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Was würdest du tun, wenn dir das Schicksal einen Weg vorbestimmt, den du nicht gehen willst? Als sich Olivia aus Versehen in die Gedankenwelt eines Fremden einklinkt, hat sie keine Vorstellung davon, welche gravierenden Auswirkungen diese Verbindung auf ihr gesamtes Leben haben wird. Denn er hat ein gefährliches Geheimnis, vor dem er Olivia schützen will. Doch wie kann er diejenige beschützen, deren Leben laut einer Prophezeiung bereits in den Händen des Schicksals liegt? Mit jedem scheinbar zufälligen Treffen schleicht er sich weiter in ihr Herz, während sie bereits einen festen Platz in seiner Welt hat. Olivia ahnt nicht, dass sie längst in Gefahr schwebt, denn auch Lenno hat nicht ohne Grund ihren Weg gekreuzt. Ohne es zu wissen, begibt sie sich immer weiter in das Abenteuer ihres Lebens - in eine einmalige Welt, die man weder mit Worten beschreiben noch mit Farben hätte malen können...
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
„Stimmen wollen gewogen und nicht gezählt sein.“ Dorothea Schlegel (1764 – 1839)
Über die Autorin:
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Impressum
„Es führt einen das Schicksal,
wenn man zustimmt.
Wenn man sich weigert,
schleppt es einen fort.“
(Lucius Annaeus Seneca, Moralische Briefe, 107, 11)
Eine gespenstische Stille herrschte auf der Lichtung.
„Sie wird kommen ...“, flüsterte die Alte mit tiefer Stimme und schaute mit ihren eisblauen Augen in die Runde. „Eines Tages wird sie aus der Ferne kommen, aus einer Welt, die wir nicht mehr kennen.“
Die Kämpfer tauschten vielsagende Blicke aus, während die Frauen ihre Kinder näher an sich heranzogen. Schließlich starrten sie alle wieder zu der Ältesten und Weisesten unter ihnen.
Pamuya Meda hatte ihr Volk in dieser sternenlosen Nacht um sich versammelt. Sie wollte von den Visionen berichten, die sie erst kürzlich heimgesucht hatten.
Die Dunkelheit des Himmels wirkte undurchdringlich und die leichte Brise, die stetig durch Tenya Nahele strich, war etwas kühler als sonst. Einige der Anwesenden rieben sich fröstelnd die Arme. Selbst das Zirpen der Insekten verstummte. Nur das Knistern des Feuers in ihrer Mitte und das leise Säuseln des Windes waren zu hören.
„Die Sterne sind heute verdunkelt, und ich sage euch, dies ist nur der Anfang“, raunte Pamuya Meda mit rauer Stimme über die Angst ihrer Zuhörer hinweg. „Eine wahrlich düstere Zeit wird auf uns zukommen. Die Völker der vier Winde werden sich verfeinden. Die Erschaffer vergessen Etenya und vernichten dadurch unsere Welt.“ Sie hielt einen Moment inne, während ihren Stamm eine allumfassende Furcht ergriff. Eine Reaktion, die sie erwartet hatte. Sie lächelte zufrieden.
„Doch die Ersehnte wird kommen. Sie wird für unser Volk kämpfen und es erneut vereinen!“
Beunruhigt und ein wenig verunsichert schauten die Männer in die Runde.
Eine Frau, die kämpfen sollte? Ein schlechtes Omen.
Leises Murmeln breitete sich in der Menge aus, doch eine erhabene Geste der Alten ließ sie augenblicklich verstummen.
Allein ein kleines Mädchen mit vorwitzigen Locken rutschte aufgeregt hin und her, strahlte die Weise an, vollkommen unbeeindruckt von deren Strenge. Es dauerte nur wenige Wimpernschläge, bis sich die Kleine nicht mehr zusammenreißen konnte.
„Weiter!“, platzte es aus ihr heraus.
Die anderen zuckten zusammen.
Das Mädchen erntete erboste und fassungslose Blicke. Wie könnte sie derart respektlos sein? Sofort zog ihre Mutter sie unwirsch zurück auf den Boden.
Ihr Bruder stieß sie mit dem Ellenbogen an und kicherte leise. Doch kurz darauf erzählte die Alte weiter. Augenblicklich vergaß er seine Umgebung und klebte förmlich an ihren Lippen. Die kraftvollen Worte schlängelten sich wie bunte Bänder aus ihrem Mund, die seinen Geist, seinen Körper, einfach alles fesselten, was ihn ausmachte.
Er beobachtete gebannt, wie die Weise ihre Augen schloss und die Arme mit den Handflächen gen Himmel ausbreitete.
„Ich sehe eine Frau auf einem Berg stehen. Sie blickt in den Abgrund, in dem Etenya versinken wird. Dann erhebt sie ihre Stimme, und sie wird singen, um unsere Welt zu retten.“
Abermals durchfuhr ein Flüstern die Menge. Unglaube war auf den Gesichtern der Kämpfer zu erkennen.
„Singen?“, rief einer von ihnen skeptisch. „Sie rettet Etenya mit ihrer Stimme?“ Seinen Worten folgte ein verächtliches Schnauben, das er nicht zu unterdrücken vermochte. Einige lachten verhalten, andere senkten verschämt ihren Blick zu Boden.
Langsam öffnete Pamuya Meda ihre eisblauen Augen und sah jeden der Reihe nach an. Ein tiefes Grollen ertönte aus der Erde. Die Lichtung erzitterte leicht. Von den Bergen kroch bedächtig ein Nebelschleier hinunter und hüllte schweigend den dunklen Wald um die Versammelten herum ein. Den Kämpfern gefror nach und nach das Lachen in den Gesichtern und das Blut in ihren Adern.
„Oh ja“, hauchte die Alte kaum hörbar ihre Worte in die unheilvolle Stille, „ihre Stimme ist es, die sie so besonders macht. Hütet euch vor ihr! Sie wird tief in jeden einzelnen eindringen und dessen wahres Herz berühren. Nur für diejenigen, die ihr wohlgesonnen sind, die es verstehen, sie zu lieben, denen wird ihre Stimme als das größte Geschenk ihres Daseins zuteil. Sie werden ihre ergebenen Wegbegleiter sein, deren Treue und Verbundenheit sich in goldenen und silbernen Seen aus Tränen widerspiegeln wird.“
„Wer ist sie? Wie ist ihr Name?“, peitschte unvermittelt eine helle, aufgeregte Stimme durch die angespannte Atmosphäre.
Erschrocken richteten sich alle Blicke auf den kleinen Jungen, der Pamuya Meda mit seinen tiefschwarzen Augen, die von langen, dichten Wimpern umrahmt waren, fiebrig anstarrte. Wie seine Schwester zuvor, war er vor Aufregung aufgesprungen und ragte nun trotz seiner geringen Größe aus der Menge hervor.
Ein vernichtender Blick der Alten traf den Kleinen, verfehlte jedoch seine Wirkung. Er war ihm egal. Alle spürten das.
Ungerührt blieb er stehen und wartete auf eine Antwort. Neugier lag in seinem Blick.
Wütend verengten sich Pamuya Medas Augen. Ein verärgertes Zucken durchfuhr ihre rechte Wange.
Warum stellte ihr ausgerechnet dieser Junge ebenjene Fragen?
Ihre Blicke trafen sich einen Moment lang, ehe ein bedrohliches, kehliges Knurren aus den Tiefen ihres Körpers emporzusteigen schien, das den Jungen endgültig in seine Schranken weisen sollte.
Seine Mutter packte ihn am Handgelenk und zog ihn widerwillig auf seinen Platz zurück. Mit eindringlichem Blick versuchte die Alte, ihm den nötigen Respekt abzuringen. Dabei öffnete Pamuya Meda erneut ihren Mund und verkündete: „Sie ist die Ersehnte, die für unser Volk singen wird. Ihr Name ist Onida Kanti.“
Wenn sie ihre Geschichte selbst erzählen könnte, würde sie damit beginnen, wie vor vielen Jahren alles seinen Anfang nahm. Zu einer Zeit, in der sie jung war. In einem Alter an der Grenze zum Erwachsenwerden, in dem die Weichen für ihr gesamtes Leben gestellt werden sollten. Sie würde dazu auffordern, wachsam zu bleiben, bevor Dinge geschehen, gegen die man nicht ankämpfen kann.
Dinge, die ihr zum Verhängnis wurden und sie nun daran hindern, ihre Geschichte jemals selbst zu erzählen.
