Strikers Fall - Susanne Leuders - E-Book
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Strikers Fall E-Book

Susanne Leuders

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Beschreibung

Weder Amelie noch Striker können die gemeinsame Zeit und ihre Freundschaft vergessen. Dennoch scheuen sie sich beide davor, erneut Kontakt zueinander aufzunehmen. Striker schreibt sich seinen Verlust auf einem neu erstellten Angel-Account von der Seele, doch Amelie antwortet nie. Ein Leichenfund im Hafenbecken verändert allerdings alles. Amelie hat mittlerweile eine Ausbildung zur Polizistin durchlaufen und ist seit einigen Monaten bei der Mordkommission. Mit ihrem Partner Tom übernimmt die ihren ersten großen Fall. Als sie am Tatort erscheint, ahnt sie noch nicht, dass dieser Mord sie zurück in den verlassenen Teil des Hafenviertels und somit zurück in die dunklen Ecken ihrer Vergangenheit führen wird. Erneut beginnt ihr Leben in seinen Festen zu wanken, denn sie erkennt den Toten sofort.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Susanne Leuders

Strikers Fall

Reloaded

ROMAN

Inhaltsverzeichnis

Level 0I

Level I

Level II

Level III

Level IV

Level V

Level VI

Level VII

Level VIII

Level IX

Level X

Level XI

Level XII

Level XIII

Level XIV

Level XV

Level XVI

Level XVII

Level XVIII

Level XIX

Level XX

Weitere Bücher von Susanne Leuders erschienen bei HEATHERWAY FANTASY

Impressum

Fallen-Angels-Reihe:

(bisher erschienen)

Angels Fall – Game over

Strikers Fall – Reloaded

Susanne Leuders lebt in der Nähe von Düsseldorf. Ihre Romantic Thriller der Fallen-Angels-Reihe sind bereits in einem kleinen Berliner Verlag erschienen. Zuvor wurde ihre All Age-Fantasytrilogie ETENYA SAGA dort veröffentlicht. Weitere Informationen unter

https://susanneleuders.jimdofree.com/

„Die Wahrheit eines anderen Menschen liegt nicht darin, was er dir offenbart, sondern in dem, was er dir nicht offenbaren kann. Wenn du ihn daher verstehen willst, höre nicht auf das, was er dir sagt, sondern vielmehr auf das, was er verschweigt.“

(Khalil Gibran)

Level 0I

Von Gelöschter User

(Samstag, 26.Mai, 07:28)

So, ich muss jetzt ins Flugzeug steigen. Schade, dass du nicht mehr da warst.

Bevor ich meinen Account lösche, wollte ich dir aber noch etwas sagen.

Kannst du dich noch erinnern?

„Demjenigen, den du liebst, gibst du die Macht, dich zu verletzen. Doch nur derjenige, der diese Macht nicht ausnutzt, ist es wert, von dir geliebt zu werden.“

Du warst es mehr als wert, Lennard …

Von Striker

(Samstag, 26.Mai, 07:29)

Amy?

***

Die Welt brach aus den Fugen. Das Leben vollführte von einem Augenblick zum anderen eine Vollbremsung – absoluter Stillstand. Nicht im Allgemeinen, aber für Striker. Seine Finger schwebten noch über der Tastatur; begannen leicht zu zittern. Genauso, wie dieses unbestimmte Gefühl in seiner Brust. Seine Haut kribbelte von innen, als würden Ameisen unter ihrer Oberfläche entlang krabbeln und alles vollpissen.

„Verdammt! Ich bin hier!“, fluchte er und schlug im nächsten Moment mit der Faust auf seine Schreibtischplatte. Eine leere Bierflasche kippte scheppernd um, kickte die Dose mit Stiften von ihrem Platz, und alles rollte vom Schreibtisch. Das Getöse, mit dem Stifte und Flasche auf dem Holzboden landeten und in sämtliche Richtungen auseinanderstrebten, nahm Striker allerdings nicht wirklich wahr. Er starrte auf den Bildschirm und fuhr sich fassungslos mit beiden Händen seitlich durchs Haar.

Genau in dem Moment, in dem er auf SENDEN gedrückt hatte, war der Name Angel verschwunden und war durch die unheildrohenden Wörter Gelöschter Account ersetzt worden.

Angel ist weg!, schoss es ihm durch den Kopf. Sie ist weg! Endgültig!

Jetzt pissten ihm die Ameisen auch noch ins Herz! Genau an die Stelle, an der zuvor immer noch ein kleines Flämmchen Hoffnung gezüngelt hatte. Natürlich hatten ihre letzten Worte, ihr Geständnis es genährt und zu einer ordentlichen Flamme erweckt.

Und jetzt das!

Sie war gegangen. Hatte sich mal wieder gelöscht.

Aber so einfach war das mit dem Löschen nicht. Nicht für ihn und nicht aus seinem Leben.

Und wieder ließ sie ihm einfach keine Chance!

Er biss die Zähne aufeinander, denn plötzlich spürte er auch noch ein verräterisches Brennen in den Augen.

Fluchend sprang er auf, schob suchend einige Papiere auseinander und rannte schließlich zu seiner Jeans, die er in der Nacht zuvor nachlässig auf das Sofa geworfen hatte. Nachdem er alle Taschen durchwühlt hatte, setzte er sich mit seinem Smartphone hin.

Warum hatte er sich nur von seinen Freunden zu dieser Tour überreden lassen?

Warum hatte er - verdammt noch mal - erst alles gelesen, was sie geschrieben hatte, bevor er sich bemerkbar gemacht hatte? Erneut stiegen Tränen in ihm auf.

Obwohl er wie ein Wahnsinniger durch die Menüs seines Handys steppte, wusste er ganz genau, dass er auch hier nichts finden würde. Keine E-Mail-Adresse, keine Handynummer, kein Threema-Identity-Code, kein WhatsApp-Eintrag. Alles gelöscht. Er selbst hatte Amelie aus seinem Leben gelöscht, nachdem Jan ihm den Ring vorbeigebracht hatte.

Er war so ein Idiot gewesen!

Jetzt hatte sie die einzige Verbindung, die er sich noch offengelassen hatte, einfach gekappt. Genau das, was nun schwarz auf weiß auf dem Laptopbildschirm stand, hatte er immer gehofft, von ihr eines Tages zu lesen. Und er hatte es vergeigt, weil er zu spät reagiert hatte.

Verdammt!

Striker beugte sich nach vorn, stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und presste das kühle Handy-Display gegen die Stirn.

Denk nach, Lennard! Denk nach!, trieb er sich selbst an.

Während er vor sich hinstarrte, zuckte er erschrocken zusammen, als ihm von hinten jemand eine Hand über seine Schulter schob.

„Willst du nicht zu mir zurück ins Bett kommen?“, flüsterte eine weibliche Stimme verführerisch in sein Ohr und ließ ihn innerlich versteinern. Frustriert schloss er die Augen.

