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Was würdest du tun, wenn du das Gefühl hast, das Leben einer Anderen zu leben? Irgendetwas stimmt nicht! Olivias Leben steht Kopf. Seit eine alte Frau immer wieder wie aus dem Nichts in ihrer Zimmerecke erscheint, bringen fremde Erinnerungen die Sechzehnjährige beinahe um den Verstand. Panikattacken bestimmen ihren Alltag und die Schule hat sie längst abgebrochen. Als sie in dem Buchladen aushilft, in dem ihre Mutter arbeitet, und plötzlich ein junger Mann auftaucht, gerät ihre Welt vollkommen aus den Fugen. Der Fremde behauptet sie zu kennen, doch für Olivia ist es, als würde sie ihn zum ersten Mal treffen. Wenn da nicht dieses starke Gefühl wäre, tief mit ihm verbunden zu sein... Kann sie ihm vertrauen? Er sucht jemanden und Olivia soll ihm dabei helfen, jene Person zu finden. Doch die Dinge, die er ihr erzählt, sind so unfassbar, dass sie ihn und seine tatsächliche Existenz immer wieder in Zweifel zieht. Ist der Fremde real? Oder könnte es sein, dass all das, was gerade über sie hereinbricht, nur in ihrer Fantasie stattfindet? Um hinter dieses Geheimnis zu kommen, muss Olivia ihn wiedersehen und begibt sich damit auf eine Reise, die ihr gesamtes Leben verändern wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Über die Autorin:
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Impressum
„Du verfügst über das,
was in der Hand des Schicksals liegt,
und verlierst,
was du in deiner Hand hast.“
(Lucius Annaeus Seneca, Von der Kürze des Lebens, 9.Kapitel)
Eine ungewöhnlich stürmische Nacht legte sich über Etenya. In der kleinen Höhle spendete ein Lagerfeuer etwas Licht und wenig Wärme. Außerhalb heulte der Wind durch Tenya Nahele, bog die Bäume und zerrte an den Blättern. Es schien, als betrauerte er mit seinem Gesang die Zukunft dieser Welt.
„Töte ihn!“
Ihre eisblauen Augen blickten bis in die Tiefen seiner Seele und erschütterten etwas in ihm. In seinen Gedärmen rumorte es, als bewegten sich Ratten darin, die ihn bei lebendigem Leibe auffraßen.
„Denke an den Lohn, den ich dir versprochen habe. Erst den Sohn und dann den Vater.“
„Aber er ist mein Bruder!“
Die Alte drückte ihm ein warmes Bündel an die Brust. Instinktiv umschloss er es mit seinen Armen. Würde er es über das Herz bringen, zwei Menschen von seinem Blute zu töten, um an die Macht zu gelangen? War es das wert?
Ja, er war neidisch auf seinen Bruder, seit er denken konnte. Nur einige Minuten vor ihm war er aus dem Leib seiner Mutter gepresst worden und hatte damit das Geburtsrecht auf den Herrschertitel ergattert. Doch dies war sein Schicksal. Vorherbestimmt und genau so gewollt. Durfte er wirklich ungestraft in den Lauf der Dinge eingreifen? War es ihm tatsächlich gegeben, zu regieren - so, wie es ihm Pamuya Meda vor einigen Wochen prophezeit hatte?
„Wage es nicht, an dem zu zweifeln, was dir vorherbestimmt ist, Nayati! Ich bin dein Schicksal und halte die Fäden in der Hand.“ Sie sah ihn eindringlich an und wartete auf seine Zustimmung. Ihre Stimme kratzte wie Fingernägel auf Schiefer über seine Nerven.
Ein leises Stöhnen lenkte beide von ihrem Gespräch ab. Nayati schaute zu der Frau seines Bruders, die mit Hilfe ihrer Mutter vor wenigen Momenten entbunden hatte. Sie war im Delirium. Ihre wunderschönen Gesichtszüge waren eingefallen. Ihr rabenschwarzes, langes Haar klebte an ihrem schweißnassen Gesicht und am Hinterkopf war es zu wirren Nestern verknotet. Sie kämpfte bereits seit Stunden um ihr Leben und um das ihres Sohnes. Die offene Wunde, aus der die Alte den Säugling gezerrt hatte, sah abstoßend aus. Bei deren Anblick wurde ihm übel. Sie würde sicher ebenso wenig überleben wie ihr Kind. Was für eine Schande.
„Los! Verschwinde! Wirf es den wilden Tieren vor. Ich muss zumindest versuchen, meine Tochter zu retten. Er darf keinen Verdacht schöpfen.“
Er schaute Pamuya Meda noch einmal an, erschauderte und wendete sich ab, um die kleine Höhle zu verlassen und den Nachkommen seines Bruders umzubringen.
Sein Herz schmerzte. Seine Seele glich einer klaffenden Wunde, in die man Gift gegossen hatte. Wynono Hania weinte. Als Anführer der Tochos war dies keineswegs die angemessene Reaktion auf den Verlust seines ersten Sohnes. Doch hier in der Einsamkeit der Wildnis, hier auf Wapi Zaltana, fern ab von Dena Enola, dem Ort, an dem er lebte und sein Volk anführte, ließ er seinen echten Gefühlen ihren Lauf. Der Name des Berges, auf dessen Spitze er saß – glücklicher Berg – verhöhnte ihn. Niemals würde er seinem Sohn hier das Jagen beibringen, niemals die Resilienz nahebringen, die dieser Ort ihm bisher immer ermöglicht hatte.
Wynono Hanias tiefschwarzen Augen starrten in die Nacht hinaus. Aponovi, die sonst üppige Ebene, durch deren Schluchten der Wind heulte, erschien ihm heute trostlos und leer. Wie sein Herz, das beinahe an seinem Verlust zerbrach.
Sie ertrank. Die Gezeiten der Welten überfielen sie im Schlaf und legten ihr Bewusstsein lahm, indem sie ihm die Schranken der Zeit stahlen. Verbannt in alles Erlebte und noch zu Erlebende versuchte ihr Verstand, sich abzuschalten, doch auch dieser Fähigkeit war sie beraubt worden. Sie schrie in die Finsternis, doch nicht ein Laut verließ ihren Körper. Stattdessen flossen Erinnerungen aus dem Weltenmeer über ihre geöffneten Lippen in sie hinein und brachten sie um den Verstand.
War so der Tod?
War dies die Bestrafung des Schicksals, wenn man versuchte, sich gegen dessen Übermacht zu behaupten?
Schließlich wurde es still. Otekah Anevay ruhte, denn kein einziger ihrer Gedanken erschien am Firmament. Es war eine sternlose Nacht und eine gespenstische Stille herrschte auf der Lichtung.
„Sie wird kommen“, flüsterte die Alte mit tiefer Stimme und schaute mit ihren eisblauen Augen in die Dunkelheit. „Eines Tages wird sie aus der Ferne kommen, aus einer Welt, die wir nicht mehr kennen.“
Doch genau wie in der Finsternis zwischen den Welten verhallten ihre Worte im Nichts.
Geschichten haben einen Anfang und ein Ende. Wenn das letzte Wort verhallt ist, verschwinden all die anderen, genauso wie sie urplötzlich zu klingen begonnen haben.
Hin und wieder gibt es jedoch Geschichten, die drohen, niemals zu enden.
Hätte sie von Anfang an gewusst, dass ihre eigene zu genau jenen Geschichten gehören würde, hätte sie alles in ihrer Macht Stehende getan, sie nicht erzählen zu müssen. Sie hätte versucht, die anderen zu warnen und darauf hingewiesen, auf Dinge zu achten, die ihnen die Chance gegeben hätten, es frühzeitig zu beenden.