„Das antike Schicksalsverständnis beruht auf der Erkenntnis, dass der egozentrische Wille, sein eigenes Schicksal zu manipulieren, der Ursprung des Leidens ist“, rezitierte der Lehrer schleppend und vollkommen unmelodisch.
Olivia kämpfte indes dagegen an, dass ihr Kopf auf die Tischplatte knallte, und hielt sich die Hand vor den Mund, um ein herzhaftes Gähnen zu verstecken.
„Schicksal ist ein anderer Name für die Gemeinschaft von Mensch und Natur, das Mandala des in sich unendlich ineinander verwobenen Seinsganzen“, referierte er mit einschläfernder Stimme weiter.
Olivia beugte sich zu ihrer Tischnachbarin. „Und ich dachte, wir hätten Philosophie gewählt. Komme mir vor wie im Esoterik-Kurs meiner Mutter“, flüsterte sie im Halbschlaf.
Ihre Freundin prustete leise los. „Nur noch eine Minute, dann ist die Stunde vorbei“, kommentierte sie aufmunternd.
Olivia packte ihre Tasche. Philosophieren über den Schicksalsbegriff? Und das dienstags in der letzten Stunde? Das war das Allerletzte! Ob ein vorbestimmtes, unverrückbares Schicksal existierte? Da gab es für Olivia nur eine Antwort: Der Glaube an das Schicksal war etwas für Spinner. Sie nahm ihr Leben lieber selbst in die Hand. Das war sicherer.
Der Schulgong ertönte. Sofort sprang sie auf, als hätte sie seit Jahren das erste Mal Freigang aus dem Knast, und raste zur Tür. Ihre beste Freundin Tatjana folgte ihr, weiter über ihre Bemerkung kichernd, und versuchte, mit ihr Schritt zu halten. Das entpuppte sich als eine wahre Herausforderung, da aus sämtlichen Türen Hunderte Mitschüler quollen und sich auf die Gänge der Schule ergossen.
„Mist!“, fluchte Olivia inbrünstig, zog den Kragen ihrer Jacke hoch und schirmte ihr Gesicht ab, um sich vor jemandem zu verstecken.
Sven.
Ihr Halbbruder beugte sich halb über ein Mädchen und flirtete, als würde es kein Morgen geben. Im Augenwinkel sah sie, dass Tatjana grinsend den Kopf schüttelte.
Fluchtartig jagten die beiden zum Ausgang und erst, nachdem sie das Gebäude verlassen hatten, holte Tatjana sie wieder ein.
„Was ist mit Sven und dir los?“
Olivia schnaubte. In Gegenwart ihrer Freundin, deren blonde Korkenzieherlocken bei jedem Schritt lustig hin und her wippten, besserte sich normalerweise ihre Laune augenblicklich. Aber die Sache mit Sven konnten selbst ihre tanzenden Locken nicht wegkichern.
An der Bushaltestelle angekommen, lehnte sich Olivia an die äußere Glasscheibe des Haltestellenhäuschens und hielt ungeduldig Ausschau nach dem Bus.
„Du willst wissen, was mit Sven und mir los ist?“ Jetzt sah sie doch zu Tatjana. In deren Gesicht vermischten sich Mitgefühl und Neugier. „Das kann ich dir sagen: Er hat mich verraten und verkauft, der Blödmann!“ Tatjana hob verwundert die Augenbrauen, hielt sich aber, eher untypisch für sie, mit einem Kommentar zurück. „Er fährt mit meinem Vater – ja, du hast richtig gehört! Meinem Vater! – zu einem dreitägigen Segeltörn. Und zwar ohne mich! Er hat sich noch nicht einmal mit einem Piep dafür eingesetzt, dass ich mitfahren kann. Obwohl wir sonst immer zusammen unterwegs waren. Das ist mit mir und meinem lieben Fast-Bruder Sven los.“
„Das ist ja fies“, empörte sich Tatjana energisch. Noch bevor Olivia ihr zustimmen und ihrem Unmut weiter kundtun konnte, schaute ihre Freundin an ihr vorbei und quietschte: „Da kommt mein Bus! Sorry, bis morgen!“ Augenblicklich verschwand sie und ließ Olivia mit ihren aufgewühlten Gefühlen alleine zurück.
Kurze Zeit später kam ihr eigener Bus und sie stieg frustriert ein. Sie ergatterte einen freien Fensterplatz und legte ihre Stirn an die kühle Scheibe.
Vor zwei Wochen hatte sie sich mit Sven gestritten, als sie erfahren hatte, dass sie nicht mit zum Segeln eingeladen wurde und er nichts dagegen unternehmen wollte. Olivia vermied es seitdem, mit ihm zu sprechen. Bei diesem Gedanken schnaubte sie wieder wütend vor sich hin und verschränkte trotzig die Arme vor ihrem Körper.
Es war einer dieser Herbsttage, an denen sich die Sonne noch einmal durchgesetzt hatte. Ein leichter Wind wehte Olivia auf dem Bürgersteig entgegen, nachdem sie aus dem Bus gestiegen war, und strich ihr die langen Haare aus dem Gesicht. Unmotiviert schlenderte sie durch die immer selben Straßen an den fein säuberlich gepflegten Vorgärten vorbei, die auf ihrem Weg lagen. In Gedanken versunken passierte sie ein leer stehendes Haus, das direkt an der Grundstücksgrenze zu ihrem eigenen stand.
Ohne ersichtlichen Grund stieg plötzlich ein seltsames Gefühl in ihr auf. Wie ferngesteuert drehte sie ihren Kopf zu dem verwahrlosten Grundstück und nahm im Gebäude etwas wahr, das sie völlig verwirrte.
Für einen winzigen Augenblick erahnte sie die verschwommenen Konturen einer Gestalt, die am Fenster stand, kurz bevor diese wieder eins mit der Finsternis des unbeleuchteten Raumes wurde.
Olivia hob die Augenbrauen und verlangsamte unbewusst ihre Schritte. Ihre Realität schien auf einmal seltsam verschoben, fokussiert auf diesen einen Moment, diesen einen Ort. In ihrer Wahrnehmung verringerte alles um sie herum die Geschwindigkeit, als wäre jemand aus Versehen auf eine Slowmotion-Taste gekommen. Ihr Herzschlag, ihr Atem, die Bewegung ihrer Haare im Wind, das vorbeifahrende Auto – alles wurde langsamer. Irritiert verengte sie ihre Augen und fixierte das Fenster.
Olivia erkannte nichts, doch sie spürte es.
Dort in dem dunklen Raum stand jemand und starrte sie ebenfalls an. Ein Schauer lief ihr über den Körper und hinterließ ein merkwürdiges Kribbeln auf ihrer Haut.
Was ...?
Bevor sie überhaupt eine Frage in Gedanken formulieren konnte, war es auch schon vorbei.
Eine Elster flog kreischend aus dem Vorgarten in die Höhe und zog Olivias Aufmerksamkeit auf sich. Alles nahm wieder normale Geschwindigkeit an. Nur dieses seltsame Gefühl blieb.
Verwirrt schüttelte sie den Kopf und wagte erneut einen kurzen Blick zu dem Haus. Doch es war nichts mehr von der Person wahrzunehmen, die dort gestanden hatte.
Seltsam berührt ging sie die letzten Schritte nach Hause. Kaum hatte sie die Tür aufgeschlossen und war in den Flur getreten, schaute ihre Mutter aus der Küchentür um die Ecke und strahlte sie an.
„Hallo Süße, das Essen ist gleich fertig.“
Olivia lächelte sie an und brachte schnell die Schultasche hoch in ihr Zimmer.
Das Fenster zum hinteren Garten reichte vom Fußboden bis zur Decke und nahm die Hälfte der Zimmerwand ein. Davor stand ihr Schreibtisch.
Sie stellte ihre Tasche neben dem Tisch ab und schaute über ihren kleinen Balkon hinweg zum Nachbargarten. In dem Haus nebenan hatte bis vor einigen Monaten eine alte Dame gelebt. Der Zaun auf der Grundstücksgrenze war heruntergekommen, sah morsch aus und Moos verfärbte den ursprünglichen Farbton grün. Ein Holzelement war umgestürzt und fehlte komplett. Dieses Loch schaffte eine ungewollte Verbindung zwischen den beiden Gärten. Das beunruhigte Olivia. Erneut rumorte das seltsame Gefühl von eben in ihr. Sie atmete tief durch, ging hinunter in die Küche zu ihrer Mutter und setzte sich zu ihr an den kleinen Tisch.
