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Wann bist du bereit, dich deinem Schicksal zu stellen und damit alles zu verlieren, was dir im Leben wichtig ist? Das Vergessen Etenyas nimmt immer weiter zu und fordert seinen Tribut. Sich ausdehnende Flächen verödeten Landes bedrohen und erschweren das Zusammenleben der Völker der vier Winde. Immer häufiger kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen in den Grenzgebieten. Etenya scheint dem Schicksal entgegenzusteuern, das die Tocho-Prophetin Pamuya Meda einst vorhergesagt hat. In dieser angespannten Situation macht die Oberfehlshaberin der Honon-Kämpfer einen ungewöhnlichen Vorschlag, der das Überleben alle Völker Etenyas sichern soll: Eine Allianz der Vierwindevölker. An dem Treffen zwischen den Anführern der Honon, Tala, Paco und Tochos, das in der Honon-Stadt Leyati abgehalten wird, nimmt die Kämpferin als Vertreterin der Honon teil. Ihr Name ist Satinka. Als besonderer Schützling des Honon-Anführers ist sie ihrem Herrn dankbar, dass er ihr Dasein als Sklavin beendet hat. Trotz ihres Außenseiterstatus in Leyati genießt sie, durch ihre brutale Art zu kämpfen, unter den Honon-Kämpfern einen hohen Respekt in der Stadt. Erst, als sie bei dem Treffen der Anführer dem obersten Tocho begegnet, der ungeahnte Gefühle in ihr auslöst, beginnt ihre Welt zu wanken. Noch ahnt sie nicht, dass sie ein wichtiges Puzzle-Teil zur Erfüllung einer bedeutenden Prophezeiung sein wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Über die Autorin:
Impressum
„Daher muss man
sich durchringen zur Freiheit;
diese aber erreicht man
durch nichts anderes als durch
Gleichgültigkeit gegen das Schicksal.“
(Lucius Annaeus Seneca, Vom glückseligen Leben, 4, 4)
„Die Onida Kanti wird unser Volk zu ihrem eigenen machen. Sie wird Seite an Seite mit geisterhaften Geschöpfen kämpfen, die ihr Treue bis in den Tod schwören werden.
Ihre Armee der Freien wird aus allen Teilen unserer Völker bestehen. Und mit ihr wird sie die Harmonie unserer Welt und den Einklang zwischen den Völkern der vier Winde wiederherstellen. Sie wird einen Weg finden, ihre Macht auch in ihrer eigenen Welt zu nutzen, damit unsere Existenz nicht verblasst und Etenya eines Tages vergessen wird.
Sie ist die Ersehnte, die für unser Volk singen wird. Ihr Name ist Onida Kanti.“
(aus der Prophezeiung der Pamuya Meda, Tenya Nahele)
Unheildrohend jagten düstere Wolken über den verhangenen Spätherbsthimmel. Ein Windstoß zerrte an der Kleidung der Kämpfer vor ihr auf dem Kampfplatz und raubte Satinka kurzzeitig den Atem. Der Duft der Veränderung lag über Leyati. Bereits seit Tagen witterte sie, dass etwas Großes auf die Menschen in dieser Welt zukommen würde.
Ein Blick hinauf zu den stürmischen Bewegungen lenkte sie einen Augenblick ab, doch keiner ihrer Kämpfer würde es wagen, diesen Moment der Schwäche auszunutzen. Da war sie sich sicher!
In ihrem Rücken erklang eine aufgeregte Stimme.
„Sie kommen! Sie kommen zurück!“
Etenya hatte sich in den letzten Zyklen stark verändert. Von Vollmond zu Vollmond häuften sich die Berichte über weitere Landstriche, die großflächig zu vergessenem Land verödet waren. Die Völker der vier Winde mussten mehr und mehr zusammenrücken, was dazu führte, dass die Auseinandersetzungen an den Grenzgebieten zunehmend erbitterter geführt wurden. Bisher verteidigten die Honon ihr eigenes Gebiet gegen Eindringlinge, ohne der fortschreitenden Zerstörung besondere Beachtung zu schenken. In absehbarer Zeit würde die Situation jedoch zu einem Kampf um das pure Überleben der eigenen Spezies eskalieren.