Jetzt begann sie plötzlich, zu wissen. Nach und nach sammelten sich Bruchstücke, die zu einem Ganzen werden sollten. Und es machte ihr furchtbare Angst. Jetzt lag es in ihrer Hand, das Richtige zu tun.
Olivia schnappte nach Luft. Riss die Augen auf. Starrte an die Zimmerdecke.
Sie wollte sich aufrichten, schaffte es aber nicht. Ihr Körper fühlte sich an, als würden Tonnen von Blei darauf liegen. Der Geruch von frisch gewaschener Bettwäsche lag in der Luft. Und es war still. Zu still.
Adrenalin schoss in kalten und heißen Wellen durch ihren Körper. Ihr Herz raste. Ihre Muskeln wurden unruhig. In den Ohren hörte sie ihr eigens Blut rauschen. Ihre Kleidung klebte schweißnass an ihrem bebenden Körper.
Verdammt! Nicht schon wieder!
Obwohl sie weiterhin das Gefühl hatte, ein Lastwagen hätte auf ihrem Brustkorb geparkt, versuchte sie, die in ihr aufkeimende Panik zu unterdrücken. Genau so, wie sie es seit Monaten geübt hatte, sog sie ganz bewusst den Atem durch die Nase ein, ließ ihn in ihre Lunge strömen, tankte sich mit Sauerstoff auf, entließ die verbrauchte Luft langsam wieder. Überlebte. Einatmen und ausatmen. Ein und aus.
Mit jedem tiefen Atemzug vernetzten sich ihr Körper und ihr Geist wieder miteinander und all die Erinnerungen ergossen sich in ihr, als wäre sie ein leeres Gefäß, das von Neuem mit altem Ballast befüllt wurde. Brackwasser des Lebens. Faulig und Übelkeit erregend.
Sie hatte den Schritt in den Abgrund wieder nicht bis zum Schluss gewagt, hatte ihrem Leben kein Ende gesetzt. Hatte gestern Abend gerade nur so viele von den Tabletten ihrer Mutter genommen, dass es nicht gefährlich wurde. Eigentlich wollte sie endlich Schluss mit all dem machen, was sie nicht mehr ertragen konnte.
Was musste denn noch passieren, bis sie es endlich ernst genug meinte?
Verzweifelt presste sie die Augenlider zusammen. Vielleicht sollte sie einfach hier in ihrem Bett liegen bleiben und niemals wieder aufstehen. Was erwartete sie schon da draußen in der Welt. Die kam ihr ohnehin vor wie ein großes schwarzes Loch, das ständig an ihr zerrte, sie in den Abgrund ziehen wollte, in die Finsternis. Ins Nichts.
Heiße Tränen brannten in ihren Augen, lösten sich seitlich unter ihren Wimpern hinweg, liefen kitzelnd über ihre Wangen und verschwanden an ihrem Schlüsselbein im feuchten Stoff ihres Oberteils.
Der Brief!
Sie hatte einen Abschiedsbrief geschrieben, der auf ihrem Nachttisch neben ihrem Bett lag. Plötzlich federleicht fuhr sie hoch und griff nach ihm. Doch bevor sie ihn erreichte, erstarrte sie in ihrer Bewegung.
Während ein eiskalter Schauer alle Härchen auf ihrem Körper aufstellte, starrte sie auf das, was in der Ecke ihres Zimmers wartete.
„Was willst du von mir?“
Mehr als ein zittriges Flüstern bekam sie nicht hin.
Aber auch dieses Mal würde sie keine Antwort bekommen. Da war sie sich sicher.
Der Wind jagte dicke graue Wolken über den Himmel und verbog die alten Bäume auf dem Klinikgelände. Der Regen prasselte lautstark gegen die Fensterscheibe, durch die Olivia von innen das Spektakel betrachtete. In ihrer Hand hielt sie einen Bleistift. Auf ihrem Schoß lag ein Buch mit leeren Seiten – ein weiteres Projekt ihrer Psychiaterin, um sie zum Kommunizieren zu bewegen.
Ihre Mutter hatte sie zu dieser Therapie überredet, nachdem Olivia in ihrem Beisein eine Panikattacke bekommen und die Wand angeschrien hatte. Es hatte über ein halbes Jahr gedauert, bis sie einen ambulanten Therapieplatz bekommen hatte. Aber Olivia wollte, nein, konnte nicht über diese Dinge reden, die ihr seit kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag passierten. Die Dinge, die sie immer wieder in Panik versetzten. Deshalb hatte ihr die Psychiaterin, die sich ihr mit „Nenn mich ruhig Mona“ vorgestellt hatte, ein Tagebuch gegeben, in das sie alles hineinschreiben sollte. Doch womit sollte sie die Seiten füllen, wenn sie innerlich aus einer Finsternis bestand, die für sie selbst so undurchdringlich war, wie ihre äußere Schale für ihre Umgebung?
Und was würde passieren, wenn all das, was manchmal vor ihrem inneren Auge aufblitzte und sie vollkommen einnahm, als wäre es die Realität, von jemandem gelesen wurde. Diese Bilder kamen ihr vor, wie Erinnerungssplitter eines zertrümmerten Spiegels, in dem sie zwar ihr Ebenbild sah, der ihr aber ein längst gelebtes Leben zeigte, das noch vor ihr lag.
Wie sollte sie für so etwas passende Worte finden, die nur annähernd das wiedergaben, was mit ihr geschah?
„Und sie spricht niemals?“
Sie hörte zwar die Stimme ihrer Psychiaterin, dennoch war es in diesem Moment wichtiger, den Wolken zuzusehen, ihnen zu folgen und fest daran zu glauben, dass sie sich innerlich nur erheben musste, um endlich von diesem Ort zu entfliehen, zu verschwinden und ihre leere Hülle zurückzulassen.
In solch einem Moment hätte sie keinen Einfluss mehr auf Olivias Leben.
Sie wandte ihren Blick von dem tröstlichen Getöse am Himmel ab und schaute kurz zu der Ärztin. Verängstigt ließ sie ihn von dort über die Buchrücken im Regal dahinter in die Ecke des Raumes wandern. Da stand sie!
Olivias Körper erstarrte, während ihr Herz vor Angst raste. In ihrer Körpermitte zog sich alles regelrecht zusammen und ließ einen Druck darin entstehen, der ihr die Luft zum Atmen abdrückte. Aus ihrer feuchten Hand fiel der Stift in die Mitte des Buches. Olivia klappte es zu. Kaum wahrnehmbar schüttelte sie ihren Kopf und senkte dabei den Blick. Diese eiskalten Augen. Ihre Haut begann, unangenehm zu kribbeln. Heiße Tränen kritzelten beim Hinunterlaufen alte Geschichten in ihre Wangen. Mit einer schnellen, fahrigen Bewegung wischte sie diese weg.
„Nicht richtig“, flüsterte Olivia. Eher ein Hauchen als eine Stimme.
Mit gerunzelter Stirn beugte sich Mona leicht nach vorn, stützte sich mit ihren Unterarmen auf den Knien ab und ließ ihren forschenden Blick über ihr Gesicht wandern.
„Wie? Wie meinst du das? Spricht sie in deinem Kopf?“, fragte sie und tippte leicht gegen ihre Stirn.
Olivia schloss für einen Moment ihre Augen, um sich zu konzentrieren. Was sollte sie tun?
Mona dachte sicher, sie wäre verrückt, hätte Halluzinationen, würde sich die Dinge einbilden, die passiert waren oder die noch passieren würden. Olivia war sich aber sicher, dass alles real war - auch wenn sie es nicht erklären konnte.
„Du kannst mir vertrauen. Sie wird dir nichts tun.“
Olivia riss die Augen auf und starrte Mona an. Das Kribbeln auf ihrer Haut verstärkte sich schmerzhaft, pure Angst pflügte darüber hinweg und hinterließ tiefe unsichtbare Riefen.