Und was für ein elender Idiot er war!

***

Er starrte auf den Bildschirm des Fernsehers, auf dem nichts als gähnende Leere zu sehen war. Das tat er bereits seit Stunden. Striker bewegte sich nur, um seine Bierflasche an den Mund zu führen oder wenn er runter zum Kühlschrank musste, um sich eine neue zu holen. Sein Handy klingelte ungehört und auch auf das Klopfen an seiner Tür reagierte er nicht. Jetzt nervten ihn nicht nur die pissenden Ameisen, sondern ganze Termitengeschwader zerfraßen seine Eingeweide.

Das Leben tat weh!

Was hatte er falsch gemacht, dass sie gegangen war, obwohl er es wert gewesen wäre? Er kapierte es nicht! Wann hätte er eine andere Entscheidung treffen müssen? In welchem Moment hatte er die Weiche in die falsche Richtung gestellt?

Wenn er ehrlich zu sich war, wusste er es genau.

Strikers Gedanken drehten sich im Kreis. Der Alkohol ließ ihn zwar das Gemetzel in seinem Inneren ein wenig vergessen, half aber reichlich wenig dabei, Antworten zu finden.

Schließlich war das letzte verfügbare Bier getrunken und er raffte sich auf, um ein weiteres Sixpack zu besorgen. Als er unten in seiner Geldbörse nach Bargeld suchte, fiel ihm ein Foto in die Hände, das er seit den Prüfungen immer bei sich trug. Er schluckte hart, faltete es auseinander und las die Nachrichten, die Amelie und er sich gegenseitig geschickt hatten.

„Demjenigen, den du liebst, gibst du die Macht, dich zu verletzen …“ Ist es nicht so, dass uns manchmal erst in dieser Verletzung klar wird, wie sehr man jemanden liebt?

Du hast einmal zu mir gesagt, dass es ohne mich einfach nicht mehr geht.

Ich sehe es genauso … S.

Ich liebe dich auch, Striker!

Die Tränen, die jetzt in ihm aufstiegen, konnte er nicht wirklich aufhalten. Also drückte er seine Daumen gegen die Augen und versuchte sich zu beruhigen.

Im nächsten Moment kam ihm eine Idee.

Er lief hoch in sein Zimmer, startete seinen Laptop und legte einen neuen Angel-Account an, wühlte in seiner Schublade herum, bis er ein weiteres Foto von sich und Amelie gefunden hatte, und schrieb die Zugangsdaten auf die Rückseite. Schließlich steckte er es in einen Briefumschlag. Nachdenklich tippte er diesen eine Weile auf die Innenfläche seiner Hand. Als ihm endlich eine Lösung seines Problems einfiel, meldete er sich über seinen eigenen Account an und öffnete einen Chat mit dem Angel-Fake-Account.

Von Striker

(Samstag, 26.Mai, 22:09)

Amy?

So einfach lasse ich dich nicht gehen!

***

Stunden später hatte er aufs Neue seine alte Tätigkeit aufgenommen und starrte den leeren Fernsehbildschirm an. Auch jetzt bewegte er sich nur, um einen Schluck aus seiner Bierflasche zu nehmen. Anders als zuvor war nur, dass ein selbstzufriedenes Schmunzeln um seine Mundwinkel einen kleinen Freudentanz vollzog. Vor ihm auf dem Tisch stand eine kleine Holzbox und an seinem Hals baumelte ein von einem Lederband gehaltener, kleiner Ring.

Die Zeit würde für ihn spielen.

Da war er sich sicher.

Level I

Bahnhofsklo.

Der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf ging. Es stank bestialisch. Er selbst lag offenbar auf den bepinkelten, vollgekotzen Fliesen einer öffentlichen Toilette. Sein Schädel schien gespalten, seine Arme und Beine abgehackt. Jedenfalls hinderte ihn der schier unerträgliche Schmerz in seinem Kopf, einen klaren Gedanken zu fassen. Seine Extremitäten spürte er kaum, als seien sie betäubt.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

Eine unheimliche Stille herrschte dort, wo er lag. Einzig seinen Herzschlag nahm er wahr. Er pochte zunehmend heftiger gegen seine schmerzenden Rippen. Sein Atem ging stoßweise. Angst fraß sich langsam aber stetig in seinen Geist. Als er die Augen zur Orientierung aufriss, geschah nichts. Es gab Nichts, an dem er sich orientieren konnte. Seine Umgebung blieb finster.

„Ganz ruhig, Alter!“, flüsterte er mit spröden, aufgeplatzten Lippen, um die aufsteigende Panik zu bekämpfen. Doch der Klang seiner eigenen Stimme ließ ihn erschaudern. Finsternis und Kälte umgaben ihn. Er begann zu frieren. Als er sich auf die Seite drehen wollte, durchzuckte ihn plötzlich die Erkenntnis: Er war nackt!

Was zum Teufel ging hier vor?

Während er mit zittrigen Fingern die kühlen, glatten Wände befühlte, durchstreifte er feuchte Pfützen, und noch bevor sein Verstand begriff, ahnte er es bereits: Er war in eine metallene Kiste eingesperrt.

***

Die Nacht gehörte ihr. Fließend glitt sie an Amelie vorbei. Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer zogen im regelmäßigen Rhythmus ihre Bahnen und hätten einlullend wirken können, würde nicht das Adrenalin in ihren Adern pulsieren. Mit ihren Stiefeln trat sie das Pedal beinahe bis zum Boden durch, wechselte dann mit eben der gleichen Kraft auf das danebenliegende, und der Wagen kam abrupt zum Stillstand. Fluchend entblätterte sich ihr Beifahrer aus den Unterlagen, die er auf seinem Schoß liegend studiert hatte und die jetzt im gesamten Font verteilt waren.

„Sag mal, hast du sie noch alle? Willst du uns umbringen?“, schrie er sie an und begann dabei, hektisch die Papiere zusammenzuraffen.

Unbeeindruckt schnallte sie sich ab und lachte nur. „Wenn du es sanft haben willst, Süßer, dann gib deinen Dienstausweis ab und zieh ein Tütü an.“

Während ihr Kollege das Innere des Einsatzwagens aufräumte, stiefelte Amelie bereits den düsteren Weg zum Hafenbecken hinunter. Es dauerte nicht lange und der Regen benetzte ihr Gesicht, sammelte sich in ihrem Haar und tropfte hinten in ihren Kragen. Fluchend passierte sie einen Streifenbeamten.

„Sauwetter!“

Sie kannte ihn nicht. Deshalb zückte sie im Vorbeigehen kurz ihren Ausweis, ohne den Mann wirklich wahrzunehmen. Ihr Verstand und ihre Aufmerksamkeit hatten sich bereits auf das sich direkt vor ihr abspielende Geschehen fokussiert.