Satinka wartete den Augenblick ab, bis der herannahende Junge neben ihr stoppte. Ohne ihren Fixpunkt in den Wolken aus den Augen zu verlieren, fragte sie: „Wie viele?“
„Etwa zehn!“
Sie schloss die Augen, presste die Zähne zusammen, bis ihre Kiefermuskeln hervortraten, und senkte dabei langsam den Kopf.
„Verdammt!“
Nicht selten schickte Satinka dreißig ihrer Kämpfer los, um einen Teil ihres Reiches zurückzuerobern oder einen neuen einzunehmen. Meistens kehrte bloß die Hälfte der Männer von den Zusammenstößen mit den feindlichen Völkern zurück. Momentan war sie selbst wegen einer Beinverletzung, die sie sich einige Tage zuvor in einem derartigen Gefecht zugezogen hatte, nicht vollständig einsetzbar. Allein die eigene Untätigkeit ließ ihre Laune ins Bodenlose sinken. Die Nachricht über den Tod oder die Verschleppung ihrer Kämpfer steigerte ihre Übellaunigkeit ins Unermessliche. Es musste sich dringend etwas ändern!
Satinka nickte dem Jungen zu und gab ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er vom Kampfplatz verschwinden sollte. Nachdenklich blickte sie ihm nach, als ein beißender Schmerz an ihrer Verletzung sie plötzlich aus ihren Gedanken riss. Im nächsten Moment prallte sie derart heftig rückwärts auf den staubigen Boden des Kampfplatzes, dass sie ihre eigenen Knochen knarren hörte. Noch bevor sich der Honon auf sie geworfen hatte, um sie allein durch sein Gewicht am Boden zu fixieren, rollte sie sich geschickt zur Seite.
„Träges Bärenpack!“, murmelte sie stocksauer, während sie augenblicklich auf ihren Füßen landete. Sie umrundete ihren Gegner mit einer filigranen Bewegungsabfolge und sprang, begleitet von lautem Gegröle der umstehenden Honon-Kämpfer, auf dessen Rücken.
„Das hättest du nicht wagen sollen!“, flüsterte sie ihm ins Ohr, bevor sie ihm mit einer einzigen kräftigen Bewegung das Genick brach.
Das Geräusch zersplitternder Knochen hallte über den lautverwaisten Hof. Satinka erhob sich langsam und schaute in die entsetzten Gesichter der verstummten Kämpfer, die sie im Namen des Honon-Anführers befehligte.
Wann werden sie endlich begreifen, dass sie keine Chance haben, sich gegen mich aufzulehnen?, fragte sie sich kopfschüttelnd und nahm gleichzeitig eine Bewegung an einem weiter oben liegenden Fenster der Festungsmauer wahr, die eine Seite des Kampfplatzes begrenzte.
Er hatte es schon wieder getan!
Derjenige, der sie aus der Sklaverei befreit hatte, stand dort ungeladen in ihrer Unterkunft und schaute mit versteinertem Gesichtsausdruck aus der Öffnung zu ihr hinunter. Ein verärgertes Knurren entwich ihrer Kehle, dann trat sie mit ihrem Stiefel gegen den toten Honon und rief: „Schafft ihn weg! Wir bekommen Besuch.“
Schäumend vor Wut stampfte sie durch die verschlungenen Straßen und Treppen Leyatis.
In einem anderen Gemütszustand liebte Satinka die Honon-Stadt. Bald würde sie hier zum zweiten Mal die Zeit des Schnees und des Eises erleben.
Vor einer mit Intarsien verzierten Holztür hielt sie kurz inne, um diese im nächsten Moment aufzudrücken und mit lautem Getöse gegen die Steinwände krachen zu lassen.
Die Frauen, die sich im Inneren des Badehauses befanden, erschraken, einige schrien auf. Mit düsterem Blick durchschritt Satinka die Vorhalle, während die Blicke der Anwesenden ihr teils ängstlich, teils verärgert folgten.