Mit zitternden Händen strich sie sich über die Arme.
Ihre Augen brannten. Ihr Körper bebte und sie umschlang ihn mit ihren Armen, um sich selbst festzuhalten.
„Sie …“ Olivia schluckte hart gegen die Trockenheit in ihrem Hals an. „Sie guckt nur.“
„Sie guckt?“
Olivia nickte. „Ja, sie steht nur da und starrt mich an.“ Ihr Blick huschte kurz zurück in die Zimmerecke. Danach sah sie zurück zu Mona und senkte erneut ihre Stimme. „Aber ich weiß trotzdem, was sie mir sagen will.“
Irritiert drehte sich Mona seitlich um und starrte einen Moment lang ebenjene Stelle an. „Ist sie gerade in diesem Augenblick hier?“
Natürlich stand sie nicht mehr dort. Auch ohne direkt hinzuschauen, hatte Olivia das verräterische Flackern bereits wahrgenommen, noch bevor Mona auf die Idee gekommen war, sich tatsächlich umzudrehen. Sie spürte ihre Anwesenheit dennoch.
Olivia nickte verhalten und senkte ihren Blick.
„Und was sagt ihr Starren dir jetzt?“
Sie brauchte sie nicht zu sehen. Sie spürte die Antwort. Olivia musste schweigen. Sonst würde etwas Schlimmes geschehen. Etwas derart Schreckliches, dass sie sich aus eigener Vorstellungskraft gar kein Bild davon machen konnte, was es sein würde. DAS war es, was in dem Blick der Alten lag.
Unentschlossen knabberte sie auf ihrer Unterlippe und fummelte an einem Faden herum, der sich vom Bündchen ihres Sweatshirts gelöst hatte. Schließlich gab sie sich einen Ruck, atmete tief durch und blickte zurück in Monas besorgte Augen. Ihre Augenlider flatterten kurz nervös. Sie würde Mona jetzt einfach von der Reise erzählen, zu der sie aufgefordert wurde, um endlich das zu erfüllen, was alle von ihr erwarteten – die sie allerdings auf keinen Fall antreten würde. Sie würde ihr von all den unaussprechlichen und auch grausamen Dingen erzählen, die ihr die Ärztin doch nicht glauben würde. Aber vielleicht würde es ihr helfen, die Last loszuwerden, die sie zu zerquetschen drohte. Vielleicht könnte sie danach wieder richtig durchatmen. Womöglich würde das Universum nicht mehr permanent auf sie einstürzen und sie bewegungsunfähig machen.
Sie öffnete ihren Mund, setzte sich aufrecht hin. Dabei rutschte das Büchlein von ihrem Schoß, der Stift darin löste sich aus den Seiten und kullerte über den Boden am Stuhl der Psychiaterin vorbei und stoppte an einem Schuh. Olivia verfolgte den Stift mit ihrem Blick. Sie!
Die Alte hockte hinter der Rückenlehne der Ärztin, fixierte sie mit einem warnenden Blick, verschloss die Lippen mit ihrem runzligen Zeigefinger und schüttelte langsam den Kopf.
Olivia erstarrte erneut.
Sie durfte es niemandem sagen!
Ihr Blick wanderte wieder zurück zu Mona, die sie unbeirrt anschaute und eine Antwort erwartete. Verdammt!
Eine kleine Schweißperle löste sich zwischen Olivias Schulterblättern und rieselte ihre Wirbelsäule entlang. Sie schluckte hart. Schluckte alle ehrlichen Worte, alle verwirrenden Gedanken hinunter, schob alle in ihr schrillenden Hilferufe beiseite und fragte: „Wäre es vielleicht möglich, dass wir die Dosis meiner Tabletten noch einmal erhöhen?“
„Der helle Wahnsinn, Livi! Es wurde ein Wolf in unserer Gegend gesichtet! Hast du es schon gehört?“
Kaum hatte Olivia den kleinen Buchladen betreten, in dem ihre Mutter arbeitete und sie selbst manchmal aushalf, schon begrüßte sie die aufgeregte Stimme der Besitzerin.
„Sie sind alle völlig aus dem Häuschen.“
Olivia ging mit gerunzelter Stirn um die Ladentheke, auf der ein Laptop stand. Der Bildschirm zeigte eine Facebook-Seite, auf der alles Mögliche über das seltene Tier gepostet wurde.
„Ich dachte, es gibt hier überhaupt keine freilebenden Wölfe mehr“, murmelte sie und zog dabei ihre Jacke aus.
Frida klickte währenddessen auf ein gepostetes YouTube-Video und machte den Ton lauter. Der Filmende befand sich hinter einem Baum im Stadtpark. Olivia erkannte den kleinen See, an dem sie regelmäßig mit dem Fahrrad vorbeifuhr, wenn sie in die Bibliothek wollte. Ein leises Getuschel war zu hören. Schließlich trabte ein Wolf suchend über die Wiese, als hätte er eine Spur aufgenommen.
„Oh, mein Gott! Schau dir das an! Schau dir das an!“, flüsterte eine aufgeregte Stimme immer wieder.
Als ob der Wolf das Gesagte gehört hätte, verharrte er plötzlich in seiner Bewegung und schaute direkt in die Kamera. Direkt zu Olivia. Sie erstarrte. Dieser Blick fuhr ihr bis ins Knochenmark. Rieselte durch ihren Körper und hallte darin nach. Als wüsste er, dass sie dies sehen würde, starrte er für eine kleine Ewigkeit in ihre Richtung. Wartete, als würde er überlegen, was als Nächstes zu tun war. Olivia strich sich fröstelnd über die Arme und zog sich einen Schritt weit zurück.
Das konnte nun wirklich nicht sein!
Im nächsten Moment hatte sich der Wolf entschieden. Er legte seinen Kopf in den Nacken und begann zu heulen. Der langgezogene Ton, der seiner Kehle entfuhr und niemals mehr enden zu wollen schien, folgte seinem Blick, durchfuhr ihren Körper, traf Olivia tief in ihrem Inneren. Als der Klagelaut weit genug vorgedrungen war, löste er ein Erinnerungsgewitter in ihr aus, das sie auf immer verändern, nachhaltig seine Spuren hinterlassen würde.
Wie in einem Vakuum vergaß selbst die Zeit zu vergehen. Tausende von Bildern jagten urplötzlich durch ihren Verstand. Frauen, die sich in Berglöwen verwandelten, riesige Adler, die Olivia umkreisten, um sie schließlich mit in die Lüfte zu nehmen, übergroße Kämpfer, deren Körper in die Gestalt von Bären wechselten und schließlich ein Rudel Wölfe, deren leuchtenden Augen gefährlich aus einem Waldstück funkelten und die sich wiederum in Menschen verwandelten. Sie flog sogar auf einem der Adler und umkreiste eine Stadt, die in einem roten Felsen lag und deren Wohneinheiten mit unzähligen Seilen und Holzplanken verbunden waren. Olivias Herz jagte den Gedanken hinterher und sie vergaß dabei zu atmen.
Wie konnte das sein? Menschen, die sich in Tiere verwandelten? Drehte sie jetzt vollkommen durch?
Plötzlich zog sie ein Beben aus diesem Zustand heraus. Frida hatte sie an ihren Schultern gepackt und schüttelte sie heftig. Nach und nach kam Olivia wieder zu sich und atmete tief durch. Keuchend beugte sie sich nach vorn und schnappte verzweifelt nach Luft.
„Soll ich einem Arzt rufen? Deine Mutter holen?“ Fridas Stimme klang aufgeregt und mit ihrer rechten Hand strich sie die ganze Zeit über Olivias Rücken, die jedoch den Kopf schüttelte und abwehrend ihre Hand hob.
