg von diesen Idioten, der Schule und dem Leben, das sie nicht mehr wollte.
Hin zu einem Ort, von dem sie noch nicht einmal wusste, wo er lag. Hin zu jemandem, der ihr wirklich wichtig war und der sie so annehmen würde, wie sie war. Zu jemandem, der sie niemals verletzen würde.
Bei ihrer übereilten Gedankenflucht in die Welt aus Bits und Bytes bemerkte sie allerdings nicht, dass sie dabei beobachtet wurde. Von Augen, die im Gegensatz zu allen anderen in diesem Raum etwas Besonderes in ihr sahen.
Amelie fokussierte ihr Ziel, konzentrierte ihre gesamte Wut, ihren Schmerz und ihre Trauer auf genau diesen einen Punkt. Sie ballte die Hand zu einer Faust und ließ sie mit allem, was in ihr steckte, nach vorn schnellen. Dabei nutzte sie den Schwung ihres Körpers, um dem Schlag genügend Kraft zu verleihen. Von ihrem linken Bein abgefedert, brachte sie sich sofort zurück ins Gleichgewicht, es folgte eine gekonnt flinke Drehbewegung, bei der sie das rechte Knie an die Brust zog, um kraftvoll zuzutreten.
Im nächsten Augenblick kam sie allerdings durch ein rhythmisches Händeklatschen ins Schwanken, das ihre Aufmerksamkeit unreflektiert auf sich zog, und sie drehte sich verwundert danach um. Keine Sekunde später traf sie der Gegenschlag hart an ihrer gesamten Körperhälfte und warf sie schmerzhaft zu Boden.
Verdammt! Sie hätte eigentlich wissen müssen, dass der Sandsack zurück schwang.
Lachend beugte sich ihr Trainer über sie und reichte ihr seine Hand. Mit Leichtigkeit zog er sie in den Stand.
„Hallo, No.“
Amelie grinste ihn an und freute sich, den alten Mann zu sehen.
„Was machst du denn schon hier? Ich dachte, wir wären erst in einer halben Stunde verabredet“, stellte No mit einem prüfenden Blick fest, zog sie weiter in den Arm und drückte sie ein wenig. Väterlich tätschelte er ihre Schulter.
„Na, wieder Ärger zu Hause gehabt?“
Dabei tippte er unter sein Auge und spielte auf das Veilchen in ihrem Gesicht an. Sie nickte nur stumm und damit war für ihn die Sache geklärt.
Amelie wusste nicht, was No über sie dachte. Doch sie liebte den Pensionär wie ihren eigenen Großvater. Er war so herrlich unkompliziert, hatte in jeder Situation einen entsprechenden Sinnspruch parat, der auf alles passte, und war weder neugierig noch aufdringlich. Er hatte ein unheimlich feines Gespür für Menschen und wusste, wann es angebracht war, nachzuhaken oder aber die Dinge so stehen zu lassen, wie sie waren.
Vor etwa zweieinhalb Jahren war Amelie in einer Therapiegruppe für gewalttätige Mädchen gelandet. Sie hatte einem Jungen in ihrer alten Schule die Nase gebrochen, um zu verhindern, dass ihre Freundin weiterhin von ihm und seinen Freunden gemobbt wurde. Der Therapeut hatte ihr damals geraten, sich ein sportliches Ventil zu suchen. Bei ihrem familiären Hintergrund hatte er vermutlich an Reitstunden oder autogenes Training gedacht. Amelie hatte sich jedoch bereits etwas ganz anderes in den Kopf gesetzt. Sie wollte sich im Ernstfall verteidigen können. Jegliche Art von Kampfsport besaß eine magische Anziehungskraft auf sie. Dass ihre Eltern ausflippen würden, wenn sie davon erfahren sollten, hatte die Sache noch interessanter gemacht. Da sie sich ohnehin nicht im Geringsten dafür interessierten, womit sich ihre Tochter beschäftigte, zog Amelie daraus ihre Vorteile.
Heimlich hatte sie die verruchten Viertel ihrer Heimatstadt durchstreift, in den dort ansässigen Kampfschulen das Probestundenangebot ausgiebig genutzt und war schließlich bei No hängengeblieben, der die übelsten Typen in seiner ehemaligen Lagerhalle trainierte.
In Amelie hatte er ein gewisses Talent entdeckt und die passende Taktik angewandt, um es aus dem zierlichen aber äußerst aggressiven Mädchen herauszukitzeln.
Aus dem räudigen Straßenkätzchen wurde eine berechnende Löwin, die sich nicht scheute, mit erwachsenen Männern zu trainieren, die sie weit überragten und wesentlich kräftiger waren als sie selbst.