„Sven hat eben schon wieder angerufen“, sagte Nora und reichte ihr einen Teller mit Reis und Fleisch in roter Soße. „Er klang ein bisschen enttäuscht, weil du dich noch immer nicht zurückgemeldet hast. Willst du ihn jetzt kurz anrufen?“
Olivia stöhnte und verzog genervt den Mund.
„Nein“, murmelte sie nur, „ich rufe ihn später zurück.“
„Aber vergiss es bitte nicht, Schatz.“ Ihre Mutter warf ihr einen besorgten Blick zu. „Hast du gesehen, dass nebenan neue Nachbarn einziehen?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
„Ja, ich habe da auch gerade jemanden gesehen. Weißt du, wer das ist?“
„Nein.“ Nora schüttelte den Kopf. „Ich habe nur zwei Männer herumlaufen sehen, als ich vorhin von der Arbeit gekommen bin.“
„Mhm,“, meinte Olivia und sah in Gedanken wieder diese Gestalt am Fenster stehen. Irgendwie unheimlich.
Nach dem Essen saß Olivia oben in ihrem Zimmer über den Hausaufgaben, sie hatte viele auf und nur zwei Stunden Zeit dafür. Danach hatte sie mit der Band, in der sie sang, eine Probe. In vier Wochen war ein Auftritt in einer Kneipe in der Innenstadt geplant. Deshalb hatten sie Extraproben abgesprochen.
Es klingelte.
Olivia ignorierte es und kämpfte sich stattdessen durch einen Text zu ihrem Lieblingsthema aus der Philosophie-Stunde. Erst als sie erneut dieses merkwürdige Kribbeln auf ihrer Haut bemerkte, hob sie langsam den Kopf. Irritiert starrte sie zunächst vor sich hin, dann blickte sie sich um. Unten an der Tür sprach ihre Mutter mit demjenigen, der geklingelt hatte. Einem inneren Impuls folgend sprang sie auf und öffnete lautlos ihre Zimmertür, um heraus zu bekommen, wer dieser jemand war. Als sie am Treppenabsatz ankam, hörte sie aber nur noch eine Verabschiedung und das typische Klicken einer zufallenden Haustür. Verdammt!
Zügig rannte sie die Treppe hinunter und nahm die letzten vier Stufen auf einmal.
„Was hast du da?“, fragte Olivia, während sie auf das kleine Päckchen in der Hand ihrer Mutter zeigte.
Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. „Ach, das ist irgendetwas für unseren Drucker. Martin hat das bestellt, weil das Ding nicht mehr funktioniert.“
„Um diese Zeit kommt der Paketdienst noch vorbei?“
Ihre Mutter lachte und ging in die Küche. „Nein, das war der junge Mann von nebenan.“
„Von nebenan?“ Olivia folgte ihr. „Du meinst den, der in das leer stehende Haus eingezogen ist?“
Ihre Mutter versuchte, ein Grinsen zu verstecken. „Ja, und er sah wirklich sehr nett aus.“
Sofort ging Olivia zum Fenster, um dem Unbekannten nachzusehen. Zu spät, er war weg. Mist!
Im Laufe des Abends ertappte sich Olivia immer wieder dabei, wie sie über ihren neuen Nachbarn nachdachte. Wieso hatte sie so komisch auf ihn reagiert, obwohl sie ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte?
Dennoch schaffte sie es, sich immer wieder auf die Probe und die Stücke zu konzentrieren. Ihr erster Auftritt sollte ein voller Erfolg werden.
Nach der Probe brachte Colin, sie wie immer nach Hause. Sie stieg nicht sofort aus, sondern erzählte ihm von Sven und der Herbstferien-Geschichte. Vor sich hin plappernd schaute sie durch die Windschutzscheibe nach draußen auf die Straße und schilderte, wie sie sich ärgerte, seit sie davon erfahren hatte, da drehte sich Colin plötzlich zu ihr und lachte sie an. Irritiert unterbrach sie sich selbst.
„Was ist?“
Er schwieg und lächelte sie an. Olivia runzelte die Stirn.
„Du bist richtig süß, wenn du dich aufregst.“
Verlegen strich sie sich eine Strähne hinters Ohr und lachte ein wenig. „Aha.“
Etwas Besseres fiel ihr beim besten Willen nicht ein. Ihr verdammter Verstand kämpfte eher damit, sich zu fragen, wie sie am schnellsten aus diesem Auto kam, ohne es peinlich werden oder unhöflich wirken zu lassen. Sie wich seinem Blick aus und verdrehte innerlich die Augen. Sehnsüchtig schielte sie aus dem Seitenfenster zur Haustür.
„Ich sollte jetzt mal reingehen“, murmelte sie und schaute zurück zu Colin.
Er hatte sich zwischenzeitlich näher zu ihr gebeugt, streckte seine Hand aus und strich unnötigerweise dieselbe Haarsträhne hinter ihr Ohr wie sie kurz zuvor. Sein Blick verunsicherte sie und sie fragte sich, was daran anders war. Da zog er sie plötzlich zu sich und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Ihr blieb kaum genügend Zeit, darauf zu reagieren oder sich womöglich zu wehren.
Olivia hatte immer angenommen, dass ein Kuss etwas Besonderes in ihr auslösen würde. Aber es regte sich rein gar nichts in ihr. Ja, sein typischer Geruch, der sie umwehte, war ihr vertraut und er gefiel ihr. Colin war seit längerem ein Freund und sie nahmen sich oft in den Arm, zur Begrüßung zum Beispiel. Dieser Kuss wirkte allerdings absolut seltsam. Von Colin auf diese Art berührt zu werden, fühlte sich falsch an.
Als er sich von ihr löste, schaute er sie erwartungsvoll an. Um sich zu sammeln, rückte sie ein wenig von ihm ab und vermied seinen Blick. Wie reagierte man in einer solchen Situation? Sollte sie jetzt etwas sagen? Und wenn ja, was?
„Also, dann ... bis Donnerstag. Danke fürs Mitnehmen.“ Freundschaftlich boxte sie ihm leicht gegen die Schulter und beeilte sich, aus dem Auto zu verschwinden.
Innerlich aufgewühlt rannte sie zur Haustür, schloss sie auf und ging hinein, ohne das Licht anzumachen. Sie drückte die Tür mit ihrem Rücken zu und lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen. Mit den Händen in den Jackentaschen stand sie für einen Moment im Dunkeln.
Was zum Teufel hatte sich Colin dabei gedacht, sie einfach zu küssen? Und warum verdammt noch mal, hatte sie ihn nicht daran gehindert?
Das machte alles nur kompliziert. So ein Idiot!
Olivia stöhnte genervt auf und verdrehte die Augen. Dabei ließ sie ihren Schlüssel los, den sie in der Jackentasche umklammert hielt, zog die Jacke aus und schlich nach oben ins Bad.
An diesem Abend hatte Olivia Schwierigkeiten, einzuschlafen. Sie wälzte sich umher, weil sie für Colin auf keinen Fall mehr als Freundschaft empfand. Aber wie sollte sie ihm das klarmachen, ohne ihm wehzutun?
Letztlich kam sie zu dem Schluss, dass es ohne Enttäuschung nicht ging. Diese Erkenntnis raubte ihr ebenfalls den Schlaf. Sie hasste es, andere Menschen zu verletzen. Durch die Trennung ihrer Eltern wusste sie selbst, wie schrecklich dieses Gefühl war.
Je länger Olivia in ihrem Bett wach lag und grübelte, umso verhasster wurde ihr der nächste Morgen. Wie sollte sie den verdammten Schultag morgen in diesem Zustand überleben?
Der Wecker klingelte. Laut, schrill und viel zu früh.
Olivia hob die Hand und versetzte ihm einen gezielten Hieb an die richtige Stelle. Dadurch verfiel er in den Schlummer-Modus, der ihr zu weiteren sechs Minuten Schlaf verhalf. Wie oft Olivia das wiederholte, konnte sie nach einiger Zeit selbst nicht mehr abschätzen.
Nach einem kurzen Besuch im Bad und endlich im Erdgeschoss angekommen, sagte ihr ein Blick auf die Küchenuhr, dass sie verdammt spät dran war. Genervt verzog sie den Mund und stöhnte leise auf. Es war jetzt schon klar, dass sie zur Haltestelle rennen musste, damit der Bus nicht ohne sie weiterfuhr. An Frühstücken war nicht mehr zu denken. Na, klasse!
Zügig schnappte sie sich Schultasche und Jacke im Vorbeilaufen, riss die Haustür auf, zog sie schwungvoll hinter sich zu und hörte im selben Moment die mahnende Stimme ihrer Mutter im Kopf: Hast du deinen Schlüssel eingesteckt?