„Nein, es geht gleich wieder vorbei“, presste sie hervor und konzentrierte sich darauf, sich zu beruhigen.
Sie schloss die Augen und sah erneut das letzte innere Bild, das sie erblickt hatte, bevor die Realität sie zurückeroberte. Es war ein Berglöwe, der auf einer Lichtung saß und sie ansah. In seinem Blick lag etwas schwer zu Deutendes. War es die Freude, sie zu sehen? War es Hoffnung oder sogar Liebe, die in seinen Augen aufblitzte?
Olivia riss ihre Lider auf und starrte den Boden vor ihren Füßen an. Das war selbst für ihre Verhältnisse zu abgedreht. Wie kam sie nur darauf, diese Gefühle in den Blick eines Tieres zu interpretieren.
Wieder einmal legte sie ihre Stirn in Falten und sie richtete sich langsam auf. Der Puls rauschte zwar noch in ihren Ohren, aber insgesamt hatte sich das Beben in ihrem Inneren beruhigt.
„Willst du lieber wieder nach Hause gehen und dich ein wenig ausruhen? Vielleicht war es noch zu früh, wieder zur Arbeit zu kommen?“ Frida sah sie mit besorgter Mine an und streichelte immer noch über ihren Arm.
Einen kurzen Augenblick lang dachte Olivia über diese Möglichkeit nach, doch dann schüttelte sie den Kopf. Die Vorstellung, jetzt allein in ihrem Zimmer zu sein, schnürte ihr die Kehle zu. Sie brauchte die Ablenkung, die ihr dieser kleine Laden bot.
Seit einigen Monaten war ihr Leben die reinste Katastrophe und sie wollte alles dafür tun, nicht allein sein zu müssen. Denn wenn sie es war, kam diese alte Frau, Pamuya Meda. Sie hatte Olivia nie ihren Namen genannt, dennoch kannte sie ihn von Anfang an. Zunächst hatte Pamuya nur dagestanden und Olivia beobachtet. Nach und nach war immer deutlicher geworden, was Pamuya Meda von ihr wollte. Olivia sollte ihr folgen. Wohin? Das wusste sie nicht. Sie sollte ein Versprechen einlösen, von dem sie sich nicht erinnerte, es je gegeben zu haben.
Die Furcht davor, ihren Verstand zu verlieren, hatte Olivia irgendwann dazu gebracht, ein Buch nach ihr zu werfen, als die Alte erneut unvermittelt aufgetaucht war. Es fiel allerdings nicht, wie erwartet, durch sie hindurch und knallte auch nicht gegen die Wand hinter der Frau, sondern es prallte von ihrem Körper ab und blieb vor ihren Füßen liegen.
Dies war der Moment, in dem Olivia klar wurde, dass Pamuya Meda real war und sie selbst womöglich in Gefahr, sich selbst zu verlieren.
Es lagen Monate voller Angst, Alpträumen und Therapiesitzungen hinter ihr. Seit etwa einem Dreivierteljahr hatte Olivia immer wieder diese Gedankengewitter, die wie Erinnerungen auf sie einstürmten und ihr die verrücktesten Dinge zeigten. Menschen, die sie niemals zuvor gesehen hatte. Landschaften, die ihr gleichzeitig vertraut und vollkommen fremd erschienen. Brutale Taten, die sie niemals begangen hatte. Ein finsterer Raum, in dem sie nackt und hilflos eingesperrt war, begleitet von einem furchteinflößenden Knurren, das anschwoll, sobald sie sich bewegte.
All das hinderte sie daran, ein normales Leben zu führen. Sie hatte vor dem Sommer ihre Mittlere Reife abgeschlossen und war bereits an der Schule angemeldet gewesen, auf die auch ihr Stiefbruder Sven ging und bald sein Abitur machte. Das konnte sie alles vergessen. Alles, was sie sich für ihre Zukunft ausgedacht und geplant hatte, war mit dem Auftauchen von Pamuya Meda zum Scheitern verurteilt worden.
Nachdenklich sah Olivia die Besitzerin des Buchladens an und versuchte ein Lächeln.
„Lass mich die neue Ware einsortieren.“
Sie hielt einen Moment inne, schaute noch einmal auf das Standbild des Wolfes, der noch immer seinen Kopf in den Nacken geworfen hatte. Frida hatte offenbar sofort das Filmchen gestoppt, als Olivias Anfall begonnen hatte. Schließlich sah sie zurück in das besorgte Gesicht und sagte: „Und sag meiner Mutter nichts davon. Bitte!“
Einen Moment lang schaute Frida sie zweifelnd an, nickte dann aber und versprach es ihr.
Schließlich folgte Olivia ihr ins Lager und schnappte sich einen Karton voller Bücher, um diese nach Genre vorzusortieren.
Auf dem Weg nach Hause wurde Olivia von dem Drang überwältigt, zu rennen - vielleicht um ihr Leben, vielleicht auch um das eines anderen. Sie rannte durch die beginnende Dunkelheit. Wolkenscharen stürmten über den Abendhimmel, als wären sie getrieben von ihrer Angst, ihrem plötzlichen Impuls, wegzurennen – von hier, aus dem Jetzt, aus ihrem Leben. Die aufgewühlte Atmosphäre spiegelte ihr Innerstes wider.
Nach einiger Zeit verlangsamte sie ihre Schritte und blieb schließlich stehen, starrte mit ihrem verfinsterten Blick in die Wolken, während ihr der Wind die dunklen Haare über das Gesicht legte.
Ich will das alles nicht!
Ein Gedanke, der sie hilflos machte, denn sie hatte keine Chance. Ihre Zukunft hatte sich offenbar gestaltet, lange bevor sie den ersten Atemzug getan hatte.
Der Abend war recht warm. Obwohl Vollmond war, ließ sich dieser nirgends entdecken und versteckte sich hinter der grauen Wolkendecke. Wie feige von ihm!
Als sie sich wieder in Bewegung setzen wollte, bemerkte sie, dass sich ihre Schnürsenkel geöffnet hatten. Irritiert schaute sie an sich hinunter, dann in ihre Umgebung. Der Park. Der See. Wie war sie hierhergekommen? Bewusst hatte sie diese Entscheidung nicht getroffen.
Sie hockte sich in der Mitte des Weges hin, um ihren Schuh erneut zu binden, als sie eine flüchtige Bewegung einige Meter weiter zwischen den Büschen bemerkte.
Noch bevor sie ihn sah, spürte sie seine Anwesenheit. Er starrte sie mit seinen hellen Augen an. Sein Blick würgte ihre Kehle, nahm ihr den Atem. Das Herz schlug derart gegen ihre Rippen, dass sie glaubte, diese würden zerbersten. Sofort verharrte sie in ihrer Bewegung und richtete den Blick ihrerseits auf ihn.
Der dunkle Wolf stand mit gesenktem Kopf mitten auf dem Weg. Sein Nackenhaar war gesträubt. Er bleckte die Zähne und war ebenfalls in seiner Bewegung erstarrt. Ein leises Knurren entwich aus den Tiefen seines Körpers und ließ sämtliche Haare an ihrem Körper zu Berge stehen.
Olivia spürte in sich den Impuls, aufzustehen und wegzulaufen. So schnell wie möglich!
Doch das war von allen Möglichkeiten, die sie überhaupt hatte, die denkbar Schlechteste. Schwitzen war die Zweitschlechteste! Darauf hatte sie allerdings wenig Einfluss.
Rasch senkte sie ihren Blick, wich seinem aus und gab damit dem Tier instinktiv die Position, die ihm in diesem Moment zuzustehen schien. Sein Körper entspannte sich und er hob leicht seinen Kopf.