Als sie in den eigentlichen Baderaum gelangte, eilten ihr bereits Frauen Richtung Ausgang entgegen. Andere verließen mit angeekeltem Gesichtsausdruck das Wasser, bevor die Kämpferin hineinging.
„Cocheta!“, beschimpfte eine der Honon-Frauen sie und stellte sich ihr zunächst in den Weg. Doch Satinka interessierte sich nicht dafür, was diese Frauen taten. Sie hassten sie schon allein dafür, dass sie wie eine Honon unter ihnen lebte, weil es ihr Anführer so wollte. Und das, obwohl sie sich nicht in eine Bärin verwandeln konnte, sondern in eine Berglöwin.
Während sie zielstrebig auf die Honon-Frau zuging, die mindestens zwei Köpfe größer und wesentlich breiter als sie selbst war, begann sie sich ihrer Kleidung zu entledigen und übersäte damit den Sandsteinboden. Auf der Höhe ihrer aufbegehrenden Kontrahentin wich sie dieser einen Schritt weit aus. Mit ihrer Schulter versetzte sie ihr beim Vorbeigehen einen kräftigen Stoß, sodass die Honon zu straucheln begann und schließlich fluchend das Feld räumte.
„Verschwindet! Ich will meine Ruhe haben. Jetzt ist meine Zeit“, presste Satinka zwischen den Zähnen hervor und stieg völlig unbekleidet die Treppenstufen in das warme Wasser hinab.
Dabei spürte sie die Blicke der noch anwesenden Frauen in ihrem Rücken. Für sie würde Satinka immer eine Cocheta, eine Fremde, bleiben.
Satinkas Herkunft lag völlig im Dunkeln. Sie kannte ausschließlich das Leben in Gefangenschaft und das einer Kämpferin.
Aufgrund ihrer Tiergestalt lag die Vermutung nahe, dass eines ihrer Elternteile ein Tocho gewesen war. Allerdings passte ihr sonstiges Erscheinungsbild absolut nicht zu diesem Volk. Ihre grünen Augen zeigten eine Verbindung zu den Tala, dem Wolfsvolk aus dem Osten. Ihr zierlicher Körperbau war jedoch eindeutig mit dem der Paco-Frauen vergleichbar, den Adlermenschen aus den westlichen Gebirgszügen. Ihre helle Haut passte wiederum zu den Honon, denen, die sich in Bären verwandelten und im Norden lebten. Vermutlich war sie ein Bastard, in dessen Adern anscheinend das Blut aller Völker Etenyas floss.
An der tiefsten Stelle des Wasserbeckens breitete sie ihre Arme aus, ließ sich nach hinten ins Wasser gleiten und tauchte unter. Endlich Stille!
Die Wärme des Bades lockerte die Verkrampfungen ihrer Muskeln. Das Training war hart und die Gegner für ihre Körpergröße viel zu schwer. Das Pochen in ihrem verletzten Bein nahm nach dem Angriff wieder zu.
Eine unbestimmte Wahrnehmung veranlasste Satinka dazu, noch unter Wasser die Augen zu öffnen und sie erblickte die verschwommenen Konturen einer Frau am Beckenrand.
Wer wagte es …?
Empört richtete sie sich auf.
„Litoya“, rief Satinka erfreut, als sie ihre Honon-Freundin erkannte.
Vor ihrer Ankunft in Leyati hatte Satinka bei einem Sklavenhändler wie ein Tier gelebt und für ihre Mahlzeiten zum Vergnügen anderer kämpfen und dabei Menschen töten müssen. Bis ihr Herr sie bei einem dieser Kämpfe entdeckt und vor etwa vier Zyklen mit in seine Stadt genommen hatte. Litoya war damals die Einzige unter den Honon gewesen, die ihr eine Bleibe gewährte und ihr bei der Eingewöhnung half. Satinkas Leben hatte sich von Stund an komplett verändert. Nicht nur eine Kiste voller Kleidung durfte sie mittlerweile ihr Eigen nennen, sondern auch das Frauenbad benutzen, wann immer sie wollte. Außerdem lebte sie in einer separaten Unterkunft in der Festung, um die spiralförmig eine Stadt gebaut worden war, die aus der Vogelperspektive wie ein Schneckengehäuse aussah.