Verdammt! Natürlich nicht! Stattdessen lag der tief versunken in den unendlichen Weiten der Tasche ihrer Lederjacke, die sie am Abend zuvor zur Probe getragen hatte. Jetzt hatte sie aber ihre Jeansjacke an.
„Shit, shit, shit!“, fluchte Olivia.
Ohne Zeit zu verlieren, rannte sie los. Wie ein gehetztes Tier kam sie genau im selben Moment um die letzte Ecke, in dem der Bus an der Haltestelle hielt. Sie legte einen kurzen Endspurt ein und stieg dann doch recht gemütlich in den Bus, um sich einen netten Platz am Fenster zu suchen. Doch während sie die Stufen ins warme Innere erklomm, wurde ihr bewusst, dass sich die nächste Katastrophe des Tages zusammenbraute.
Der Bus war brechend voll.
Jetzt hieß es, eine halbe Stunde in stickiger, regenfeuchter Luft, nahe an fremde Menschen gepresst, in einem schaukelnden Ungetüm gefangen zu sein. Heute war eindeutig nicht ihr Glückstag.
Vollkommen genervt senkte Olivia den Kopf und drängelte sich an den Fahrgästen vorbei zum Drehgelenk des Busses. Den Tag hatte sie sich anders vorgestellt. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, dass ihr das Leben nichts schenkte, aber dass es so gemein war, war absolut nicht fair. Sie hätte zumindest einen Sitzplatz verdient!
Jemand drängelte sich an ihr vorbei und sie wich ein wenig aus, um den Körperkontakt zu vermeiden. Frustriert drehte sie sich zu dem Mitfahrenden um, der direkt neben ihr stand.
Auf das, was sie dort erwartete, war sie weder vorbereitet, noch hätte sie jemals damit gerechnet, dass so etwas möglich war. So schnell, wie es sie erwischte, begriff sie überhaupt nicht, was mit ihr geschah.
Innerhalb eines Wimpernschlags hörte die Welt um sie herum auf zu existieren, verschwamm, löste sich auf. Sie versank in einer absoluten Stille, in einem Nichts, in tiefem Schwarz. So tiefschwarz wie die Augen, in die Olivia jetzt blickte. Sie hörte nichts, sie fühlte nichts. Alles war so, wie es sein sollte. Ihre Sinne, jede Faser ihres Körpers, waren fixiert auf diese beiden tief dunklen Unendlichkeiten, in die sie hineinfiel und darin ertrank, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, gerettet werden zu wollen.
Je weiter sie in diese Finsternis eindrang, umso intensiver nahm sie wahr, wie sich ihr Innerstes mit dem ihres Gegenübers verband. Unerwartet offenbarte sich ihr eine einmalige Welt, die man weder mit Worten beschreiben noch mit Farben hätte malen können. Sie schien in ihrer Vollkommenheit selbst für diejenigen kaum fassbar zu sein, die sie mit eigenen Augen sehen konnten. Olivia sah aber nicht nur, sondern fühlte diese Welt in ihrem eigenen Körper, wusste mit einem Mal, wie sie schmeckte und roch, als sei sie in ein anderes Universum eingetaucht.
Das Geplapper der Fahrgäste verwandelte sich in den Gesang exotischer Vögel. Die Fahrgeräusche in das Zirpen von Insekten. Das Hupen eines Autos in den kläglichen Ruf eines einsamen Tieres. Und was war dort? Ein leichtes Glimmen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Wie eine kleine Galaxie, die sich spiralförmig kreisend bewegte, zog es sie immer weiter in seinen Bann. Die Grenzen ihres Körpers lösten sich auf, all ihre Empfindungen, all ihr Sein verschwanden. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf dieses unbegreifliche Schimmern, das für einen winzigen Moment der Mittelpunkt ihres Lebens war. Es zog sie an wie das Licht die Motte, eine Sonne ihre Planeten, ein schwarzes Loch Materie. Selbst die Zeit existierte nicht mehr. Zum Greifen nah, spürte sie jedoch, wie es ihr genauso unerwartet entglitt, wie es begonnen hatte. Vollkommen unvorbereitet wurde sie zurück in die Realität entlassen.
Olivia erschauderte.
Abgeschnitten von jeglichem Zeitgefühl, erschien ihr die Dauer dieser Verbindung wie ein ganzes Leben. Und doch war sie nach wenigen Sekunden vorbei. Überrascht realisierte sie das ebenso verwunderte Gesicht, zu dem der Blick gehörte, in dem sie so haltlos versunken war. Erschrocken drehte sie sich weg. Ihr Herz raste und sie zitterte vor Aufregung. Sogar ihr Magen rebellierte.
War das gerade wirklich passiert?
Ihr Inneres fühlte sich plötzlich komplett anders an und tausend Gedanken wirbelten in ihrem Kopf umher. Es war unfassbar, was sie da erlebt hatte.
„... when two worlds colide ...“
Aus heiterem Himmel fielen ihr diese Worte eines Songs ein, den sie morgens im Radio gehört hatte. Sie beschrieben genau das, was sie empfand.
Für den Rest der Busfahrt wagte Olivia es nicht mehr, sich zu bewegen. Sie hatte Angst, das Unfassbare könnte erneut geschehen. Gleichzeitig fürchtete sie, es sich nur eingebildet zu haben, und sehnte sich eine Wiederholung herbei.
Seine Anwesenheit spürte sie allein durch die kribbelnde Unruhe, die seine Wärme auf ihrem Rücken auslöste. Es war unmöglich, ihn auszublenden.
Um sich abzulenken, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die anderen Fahrgäste. Sie zwang sich regelrecht dazu, ihre Gedanken nicht zu ihm schweifen zu lassen. Nicht eine Sekunde hatte sie sich gegen die Verbindung mit ihm wehren können. Das war unheimlich und aufregend zugleich.
Als der Bus vor der Schule anhielt, wagte sie einen letzten, vorsichtigen Blick. Insgeheim hoffte sie, dass sie sich diese intensive Verbindung mit dem Fremden nur eingebildet hatte. Aber nicht einen Millimeter hatte er sich von seinem Platz wegbewegt und reagierte sofort auf ihre Bewegung. Überrascht und mit ernstem Gesicht schaute er sie an. Olivia konnte es nicht fassen. Es war also tatsächlich geschehen – und hatte ihn genauso durcheinandergebracht wie sie.
Sie drehte sich wieder zügig um und stieg aus. In sich versunken trottete sie mit einer Traube von Schülern, die mit ihr aus dem Bus gestiegen war, zum Schulgebäude.
Das Gefühl, dieses Erlebnis würde sie nicht so leicht wieder loslassen, fraß sich in jeden Winkel ihres Körpers. Durch diese rätselhafte Begegnung war, tief in ihr verborgen, ein neuer, geheimer Ort entstanden. Tausende Fragen wirbelten in ihr umher, die sie unaufhörlich verfolgten. Um Antworten zu finden, musste sie diesen Ort erforschen. Dafür brauchte sie Ruhe und Sicherheit. Und was wäre besser dazu geeignet als eine Schulstunde?
Die Aneinanderreihung der unerwarteten Dinge, die sich momentan in ihrem Leben abspielten, riss scheinbar nicht ab.
Es hatte zwar aufgehört, zu regnen, doch ihre feuchten Schuhe quietschten bei jedem Schritt. Auf dieses Geräusch konzentrierte sie sich und versuchte, alles andere um sich herum auszublenden. Sie verkroch sich in ihrer Jeansjacke und sehnte Tatjanas vertrautes Gesicht herbei. Mit ihr gemeinsam würde Olivia in die Realität zurückfinden.
Bevor sie selbst die große, gläserne Eingangstür öffnen konnte, legte sich eine Hand an ihr vorbei auf den Türgriff und zog diese vorsichtig auf.
„Nach dir“, ertönte eine Stimme, deren Klang Olivia leicht erbeben ließ.
Sofort war sie sich sicher, diese schon einmal gehört und ähnlich darauf reagiert zu haben. Verdutzt hob sie ihren Blick und fand sich zu ihrer eigenen Verblüffung in den verwirrenden Tiefen dieser unendlich dunklen Augen wieder.
„Vielen Dank!“ Sie wollte zügig durch die Tür verschwinden, doch die Reaktion, die auf ihre Äußerung kam, zog sie in ihren Bann und ließ sie innehalten.