Die Kollegen von der Streife hatte einen Teil des Beckenrandes abgesperrt, einer von ihnen stand vor dem hinzugerufenen Rettungswagen. Die beiden Streifenwagen hatten sich so hingestellt, dass sich ihre Scheinwerferlichter auf einem bestimmten Punkt trafen. Die Regentropfen tanzten in dem Lichtkegel und romantisierten die Szenerie auf absonderliche Weise.

Manche Menschen stehen erst im Rampenlicht, wenn sie längst abgetreten sind, kam ihr in den Sinn, während sie sich dem leblosen Körper unter der grauen Filzdecke näherte.

„Hallo Hendriks“, grüßte ein älterer Kollege. Wenn er sprach bildeten sich kleine Atemwölkchen vor seinem Gesicht. Verdammt kalt heute, dachte sie und nickte kurz.

Amelie spürte wie diese ihr ureigene Wut in ihr hochkochte, während sie auf die schwere, graue Wolldecke starrte. Wieder einmal hatte es jemand gewagt, sich über das Leben eines anderen zu stellen und die Kontrolle über dessen Ende zu übernehmen!

Genau hier lag der Grund, warum sie zur Mordkommission gegangen war. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um diesen Mistkerl in die Finger zu kriegen, der hierfür verantwortlich war!

„Männlich, weiß, Mitte Zwanzig würde ich sagen“, sagte der Ältere ohne ihre übliche Frage abzuwarten.

Auch wenn Amelie vor ihren Kollegen immer so tat, als könne ihr nichts etwas anhaben, spürte sie die Angst über die eigene Vergänglichkeit eiskalt über ihren Rücken ziehen. Instinktiv zog sie den Kragen höher und vergrub das Gesicht zur Hälfte in ihrer Lederjacke. Gleichzeitig betrachtete sie das nackte Knie, das unter der Decke herausragte und runzelte die Stirn. „Ich nehme an, Papiere hatte er nicht bei sich“, stellte sie fest.

Ihr Kollege schüttelte den Kopf und bestätigte: „Ich wüsste nicht, wo er sie hätte aufbewahren sollen.“

Amelie nickte nachdenklich.

„Ist er einer der Vermissten?“

Der Ältere leckte sich nervös über die Lippen und atmete kräftig durch. „Schwer zu sagen“, blieb er vage, hockte sich neben die Leiche und nahm die Ecke des Stoffs in die Hand. Mit einem Blick zu ihr versicherte er sich, dass sie bereit dafür war, sich selbst ein Bild zu machen.

Ein weiteres Nicken ihrerseits veranlasste den Polizisten das Geheimnis zu lüften und beinahe im selben Moment krampfte sich alles in Amelie zusammen.

Für diesen einen Moment verharrte alles in ihr und sie verlor für Sekundensplitter den Kontakt zur Außenwelt sowie zu sich selbst.

Das, was sie sah, war unmöglich!

Musste unmöglich sein!

Durfte nicht sein!

Ein entsetztes Keuchen entfuhr ihr und war für eine kleine Ewigkeit das Einzige, was von ihrer Seite aus als Reaktion bezeichnet werden konnte. Im nächsten Moment spürte sie eine unendliche Schwäche in sich aufsteigen, die sie garantiert aus dem Gleichgewicht bringen würde. Während sie rückwärts taumelte, beugte sie sich vor und kotze noch im Wegdrehen das Abendessen auf ihre Stiefel.

„Oh, nein! Das darf doch nicht wahr sein! Verdammte Scheiße!“, brüllte jemand hinter ihr. Mit lautem Geschepper ließ der ankommende Kollege von der Spurensicherung seine Forensik-Utensilien auf den Boden fallen, um Amelie im nächsten Moment vom Tatort wegzureißen.

„Jetzt ist alles versaut!“, maulte er sie an und schrie danach in die Runde: „Kann mir jemand diese Dilettantin vom Tatort wegschaffen. Ich krieg die Krise!“

Er war mindestens zwei Köpfe größer als Amelie, schob sie beiseite und schubste sie gegen einen Einsatzwagen. Sie stolperte rückwärts und wäre beinahe über ihre eigenen Füße gefallen, wenn nicht Tom, ihr Kollege, neben ihr aufgetaucht wäre, um sie festzuhalten.

„Was ist mit dir?“, fragte er verdutzt.

Genauso wenig wie Amelie die Beschimpfungen des Forensikers an sich herangelassen hatte, nahm sie die Frage ihres Kollegen wahr. Ihr Blick schweifte zurück zu dem Toten und im selben Moment versank sie vor Scham fast im Boden: Sie hatte sich geirrt!

***

Zurück auf dem Revier gab es nur einen Ort, an dem sie es jetzt aushalten würde. Ohne anzuklopfen stürmte sie in Benno Hendriks Büro, in dem der Kommissar an seinem Schreibtisch saß und verwundert über seinen Lesebrillenrand hinweg von einer Akte aufsah.

Ohne ein Wort warf Amelie sich heftig auf einen der Stühle vor seinem Tisch, sodass sie beinahe hintenüber kippte. Nachdem sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, verschränkte sie die Arme auf ihrem Kopf. Aufgebracht saß sie einige Sekunden reglos da, biss sich auf die Unterlippe und starrte die Zimmerdecke an.

Benno kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, wann er ihr Zeit geben musste – und das war auch gut so.

Geräuschvoll zog Amelie mit den Füßen den zweiten Stuhl näher, stellte ihre dreckigen Stiefel darauf und winkelte ihre Beine an. Die Ellenbogen auf den Knien, stützte sie verzweifelt ihren Kopf in die Hände und fragte: „Hast du es schon gehört?“

Benno schwieg.

„Ich habe am Tatort Mist gebaut!“

Sie hörte, wie er seine Lesebrille abnahm und auf den Tisch legte.

„Das war so was von unprofessionell!“

Hendriks atmete tief durch: „Du bist noch nicht so lange im Dienst. Das passiert jedem irgendwann mal.“

Jetzt schwieg Amelie. Wütend drückte sie die Fäuste gegen ihre Augäpfel.

Das hätte nicht geschehen dürfen!

„Du bist zu hart zu dir, Amelie“, fing Hendriks mit seinem typisch väterlichen Unterton an, den sie mittlerweile so liebte. Balsam für die Seele. „Du musst anfangen …“ Erschrocken unterbrach er sich, als Amelie mit Tränen in den Augen hinter ihren Händen zu ihm hervorschaute. „Warum weinst du?“

„Im ersten Moment dachte ich, ich kenne den Toten, Benno“, presste sie hervor. Sie sahen sich schweigend an und in Hendriks Gesichtsausdruck wurde deutlich, dass er ahnte, was jetzt kam.

„Ich dachte, es wäre Striker!“

***

Die Lichter der Nacht flossen an ihr vorbei und bildeten einen Strom aus positiver Energie, in dem sie sich, wie immer in ihrem Leben, in die entgegengesetzte Richtung dahin bewegte.

Seit Dienstschluss fuhr Amelie auf ihrer Z1000 ziellos durch die Nacht. Sie konnte jetzt nicht nach Hause, wollte nicht allein sein.