Litoya legte erschrocken ihren Zeigefinger auf den Mund und schaute sich nervös zur Tür um. „Psst! Nicht so laut! Ich dürfte gar nicht hier sein.“
Satinka hob verwundert ihre Augenbrauen, begriff allerdings im nächsten Moment und runzelte die Stirn. „Sie sind vollständig.“
Litoya pflichtete ihr bei. „Der Rat beginnt in Kürze. Du solltest dich beeilen, damit du nicht zu spät kommst.“
Wäre die Sache nicht so ernst gewesen, hätte Satinka sich über das Verhalten ihrer Freundin amüsiert. Litoya war derart stolz darauf, was Satinka seit der letzten Wintersonnenwende an Veränderungen in ihrem Leben erreicht hatte, dass sie nun alles daran setzte, sie auch weiterhin darin zu unterstützen, keine Fehler zu begehen.
Allerdings bestimmte in diesem Moment etwas ganz anderes ihr Denken.
„Ist auch der Tocho gekommen?“, fragte sie interessiert, woraufhin Litoya aufgeregt nickte.
„Er ist allerdings allein“, fügte sie hinzu.
„Ohne seine Armee?“, fragte Satinka erneut und bekam bei dem Gedanken an die Gerüchte, die ihr in Leyati zu Ohren gekommen waren, eine Gänsehaut.
„Das weiß keiner so genau. Zumindest ist sie nicht vor der Stadt, wie die Gefolgsleute der Paco und der Tala.“
Für einen Augenblick starrten sich die beiden Frauen an und nur das Gluckern des Wassers hallte durch das kleine Gewölbe.
Durch ihre kämpferischen Aktivitäten an den Verteidigungslinien der Honon kannte Satinka die Paco und Tala recht gut. Ihre hervorragendsten Eigenschaften, lediglich durch reines Beobachten innerhalb kürzester Zeit nahezu alle Schwächen ihrer Gegner zu identifizieren und ihre eigene Angriffsstrategien entsprechend anzugleichen, waren dabei ein Garant für einen erfolgreichen Ausgang jeder feindlichen Begegnung gewesen.
Die Tochos waren ihr allerdings beinahe unbekannt. Satinkas Herr hatte sie bisher nie an der südlichen Grenze eingesetzt. Obwohl er einen besonderen Hass diesem Volk gegenüber hegte, den jeder Honon im Herzen zu tragen schien.
Doch in dieser Spezies lagen auch Satinkas Wurzeln. Von der Neugier getrieben, mehr über sie zu erfahren, sog Satinka jede noch so winzige Einzelheit über jenes rätselhafte Volk der Berglöwenmenschen auf, die sie aufschnappen konnte.
Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich überall in Leyati, dass die Tochos ihre Frauen und Kinder miserabel behandelten. Die Honon ließen daher keine Chance ungenutzt, junge Tocho-Frauen zu befreien und mit sich zu nehmen. Nach einer Eingewöhnungsphase wurden diese manchmal zu Satinka gebracht, um von ihr im Kampf ausgebildet zu werden.
Die Wenigen, die Satinka bisher kennengelernt hatte, wirkten überraschend friedlich, erzählten jedoch nie etwas über ihre Heimat, obwohl Satinka immer wieder versuchte, sie darüber auszufragen.
Es war, als hätten sie ihre Vergangenheit vergessen, genauso wie Satinka selbst.
Doch dies war nicht das Seltsamste, das sie über dieses Volk in Erfahrung gebracht hatte. Denn Satinka hatte ebenfalls gehört, dass die Tochos den Machtwechsel ihrer Anführer nicht wie die Honon über die Familienlinie organisierten, sondern ihre Oberhäupter wie Wilde in einem Blutrausch abschlachteten, um an die Macht zu kommen.