Der Klang ihrer Stimme hatte kaum die Luft erfüllt und den Fremden erreicht, als der geheimnisvolle Schimmer, dem sie kurz zuvor derart verfallen gewesen war, im Inneren seiner Augen golden aufblitze. Im nächsten Moment lief dieser durch das Dunkle seiner Iriden und leuchtete auf, als wäre er darin eingebrannt.
Unfähig, sich zu bewegen, standen sie einander gegenüber und wagten es nicht, zu atmen. Weder er noch sie.
Was geschah hier mit ihnen?
Olivia war mitten in der Tür stehengeblieben, weshalb sie von hinten von einem Schüler angerempelt wurde. Unbeholfen stolperte sie ins Gebäude.
„Liv!“ Tatjana quälte sich durch die überfüllte Eingangshalle und kam auf sie zugelaufen.
Ihr Rufen und Winken lenkte Olivia ab, sie sah ihre Freundin verwundert an. Erst nachdem sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, drehte sie sich zurück zur Tür und entdeckte dort erneut den Fremden. Er starrte mit verblüfftem Gesichtsausdruck vor sich auf den Boden und schien nachzudenken, hob dann die Augenbrauen und schüttelte leicht den Kopf. Als er aufschaute und in der Menge offenbar nach ihr suchte, begann Olivias Herz zu rasen. Doch bevor sich ihre Blicke ein weiteres Mal treffen konnten, packte Tatjana sie am Arm und hatte damit ihre volle Aufmerksamkeit.
„Ah! Hallo, Liv! Ich dachte schon, du würdest heute nicht mehr kommen“, begrüßte ihre Freundin sie überschwänglich. „Du musst mir unbedingt deine Mathehausaufgaben zeigen. Eine der Aufgaben habe ich überhaupt nicht verstanden. Und als ich dich gestern Abend angerufen habe, hast du das Handy wohl nicht gehört, weil du bei der Probe gewesen bist.“ Olivia schaute ihre Freundin nur fassungslos an. „Liv, was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus, als wäre dir ein Geist erschienen!“ Tatjana sah sie beunruhigt an.
Wie benommen und etwas überfordert von den Gefühlen, die in ihr tobten, starrte Olivia ihre Freundin an. Deren besorgtes Gesicht passte überhaupt nicht zu der Fröhlichkeit, die sonst darin zu finden war, und wirkte einfach nur komisch. Olivia fing an zu lachen.
„So schlimm war es auch nicht!“ Olivia prustete erneut los und ihre Freundin stimmte in das erlösende Gelächter ein.
„Komm, ich brauche jetzt echt deine Hilfe wegen Mathe. Wir haben noch fünf Minuten Zeit. Bitte!“, flehte Tatjana und zog sie durch die Menschenmenge zu einem Platz, der etwas abseits des Gedränges lag.
Auf dem Weg dorthin ließ Olivia ihren Blick ein letztes Mal durch die Eingangshalle schweifen. Voller Hoffnung, den dunklen Augen zu begegnen und das geheimnisvolle Schimmern bewundern zu können. Doch leider war der Fremde bereits in der Menge verschwunden.
Die ersten Stunden vergingen wie im Fluge. Obwohl Olivia ihre Lieblingsfächer hatte, konnte sie sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Sie dachte unentwegt über die verwirrenden Begegnungen mit dem Fremden nach.
Sollte sie Tatjana nach ihm fragen? Sie kannte viele Leute in der Schule. Doch nach einigem gedanklichen Hin und Her entschied sie sich dagegen. Es war Olivia unangenehm, mit jemandem darüber zu sprechen, was ihr an diesem Morgen passiert war. Betrachtete man es genauer, wäre es sogar recht albern. Ja, es war gewaltig gewesen und hatte etwas in ihr entfacht, was man auf gewisse Weise mit Sehnsucht vergleichen konnte. Von so etwas wie Liebe auf den ersten Blick oder Schicksal war sie allerdings nicht überzeugt. Sie fand für das alles einfach keine Erklärung. Dennoch war sie sich sicher, dass diese beiden Umschreibungen nicht in die Nähe dessen kamen, um das zu beschreiben, was tatsächlich passiert war.
Die erste Pause rückte näher und erneut stieg ein nervöses Flattern in ihrer Magengegend auf. Sie musste diesen Fremden wiedersehen!
Nach dem Klingeln trennte sich Olivia von Tatjana. Sie nahm ihr Schlüsselproblem zum Vorwand und behauptete, Sven zu suchen. Aufgeregt lief sie über den Schulhof, fand aber zu ihrer Enttäuschung nicht den, nach dem sie suchte. Stattdessen traf sie denjenigen, den sie finden zu wollen vorgegeben hatte.
Kaum hatte Sven sie ebenso entdeckt, stürmte er in ihre Richtung und strahlte sie mit seinem Gib-mir-eine-Chance-Livi!-Lachen an.
Bevor er bei ihr war, wechselte Olivia die Richtung und versuchte, wie in den letzten zwei letzten Wochen auch, so schnell wie möglich die Mädchentoiletten zu erreichen.
Schneller, als sie vermutet hätte, schlug Sven einen kleinen Haken. Geschickt ergriff er ihr Handgelenk und legte ihr so fest den Arm um die Schultern, dass sie sich geschlagen geben musste.
„So, Schwesterchen, wenn du mich schon nicht zurückrufst, dann entkommst du mir wenigstens hier in der Schule nicht mehr“, sagte er mit einem triumphierenden Lachen, hinter dem er seine Verärgerung nicht ganz verstecken konnte.
Olivia unternahm einige hoffnungslose Versuche, sich aus seiner Umarmung zu winden. „Ich rede nicht mit dir, und du weißt auch ganz genau warum!“
Ihr Stiefbruder lockerte zwar seinen Griff, damit sie mehr Luft zum Atmen hatte, aber an Flucht war keineswegs zu denken. Sven war zwei Köpfe größer und wesentlich stärker als sie.
„Du verstehst das einfach nicht. Das soll eine Vater-Sohn-Tour werden. Ich bin achtzehn und ziehe bald aus. Vermutlich möchte Dietmar nur einige Lebensweisheiten oder solches Zeug an mich weitergeben. Eben ein Gespräch unter Männern führen.“
Olivia starrte ihn fassungslos an. „Ich kann ja weghören, während er dich aufklärt. Ist es dafür nicht ohnehin schon zu spät?“, fauchte sie leise. Sie wollte ihm auf keinen Fall mitten auf dem Schulhof eine Szene machen. Sie war erst seit einigen Wochen in dieser Schule. Die meisten seiner Freunde wussten nicht einmal, dass sie sich kannten und sahen bereits neugierig zu ihnen herüber.
„Vater-Sohn-Tour? Habt ihr mal an das Vater-Tochter-Ding gedacht, das da auch existiert?“, zischte sie ihm zu.
Doch statt sich von ihren Worten beeindrucken zu lassen, lachte Sven in seiner einnehmenden Art, die selbst bei Olivia immer den richtigen Nerv traf und ihr sofort etwas von ihrer Wut nahm.
„Livi, es geht hier nur um drei Tage. Ich nehme ihn dir nicht für immer weg. Wir kommen am Mittwoch vom Segeln zurück, und wenn du schon gepackt hast, hole ich dich höchstpersönlich ab, sobald wir wieder zu Hause sind.“
Sven traf den Nagel auf den Kopf. Sie war eifersüchtig auf ihn und fühlte sich von den beiden ausgegrenzt. Doch sie war ihm offenbar wichtig. Warum sollte er sich sonst so um sie bemühen?
Auf dem Weg zu seinen Freunden fragte sie sich, ob es tatsächlich Sven war, auf den sie wütend sein sollte. Wahrscheinlich nicht. Aber trotzdem…
Sie entspannte sich etwas. Sie legte ihrerseits einen Arm um seine Hüfte, während sie auf die kleine Gruppe zu schlenderten, die Sven am anderen Ende des Schulhofes hatte stehen lassen. Wie eine Trophäe schob er sie in deren Mitte und lachte. „Schaut mal her, das ist meine kleine, kratzbürstige Schwester Livi. Diejenige, die seit zwei Wochen nicht mit mir geredet hat!“
Olivia schoss die Hitze ins Gesicht. Wie peinlich war das denn? Hatte er mit seinen Freunden etwa über sie gesprochen?
Zu ihrer Überraschung wurde sie von den anderen begrüßt, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Sven hatte ganz sicher von ihr erzählt. Doch ehe es für sie noch blamabler werden konnte, verkündete der Gong das Ende der Pause.