Seit Jahren hatte sie darüber nachgedacht, ob sie Striker nicht doch einfach anrufen sollte. Nur, um zu reden. Vielleicht, um sich auf ein Bier zu treffen. Seinen Aufenthaltsort herauszufinden, wäre für sie ein Leichtes gewesen. Aber auch ohne ihn war ihr Leben weitergegangen, genauso wie seines ohne sie. Wegen der Ausbildung auf der Polizeischule hatte Amelie eine Zeitlang in einer anderen Stadt gewohnt. Erst seit sie einige Monate zuvor die Stelle bei der Mordkommission angenommen hatte, war sie zurück in ihre Heimatstadt gezogen.

Dass ihr diese Geschichte mit Striker und Jonas nach fünfeinhalb Jahren, unzähligen Therapiestunden und einem großen emotionalen Abstand doch noch derart zusetzte, erschreckte sie und machte sie gleichzeitig wütend. Eigentlich hatte sie gedacht, sie sei darüber hinweg. Und jetzt das!

In einer kleinen Straße drosselte sie das Tempo, bog in die Einfahrt eines von einem gepflegten Garten umsäumten Einfamilienhauses ein und stellte ihre Maschine neben dem Garagentor ab. Bevor sie abstieg, nahm Amelie den Helm ab, zog die Handschuhe aus und wischte sich einmal durchs Gesicht, um alle Spuren zu beseitigen, die verrieten, dass sie geweint hatte.

Leise klopfte sie an die Vordertür und eine Frau Ende Vierzig schaute durch ein kleines Fenster. Als sie Amelie erkannte, riss sie die Tür auf und empfing sie mit ausgebreiteten Armen und den Worten: „Benno hat mich bereits angerufen.“ Amelie sah Hendriks Frau an, ging auf sie zu und ließ sich in die Arme nehmen. Es tat gut, aufgefangen zu werden.

***

Als Amelie am nächsten Tag in den Besprechungsraum kam, grüßten die Kollegen verhalten und beachteten sie kaum. Sie hatte es so eingerichtet, als Letzte dort aufzutauchen und zwar genau pünktlich. So hoffte sie, peinlichen Bemerkungen und unangenehmen Gesprächen ausweichen zu können.

„Na, dann können wir ja jetzt anfangen“, sagte Benno Hendriks als Einsatzleiter und drehte sich zu dem Whiteboard neben den Stellwänden, an denen alle bisherigen Informationen zum laufenden Fall angeheftet waren. Tom drückte ihr eine Akte in die Hand und zwinkerte ihr amüsiert zu. Leicht irritiert öffnete Amelie die Mappe, als ihr plötzlich eine Kotztüte entgegenfiel. „Willkommen im Club“ stand darauf sowie die Unterschriften der sechs Kollegen im Raum, die nun alle versuchten, ihr Lachen zu verstecken.

Auch Amelie lachte überrascht auf, hielt die Tüte hoch, nickte etwas verlegen und sagte, dennoch erleichtert durch diese kameradschaftliche Geste: „Vielen Dank, Leute, die kommt ab heute in meine Standardausrüstung.“

Im nächsten Moment prangte das Foto des Toten vom Vorabend in Großformat durch einen Beamer projiziert auf dem Whiteboard. Amelie spürte, wie sich ihr Mageninhalt wie am Abend zuvor auf den entgegengesetzten Weg aufmachen wollte. Sie konnte immer noch nachvollziehen, warum sie im ersten Moment gedacht hatte, dass der Abgelichtete Striker wäre. Abgesehen von den Blessuren, Schnitten und Deformierungen sah diese Leiche ihm unglaublich ähnlich. Amelie verstand die Welt nicht mehr.

„Es ist mittlerweile der dritte junge Mann, der mit ähnlichen Verletzungen im Kopfbereich und in einem vergleichbaren physischen Zustand in den letzten zehn Tagen gefunden worden ist. Daher müssen wir davon ausgehen, dass es sich bei allen drei Morden um denselben Täter handelt“, führte Hendriks aus und hängte einen weiteren Ausdruck an die Pinnwand. Von Weitem erkannte Amelie eine Timeline, auf der das Verschwinden, der vermutete Todeszeitpunkt und das Datum des Auffindens der drei Toten vermerkt waren. „Der hat es aber ungewöhnlich eilig“, murmelte Tom neben ihr, während er denselben Ausdruck in seiner Akte suchte und näher betrachtete.

„Unser letztes Opfer heißt Markus Lobiger, 26 Jahre alt, verheiratet, von Beruf Immobilienmakler. Er hatte sich kurz vor seinem Verschwinden mit einer Interessentin getroffen, um mehrere Objekte zu besuchen. Wir haben aber noch keine Hinweise darauf, wer diese mögliche Kundin war, und ob sie womöglich mit seinem Ableben in Zusammenhang gebracht werden kann. Lobiger hat am 7. Dezember gegen 17:30 Uhr mit seiner Frau telefoniert, um ihr zu sagen, dass er später nach Hause kommen würde. Danach ist er spurlos verschwunden. Sein Handy wurde kurz nach dem Gespräch abgeschaltet und ist bis jetzt nicht wieder aufgetaucht. Genauso wie seine Kleidung, sein Auto und sämtliche Papiere zu den Objekten, die er sich mit der Interessentin ansehen wollte. Bisher war eine Vermutung, dass er vielleicht mit dieser Frau durchgebrannt sei. Aber es gab keine Geldabhebungen von gemeinsamen Konten, nichts.“

„Gab es Hinweise darauf, dass er ein Verhältnis hatte?“, fragte ein Kollege und Hendriks nickte nachdenklich. Auf dem Whiteboard erschienen die Fotos von etwa zwanzig verschiedenen Frauen unterschiedlichen Alters und Typs. Amelie schaute verblüfft von einem Gesicht zum nächsten. „In diese Richtung wird bereits ermittelt, da Lobiger offenbar außereheliche Kontakte zu anderen pflegte. Er war Nutzer verschiedener Internetforen, sogenannten Singlebörsen, teils seriös, teils der Art, auf denen man schnellen Sex bekommt.“

„Wusste seine Frau davon? Oder hatte sie einen Verdacht?“, fragte Amelie. Benno verneinte diese Frage.

„Sie hatte absolut keine Ahnung bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Kollegen sie damit konfrontierten. Wäre es anders gewesen, hätte sie ein handfestes Motiv gehabt. Aber die Kollegen waren sich einig, dass sie ihnen nichts vorspielte. Sie hatte keinen blassen Schimmer.“

„Wie ist man denn auf die Mitgliedschaften in den Internetportalen gekommen?“, fragte Tom.