Bewegungslos hockte Olivia zwischen raschelnden Büschen, während sich der Wolf lautlos näherte und sie unerträglich langsam umkreiste. Er verschwand aus ihrem Blickfeld. Atemlos schloss sie ihre Augen und spürte überdeutlich die Wildheit in ihm.
Was sollte sie tun?
Würde er sie angreifen?
Hatte sie überhaupt noch eine Chance, zu überleben?
Bleib stehen und sag kein Wort!, flüsterte plötzlich eine männliche Stimme in ihr, fremd und gleichzeitig so vertraut, dass sie darauf blindlinks hörte.
Olivia runzelte die Stirn. Woher kam plötzlich dieser immens starke Überlebenswille?
Jede Faser ihres Körpers verkrampfte sich. Ein eiskalter Schauer durchfuhr sie. Der Wolf trat von hinten an sie heran. Im nächsten Moment nahm sie ein leises Schnuppern direkt neben ihrem rechten Ohr wahr. Seine feuchte Nasenspitze berührte sie sacht, während der warme Atem des Wolfs über ihre Haut strich und ein schmerzhaftes Kribbeln über den Körper fahren ließ. Ihr Herz drohte bei jedem Schlag, zu platzen. Sie war sich sicher, dass es im nächsten Moment einfach stehen bleiben und ihr Körper tot in sich zusammensacken würde.
Dazu war sie jedoch nicht bereit! Nicht jetzt! Nicht so!
Warum auch immer.
Ganz im Gegenteil, sie wollte lieber kopflos wegrennen und nach Hilfe schreien, die ihren Verstand einnehmende, in ihr brodelnde Panik in die Welt hinaus brüllen. Allerdings ahnte sie, wie fatal solch eine Reaktion für sie enden könnte. Also ließ ihr der plötzlich erwachte Überlebensinstinkt keine andere Wahl, als die Emotionen auszuschalten und einfach ruhig zu bleiben. Den Atemfluss langsam in sich hinein und wieder hinaus fließen zu lassen. Einatmen und ausatmen. Ein und aus.
Olivia konzentrierte sich darauf, einen stillen Ort in sich zu finden, um diese unheimliche Begegnung zu überstehen. Doch je länger sie in ihrem Inneren verweilte, umso erstaunter war sie. Statt der ersehnten Stille fand sie eine ungewöhnliche Hitze, die tief in ihrem Inneren entstand und sich in jede ihrer Nervenbahnen fraß. Sie zitterte vor Angst, vor Wut, aus dem Drang heraus, sich wehren zu wollen. Irritiert von dem Gefühl, die Ohren anlegen zu wollen, bemerkte sie, wie sie selbst ihre Zähne lautlos fletschte. Ihre Sinne schärften sich, während sie sich mit einem Mal der gesamten Geräusche ihrer Umgebung bewusstwurde. Aber da war noch mehr. Es war die Art, wie der Wolf duftete.
Olivia schluckte verwirrt ihre Furcht vor ihm hinunter.
Unbewusst legte sie ihren Kopf schräg und spürte das Fell des Wolfes sacht an ihrem Nacken. Er hielt inne. Die Welt schien erneut stehen zu bleiben. Ihr Herz setzte aus, ergriffen von dem Gefühl, das seine zarte Berührung in ihr auslöste. Im selben Moment riss plötzlich die Wolkendecke auf. Der Vollmond warf sein Licht auf den Park. Aus der Ferne hallte der Ruf eines Mannes über die Wege und Rasenflächen. Ein leises, kehliges Knurren dicht neben ihrem Ohr entwich dem Maul des Wolfes. Ohne es zu wollen, zuckte Olivia zusammen. Ein kaum wahrnehmbares Wimmern entfloh ihren Stimmbändern.
Doch dies alles schien für den Wolf von einer Sekunde zur nächsten irrelevant. Die bereits angebrochene Nacht hatte ihn gerufen und er folgte ihr in die Dunkelheit. Olivia drehte sich zu ihm um, als sie spürte, dass er verschwand, doch sie sah nur noch einen Hauch von Schatten, der mit den Konturen des Gebüsches verschmolz. Mit geschärftem Gehör lauschte sie konzentriert und wartete gespannt auf den Augenblick, in dem sie nichts mehr hören würde.
Schließlich band sie ihren Schnürsenkel zu und schaute erneut auf, denn im nächsten Moment stand ein Polizist vor ihr und blendete sie mit seiner Taschenlampe.
„Was machst du denn hier im Dunklen?“, fragte er besorgt. „Abgesehen davon, dass es nicht gerade schlau ist, um diese Zeit allein im Park Laufen zu gehen, ist hier heute ein wilder Wolf gesichtet worden. Hast du nichts davon mitbekommen?“
Erschrocken starrte Olivia den Mann an, schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf und stand langsam auf.
Sie fühlte sich plötzlich so ausgelaugt, als wäre sie tatsächlich einen Marathon gelaufen, bekam aber nicht ein Wort über den Wolf über die Lippen.
„Komm! Ich bringe dich nach Hause“, bot er ihr an und sie nickte stumm.
„Wie bitte? Die Polizei hat dich nach Hause gebracht? Ich komme!“
Verdutzt schaute Olivia ihr Handy an und legte es kopfschüttelnd an die Seite. Sven, ihr Stiefbruder, hatte einfach die Verbindung unterbrochen und war, ohne auch nur eine Erklärung abzuwarten, einfach losgefahren. Denn tatsächlich dauerte es keine zwanzig Minuten, bis er mit besorgtem Gesicht in ihr Zimmer stürmte.
Olivia lag mittlerweile auf ihrem Bett ausgestreckt und begann zu schmunzeln, als sie ihn sah.
„Warum hat dich die Polizei nach Hause begleitet und wo hat sie dich gefunden? Was ist passiert, Livi?“
Während er sich bestürzt auf ihrer Bettkante niederließ, setzte sie sich auf, zog die Beine an und wartete ab, bis er endlich etwas zur Ruhe gekommen war. Erst dann lächelte sie ihn an und erzählte ihm von der Begegnung mit dem Wolf.
„Das ist doch Wahnsinn! Du hättest dabei draufgehen können. Wie geht es dir denn jetzt? Hast du deine Tabletten genommen?“
„Welche Tabletten?“
Langsam wurde diese Unterhaltung etwas seltsam.
„Du warst doch heute wieder bei der Therapie. Sie muss dir doch irgendwelche Tabletten verschrieben haben. Genau für solche Situationen.“
Irritiert beobachtete sie ihren Bruder, wie er aufsprang und sich suchend im Zimmer umsah.
„Sven.“
„Ja?“
Er sah gar nicht auf, sondern öffnete eine Schreibtischschublade und durchsuchte sie oberflächlich. Das ging nun wirklich zu weit! Als er sich der zweiten widmen wollte, spürte Olivia erneut diese wütende Hitze in sich aufsteigen, die immer mehr ihren Verstand lähmte und sie instinktiv reagieren ließ.
„Sven!“, rief sie nun vehementer, sprang dabei von ihrem Bett auf und war im nächsten Moment bereits bei ihm. Mit einem festen Stoß schubste sie ihn von ihren Sachen weg, während er ins Straucheln kam und damit kämpfte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Was soll das?“, brüllte er sie aufgebracht an. „Ich wollte dir doch nur helfen.“
Olivia stand vor Wut schwer atmend vor ihm und blinzelte zornig die aufsteigenden Tränen weg. „Die Tabletten helfen mir aber nicht bei Begegnungen mit einem Wolf. Vor allem nicht, wenn du sie mir geben willst. Selbst du glaubst, ich bin so verrückt, dass ich mir das alles nur eingebildet habe und Wahnvorstellungen habe!“
Sie war entsetzt über ihre Reaktion, über ihre Enttäuschung und ihre Verzweiflung. Jetzt stellte auch noch Sven die Klarheit ihres Verstandes infrage.