„Ich habe meinen Schlüssel vergessen“, rief sie ihm hinterher. Ihr Stiefbruder war schon auf dem Weg zum Gebäude und Olivia war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt gehört hatte. Er hatte den Arm über die Schultern eines Mädchens gelegt und wirkte abgelenkt.
„Kein Problem“, rief er ihr dennoch über die Schulter zu. „Ich warte nach der letzten Stunde auf dem Parkplatz auf dich.“
Olivia schüttelte lachend den Kopf. So unkompliziert konnte das Leben sein, hatte man einen Stiefbruder wie Sven. Sie sah ihm nach und fragte sich, warum sie überhaupt einen solchen Aufstand gemacht hatte.
Mit dieser Leichtigkeit schlenderte sie in die nächste Stunde und konnte sich, dank der Ablenkung durch Sven, etwas besser auf den Unterricht konzentrieren. Ihre Nervosität meldete sich erst wieder, als sie in der Mittagspause mit Tatjana in die Mensa ging.
Nachdem sie sich das Essen geholt und einen freien Platz gefunden hatten, spähte Olivia so unauffällig wie möglich durch den gesamten Raum. Dachte sie zumindest.
Denn kaum schaute sie zurück zu ihrer Freundin, erwartete sie dort ein breites Grinsen. Verlegen strich sie sich die Haare hinter ihr Ohr.
„Was ist?“
„Das wollte ich dich gerade fragen“, antwortete Tatjana mit vielsagend hochgezogenen Augenbrauen. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
Olivia hingegen setzte einen unschuldigen Blick auf und zuckte betont gelassen mit den Schultern. „Nichts! Was soll mit mir sein?“ Das kam leider viel zu schnell und bei Weitem nicht so gelassen wie erhofft über ihre Lippen.
Daraufhin lachte ihre Freundin lautstark und schüttelte den Kopf, ihre Locken kicherten wieder einmal mit. „Du müsstest dich mal sehen! Dann würdest du so etwas nicht behaupten!“
Am liebsten wäre Olivia im Boden versunken! Sie hatte das Gefühl, sämtliche Gespräche in ihrer Nähe würden abrupt abreißen und sich alle Augenpaare auf sie richteten. Sie starrte Tatjana peinlich berührt an, vergewisserte sich, dass die anderen sie nicht beobachteten, und lehnte sich nach vorn.
„Was meinst du damit?“
Tatjana beugte sich ebenfalls zu ihr und flüsterte: „Du kommst total verwirrt in die Schule, bist kaum ansprechbar und schaust dich ständig um, als ob du jemanden suchen würdest. Meinst du, ich hätte diesen hübschen Kerl nicht gesehen, der heute Morgen mit dir an der Tür stand?“
Olivia biss sich auf die Unterlippe. Ach, er hatte gut ausgesehen? Sie konnte sich gar nicht an sein Gesicht erinnern, nur an seine Augen. Tatjana war noch aufmerksamer, als sie ihr ohnehin schon zugetraut hatte.
Gespielt genervt verdrehte Olivia ihre Augen, lehnte sich wieder zurück und nahm ihr Getränk in die Hand, um die Situation zu überspielen. Sie starrte in ihr Glas und war sich nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Tatjana hingegen schien ihr Unbehagen nicht zu interessieren.
„Los, sag schon! Wer war das? Woher kennst du ihn? Wo kommt er her? Ist er hier auf der Schule? Wie heißt er? Mann, war der süß!“
Verdammt, jetzt steckte sie in der Klemme! Sollte sie ihr alles erzählen? Tatjana würde ihr kein Wort glauben, vermutlich war es besser, alles zu leugnen.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
Tatjanas Lächeln verschwand und ein überraschter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. „Na ja, wäre ich in deiner Situation, wüsste ich ganz genau, wovon du sprichst. Der Typ war nicht zu übersehen und seine Reaktion auf dich erst recht nicht.“
Entsetzt starrte Olivia ihre Freundin an. Sie verstand doch selbst nicht, was da zwischen ihr und diesem Fremden passiert war. Und wie ihre Gefühlswelt oder ihre Gedanken dazu einzuordnen waren, blieb ihr bisher verschlossen. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie von dem Ganzen halten sollte.
Glücklicherweise entließ Tatjana sie nach einigen quälenden Sekunden mit einem wissenden Grinsen aus ihren Fängen. „Nun ja, komm erst einmal darüber hinweg, dass du deinem Mr. Right begegnet bist.“ Dabei machte sie eine Geste, die sie sich sicher aus einer ihrer Lieblingssoaps abgeguckt hatte. „Und danach erzählst du mir davon.“ Sie streckte ihr drohend einen Zeigefinger entgegen. „Und zwar jedes Detail!“
Olivia fuhr erneut die Röte ins Gesicht, daher lachte sie und sagte nur mit einem Kopfschütteln: „Du spinnst!“
Abends im Bett ließ sie sich auf die Kissen fallen und dachte darüber nach, was für ein verrückter Tag hinter ihr lag.
Nach der Schule waren Sven und sie bei einem Freund vorbei gefahren, der eine eigene Radiostation im Internet aufgezogen hatte. Sven hatte es sich nicht nehmen lassen, ein wenig mit seiner Schwester und ihrer Band anzugeben, und sein Freund war prompt darauf angesprungen. Er hatte ein paar ihrer Lieder gespielt, die sie auf ihrem Handy dabei hatte, den Auftritt angekündigt und ein kurzes, spontanes Interview mit ihr geführt. Olivia hatte keine Ahnung, ob und wie viele Leute sich so etwas anhörten, aber es hatte Spaß gemacht.
Sie dachte an Tatjana und ihr Gespräch in der Mensa. Ihre Freundin war der witzigste Mensch, den sie kannte. Es war schön, mit ihr befreundet zu sein.
Ein Schwarm aufwirbelnder Schmetterlinge begann in ihrem Bauch zu tanzen. Langsam wagte sie sich zu dem aufregenden Teil des Tages vor. Ihr Lächeln wurde immer breiter. Sie versuchte, sich ein Bild von dem Fremden in Erinnerung zu rufen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Diese geheimnisvolle Verbindung mit ihm hatte eine derart machtvolle Wirkung auf sie gehabt, dass sie sich nicht an sein Gesicht erinnern konnte.
Wann sie ihn wohl wiedersehen würde?
Ihre Wangen glühten vor Aufregung und sie griff nach ihrem kühlen Kopfkissen, um ihr Gesicht darauf zu pressen. Dabei lachte sie vor sich hin.
Hoffentlich am nächsten Morgen – zur selben Zeit, am selben Ort.
Dichter Nebel hüllte die Straßen ein, durch die Olivia morgens zum Bus schlenderte, und verlieh der Wohngegend einen tristen Anstrich. Es war, als würde ihre Umgebung das Spiegelbild ihres Inneren darstellen wollen. Denn genau so fühlte sich ihr Leben an. Trostlos.
Der unbekannte Fremde geisterte ständig in ihren Gedanken umher. Getroffen hatte sie ihn in den letzten Tagen allerdings nicht.
Einmal hatte sie ihn aus der Ferne an der Bushaltestelle entdeckt. Bei seinem Anblick hatte sie aber der Mut verlassen. Statt sich zu beeilen, um mit ihm zusammen nach Hause zu fahren, hatte sie lieber herumgetrödelt. Und das mit voller Absicht!
Im Nachhinein war es nahezu idiotisch, so eine Chance willentlich verpasst zu haben. Dieses Eingeständnis trübte Olivias Laune umso mehr. Denn jetzt hatte sie das Gefühl, nicht nur vollkommen verwirrt, sondern dazu noch feige zu sein.
Es war der letzte Tag vor den Herbstferien, die Aussicht auf ein Wiedersehen in den nächsten zwei Wochen wurde immer unwahrscheinlicher. Diese Vorstellung stimmte sie traurig.
Am Abend zuvor hatten sie und ihre Band wieder für den Auftritt geprobt. Colin war ihr gegenüber zunächst etwas distanziert gewesen. Später hatte er sie aber wie immer nach Hause gebracht. Weitere Kussversuche waren zum Glück ausgeblieben.
Aber egal was sie tat oder mit wem sie zusammen war, Olivia ertappte sich ständig dabei, wie sie an den Fremden dachte.
Auf dem Weg zum Bus suchte sie in ihrer Jackentasche nach ihrem Smartphone. Paul hatte bei der letzten Probe auf seinem Keyboard den Vorschlag für einen neuen Song vorgespielt, den er ihr sofort aufgenommen hatte. Während der Fahrt wollte sie ein Gefühl für die Melodie bekommen. Womöglich fiel ihr gleich ein passender Text dazu ein.