„Die Kollegen von der IT-Abteilung haben nach Lobigers Verschwinden den Computer auf seiner Arbeitsstelle nach einem Hinweis auf die vermeintliche Interessentin untersucht und sind durch den Browserverlauf darauf gestoßen. Diese Damen hier sind als mögliche Kontakte herausgefiltert worden, mit denen es tatsächlich zu Treffen gekommen sein könnte. In den seiteninternen Chatsystemen kam es aber nie zu eindeutigen Absprachen, lediglich zum Austausch von Handynummern. Wir warten noch auf die richterliche Verfügung, damit wir über die Handyprovider an die tatsächlichen Daten der Frauen kommen, da sie natürlich alle anonym auf den Seiten unterwegs sind. Finden wir sein Handy, bekommen wir einen Hinweis darauf, mit wem er in Kontakt stand. Womöglich offenbart es uns sogar, mit wem er sich am Abend seines Verschwindens getroffen hat. Sein Vorgesetzter sagte uns, dass Lobiger alle Termine in einem Kalender im Handy verwaltet hat.“

Nachdem keine weiteren Nachfragen kamen, übergab Hendriks das Wort an Daniel Biehl, dem Gerichtsmediziner, der von allen Danbie genannt wurde und die Leiche bereits grob untersucht hatte.

Während Amelie nur mit einem Ohr zuhörte, blätterte sie in den Unterlagen herum und schaute sich die Fotos der anderen beiden Opfer näher an.

Nur einen Tag nachdem Lobiger nicht mehr nach Hause gekommen war, wurde das erste gefundene Opfer als vermisst gemeldet. Hierbei handelte es sich um einen Bankangestellten namens Thomas Mosstal, 24 Jahre, ledig, seit zwei Jahren in einer Beziehung mit einer Frau namens Kim Behsert. Er war im Investmentbanking tätig und betreute dort Privatanleger. Das Bild aus der Akte war offensichtlich von der Internetpräsenz seines Arbeitgebers und zeigte einen seriös wirkenden, jungen Mann im Jackett, Hemd und Krawatte. Seine Leiche wurde sieben Tage später im Containerhafen gefunden.

Einen Tag zuvor, am 14. Dezember, verschwand Patrick Berg, 22, ledig, Student, wurde aber erst drei Tage später als vermisst gemeldet, weil er nach einer Studentenparty nicht zurück ins Wohnheim kam. Seine Kommilitonen dachten, er würde sich mit einer Studentin vergnügen, die er auf der Party kennengelernt hatte. Erst als ein Mitbewohner diese auf dem Campus traf, sie auf Patrick ansprach und die Studentin behauptete, den Vermissten kaum zu kennen, kam der Verdacht auf, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Keine vier Tage später, am 21.Dezember, fand man ihn tot in einem Waldstück in der Nähe der Universität.

Soweit Amelie erkennen konnte, waren alle Opfer übel zugerichtet worden. Die Verletzungen zogen sich über den gesamten Körper. Bei Mosstal und Lobiger fehlten Finger oder Zehen, bei Berg sogar einige Hautstücke. Der Täter schien ihnen die Nasen gebrochen und Zähne gezogen oder ausgeschlagen zu haben. Amelies Magensäure begann zu brodeln. Vorsichtig schluckte sie ihr Entsetzen hinunter.

„Die Opfer wurden auf brutalste Weise gefoltert, während sie den Spuren an den Gelenken nach an ihren Füßen und Händen gefesselt wurden“, berichtete Biehl. Unbewusst umfasste Amelie eines ihrer Handgelenke und rieb über eine ihrer Narben. Erst als Tom zu ihr hinübersah, bemerkte sie, dass die Armreifen, mit denen sie versuchte, ihre Vergangenheit zu verbergen, laut dabei klimperten. Sie hielt inne und konzentrierte sich erneut auf die Ausführungen.

„Man kann mit einer gewissen Treffsicherheit anhand des Heilungsprozesses herleiten, wie lange vor dem Todeszeitpunkt die jeweiligen Manipulationen vorgenommen wurden. Manche sind ihnen kurz vor ihrem Tod zugefügt worden, andere sind bereits einige Tage älter.“

In dem Besprechungsraum herrschte eine bedrückende Stille und alle starrten die Bilder der Opfer an.

„Das heißt, sie waren über einige Zeit hinweg in der Gewalt des Täters?“, brach einer der Kollegen das Schweigen und der Mediziner nickte bestätigend.

„So wie es aussieht, waren alle drei über den gesamten Zeitraum ihres Verschwindens bis kurz vor dem Leichenfund in der Hand des Täters.“

Amelie blätterte in ihrer Akte. Die Opfer hatten zwischen fünf und sechzehn Tagen als vermisst gegolten. Die Timeline von Benno zeigte eindeutig Überschneidungen. Lobiger, den sie zuletzt gefunden hatten, war am längsten verschwunden gewesen.

„Und in dieser Zeit sind sie jeweils mehrfach misshandelt worden. Alle drei starben nicht an den Folgen der Verstümmlungen, sondern an Herzversagen.“

Alle Anwesenden im Raum starrte den Mediziner an. Die drei Männer hatten jeweils eine sportliche Figur und hielten sich fit. Nur deshalb hatten sie verdammt lange ausgehalten. Als hätte sich der Täter extra Zeit gelassen. Amelies Blick schweifte über die Gesichter ihrer Kollegen. Sie erkannte, dass alle bereits ahnten, was er als Nächstes sagen würde. „Vermutlich wurden ihnen im Wechsel geringe Menge an Narkose- und Aufputschmitteln verabreicht, danach ließ er sie eine Weile in Ruhe, damit sie sich von den übermäßigen Belastungen erholten. Bis ihre Körper irgendwann versagten.“

Als wolle er ihren Tod künstlich in die Länge ziehen, um ihn noch grausamer zu gestalten, dachte Amelie, während ihr das Grauen seinen eisigen Atem in den Nacken hauchte.

„Was für ein sadistischer Mistkerl!“, raunte ihr Tom wütend ins Ohr.

Amelie spürte, dass sie erneut in den Zustand des Vorabends geriet und griff vorsichtshalber nach der Tüte in ihrer Akte.

***

„Das Schwein hält sich mehrere Opfer gleichzeitig. Er muss eine Möglichkeit haben, sie so zu verstecken, dass es nicht auffällt“, überlegte Amelie laut, während sie erneut Bennos Timeline studierte. Der gesamte Inhalt der Akte lag auf ihrem Arbeitsplatz verstreut. Tom saß an seinem Schreibtisch, der ihrem vis-à-vis gegenüberstand.

„Vielleicht eine Privatklinik oder ein leerstehendes Krankenhaus“, schlug er vor und begann eine Liste infrage kommender Gebäude zu erstellen. Das konnte dauern und war sein Spezialgebiet.

Amelie sprang auf, schob die Papiere zusammen und schnappte sich ihre Jacke. „Ich spreche noch einmal mit Danbie und schaue mir den Toten an. Vielleicht bringt es was“, sagte sie und hielt die Kotztüte hoch, die auf dem Schreibtisch lag, bevor Tom seinen Spruch ablassen konnte. Grinsend steckte Amelie sie in ihre Hosentasche und verließ den Raum.