Schweigend starrten sie sich einen Augenblick an, bis ihr Stiefbruder schließlich auf sie zuging, sie an ihrem Arm zu sich zog und sie fest umarmte. „Es tut mir leid“, flüsterte er leise in ihr Haar. „Du hast recht! Ich versuche, mich zu bessern.“
So blieben sie noch eine Weile stehen, bis Olivia spürte, dass sich ihre innere Hitze wieder gelegt, sowie Herz und Atem wieder ein normales Tempo angenommen hatten. Vorsichtig löste sie sich aus seiner Umarmung und ging zurück zu ihrem Bett.
Sven folgte ihr und machte es sich neben ihr mit dem Rücken an der Wand bequem. „Und du bist sicher, dass es tatsächlich ein Wolf war?“
Olivia strahlte ihn an und nickte. Schließlich hob sie den neben ihrem Bett platzierten Laptop auf ihren Schoß, öffnete ihn und zeigte ihm das YouTube-Video.
„Ja, Sven, es war ein Wolf – und zwar genau dieser hier!“
Er schaute sich den kurzen Film konzentriert bis zum Schluss an und schüttelte dann den Kopf. „Krass! Hattest du keine Angst?“
„Ich habe mir fast in die Hose gemacht!“
Sie sahen sich an und kicherten gleichzeitig los.
„Kein Wunder! Mir wäre es nicht anders ergangen.“
„Du glaubst gar nicht, wie aufregend das war. Und das Verrückteste daran war, dass ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, er würde mich kennen.“
Sven wurde ernst und runzelte die Stirn. „Wie kommst du darauf?“
Sie hob die Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht, weil er so vorsichtig geschnuppert hat, als würde er sicher gehen wollen, dass ich es wirklich bin.“
Er starrte sie einen Moment lang an und sie konnte ihm ansehen, dass es in ihm tobte. Schließlich grinste er. „Er schnupperte vorsichtig und wollte sichergehen, dass du es tatsächlich bist?“
„Ja.“ Olivia lachte los. „Ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären soll.“
„Dass du jetzt keine Pillen brauchst, dass akzeptiere ich mal so, aber hattest du denn vor der Begegnung mit dem Wolf welche eingeworfen?“
„Du bist gemein!“, rief Olivia lachend, griff nach ihrem Kopfkissen und schleuderte es ihm mitten ins Gesicht. „Du sollst mich ernst nehmen! Verdammt!“
Als Sven sah, dass seine Schwester nach dem nächsten Stoffgeschoss griff, ließ er sich lachend zur Seite fallen und versuchte, den drohenden Angriff abzuwehren, indem er die Arme schützend um seinen Kopf legte.
„Da verlangst du aber ganz schön viel von mir, Schwesterherz“, prustete er dennoch los.
Im selben Moment hielt Olivia plötzlich inne.
Wie aus dem Nichts brachen neue Erinnerungsstücke aus einem verborgenen Gedächtnis wie eine Schneelawine über sie ein, nahm ihr für Sekunden die Sicht und füllten ihr Inneres mit Eiseskälte. Jeder Atemzug hinterließ einen stechenden Schmerz.
Erschrocken richtete Sven sich wieder auf.
„Was ist?“
Seine Worte drangen wie aus weiter Ferne zu ihr. Der feste Griff, mit dem er ihren Körper zu schütteln begann, fühlte sich wie eine seichte Berührung an. Nichts davon erfasste Olivia tatsächlich.
Von einem Augenblick zum nächsten fühlte es sich an, als würde sie wie Wasser durch einen Abfluss zurück in ihre Realität zurückgespült. Sven hatte immer wieder ihren Namen gerufen, hielt plötzlich inne und schaute ihr tief in die Augen. Schließlich schüttelte er verwirrt den Kopf und verengte die Augen. „Bist du wieder bei mir?“
Olivia starrte ihn entgeistert an und nickte dabei leicht.
„Gut!“ Er ließ sie los und fuhr sich fahrig durchs Haar.
„Scheiße, was war das, Livi? Das war gruselig!“
„Was denn?“ Erst jetzt sah sie, dass Sven völlig angespannt vor ihr saß und Grauen in seinen Augen lag.
Er atmete einmal tief durch, setzte sich etwas entspannter, aber immer noch recht steif zurück und starrte vor sich hin. Kopfschüttelnd hob er seine Hände und ließ sie gleich wieder auf das Bett fallen.
„Ich… ich weiß nicht genau“, stammelte er. „Dein Blick rückte irgendwie nach innen, deine Pupillen haben sich derart geweitet, dass deine Iris nicht mehr zu sehen war und tief in dieser Finsternis …“
„War ein Leuchten, dass in dir den Wunsch auslöste, in mich zu kippen.“
Sven erschauderte sichtbar und sah Olivia nickend an.
Sie schluckte hart. „Hast du noch mehr gesehen?“
Diese Frage verneinte er allerdings. Vorsichtig berührte sie ihn an seinem Arm.
„Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat, Sven. Aber manchmal habe ich das Gefühl, schon einmal gelebt zu haben.“
Die Temperatur in ihrem Zimmer schien augenblicklich zu sinken. Auf dem Arm ihres Bruders zeichnete sich eine Gänsehaut ab. Dennoch erzählte sie weiter. „Mir begegnen Personen oder ich weiß plötzlich Dinge, die ich nicht wissen kann. Dennoch habe ich diese Kenntnisse, weil ich schon einmal alles erlebt habe.“ Als Sven etwas darauf sagen wollte, stoppte sie ihn mit einer kleinen Geste ihrer Hand. „Ich weiß, dass sich das jetzt wirklich seltsam anhört. Es macht mir ebenfalls Angst, weil ich es nicht verstehe.“ Sie atmete tief durch und schluckte. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. „Wenn ich eines Tages nicht mehr hier sein werde und du nach mir suchst, dann werden es die Adler sein. Vergiss das bitte niemals!“
Sven runzelte die Stirn. Langsam drehte er den Kopf und ließ seinen Blick über die Zeichnungen wandern, die Olivia angefertigt und an die gegenüberliegende Wand geklebt hatte. An dem Abbild eines riesigen Adlers, der direkt in die Augen des Betrachters starrte, blieb er hängen.
Schließlich sah er zu ihr zurück, nickte leicht und zog sie noch einmal in seine Umarmung. „Ich kapiere zwar nicht, was das alles bedeuten soll, aber ich glaube dir, Olivia! Und ich werde es nicht vergessen. Das verspreche ich dir.“
Nachdem Sven gegangen und sie wieder allein war, ließ sie sich nach hinten aufs Bett fallen, starrte an die Zimmerdecke und legte ihre Hände auf ihren Bauch - auf die Stelle, die ihr seit Monaten Schmerzen verursachte. Sie war so taub, dass sie weh tat. Etwas fehlte, das wie ein weiteres lebensnotwendiges Organ dort hingehörte und jetzt verschwunden war. Sie konnte sich bisher keinen Reim darauf machen. Sie wusste nur, dass diese offene Wunde, die keiner zu sehen schien, der Grund dafür war, dass sie nicht mehr mit ihrem Leben klarkam, manchmal in finsteren Stunden keinen Sinn mehr darin sah, weiterzumachen. Als wäre ihr etwas brutal entrissen und selbst aus ihrem Gedächtnis gelöscht worden.
Doch an dem heutigen Tag war etwas geschehen. Was es genau war, konnte Olivia nicht sagen. Aber irgendetwas war anders, seit sie den traurigen Blick des Wolfes gesehen hatte, sein einsames Heulen gehört hatte. Als hätte etwas Tröstliches darin gelegen und ihr ein wenig Zuversicht geschenkt. Zumindest tat die Taubheit an diesem Abend ein bisschen weniger weh.