Alles in allem schienen die Tochos ein dunkles, unheimliches Volk zu sein, das eine Armee von Geisterwesen besaß, die im Verborgenen lauerte und nur dann zum Vorschein kam, wenn es brenzlig wurde. Einige der Honon-Kämpfer behaupteten, dass diese Wesen einzig durch ihren Blick, Berge von Männern zu Tode erschreckt hätten, deren Herzen vor Entsetzen zu Eis gefroren waren. Für Ammenmärchen und dummes Gerede war Satinka normalerweise nicht empfänglich. Die Furcht, die sie in den Augen ihrer Kämpfer entdeckt hatte, hatte sie allerdings durchaus verunsichert. Daher trainierte sie ihre Kämpfer darauf, jeglichen Blickkontakt mit fremden Gegnern zu vermeiden.
In Satinkas Brust schlugen zwei Herzen einen überaus gegensätzlichen Rhythmus. Einerseits bedauerte es die Kämpferin, bisher nie die Grenzen im Süden verteidigt zu haben, denn trotz all dieser Geschichten war sie dennoch davon fasziniert, solch unheimliches und dunkles Blut durch ihre Adern fließen zu spüren. Andererseits war sie ihrem Herrn im Grunde dankbar dafür, niemals in die Situation gekommen zu sein, gegen diese Geisterarmee antreten zu müssen. Allein bei dem Gedanken an diese unheimlichen Wesen lief ihr jedes Mal ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Kurze Zeit später saß Satinka auf ihrem Strohbett und sog scharf Luft ein.
Die Verletzung am Unterschenkel hatte sich entzündet und war durch den unnötigen Angriff des Honon erneut stark gereizt worden. Nach dem Bad hatte sie den Verband wechseln wollen und die empfindliche Wunde dabei wieder aufgerissen. Blut und Eiter vermengten sich und gaben einen unangenehmen Geruch von sich.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht biss die Kämpferin die Zähne zusammen und schloss die Augen. Ihr Atem ging stoßweise und stoppte vollends, als sie die Stelle mit einer Tinktur übergoss, die die Heilerin der Stadt ihr gegeben hatte. Ein unterdrücktes Stöhnen presste sich zwischen ihren Zähnen hervor. Satinka ließ sich auf ihre Schlafstelle fallen und krallte die Finger in das Tuch darauf. Ihr gesamter Körper krampfte sich zusammen.
Eine Weile blieb sie mit rasendem Herzen dort liegen und wartete ab, bis das unerträgliche Brennen nachließ und dem eigentlichen Schmerz wieder Platz machte. Leise fluchend legte sie zügig einen neuen Verband an. Garantiert hegte auch die Heilerin einen Groll auf die Tochos, den Satinka nun ausbaden musste.
„Dir werde ich noch heute einen Besuch abstatten, du hinterhältiges Miststück!“, schimpfte Satinka laut vor sich hin, während sie sich aufrichtete. „Dass man so nicht mit mir umgeht, werden wir ein für alle Mal klären müssen!“
Die Zeit trieb Satinka allerdings zur Eile an, denn man erwartete sie bereits.
Nachdem die Verluste in den Grenzgebieten auch auf der Seite der Honon immer größer geworden waren, hatte sie um eine strategische Unterredung mit ihrem Herrn gebeten. Zu ihrer Überraschung hatte er sie tatsächlich empfangen, ihr aufmerksam zugehört und war, angetan von ihrer Herangehensweise, schließlich ihrem Vorschlag gefolgt. Der Honon sprach gegenüber den Anführern aller Völker Etenyas eine Einladung zu einem Treffen in seiner Festung aus. Dieses sollte dazu dienen, etwaige Regel abzusprechen und eine friedliche Gebietsaufteilung des noch vorhandenen intakten Landes vorzunehmen. Dass diese Zusammenkunft von seiner Seite aus noch etwas ganz anderes hervorbringen sollte, ahnte keiner der geladenen Gäste.