Auf dem Flur blieb sie kurz an Benno Henriks Bürotür stehen und klopfte leise. Nach seiner Aufforderung steckte sie lediglich ihren Oberkörper durch den Spalt und lächelte ihren Vorgesetzten an. „Und? Schaffst du es bis 18 Uhr?“, fragte sie gut gelaunt in Vorfreude auf das gemeinsame Abendessen, das in jedem Jahr an Heiligabend mit einer feierlichen Bescherung verbunden war. Es half ihr, die dunklen Erinnerungen beiseite zu schieben, die mit diesem Datum verbunden waren. Benno nickte und schaute etwas verzweifelt auf seinen Schreibtisch voller Papierkram. „Ich versuche pünktlich zu sein.“ Amelie hob ihren Arm zur Verabschiedung, verschwand aus seinem Sichtfeld, tauchte aber noch ein zweites Mal auf.

„Ach, und danke noch mal!“

Dabei winkte sie mit dem Geschenk ihrer Kollegen, während Benno sie anstarrte und auf sie zeigte, als sei ihm gerade noch etwas Wichtiges eingefallen.

„Warte, da ist noch was!“

Amelie öffnete stirnrunzelnd so weit die Tür, dass sie bequem zu ihm an den Schreibtisch treten konnte.

„Du hast gestern diesen Jungen erwähnt. Das hat mir wieder etwas in Erinnerung gerufen, was bereits seit ewigen Zeiten hier herumliegt.“

„Welchen Jungen meinst du?“

Verdutzt hob Amelie ihre Augenbrauen und beobachtete Benno, wie er mehrere Schubladen seines Schreibtisches aufzog und wieder schloss, bis er schließlich einen Briefumschlag in der Hand hielt, auf dem ihr Name zu lesen war.

„Von wem ist der?“, fragte sie, während sie nach dem Kuvert griff und ihn schließlich neugierig betrachtete.

„Der Junge, dieser Striker, hat ihn vor Jahren hier vorbeigebracht.“ Benno schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich glaube damals, als du in Rom warst. Ich habe ihn vollkommen vergessen, bis du gestern seinen Namen erwähntest. Da hat es bei mir geklingelt. Es tut mir leid, Amelie.“

Inzwischen spürte sie, wie es nervös in ihrem Bauch rumorte.

Striker hatte einen Brief für sie hinterlassen?

Vor Jahren?

Sie winkte mit einer gleichgültigen Geste ab.

„Ist nicht schlimm. Wahrscheinlich nichts Wichtiges.“

Sie spürte selbst wie verkrampft ihr Lächeln ausgefallen war, verließ aber dennoch ohne ein weiteres Wort das Büro und schloss zügig die Tür hinter sich. Draußen im Flur lehnte sie sich mit bebendem Körper gegen die Wand und versuchte, ihrer aus der Kontrolle geratenen Atmung wieder Herr zu werden.

Was hatte das zu bedeuten?

Sie starrte den weißen Umschlag an, den sie in ihrer leicht zitternden Hand hielt.

Striker war extra hierhergekommen, um ihn für sie abzugeben?

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Sie würde den Brief später in Ruhe öffnen. Gedankenversunken schob sie ihn zwischen die Papiere in der Akte und stieß sich vom Mauerwerk ab. Erst musste sie ihren Job erledigen, bevor sie sich mit Strikers Nachricht beschäftigen konnte.

***

„Danbie, was meinen Sie? Was haben wir hier?“, fragte Amelie etwas verstört, während sie dem Gerichtsmediziner bei seiner Arbeit zusah. Er hatte den Leichenfund der letzten Nacht vor sich auf dem Tisch liegen und führte die üblichen Untersuchungen durch. Die Übelkeit, die beim Anblick des aufgeschnittenen Leichnams in ihr rumorte, versuchte Amelie mit aller Kraft zu bekämpfen. Kalter Schweiß stand ihr bereits auf der Stirn, sodass sie versuchte, nicht wieder hinzusehen. Der Geruch nach Chemikalien und Tod würde sie tagelang verfolgen.

Nachdem Danbie einen undefinierbaren Laut von sich gegeben hatte, leitete er seine Antwort mit einem geringschätzigen Schnalzen ein. „Ich bin mir noch nicht sicher.“

„Was meinten Sie vorhin in der Besprechung damit, dass die Opfer narkotisiert wurden und Aufputschmittel bekamen?“, fragte Amelie in seine Überlegungen hinein. „Warum tut er so etwas? Warum sollte er ihren Tod hinauszögern wollen?“ Danbie zuckte abwägend mit den Schultern. „Möglicherweise mag er es einfach, andere Menschen zu quälen, Macht über sie zu haben.“ Nachdenklich rieb er sich die Nase. „Vielleicht verliert er aber auch nach einiger Zeit die Lust daran und lässt dann für eine Weile von ihnen ab. - Warum auch immer.“

„Mein Kollege meinte, dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Täter die Opfer irgendwo parallel festhält. Indem er sie fit hält, kann er sie trotz der Qualen länger am Leben halten und sich zwischenzeitlich mit dem anderen beschäftigen. Was meinen Sie dazu?“ Diese grausige Vorstellung ließ einen kalten Schauer über ihren Körper rieseln und sie schüttelte sich innerlich. Danbie dachte kurz über ihre Worte nach und nickte dann. „Wenn ich mir die Timeline ansehe, die Hendriks vorgestellt hat, dann fürchte ich, dass an dieser Theorie etwas dran sein könnte. Die verschiedenen Heilungsgrade würden das bestätigen. Ich glaube jedoch, dass der Täter sich nur theoretisch mit Folter auskennt. Er benutzt zwar chirurgisches Instrumentarium und setzt Schnitte und Brüche recht präzise. Bei dem ersten Opfer, dem Banker, finden wir jedoch Anzeichen dafür, dass er gezögert hat. Er ist kein Profi. Hier unser Makler weist ältere Verletzungen auf, die nicht ganz so zaghaft, aber dennoch nicht so gezielt durchgeführt wurden, wie die, die ihm später oder auch dem Studenten zugefügt wurden. Der Täter – sagen wir mal – wird einfallsreicher.“

Amelie runzelte die Stirn und betrachtete den Toten nachdenklich. Sie brauchte einen Moment, um diese Informationen für sich zu sortieren.

„Sie meinen, der Täter steigert sich in seiner Brutalität und seine Hemmschwelle sinkt?“, fragte Amelie überrascht. „Sind es vielleicht verschiedene Täter?“

Erneutes Schnalzen und ein Kopfschütteln zeigten ihr, dass der Mediziner nicht in diese Richtung gedacht hatte.