In etwas weniger als zwei Jahren hartem Training, das Amelie für gewöhnlich drei Abende in der Woche absolvierte, hatte sie eine enorme Entwicklung durchgemacht.
Seither konnte sie ihre Wut besser kontrollieren und es war trotz der ständig drohenden Konflikte in der jetzigen Schule zu keiner weiteren körperlichen Auseinandersetzung gekommen.
Dieses Training war ihr kleines Geheimnis, von dem selbst ihr Bruder nichts gewusst hatte. Ihre Eltern gingen davon aus, dass Amelie die Ballettstunden absolvierte, die sie Monat für Monat zu bezahlen glaubten.
Ein leicht verändertes Logo und ein wenig Fantasie bei der Benennung der Sportart, die Amelie in der Kampfschule angeblich ausübte, hatten es ermöglicht. Eben ein kleiner Deal, den No gerne eingegangen war, nachdem er sie das erste Mal hatte kämpfen sehen. Er wollte unbedingt, dass es diesem außergewöhnlichen Mädchen auf jeden Fall gelang, die Unterschrift ihrer Eltern auf das Anmeldeformular zu bekommen.
Als sie das Training an diesem Abend beendete, zeigte die Uhr bereits nach zehn. No bot ihr an, sie nach Hause zu bringen, doch sie lehnte ab. Amelie wollte keinesfalls, dass er mehr als nur ihren Namen erfuhr, bei dem sie einfach das von unterschlagen hatte. Außerdem liebte sie es, im Dunkeln durch das einsame, unheimliche Industriegebiet zu laufen. Dabei spürte sie aufgeregt diesem Kribbeln auf der Haut nach, das einen, in Momenten wie diesen, vom Nacken her überfällt, um zu signalisieren, dass man in Lebensgefahr ist.
Sie durchstreifte Straßen und Wege, an denen Hafengebäude und Hallen lagen, die nachts oder auch seit Ewigkeiten verlassen waren. Von Weitem hallten Ladegeräusche einer Nachtschicht im Containerhafen über das Gelände. Einzig das Geräusch ihrer eigenen Schritte auf den Pflastersteinen tanzte zwischen den Häuserwänden wie ein Echo hin und her und begleitete den donnernden Herzschlag in ihrer Brust.
Die Luft legte sich diesig und in novemberkalten Atemwölkchen auf ihr Gesicht. Das regennasse Kopfsteinpflaster glänzte im Schein der sporadisch auftauchenden Laternen, um die sich nebliger Dunst gelegt hatte und die die Gegend in einem unwirklichen Licht erscheinen ließen. Aus den Kanälen drang der Geruch nach Hopfen und Malz, der von den zahlreichen Brauereien in der Nähe kam und eines der Dinge war, das ihre Heimatstadt so unverwechselbar machte.
An der nächsten Ecke zog sie mit einer Hand die Kapuze ihres Sweatshirts weiter ins Gesicht. Als sie mit der anderen ihre gefütterte Lederjacke oben am Kragen zusammenraffte, hielt sie vor Schreck inne.
Schritte.
Leise genug, um von ihren eigenen Atemgeräuschen überdeckt zu werden, doch immerhin so laut, dass ihr ein eisiger Schauer über den Rücken rieselte.
Sie näherten sich von hinten. Amelie drehte sich um, konnte jedoch niemanden entdecken. Irritiert versuchte sie, sich im Halbdunkel der restlichen Straße zu orientieren. Während sie den Kopf etwas zur Seite neigte, runzelte sie angestrengt die Stirn und suchte mit ihren Augen die Gegend ab, in der Hoffnung, zu verstehen, woher die Schritte auszumachen waren. Erst nach und nach realisierte sie, dass die Geräusche aus einer verlassenen Einfahrt kamen. Diese lag schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite im dunklen Abschnitt des Weges und war für Amelie nicht einsehbar.
Was sollte sie tun?
Stehenbleiben?
Wegrennen?
Letzteres schien zeitlich kaum machbar, denn die Schritte kamen stetig auf sie zu. Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass sie selbst wie auf einem Präsentierteller direkt im Lichtkegel einer Laterne stand. Also musste sie reagieren.
Einem Gewitter unter der Hautoberfläche gleich durchzuckten heiße und kalte Blitze vor Schreck ihre Nervenbahnen. Unschlüssig starrte sie in die immer lauter werdende Dunkelheit. Ihr Herz trommelte gegen die Rippen, als wollte es sie antreiben, endlich eine Entscheidung zu treffen.