Erstaunlicherweise hatten sich die Vertreter aller Völker sofort einverstanden erklärt.
Chogan, das Oberhaupt der Paco, und Abedabun, die Tala-Anführerin, waren bereits einen Tag zuvor eingetroffen und hatten ihre Lager in reichlichem Abstand voneinander auf der weiten flachen Ebene außerhalb der Stadt aufgebaut. Zu guter Letzt hatten alle auf die Ankunft des Tocho-Anführers gewartet, von dem keiner wusste, wo er und seine Leute das Lager aufschlagen würden.
Jetzt war er gekommen. Allein.
Zügig zog sie ihr neues Kleid über, an dem sie den Rock in der Mitte hatte zunähen lassen, sodass er fast wie eine ihrer Hosen war, die sie zum Kämpfen trug. Danach schlüpfte sie in ihre warmen Stiefel, legte ihren Umhang um und bedeckte den Kopf mit einer Kapuze. Es wehte mittlerweile ein rauer Wind um die Festung und kühlte die Gänge aus, in denen sich keine Feuerstellen befanden.
Eilig verließ Satinka ihre Räumlichkeiten und schritt zügig die Gänge entlang, versuchte, ihr Humpeln zu unterdrücken, indem sie den Schmerz einfach ignorierte.
Auf halbem Wege kam ihr Misu entgegen, ein viel zu klein geratener Honon und Bote ihres Herrn, mit dem sie sich auf eine respektvolle Art verstand. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, doch Satinka zwinkerte ihm zu, legte ihm freundschaftlich im Vorbeigehen eine Hand auf seine Schulter und sagte: „Zu spät, ein Vögelchen hat es bereits vom Dach gepfiffen!“
Vor sich hin lachend schüttelte Misu den Kopf und eilte sogleich seinen weiteren Pflichten entgegen, sodass er nicht mehr bemerkte, wie Satinka plötzlich in ihrer Bewegung erstarrte.
Etwas Seltsames geschah mit ihr.
Von einem Wimpernschlag zum nächsten legte sich eine eisige Kette um ihre Brust, die sich immer fester zuzog und ihr den Atem raubte. Schwankend suchte sie mit der einen Hand an der rauen Steinmauer nach Halt, während die andere an dem Ausschnitt ihres Kleides zog, damit sie besser Luft bekam. An ihren Schläfen rannen mit einem Mal kalte Schweißperlen hinunter, während sie keuchend um Fassung rang.
Irgendetwas hatte ein kleines Erdbeben in ihr ausgelöst, erschütterte ihr Inneres und zerrte an den dunklen Geheimnissen, die gut in ihr verborgen lagen und denen sie sich niemals stellen wollte.
Verunsichert über diesen primitiven Schwächeanfall ließ Satinka ihren Blick über die Steinmaserungen der Mauer schweifen, ohne diese wahrzunehmen.
Was, verdammt noch mal, konnte so eine unberechenbare Reaktion bei ihr auslösen?
Der Gang war erfüllt von fremden Gerüchen, die sie nicht zuordnen konnte. Irgendetwas in diesem Gemisch aus Düften musste der Auslöser dieser Attacke gewesen sein und ließ ihr Herz wild gegen den Brustkorb schlagen.
Verzweifelt versuchte Satinka die verschiedenen Düfte zu isolieren, doch sie waren zu fremdartig, zu neu, als dass sie diese jemandem oder etwas zuordnen konnte. Sie spürte lediglich, dass ein Bestandteil daraus eine immense Wirkung auf sie hatte, die ihr genauso fremd war, wie das, was sie wahrnahm.
Einen Moment lang blieb sie völlig verwirrt im Gang der Festung stehen, um sich zu sammeln. Sie versuchte sich zusammenzureißen, um die Kämpferin in sich erneut wachsen zu lassen, die mit derlei Schwächen nichts anzufangen wusste und diese zutiefst verachtete.
Wütend ballte sie ihre Hand zu einer Faust und schlug hart gegen den Stein. Dabei streckte sie ihr Kreuz durch und schaffte es, auch diese Irritation zu verdrängen.