„Nein, das glaube ich nicht. Sie werden sicher bemerkt haben, dass alle Opfer eine auffällige Ähnlichkeit in Statur und äußerer Erscheinung aufweisen. Es war meiner Meinung nach nur ein Täter, …“

„… der langsam ungeduldig wird, weil er eine Person sucht, die genau so aussieht“, beendete Amelie fassungslos seinen Satz und spürte, wie sich ihr gesamter Körper mit einer Gänsehaut überzog. Mit einem ernsten Nicken bestätigte Danbie ihre Vermutung und ließ auch Amelies Innereien erschaudern.

***

Mitten auf dem Flur vor dem Obduktionssaal blieb Amelie stehen und hob gedankenverloren die Akte in ihrer Hand, öffnete sie und ließ ihren Blick über die Fotos der Toten schweifen.

Waren alle bloß Zufallsopfer? Oder suchte der Täter tatsächlich jemand Bestimmtes? Hatte derjenige, der das eigentliche Ziel war, überhaupt die geringste Ahnung, dass er sterben sollte? Wer um Himmelswillen war diese Person – dieses eigentliche Ziel?

Sie nahm eines der Fotos in die Hand und entdeckte Strikers Brief darunter. Bei der Vorstellung, dass anstatt Lobiger Strikers lebloser Köper nebenan aufgeschnitten auf dem Metalltisch liegen könnte, schnürte sich ihre Kehle zu. Stirnrunzelnd nahm sie den Umschlag in die Hand und betrachtete ihren Namen, den Striker mit seiner geschwungenen Handschrift darauf geschrieben hatte.

Den in ihr aufflammenden Gedanken wollte sie weder weiterführen noch zu Ende denken. Spielte ihr da einmal mehr ihre Fantasie einen Streich?

Nach einer Sitzgelegenheit suchend, ließ sie ihren Blick durch den Flur wandern. Ihre Suche blieb erfolglos. Also setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden. Sie legte die Akte mit den Fotos der Toten auf den dunklen Granit und öffnete Strikers Briefumschlag. Als ihr ein Foto in die Hand rutschte, auf dem sie mit Striker abgelichtet war, schnappte sie atemlos nach Luft und hielt sich den Mund zu, um nicht entsetzt aufzustöhnen.

Sie legte alle Fotos nebeneinander und betrachtete sie aufmerksam. Die Ähnlichkeit mit den Mordopfern war frappierend. Selbst Danbie sah sie zwischen den drei Männern. Sicher wäre es zu weit hergeholt, Striker tatsächlich mit ihrem Fall in Verbindung zu bringen. Aber sollte sie nicht dennoch in Erwägung ziehen, dass er möglicherweise in Gefahr schwebte, weil er in das physiologische Beuteschema eines Serienkillers passte? Wenn sie doch nur wüsste, nach welchen Kriterien er sich seine Opfer aussuchte. Vielleicht waren das auch alles nur Hirngespinste oder Nachwehen durch den Schock, den sie am Tatort durch ihre Verwechslung durchlebt hatte.

Das Vibrieren ihres Handys signalisierte, dass jemand anrief. Noch völlig eingenommen von ihren Gedanken, zückte sie das Handy und nahm den Anruf an, ohne auf die Anzeige im Display zu achten.

„Ja?“, hauchte sie, während sie das Foto von sich und Striker aufhob und anschaute.

Stille.

Nein, ein Atmen war zu hören, schließlich ein leises Lachen.

Das Bild eines Eimers voller Spinnen, der über ihr ausgekippt wurde, tauchte plötzlich in Amelies Inneren auf. Die Aussicht darauf, im nächsten Augenblick Hunderte von Beinchen über ihre Haut krabbeln zu spüren, ließ ihren Körper erstarren. Zu erschreckend, unvorstellbar war dieses Bild für sie. In genau dem Moment, als sie erkannte, dass derjenige am anderen Ende der Leitung war, dem sie niemals mehr die Macht über ihr Leben überlassen wollte, fühlte es sich exakt so an.

Obwohl er sie unaufhörlich zur selben Zeit anzurufen versuchte, hatte sie ihm nicht ein einziges Mal die Chance gegeben, mit ihr persönlich in Kontakt zu treten. Ausgerechnet in einem ihrer schwächsten Momente der letzten Jahre war dieser Zeitpunkt erneut gekommen und sie hatte es zugelassen!

Hunderte von Spinnenbeinen, überall auf ihrer Haut, auf ihrem reglosen Körper, über den sie jegliche Kontrolle verloren hatte.

„Hallo Traumfrau“, säuselte die raue Stimme ins Ohr. „Schön, dich zu hören. Drei Monate noch, zwölf Wochen, vierundachtzig Tage, zweitausendfünfhundertsechsunddreißig Stunden. Ich freue mich auf dich.“

Level II

Die Unwahrheiten liegen oft nicht in dem, was man sagt, sondern in dem, was man nicht sagt.

(Ludwig Marcuse, 1894 – 1971)

Wer sagt uns, was richtig und was falsch ist? Wer legt fest, dass das, was wir sehen, der Wahrheit entspricht? Der Verstand ist schon ein seltsames Geschöpf. Es gaukelt dir die Welt so vor, wie du sie erwartest, nicht wie sie wirklich ist. Hast du dir erst einmal ein Bild von einer Sache gemacht, ist es verdammt schwierig, es zurück ins richtige, ins einzig wahre Licht zu rücken. Das Einzige, was dir dabei hilft ist Vertrauen - und vielleicht eine Freundschaft.

***

Am liebsten hätte Amelie sich mit mehreren Flaschen Whisky in ihrer Wohnung eingesperrt und sie die nächsten Tage nicht mehr verlassen. Aber natürlich gab sie diesem Wunsch nicht nach, denn die Menschen, die ihr in den letzten Jahren ein Zuhause und ein Gefühl von Familie gegeben hatten, warteten auf sie.

Sie fuhr nach ihrem Dienst zunächst nach Hause und duschte länger als gewöhnlich. Mit feuchtem Haar setzte sie sich auf das blaue Sofa in ihrem Wohnzimmer, klappte den Laptop auf und zog ihre Lederjacke zu sich, die sie auf der Lehne zurückgelassen hatte. Sie suchte nach Strikers Briefumschlag und entnahm erneut das Foto.

Striker und Amy.

Unwillkürlich lächelte sie. Mann, waren sie damals noch jung gewesen!

Nachdem sie sich eine Weile von dem Bild hatte gefangen nehmen lassen, drehte sie es um und biss sich im nächsten Moment innen auf ihre Wangen. Ihr war sofort klar, dass Striker ihren Account reaktiviert hatte.

Augenblicklich beugte sie sich über ihren Laptop, rief die Seite auf, die erstaunlicherweise immer noch existierte, meldete sich mit den Angaben, die Striker auf dem Foto hinterlassen hatte, an und runzelte die Stirn, als sie das Passwort abschreiben wollte. Schließlich tippte sie es ein: 1MyHome=AmysCastle8.

***

Von Striker

(Samstag, 26.Mai, 22:09)

Amy?