Schließlich löste sie den Blick von der Einfahrt, ließ ihn an der unbeleuchteten Häuserwand auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlangwandern und entdeckte neben dem Durchgang eine Nische. Nahezu geräuschlos bewegte sie sich dorthin und verschwand im Schatten, noch bevor jemand aus der Dunkelheit auf die Straße trat.
So sehr sie diese leichte Angst als abendlichen Begleiter durch das Hafenviertel auch mochte, ein Fremder, der sich bei Nacht auf einem verlassenen Firmengelände aufhielt, war ihr doch etwas zu unheimlich!
An die Rückwand der Nische gepresst, versuchte Amelie, einen klaren Gedanken zu fassen, aber sämtliche Warnglocken in ihr schrillten los und sabotierten ihr Vorhaben. Sie beugte sich leicht nach vorn und schaute nervös die Straße hinunter. Allerdings änderte das nichts an ihrer Situation. Sie war dort allein!
Vorsichtshalber blieb sie in Deckung und wartete ab.
Ihr Puls rauschte unerträglich laut in ihren Ohren und sie hielt die Luft an, um überhaupt etwas hören zu können. Wie weit die Geräusche noch entfernt waren, konnte sie kaum abschätzen. Die Person kam garantiert jeden Moment um die Ecke.
Amelie wartete weiter.
Sämtliche Muskeln in ihrem Körper spannten sich an. Ihre Lunge begann zu schmerzen. Als sie gerade weiteratmen wollte, hörte sie es.
Was …?
Irgendetwas stimmte da nicht.
Verwundert ließ sie die angehaltene Luft aus dem Mund entweichen und wirbelte hektisch mit den Händen vor ihrem Gesicht herum, um ihre Atemwolke zu zerlegen. Zügig neigte sie den Kopf und atmete in die Jacke hinein. Sie runzelte die Stirn.
Löste sich etwa aus dem regelmäßigen Rhythmus von Turnschuhen auf Kies der einer zweiten Person heraus? Tatsache! Bei genauerem Hinhören erkannte sie darüber hinaus ein gedoppeltes Keuchen. Beide rannten. Zusammen? Oder jagte der eine den anderen?
Amelie presste sich zurück an die Nischenrückwand, traute sich kaum zu atmen, sog die Luft hektisch ein und stieß sie ebenso wieder aus. Aufgeregt lauschte sie den Schritten, die nun in dem Torbogen hallten. Sie schloss die Augen, weil sie damit rechnete, dass die Fremden im nächsten Augenblick an ihr vorbeirannten. Doch stattdessen kamen die beiden plötzlich aus dem Takt und ihre Körper krachten auf den Boden. Sie schlitterten ein Stück weit über den nassen Asphalt und rangen miteinander. Angespannt lauschte Amelie den Kampfgeräuschen und es rumorte in ihr. Der Heftigkeit der Schläge nach zu urteilen schien die Situation überaus ernst zu sein. Sie begann zu zittern.
Nimm verdammt noch mal sofort deine Beine in die Hand und verschwinde von hier!, hallte es in ihr. Sie musste im Grunde nur einige hundert Meter die Straße hinunterlaufen und konnte durch die nächste Seitenstraße unbemerkt nach Hause laufen.
Bist wohl doch nicht so cool, wenn es drauf ankommt, was?, raste auf einmal ein Gedanke durch ihren Kopf, der ihr überhaupt nicht gefiel. Sie zögerte.
Was gingen sie diese Fremden an, die sich mitten in der Nacht an einem einsamen Ort prügeln mussten?
Natürlich hatte sie Angst. Sogar verdammt große! Ihr bebender Körper gab ihr dabei recht. Aber nichts tun und wegrennen? Das konnte sie auch nicht.
Wieder schlug eine Faust zu und am Geräusch und dem folgenden Stöhnen erkannte Amelie, dass es ein Schlag ins Gesicht gewesen sein musste. Einer der beiden hatte offenkundig mehr einzustecken als der andere. Immer zügiger folgten heftiger werdende Hiebe, sodass sich der Unterlegene kaum noch wehren konnte.
Amelies Magen krampfte sich zusammen. Ohne zu zögern, fischte sie das Handy aus ihrer Jackentasche, hielt aber doch inne. Wie sollte sie erklären, was sie um diese Zeit an diesem einsamen Ort tat? Anonym konnte sie nicht anrufen. Die Rufnummernunterdrückung zu aktivieren würde sie jetzt auf die Schnelle mit ihren zitternden Händen nicht hinbekommen. Anhand der Handynummer würde man allerdings herauskriegen, wer sie war, und womöglich stand die Polizei danach bei ihr zu Hause vor der Tür, noch bevor sie selbst dort ankam.