Als Olivia am nächsten Tag mit einem Stapel Bücher in einem kleinen abgetrennten Gang stand, bannte plötzlich ein Cover ihre Aufmerksamkeit. Ein kleiner blonder Junge schaute nachdenklich in den sepiagrauen Himmel, an dem die Lettern des Titels hingen. Der Duft des Wolfes, den sie am Abend zuvor wahrgenommen hatte, stieg mit einem Mal in ihr auf und die gesamte Situation dieser seltsamen Begegnung erschien ihr jetzt mit Abstand plötzlich nur noch halb so gefährlich, als sie im Nachhinein betrachtet tatsächlich gewesen war.
Die kleine Glocke, die ertönte, wenn jemand den Laden betrat, verwandelte sich in ein Zirpen. Die Regale und Bücher um Olivia lösten sich auf und stattdessen saß sie plötzlich inmitten von hohen Gräsern. Der Wind entlockte ihnen ein gleichmäßiges Rascheln und vor ihr stand dieser kleine Junge und strahlte sie an. Seine grünen Augen schimmerten in der Sonne. Er hob seine Hände und schob die Kapuze ihres dunkelgrünen Kleides von ihrem Haar.
„Du bist noch schöner, als er gesagt hat, Olivia“, hallte seine junge Stimme in ihr nach und vermischte sich mit Fridas Stimme, die sich offenbar mit einem Kunden unterhielt und dabei ebenfalls ihren Namen genannt hatte.
Augenblicklich fand sich Olivia auf dem Boden sitzend zurück in der Realität. Rasch stand sie auf und wischte sich vermeintlichen Schmutz von der Hose. Als ein hochgewachsener Mann Mitte zwanzig um die Ecke bog, erstarrte sie aufs Neue. Er erblickte sie, begann zu strahlen und seine Augen funkelten sie übermütig an.
„Hi“, sagte er lediglich, brachte Olivia jedoch durch sein pures Erscheinen vollkommen durcheinander. Ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können, verspürte sie bei seinem Anblick das übermächtige Verlangen danach, ihn sofort in ihre Arme zu schließen.
Wie peinlich! Er war ein Fremder!
Vollkommen verunsichert presste sie ebenfalls ein schüchternes „Hi!“ hervor und drehte sich zügig zum Regal. Diese Welle der Zuneigung, die sie ihm gegenüber empfand, ließ ihr Herz schneller schlagen und ein seltsam fremdes Gefühl erfüllte ihre Körpermitte. Wie angewurzelt blieb sie einen Moment stehen.
Verdammt, was sollte sie jetzt tun?
Ein Buch! Er wollte sicher ein Buch kaufen. Immerhin befanden sie sich in einem Buchladen.
Langsam drehte sie sich wieder zu ihm und atmete tief durch. Schließlich gab sie sich einen Ruck und fragte: „Wie kann ich helfen?“
„Du könntest mich begleiten.“
Olivia stockte der Atem. „Wohin?“, fragte sie verblüfft und trat einen Schritt zurück, um den Abstand zu ihm zu vergrößern.
Er lächelte sie an. „Egal wohin. Irgendwohin, wo wir in Ruhe reden können. Ich glaube, hier um die Ecke ist ein Café.“
Er hatte absolut keinen Akzent und dennoch sagte ihr etwas in seiner Betonung, dass er nicht aus ihrer Gegend stammte. Sein Blick forderte sie auf, mit ihm zu gehen, genauso wie ihr Herz, doch ihr Verstand warnte sie zur Vorsicht. Nervös presste sie das Buch in ihrer Hand wie ein Schild vor ihren Körper.
„Wir kennen uns doch gar nicht!“
„Doch, Olivia, wir kennen uns. Komm mit und ich erkläre dir alles.“
Er hatte seine Stimme gesenkt und war einige Schritte nähergekommen. Obwohl sie seinen Worten kaum glauben konnte, misstraute sie ihm nicht unbedingt.
„Wenn ich dich kennen würde, wüsste ich doch deinen Namen.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. Er war währenddessen weiter auf sie zugekommen und stand mittlerweile so nah bei ihr, dass sie seinen Duft wahrnahm. Dieser schürte in ihr auf unerklärliche Weise noch mehr das Bedürfnis, ihm zu zeigen, wie sehr sie sich freute, ihn zu sehen. Aber nicht nur dieses seltsame Gefühl brachte Olivia beinahe um den Verstand, sondern ebenfalls ihre Verwirrung, ihre Unsicherheit und das Wissen darum, dass er die Wahrheit sagte. Wieder einmal zweifelte sie an der Realität, die erneut keine Antwort auf tausende in ihr aufkeimende Fragen bereithielt. Doch genau jene brauchte sie in diesem Moment so sehr, um sicherzugehen, dass sie nicht doch verrückt wurde.
Sein Blick wanderte auf das Buch, an das sie sich noch immer festklammerte, verweilte einen Moment darauf und lockte ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen. Schließlich suchte er erneut ihren Blick.
„Du weißt, wie ich heiße“, behauptete er einfach und brachte sie mit einer Augenbewegung dazu, auf das Cover zu schauen.
Zweifelnd sah sie ihn an. „Du heißt Luca? Luca di Fulvio?“
Zu ihrer Überraschung fing er an zu lachen und schüttelte leicht den Kopf. „Nein, ich bin nicht di Fulvio. Mein Name ist auch nicht Luca.“
Bei seinem Lachen ging Olivia in einer merkwürdigen Weise das Herz auf, wie sie es so noch nie erlebt hatte. All ihre Zweifel daran, ob sie ihm vertrauen konnte, waren wie weggeblasen und sie lachte verhalten mit. Dann schaute sie erneut auf das Buch und fragte mehr im Scherz: „Ach, du heißt, wie der Junge, der nachts die Sonne fand?“
Als sie das Buch aufschlagen wollte, um den Namen nachzuschlagen, berührte er sie plötzlich, um sie daran zu hindern. Vorsichtig nahm er ihr das Buch aus der Hand und legte es beiseite. Verblüfft schaute Olivia zu ihm auf und spürte, wie der Boden unter ihren Füßen zu schwanken begann. „Nein, Livi“, er grinste sie frech an, „ich bin der Junge, der nachts die Sonne fand - oder sagen wir eher am frühen Morgen.“
Sie hatte seine Antwort bereits geahnt, bevor sie gefragt hatte. Dennoch erfasste sie die Erkenntnis gefühlt wie ein zu schnell fahrendes Auto, riss sie mit und wirbelte sie um ihre eigene Achse. Als hätte er nur auf diese Reaktion gewartet, hatte er sie an den Oberarmen gepackt. Ohne diese Berührung wäre Olivia glatt umgefallen. Ihre Hand legte sie dabei unbewusst auf seine Brust und spürte durch den Stoff des Sweatshirts seinen Herzschlag. Er war real? Fassungslos sah sie in sein ernstes Gesicht.
„Nein“, flüsterte sie atemlos, „das… das kann nicht sein.“
Er widersprach ihr allerdings mit einem leichten Nicken. Olivia spürte, wie eine Übelkeit in ihr aufstieg.
„Etu?“
Sein Lächeln bestätigte ihren Verdacht.
Wie im Auge eines Wirbelsturms begann sich alles um die beiden zu drehen. Ihre Finger zitterten, als sie sanft sein Gesicht berührte. Ganz leicht spürte sie, wie sich die ersten Bartstoppeln durch seine Haut in ihre Handfläche bohrten.
„Was passiert hier gerade?“, flüsterte sie.
Er war wesentlich älter als sie selbst!