So einfach lasse ich dich nicht gehen!

Von Striker

(Sonntag, 27.Mai, 10:43)

Hi Amy, du fehlst mir … jetzt schon. Obwohl du erst gestern diesen verdammten Account gelöscht hast.

Warum habe ich mir nur so lange Zeit gelassen und mich nicht vorher bei dir gemeldet? Ich wollte - zumindest habe ich einige Male darüber nachgedacht. Dann hat aber jedes Mal die feige Ratte in mir gewonnen. Wie immer, wenn es um dich geht! Shit!

Ja, ich bereue es! Ich bereue alles, Amy, denn ich hätte mich nicht auf diese ganze Lügerei einlassen sollen. Du bist sauer und ich verstehe das vollkommen. Aber ich hatte Angst vor dem, was auf mich zukommen würde, hätte ich es nicht verschwiegen …

… du hattest schließlich mein Versprechen.

Ich hoffe, es ist nicht wirklich alles zu spät.

***

Von Striker

(Montag, 28.Mai, 23:14)

Hi Amy, du fehlst mir … immer noch.

Meine Wohnung ist leer und still und du weit weg in Rom.

Mein erster Impuls war, dir zu folgen. Aber das scheiterte an deinem miesen, dreckigen, verf… Vater, der mir einfach nicht die Adresse von deiner Tante geben wollte. Später war ich noch bei dir zu Hause und habe eure Hausangestellte bedrängt. Leider hat dein Vater auch sie voll im Griff, sodass ich noch nicht einmal deine Handynummer aus ihr herausquetschen konnte. Grrr … Ich will doch einfach nur alles mit dir klären, bevor es wirklich zu spät ist und ich meine Reise antrete … Du weißt schon, die Reise, auf die du mich begleiten wolltest! Auf der ich dir die Welt zeigen wollte, so wie ich sie sehe. Auf der ich Zeit mit dir verbringen wollte, um zu schauen, ob wir nicht doch mehr aus uns machen könnten, ob wir eine gemeinsame Zukunft haben …

Zukunft.

Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht, bevor du weggegangen bist. Ich bin jeden Morgen aufgestanden und habe geschaut, was der Tag bringt. Daher habe ich vielleicht auch nicht wirklich über die Konsequenzen nachgedacht, die dieser ganze Mist nach sich zieht, den ich in den letzten Monaten verbockt habe.

Ich habe eigentlich nur im Hier und Jetzt gelebt. Die Zeit mit dir genossen und gedacht, es würde immer so bleiben. Dass das Leben nicht so ist, begreife ich jetzt auch.

Du fehlst mir … Ich schreibe es dir einfach noch mal. Damit du es nicht vergisst und weil ich nach meiner dritten Flasche Bier den Mut habe, es zuzugeben.

Genau, die feige Ratte ist betrunken … :)

Übrigens musste ich meine Reise etwas verschieben, denn es gibt noch eine Anhörung. Auch ich bin in den letzten Wochen wegen des Spiels in die Mangel genommen worden. Dieser Benno Hendriks ist ein ganz schön scharfer Hund. Ich musste ihm jeden Kontakt nennen und den gesamten Schriftverkehr überlassen, den ich in diesem Zusammenhang hatte, damit er überprüfen konnte, ob meine Opfer auch alle noch leben. Zwei von ihnen haben es nicht geschafft und ich musste ihm Alibis liefern, um zu beweisen, dass ich es nicht war. Sie haben auch mich angeklagt. Gott sei Dank habe ich einen guten Anwalt. Er meint, es sieht ganz gut für mich aus, weil ich beweisen konnte, dass ich zu den entsprechenden Zeiten an einem anderen Ort war. Glücklicherweise konnten wir dich da komplett rauslassen.

Du fehlst mir … und noch einmal … :/

Ich schreibe dir morgen wieder.

S.

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Von Striker

(Dienstag, 29.Mai, 20:13)

Hi Amy, ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich es anstelle, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ich schreibe dir jetzt etwas und werde dann in meinem Account alles löschen. Ich hoffe, Benno Hendriks wird dir eines Tages den Briefumschlag mit den Zugangsdaten geben, damit du es lesen kannst. Ich weiß nicht, wem ich mich ansonsten anvertrauen kann.

Verdammt, Amy! Ich habe Angst!

Ich kann nicht abschätzen, was passieren wird … wieder einmal nicht.

Es wird Zeit, dass ich bald verschwinde. Es wird Zeit, dass sich die Worte GAME OVER endlich bewahrheiten.

Nachdem Jonas niedergeschossen wurde und sich rausstellte, dass sein Bruder das Geld mit ins Spiel gebracht hat, hat die Polizei die Bankdaten dieser Schweizer Bank überprüft. Das in meinem Brief angegebene Konto gab es nicht mehr, das Geld existierte nicht mehr.

Amy, heute wurde ein Päckchen für mich abgegeben – mit einer Million Euro in bar.

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Von Striker

(Dienstag, 29.Mai, 22:47)

Ja, du liest richtig … 1 000 000 Euro in bar.

Danach fand ich eine Nachricht auf meinem Handy …

Fasst du auch nur einen Cent von dem Geld an, bist du tot. Verwahre es gut auf, bis ich eines Tages bei dir vorbeikommen und es mir abhole …

Ich wünschte, du wärst bei mir, Amy.

Ich habe eine scheiß Angst.

***

Von Striker

(Mittwoch, 30.Mai, 23:14)

Hi Amy, das Geld ist jetzt an einem sicheren Ort versteckt. Ich schreibe dir wieder, wenn die Anhörung vorbei ist und ich sicher in Mumbai gelandet bin.

S.

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Von Striker

(Mittwoch, 6.Juni, 13:16)

Hi Amy, ich wünschte, du könntest das sehen. Ich sitze auf einer Kaimauer am Marine Drive und beobachte, wie die Sonne im arabischen Meer versinkt. Als ich vor fünf Stunden hier ankam, war eine unglaublich drückende Hitze. Die Luftfeuchtigkeit muss bei achtzig Prozent liegen. Ohne dass du dich bewegst, werden deine Klamotten innerhalb kürzester Zeit feucht. Der Himmel war die ganze Zeit mit fetten Wolken bedeckt und es schüttete wie aus Eimern. Unbeschreiblich! Die Vorboten des Monsuns. Ich sehe dich immer wieder vor mir, wie du im Regen lachst und durch die Pfützen und Sturzbäche hüpfst und tanzt. Dieses Bild bekomme ich einfach nicht mehr aus meinem Kopf und du ahnst sicher, was ich damit sagen will.

Als wollte sich die Natur von ihrer besten Seite zeigen, riss die Wolkendecke vorhin am frühen Abend plötzlich auf und in dem Moment, in dem die Sonne auf den Horizont traf, kam ein lauer Wind auf, der ein wenig die Schwüle es Tages nahm und die Haut kühlte.

---ENDE DER LESEPROBE---