„Shit!“, fluchte sie leise vor sich hin und ließ das Handy zurück in ihre Tasche sinken. Sie wagte einen verstohlenen Blick um die Ecke und erkannte im fahlen Licht der Straßenlaternen, dass sich der eine bereits über den anderen beugte. Der Kampf würde in den nächsten Sekunden entschieden werden.
Verdammt. Nur weg hier! Zeugen wollten die bestimmt nicht.
Rasch zog sie sich in die Nische zurück, atmete tief durch, hörte noch, wie der eine „Game over!“ sagte und der andere aufstöhnte. Metall prallte auf Stein. Dieses Geräusch durchzuckte Amelie wie ein Stromschlag und stachelte sie an, endlich zu reagieren. Augenblicklich drückte sie sich von der Wand ab und lief los.
Erst als es zu spät war, bemerkte sie, dass sie sich wie von Sinnen in die falsche Richtung bewegte; auf die beiden zu. Der Liegende wand sich panisch unter seinem Angreifer. Letzterer saß halb mit dem Rücken zu ihr auf dessen Unterleib und hob den Arm, um diesen erneut auf den Unterlegenen hinabsausen zu lassen. Im selben Moment stoppte Amelie, zog ihr Knie seitlich zur Brust und trat verzweifelt zu, in der Hoffnung, das Messer zu treffen, das sie in der Hand des Angreifers vermutete.
Der Schwung, mit dem sie den Tritt ausführte, verbunden mit dem absoluten Überraschungsmoment zeigte ihre Wirkung, denn keiner von ihnen hatte Amelie wahrgenommen. Nicht nur die Waffe flog im hohen Bogen durch die Luft und rutschte klirrend auf dem Boden entlang, sondern auch der Angreifer schnellte nach vorn. Ungebremst prallte er mit seinem Kopf auf das Gesicht des anderen und beide Körper blieben bewegungslos aufeinanderliegen. Stille trat ein.
Eine beängstigende Stille!
Fassungslos presste Amelie die geballten Fäuste an ihre Stirn, ging einige Schritte auf der Stelle hin und her und fluchte leise vor sich hin.
Los, verschwinde von hier. Sofort!, meldete sich ihr Verstand. Allerdings befreite sich der Angegriffene plötzlich von der Last des anderen, noch bevor Amelie reagieren konnte. Unter lautem Stöhnen drückte er dessen Körper weg, rappelte sich auf, beugte sich keuchend und würgend vornüber und stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab.
Oh, Mann! Er war bestimmt zwei Köpfe größer als Amelie. Was hatte sie sich dabei nur gedacht? Warum musste sie sich hier nur einmischen? Wie würde er reagieren, wenn er sie bemerkte?
Erstarrt vor Schreck beobachtete sie jede Bewegung des Fremden, der in der Dunkelheit direkt neben ihr stand und von ihrer Anwesenheit keine Ahnung hatte.
Er richtete sich leicht auf und tippte seinen Angreifer mit dem Fuß an. Danach streckte er die Hand aus und legte sie an den Hals des Liegenden. Der andere rührte sich nicht.
Dies war der Moment, in dem Amelie die Nerven verlor. Das Adrenalin schoss durch ihren Körper und sie drückte ihre eiskalten Finger vor Schreck auf ihren Mund.
„Shit, ist er tot?“, entfuhr es ihr.
Beim Erklingen ihrer Stimme fuhr der Typ neben ihr herum und auch sie selbst erschrak. Er wich einen Schritt zurück, beugte sich allerdings sofort wieder taumelnd nach vorn und begann zu keuchen.
„Glaub nicht“, presste er nach einer fassungslosen Schrecksekunde heraus, in der sie sich beide nicht wirklich einzuschätzen wussten. „Schade wäre es ehrlich gesagt nicht um ihn“, knurrte er, richtete sich langsam auf und sah Amelie einen Moment lang in der Dunkelheit schweigend an. Er wirkte ebenfalls verunsichert. Seine Stimme verriet ihr, dass er nicht viel älter sein konnte als sie selbst.
Nervös wippte sie auf ihren Fersen auf und ab. Diese Situation konnte für sie immer noch gefährlich werden. Wenn sie zu viel Zeit verstreichen ließ, gab sie dem Fremden dadurch die Chance, wieder zu Kräften zu kommen.
Wer wusste schon, wobei sie die beiden gestört hatte? Was wäre, wenn er sie nicht einfach so gehen lassen wollte?