Müde und völlig in die Musik aus ihren Kopfhörern eingetaucht, durchzuckte es sie wie ein Blitz. Sofort war sie hellwach. Nachdem sie um die letzte Ecke gebogen war, erblickte sie ihn. Er lehnte an der Außenseite der Haltestelle und war in ein Buch vertieft.
Vor Schreck wäre sie fast stehen geblieben. Im letzten Moment riss sie sich aber zusammen und näherte sich ihm langsam. Wie verhielt sie sich nur, wenn sie bei ihm angekommen war?
Augenblicklich erhöhte sich ihr Puls und sie spürte, wie ihr Herz gegen ihren Brustkorb schlug. Vor Aufregung wurden ihre Hände feucht. Schnell schob sie diese weiter in ihre Jackentaschen. So schaffte sie es unmöglich, an ihm vorbeizugehen. Aber so weit abseits wollte sie nicht stehen bleiben!
Was blieb ihr übrig?
Sie dachte nicht länger nach und lief geradewegs weiter. Dabei versuchte sie krampfhaft, ihn auszublenden, bis sie ihn passiert hatte. Als sie genau auf seiner Höhe angelangt war, spürte sie förmlich, wie sich sein Blick auf sie richtete. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen und hinterließ ein prickelndes, warmes Gefühl auf ihrer Haut. Oh, Gott! Sie würde gleich tot umfallen!
„Da bist du!“
Sie hielt den Atem an. Sprach er mit ihr? Verdutzt schaute sie ihn an. Er lächelte.
Was tat man in solchen Momenten?
Er hatte ein umwerfendes Lächeln …
Soll ich antworten?, fragte sie sich hektisch.
Alles andere wäre undenkbar!
So gelassen wie möglich grüßte sie zurück und ging langsam weiter. Bedächtig achtete sie auf jeden Schritt. Nicht, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte oder gegen die Haltestellenwand lief.
Auch wenn sie vor Aufregung kaum atmen konnte, lächelte sie in sich hinein. Sie standen zwar einige Schritte voneinander entfernt, trotzdem spürte sie seine Gegenwart in ihrem gesamten Körper, als wäre jede ihrer Zellen auf ihn ausgerichtet. Er war wie ein Magnet. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich wie eine Büroklammer ohne ihren Willen immer weiter auf ihn zubewegen, bis sie an ihm klebte und nicht mehr loskam – und sie hatten weitere zehn Minuten Wartezeit vor sich. Das war nicht auszuhalten!
Sie vergrub das Kinn in ihren Schal, damit er ihr Grinsen nicht sah, das sie bei diesen idiotischen Gedanken nicht mehr zurückhalten konnte.
Was würde als Nächstes passieren? Blieb diese Begrüßung alles, was sie je miteinander zu tun haben würden?
Einen Moment lang schaute sie auf ihre Schuhe, während sie abwechselnd vor und zurück wippte. Ein vorsichtiger Blick zu ihm verriet ihr, dass er sich offensichtlich wieder in sein Buch vertieft hatte. Das war ihre Chance!
Sie lehnte sich innen an die Seitenwand der Haltestelle und schaute, so unauffällig wie möglich, über ihren Schal hinweg zu ihm hinüber.
Oh, Mist! Tatjana hatte recht, er sah verdammt gut aus!
Lange Wimpern umrahmten seine mandelförmigen, schwarzen Augen. Seine Haut war sonnengebräunt und verlieh seinen schmalen, markanten Gesichtszügen einen sanften Ausdruck. Seine langen Haare hatte er im Nacken locker zu einem Knoten zusammengebunden. Einige Strähnen waren geflochten. Außerdem war er nicht so groß und weniger kräftig gebaut als Sven.
In einer beeindruckend fließenden Bewegung verlagerte er plötzlich sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und blätterte eine Seite seines Buches um. Zunächst erschrak Olivia, denn sie wollte auf keinen Fall von ihm dabei erwischt werden, wie sie ihn musterte.
Dennoch konnte sie ihren Blick nicht von ihm lösen. Dabei kam sie immer deutlicher zu der Erkenntnis, dass sie unmöglich die Art von Mädchen sein konnte, für den sich dieser Fremde interessierte. Die Verbindung, die sie das letzte Mal zwischen ihnen gespürt hatte, existierte vermutlich nur in ihrer Fantasie. Er erkannte sie sicher allein deshalb wieder, weil sie ihn im Bus so idiotisch angeglotzt und damit wahnsinnig genervt hatte.
Er war unerreichbar für sie. Das war eindeutig. Was für eine verrückte Idee von ihr, er könnte einen einzigen Gedanken an sie verschwendet haben. Alles erschien ihr auf einmal völlig absurd.
Olivia lachte erleichtert in sich hinein und fühlte sich gleich aufgeräumter.
Sein tiefes Einatmen und das Zuklappen des Buches rissen sie aus ihren Gedanken und zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Unweigerlich schaute sie in seine Richtung und entdeckte sein nachdenkliches Gesicht.
„Darf ich dich etwas fragen?“ Er drehte sich zu ihr um.
Olivia konnte ihre Überraschung kaum verbergen und gab sich selbstsicherer, als sie war. „Ja, klar. Was denn?“
„Ist Liv eine Abkürzung für Olivia?“
Verblüfft verlor sie fast die Kontrolle über ihre Kiefermuskulatur. Er hatte sich ihren Namen gemerkt?
„Ich … Ähm …Ja“, stammelte sie.
Ihre Wangen glühten und sie lief vermutlich rot an. Warum passierte ihr das immer wieder? Sie war doch sonst nicht so einfach aus der Fassung zu bringen.
Langsam kam er näher auf sie zu, mit jedem Schritt brachte er sie mehr aus dem Konzept. Ein Strahlen lag in seinem Gesicht, das seine hübschen Züge noch deutlicher hervorhob. Olivia schnappte leise nach Luft und hielt diese an, als er nur wenige Zentimeter vor ihr anhielt. Die Haut auf ihrem gesamten Körper prickelte.
„Mein Name ist Lenno, ich freue mich, dich endlich kennenzulernen.“
„Oh, ich …“, vorsichtig lächelte sie zurück und räusperte sich. „Ich freue mich auch.“
Seine dunklen Augen zogen sie sofort wieder in ihren Bann. Erneut huschte der goldene Schimmer über sie hinweg. Fasziniert erwiderte sie seinen Blick länger als nötig. Bildete sie sich dieses Aufleuchten in seinen Augen nur ein?
Lenno schien ihr anzusehen, welche Gedanken in ihrem Kopf umherschwirrten, denn er lachte amüsiert auf. Olivia schaute ertappt weg und musste selbst schmunzeln.
Der Bus hielt neben ihnen und sie schreckte zusammen. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht. Sie überlegte kurz. Vermutlich hatten sich die Scheinwerfer in seinen Augen reflektiert. Na klar! Olivia nickte zufrieden vor sich hin. Schließlich stiegen sie gemeinsam in den Bus ein.
Nervös setzte sie sich auf einen Platz neben dem Eingang. Lenno lehnte sich direkt davor an eine Haltestange, kam beim ruckartigen Anfahren des Busses ins Straucheln und suchte Halt an der Querstange vor ihrem Sitz. Gedankenverloren betrachtete sie seine große, feingliedrige Hand und überlegte, ob er ein Instrument spielte. Da beugte er sich auf einmal zu ihr.
„Darf ich dich noch etwas fragen?“
Wie bei ihrer ersten Begegnung spürte Olivia seine Körperwärme durch ihre Kleidung hindurch direkt auf ihrer Haut. Nervös sah sie zu ihm auf und entdeckte ein aufmunterndes Lächeln auf seinen Lippen. Wie hätte sie ihm da eine weitere Frage verwehren sollen?
Sie nickte angespannt und beobachtete ihn, während er einen Moment zögerte, sie aber weiterhin direkt anschaute.
Sie hielt seinem Blick stand, irgendetwas beschäftigte ihn. Sie sah förmlich, wie die Gedanken in seinem Kopf umherwirbelten. War er sich nicht sicher, ob er die Frage stellen sollte? Oder wollte er sie nur hinhalten, weil es ihm gefiel, wie gespannt sie auf seine nächsten Worte wartete?
Mit einem amüsierten Aufblitzen in den Augen fragte er: „Soll ich heute Nachmittag auf dich warten, oder trödelst du wieder extra lange, damit du den Bus verpasst?“
Ha, erwischt!
Olivia lachte. Verlegen blickte sie seitlich aus dem Fenster.