Olivia nippte an ihrem überdimensionalen Milchkaffee und beobachtete Etu, der ihr in einem Café mit einem Glas Wasser gegenübersaß und sie seinerseits studierte.
Schließlich stellte sie ihre Tasse ab und wischte sich den Schaum von der Oberlippe.
„Wie kann es sein, dass ich Muttergefühle für dich habe? Ich bitte dich! Ich werde bald erst siebzehn und du bist mindestens vierundzwanzig! Ich war nie besonders gut in Bio, aber selbst mir ist klar, dass du rein wissenschaftlich gar nicht existieren kannst!“
Etu rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum und nickte. „Ich bin nicht dein leiblicher Sohn. Du hast mich in deine Familie aufgenommen.“
Olivia brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten. Schließlich lachte sie verzweifelt los.
„Na, das ist ja beruhigend! Es gibt noch mehr von euch?“
Etu druckste herum und nickte leicht schmunzelnd. „Nur Nadie und mich. Die anderen sind alle deine leiblichen Kinder.“
Während sie spürte, wie ihr der Mund aufklappte, wusste sie tief im Inneren, dass er die Wahrheit sprach, auch wenn es absolut unmöglich war.
„Wie viele?“, hauchte sie leicht schockiert. Zögernd hielt er seine Hand hoch und streckte alle fünf Finger in die Höhe.
Verdammt!
Schnell starrte sie aus dem Fenster, das direkt neben ihnen den Blick auf die Straße freigab. Vielleicht war er eine Halluzination und verschwunden, wenn sie wieder hinschaute. Er behauptete, eines ihrer sieben zukünftigen Kinder zu sein. Das war selbst für sie zu krass!
Verzweifelt suchte sie sämtliche Taschen an ihrer Kleidung ab, in der Hoffnung, doch noch eine dieser Beruhigungspillen zu finden, die sie eigentlich nicht mehr brauchte. Eigentlich!
Sie ließ sich ein wenig Zeit und schaute erst nach einer ganzen Weile zurück zu ihm. Etu war immer noch da.
Sie griff über den Tisch und kniff ihm in den Arm.
„Au!“, beschwerte er sich und entzog sich ihr.
Er saß tatsächlich vor ihr. Wie sollte sie jetzt damit umgehen?
Olivia spürte, wie eine Furcht in ihr aufwallte, sich in ihrer Mitte bündelte und schließlich drohte, sie einem Tsunami gleich mit einer riesigen Panikwelle zu durchfluten. Etu beobachtete sie traurig dabei, wie sie innerlich mit sich kämpfte, und sogleich bekam sie ein schlechtes Gewissen.
„Olivia, ich weiß nicht, auf welche Art ich dir diese Dinge beibringen soll. Ob vorsichtig oder geradeaus raus, du reagierst jedes Mal gleich verstört und verängstigt. Es zerreißt mir das Herz, dich so zu sehen!“
Ihre Augen blinzelten ganz von allein nervös vor sich hin, während ihr Verstand noch ausknobelte, ob sie darauf etwas sagen oder es einfach ignorieren sollte.
Schließlich beugte sie sich zu ihm vor und zeigte mit ihrem Finger auf ihn.
„Wie …meinst du das? Jedes Mal?“
Ungläubig ließ sie ihre Hand zwischen ihm und sich selbst immer wieder hin und her tanzen.
„Saßen wir schon öfter hier in diesem Café und haben dieses Gespräch geführt?“
Irritierenderweise sah er sie an, als wüsste er, was als Nächstes passieren würde. Und dieses Wissen behagte ihm keinesfalls. „Ich komme nicht von hier, Olivia. Woher sollte ich dieses Café sonst kennen?“
Sie schnappte nach Luft und hielt einen Moment lang den Atem an. Das ging ihr jetzt eindeutig zu weit!
War dies jetzt nicht eine dieser Situationen, in der die Pillen nicht mehr reichten und etwas Stärkeres herhalten musste? Ob Etu ihr einen Whiskey besorgen würde, wenn sie ihn bitten würde? Sie verzog skeptisch ihr Gesicht. Nein, das war keine gute Idee. Sie trank sonst nie etwas. Schließlich entließ sie lautstark die Luft und suchte in sämtlichen Taschen nach ihrem Handy.
„Bitte, tue es nicht!“
Sie hielt inne und starrte Etu verdutzt an.
„Sven anzurufen, ist immer deine erste Reaktion. Aber bitte glaube mir, es endet immer in einer Prügelei und du machst dir später furchtbare Vorwürfe!“
Der Kerl hatte sie doch nicht alle!
Olivia suchte weiter und fand das verdammte Ding endlich. Ihr Daumen schwebte bereits über Svens Namen, als Etu seine Hand auf ihre legte.
„Olivia, auch wenn dich das alles sehr erschreckt, musst du wissen, dass ich dich über alles liebe.“ Seine Stimme klang so sanft und traf sie mitten ins Herz. Sie erstarrte und sah zu ihm auf.
Etu atmete tief durch. „Mir ist schon seit ewigen Zeiten klar, dass du nicht mehr meine Mutter bist oder sein kannst, aber dennoch empfinde ich so für dich. Es ist auch für mich völlig verwirrend.“
Olivia versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen, da diese in Gefahr schwebte, einfach ihre Existenz aufzugeben. Sie starrte Etu an, bis sie schließlich ihr Handy auf den Tisch warf, nickte und sich innerlich dazu bereit erklärte, ihm weiter Gehör zu schenken. Sicher musste sie seine Geschichte hören, um entscheiden zu können, ob sie ihm glaubte oder nicht.
„Also gut“, stimmte sie atemlos zu. „Dann erkläre mir, was hier los ist! Und fang bitte damit an, wie oft wir hier bereits saßen und warum ausgerechnet mein eigener Sohn diese unsagbar miese Aufgabe hat, mir mein Leben zu versauen.“
Etu schaute sie unendlich traurig an und nickte nach einer Weile, als wäre er zu einem Entschluss gekommen, über den er lange Zeit innerlich debattiert hatte.
„Du weißt, wer Dohosan war?“
Dohosan?
Olivia verzog verwirrt das Gesicht.
Dohosan!
Es brauchte nicht lange, bis auch dieser Name ein Erinnerungsgewitter in ihr auslöste. Ein und dieselbe Situation flackerte in ihrem Gedächtnis auf, wie sie ihm in ihrer Gefangenschaft die Narben im Gesicht zufügte. Dennoch waren es die kleinen abweichenden Details, die ihr sagten, dass es keine Endlosschleife war, sondern dass sie diese Szene mehrmals erlebt hatte. Schließlich antwortete sie: „Vage.“
„Er war mein leiblicher Vater und spielte bisher immer eine kleine aber wichtige Rolle in deinem Leben“, erzählte Etu. „Er hatte die Aufgabe, dich zu beschützen und zu begleiten, damit du deine Reise überstehst.“
Olivia runzelte die Stirn. „Welche Reise? Wovon sprichst du? Kennst du Pamuya Meda?“
Etu atmete tief durch und wich ihrem Blick aus, indem er aus dem Fenster schaute. „Eins nach dem anderen“, sagte er schließlich und lächelte sie aufrichtig an. „Du willst immer alles auf einmal. Aber es wird dir zu viel, wenn wir zu schnell vorgehen. Lass dir Zeit, okay?“ Er beobachtete sie forschend und beendete dies erst, als sie eingeschüchtert nickte. „Bevor Dohosan vor sechs Jahren starb ...“
„Er ist tot? Seit sechs Jahren? Ich verstehe nicht? Ich werde ihn doch erst noch ...“, fiel Olivia ihm ins Wort und stoppte sich selbst, als sie einen Schatten über Etus Gesicht huschen sah.