„Ich … ich verschwinde dann mal“, murmelte sie und setzte sich rückwärts in Bewegung, um dem Fremden nicht den Rücken zuwenden zu müssen. Der streckte jedoch blitzschnell seine Hand nach ihr aus und griff nur knapp daneben. Vor Schreck sog sie die Luft geräuschvoll ein und begann gedankenlos wegzurennen.
Schließlich landete sie vor einer Mauer und ihr Verfolger war schneller hinter ihr, als sie ihm in seinem Zustand zugetraut hätte. Er packte sie, drückte sie mit seiner Hand kräftig gegen den kalten Stein und ein entsetzter Laut entwich ihrem Mund.
„Hey, warte mal“, presste er hervor, während sich seine Finger in ihre Jacke krallten. Mit beiden Händen umklammerte Amelie seinen Arm, um sich von ihm zu befreien, als er plötzlich den Körper gegen ihren lehnte und seine Stirn auf ihre Schulter senkte.
„Hilf mir! Bitte!“, wisperte er keuchend. Mit diesen Worten verlor er das Gleichgewicht und drohte zur Seite wegzurutschen. Sofort lösten sich Amelies Hände von seinem Gelenk und ihre Arme umschlossen automatisch seinen Körper, um ihn festzuhalten. Diesem Kerl ging es verdammt schlecht!
Hilflos umarmte sie ihn, während tausend Gedanken durch ihren Kopf schwirrten und sie zum Schwitzen brachten. Bis endlich eine halbwegs sinnvolle Idee haltmachte. „Bist du mit dem Auto hier?“ Sie spürte kaum, wie sich sein Kopf auf und ab bewegte, um ihre Frage zu beantworten. Ungeschickt versuchte er, in seine Jackentasche zu greifen, musste sich aber erneut an der Wand festhalten, um nicht umzufallen.
„Warte, ich mach schon. Hier?“
Ein gespürtes Nicken wies ihr den richtigen Weg und im nächsten Moment fischte sie einen Autoschlüssel aus seiner Jacke. Mit aller Kraft drückte sie ihre Hand gegen seinen Brustkorb, um ihn aufrecht hinzustellen. Der Fremde stöhnte bei diesem Versuch heftig auf und presste sich nur noch fester gegen sie. Langsam stieg Panik in Amelie auf. Ihre Augen brannten. Sie hätte heulen können!
„Oh, verdammt!“, fluchte sie. „Es tut mir leid. Kannst du überhaupt gehen?“
„Ja, ich glaube schon“, antwortete er schwach und sie hörte in der Stimme, wie sehr er sich zusammenreißen musste.
„Okay, steht dein Auto in der Nähe?“
„Zwei Straßen weiter in einer Seitenstraße.“
Ein unbestimmtes Gefühl breitete sich in ihr aus und verunsicherte sie. Schafften sie es überhaupt dorthin?
Den Wagen ohne ihn zu holen, war reiner Wahnsinn, denn sie müsste ihn so lange dem anderen Typen überlassen, der sicher jeden Augenblick zu sich kam. Das war zu gefährlich! Immerhin hatte sie ein Messer bei ihm gesehen und er hatte nicht den Eindruck gemacht, dass er es zum ersten Mal benutzte.
Also blieb ihr nichts weiter übrig, als den Verletzten von diesem Ort wegzubringen. Egal wie!
„Na, dann los!“, sagte sie etwas lauter als gewollt, um sich Mut zu machen. Sie zog seine Hand über ihre Schulter, umklammerte das Handgelenk und schob ihren anderen Arm um seine Taille. So schwankte sie mit ihm auf der unbeleuchteten Straßenseite in Richtung seines Autos.
Keine fünfzig Meter weiter knickte der Fremde allerdings ein und riss sie fast mit auf den Boden. Vorsichtig half sie ihm, sich in einem dunklen Hauseingang auf die Treppenstufen zu setzen. Dabei schaute sie sich immer wieder hektisch nach seinem Verfolger um.
Erschöpft lehnte er seinen Kopf an die Mauer, während Amelie nachdenklich seine Konturen beobachtete. Einzig die kleinen Atemwolken, die er angestrengt ausstieß, setzten sich ein wenig von der Dunkelheit ab, wenn sie in Richtung Laternenlicht abdrifteten.
„Okay, du wartetest hier und ich hol den Wagen“, flüsterte sie ihm zu und drehte sich weg, um loszurennen. Allerdings hielt er sie mit der einen Hand am Handgelenk fest, seine andere krallte sich in ihren Kragen und zog sie zurück.