„Nein, ich trödle heute nicht.“
„Gut“, antwortete er zufrieden, zog sein Buch aus der Tasche und vertiefte sich schmunzelnd darin.
Sie wagte einen verstohlenen Blick zu ihm und holte ihr Smartphone heraus und startete das neue Stück. Jetzt wusste sie, für wen sie den Songtext schreiben würde. Ungewollt strahlte sie ein bisschen mehr und schaute erneut kurz zu Lenno hinüber. Er drehte im selben Moment seinen Kopf zu ihr, sodass sich ihre Blicke trafen. Olivia durchfuhr ein wohliges Gefühl. Ihr gefiel es, ihn in ihrer Nähe zu haben. Und offenbar ging es ihm genauso, das war das Schönste daran. Außerdem meinte sie, den goldenen Schimmer erneut gesehen zu haben. Also war das doch keine Einbildung gewesen! Wie war das möglich?
Ihr Herz vollführte einen kleinen Hüpfer. Was er auch bedeutete, er faszinierte sie.
Während der restlichen Busfahrt schaute Olivia aus dem Fenster und versuchte, sich auf den Song zu konzentrieren.
Nachdem der Bus ihre Schule erreicht hatte, gingen sie schweigend nebeneinander her zum Eingang und lächelten sich dabei ab und zu an. Olivia ertrug den Gedanken kaum, gleich wieder von ihm getrennt zu sein. Er fehlte ihr jetzt schon, auch wenn sie nur wenige Worte miteinander gewechselt hatten.
In der Eingangshalle herrschte, wie immer zu dieser Zeit, ein großes Durcheinander. Als sich Lenno zu ihr wandte, gelang es ihr für diesen winzigen Moment, alle anderen auszublenden.
„Bis nachher?“
Olivia nickte kurz und schmunzelte ein wenig. „Ich beeile mich.“
Er lachte sie an, und für einen Augenblick schien es, als würde er seine Hand nach ihr ausstrecken wollen. Doch er zögerte, drehte sich langsam um und steuerte den Flur an, der zum Naturwissenschaftstrakt führte.
Wie gebannt schaute sie ihm hinterher. Es dauerte eine Weile, bis sie bemerkte, dass Tatjana neben ihr stand und dasselbe tat.
„Lenno, sein Name ist Lenno! Er ist der Hammer, Tatjana. So jemanden wie ihn habe ich noch nie kennengelernt!“
Ihre Freundin grinste nur und zog sie mit sich zum Klassenraum.
Später in der Mensa lief Lenno hinter einem Mitschüler aus Svens Stufe an ihrem Tisch vorbei und versäumte es nicht, Olivia ein kleines Lächeln zu schenken. Womöglich kannte ihr Bruder ihn ja wirklich aus einem seiner Kurse.
Tatjana flippte innerlich förmlich aus, sagte aber kein Wort. Sie ließ Olivia in Ruhe, kicherte leise in sich hinein und verschluckte sich dabei an ihrem Getränk.
Nach der letzten Stunde umarmten sich die Freundinnen lange, da sie sich während der gesamten Ferien nicht sehen würden.
„Schreibst du mir, was du die ganze Zeit so treibst?“, fragte Tatjana und Olivia nickte etwas bedrückt.
Ihre Laune änderte sich jedoch schlagartig, als ihr die Verabredung mit Lenno einfiel, und sie beeilte sich, zur Haltestelle zu kommen.
Er war nicht da.
Je länger sie wartete, umso nervöser wurde sie. Um sich abzulenken, hörte sie sich den neuen Song an. Diesmal fiel ihr im Refrain spontan eine eingehende Melodie ein und sie konzentrierte sich darauf, diese immer feiner auszuarbeiten. Sie suchte nach passenden Wörtern, tippte sie schnell in ihr Handy, damit sie sich später an die Tonfolge erinnerte, wenn sie die Idee in ihrem Zimmer laut ausprobieren konnte.
Dabei vergaß sie die Welt um sich herum und erschrak fürchterlich, als der Bus auf einmal an ihr vorbeirauschte und anhielt.
Jemand legte seine Hand auf ihren Rücken und schob sie behutsam zur Bustür. Sofort spürte sie Lennos Wärme und lächelte ihn erleichtert an. Gemeinsam stiegen sie ein, und Olivia nahm die Kopfhörer aus den Ohren.
„Ich habe dich gar nicht bemerkt“, entschuldigte sie sich etwas verlegen.
Er lächelte zurück. „Ich stand schon eine Weile neben dir. Es war sehr interessant, dich zu beobachten.“
Olivia stieg erneut die Röte ins Gesicht, sofort schaute sie in eine andere Richtung. Hoffentlich hörte das bald auf!
Es war ein seltsames Gefühl, dass Lenno sie in einem so persönlichen Moment beobachtet hatte. Wenn sie Musik machte, war sie am meisten sie selbst. In ihren Texten konnte sie Dinge aussprechen, zu denen ihr im wahren Leben die Worte fehlten. Überlegte sie sich Gesangslinien, feilte sie so lange daran, bis diese exakt das wiedergaben, was sie tief in ihrem Inneren fühlte.
Gemeinsam suchten sie sich einen freien Fleck in dem überfüllten Bus. Olivia quetschte sich in eine Ecke, damit sie beim Anfahren genug Halt hatte. Als sie ihr Handy und die Kopfhörer in ihrer Jackentasche verstauen wollte, deutete Lenno darauf.
„Was hörst du dir so konzentriert an?“
Ihr Blick wechselte verdutzt zwischen ihm und ihrem Handy, während sie ihr Gewicht etwas verlegen von einem Fuß auf den anderen verlagerte.
„Ich singe in einer Band. Der Keyboarder hat ein neues Lied mitgebracht. Das ist es, was ich höre.“
Er hob interessiert die Augenbrauen. „Darf ich?“
Olivia überlegte kurz, zuckte mit den Schultern und reichte ihm ihre Kopfhörer.
Was sollte schon passieren?
Sie startete die Musik. Lenno schaute zu Boden und hörte konzentriert zu. Doch nach kurzer Zeit begann er, sich seltsam zu verhalten. Mit einem versteinerten Gesichtsausdruck richtete er sich langsam auf. Seine Augen weiteten sich und blickten beunruhigt hin und her. Der goldene Schimmer flammte auf und brannte sich dieses Mal deutlich in seine Pupillen. Seine Augen verengten sich, als ob er etwas fixieren wollte, es aber nicht genau erfassen konnte. Sein Atem ging hörbar schneller, und eine negative Gefühlsregung überschattete sein Gesicht, die entweder Schmerz oder Furcht zeigte.
Erschrocken zog Olivia ihr Handy aus der Tasche, weil sie vermutete, dass sie auf den Lautstärkeregler gekommen war. Das war jedoch nicht der Grund für sein Verhalten. Auf dem Display sah sie, dass ein anderes Stück lief, als sie beabsichtigt hatte. Verdammt! Diesen Song hatten sie ebenfalls in der letzten Probe aufgenommen, bei diesem sang sie.
Entsetzt atmete sie kurz ein und hob ihren Daumen, um die Musik zu stoppen. Doch Lenno hielt sie davon ab.
So wie er reagierte, gefiel ihm ihre Stimme offensichtlich nicht. Warum tat er sich das dann an?
Im selben Moment bremste der Bus ab und Lenno musste sich mit beiden Händen festhalten. Er ergriff die Stange knapp neben Olivias Körper und berührte sie leicht dabei. Trotz der Nähe schaute weder er zu ihr noch sie zu ihm. Stattdessen drehte Olivia ihren Kopf in die entgegengesetzte Richtung und spürte seinen Atem an ihrem Hals. Immer wieder hauchte Lenno ihr seine Wärme auf die Haut und sandte damit einen Schauer nach dem anderen über ihren Rücken. Seine Nähe raubte ihr derart den Verstand, dass sie nicht mehr wusste, ob sie ewig so stehen bleiben wollte oder sich wünschte, dieses verdammte Lied möge endlich zu Ende sein. Olivia entschied sich für Ersteres, als Lenno unvermittelt die Kopfhörer herausnahm.
„Es tut mir leid“, raunte er ihr zu, aber sie verstand nicht, wofür er sich entschuldigte.
Sie drehte sich in seine Richtung, ihr Gesicht war nur wenige Millimeter von seinem entfernt. Der innere Drang, sich ihm ein bisschen mehr zu nähern, um ihn zu küssen, wurde unerträglich.
Beide verharrten einen Augenblick in dieser Position und hielten den Atem an.