Mit beiden Händen wischte sie die Schweißtropfen aus ihrem Gesicht, fuhr sich seitlich über den kurz geschorenen Kopf und atmete den letzten Rest Verunsicherung weg. So schnell war sie nicht kleinzukriegen!
Hinter der nächsten Biegung breitete sich die große Eingangshalle vor ihr aus, in der einige ihrer Männer Wache hielten. Sie nickten ihr respektvoll zu. Offensichtlich hatte der kleine Zwischenfall auf dem Hof Wirkung gezeigt!
Erhobenen Hauptes schritt sie an ihnen vorbei und ging zielstrebig auf die offenstehende Tür des Speisesaals zu. Dort angekommen zögerte sie allerdings und ließ ihren Blick forschend und unbemerkt über das Innere des Raumes und die kleine Ansammlung von Menschen schweifen.
Es war eine seltsame Situation, denn Satinka hatte noch nie mit ihrem Herrn an einem Tisch gesessen, oder war gar in dem Speisesaal empfangen worden. Darüber hinaus lag hier eindeutig die Quelle der irritierenden Duftmischung, die nun immer intensiver wurde. Sie spürte, wie sie von einer innerlichen Unruhe gepackt wurde.
Die Saaldecke wurde an beiden Seiten von mehreren Säulen abgestützt, an denen jeweils zwei brennende Fackeln steckten. Sie spendeten genügend Licht, um die Mitte des Raumes in dieser dunklen Jahreszeit gut auszuleuchten. Nur die seitlichen Gänge hinter den Säulen blieben im Halbdunkel versteckt. Über dem langen, groben Holztisch, der das Zentrum des Raumes bestimmte, hingen ebenfalls hölzerne Konstruktionen, in die Kerzen eingelassen waren. Durch sie wurden die Gesichter der Fremden beschienen, die auf Stühlen mit hohen Lehnen saßen und in leisen Gesprächen vertieft waren.
Vorne links erkannte Satinka Chogan, den Paco-Anführer, und seinen Begleiter an ihrer dunklen Hautfarbe und den markanten Gesichtszügen, der spitzen Nase und dem breiten Kinn.
Ihm gegenüber saß die Tala-Anführerin mit ihren hellgrünen, stechenden Augen und dem rundlichen Gesicht. Sie unterhielt sich flüsternd mit ihrer Begleiterin direkt neben sich, beide jeweils in langen schwarzen Lederkleidern.
Neben dem Paco war ein Stuhl unbesetzt. Daneben hatte der Tocho-Anführer seinen Platz eingenommen, der als Einziger aller geladenen Gäste offensichtlich vorgezogen hatte, allein an dem Treffen teilzunehmen. Er saß leicht nach vorn gebeugt, hatte seine Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt und seine Hände aneinandergepresst senkrecht auf seinen Lippen liegen. Mit ernstem Gesicht starrte er vor sich auf den Tisch, sodass Satinka nur sein Profil sehen konnte. Allerdings reichte es ihr, um schnell zu erkennen, dass sie selbst rein äußerlich seinem Volk auf keinen Fall ähnlich sah.
Schließlich wanderte ihr Blick zu ihrem Herrn, der sich mit Liwanu, seinem Vertrauten, abstimmte. Er hatte seine langen, dunkelbraunen Haare zu einem Zopf nach hinten gebunden, wodurch seine Gesichtszüge noch markanter hervortraten. Satinka fiel sofort auf, dass er seine Kampfkleidung zu diesem Treffen angezogen hatte, die seinen kräftigen, muskulösen Körper noch stärker betonte. Der Platz am Kopfende des Tisches schien durch sein Erscheinungsbild und seine Ausstrahlung wie gemacht für ihn.
Nichtsdestotrotz bemerkte Satinka, wie jung ihr Herr im Vergleich zu den anderen Anführern noch war. Alle anderen waren etwa in ihrem eigenen Alter. Der Paco wirkte durch die grauen Strähnen in seinem schwarzen Haar noch viel älter.
Es wurde Zeit, sich ebenfalls dazu zu gesellen.
Der Paco wurde als Erster auf sie aufmerksam und verfolgte jeden ihrer Schritte mit seinen wachsamen, schwarzen Augen. Auch Abedabun, die Tala-Anführerin, unterbrach kurz ihr Gespräch und schaute zu ihr auf, als Satinka in ihrem Rücken entlang schritt. Schließlich ließ sie den leeren Stuhl neben der Tala-Begleiterin links liegen, blieb hinter dem letzten unbesetzten Stuhl gegenüber dem Tocho stehen und schaute zu ihrem Herrn.
„Helki?“, begrüßte sie den Honon-Anführer in verhaltener Lautstärke, der sofort zu ihr aufblickte und sie anstrahlte. Prompt tauchte dieser goldene Schimmer in seinen Augen auf, der Satinka jedes Mal irritierte.
„Satinka!“, antwortete Helki sichtlich erfreut und zeigte auf den Stuhl vor ihr. „Setz dich zu uns!“
Verunsichert zögerte sie kurz.
Stand es ihr in dieser Situation überhaupt zu, der Aufforderung zu folgen? Oder war es nur eine höfliche Floskel ihres Herrn?
Satinka spürte sämtliche Blicke der Anwesenden auf sich liegen und die Erwartung, eine angemessene Reaktion zu zeigen.
Schließlich trat sie neben den Stuhl, hob ihre Hände und nahm schweigend die Kapuze vom Kopf. Währenddessen kreuzte ihr Blick den des Tochos. Sie erstarrte innerlich.
Fassungslosigkeit und Entsetzen sprangen ihr augenblicklich entgegen, krochen wie Parasiten direkt unter ihre Hautoberfläche und hinterließen dort ein seltsames Brennen. Satinkas Aufmerksamkeit fokussierte sich für den Moment ausschließlich auf ihr Gegenüber und ließ sie auch äußerlich irritiert innehalten.
Die tiefschwarzen Augen des Tocho-Anführers zogen sie an wie zwei Abgründe, in denen ein Feuer zu lodern schien, dessen Flammen ihr zornig entgegen züngelten. Unwillkürlich wich sie innerlich vor ihm zurück. Als wüsste er, was in ihr vorging, runzelte er leicht die Stirn und seine Augen verengten sich misstrauisch.
Satinkas Herz begann zu rasen. Schnell unterbrach sie den Blickkontakt und konzentrierte sich darauf, ihren Umhang auszuziehen und über die Stuhllehne zu hängen.
Der Blick des Tocho-Anführers brannte weiter auf der hellen Haut ihres Gesichtes und weckte in ihr ein wütendes Brodeln. Was fiel ihm ein, sie derart anzustarren?
Sie durfte auf keinen Fall darauf reagieren!
Um ihre uneingeschränkte Loyalität zu demonstrieren, stellte sie sich leicht breitbeinig in einem festen Stand neben ihren Herrn und senkte den Kopf. Wie ein Soldat verschränkte sie die Arme hinter ihrem Rücken und wartete weitere Befehle von ihm ab.
Helki erhob sich indes von seinem Stuhl, legte einen Arm um ihre Schultern und sagte: „Meine lieben Gäste, ich möchte euch Satinka vorstellen, eine meiner besten Kämpferinnen.“
Die unerwartete körperliche Nähe ihres Herrn raubte ihr zunächst den Atem. Sie hielt die Luft an. Der jüngere Paco stieß hingegen verächtlich und lautstark seine Atemluft aus und fluchte leise: „Verdammte Makya!“
Satinka wusste, dass Makya Adlerjäger bedeutete und als Schimpfwort benutzt wurde. Offensichtlich waren sie sich bereits unter anderen Umständen begegnet oder ihr guter Ruf eilte ihr voraus. Sie fixierte den Jungen scharf, sodass er ihrem Blick nicht standhalten konnte und den seinen senkte. Dieses kleine Machtspielchen lenkte sie von ihrer eigenen Situation ab.
Helki überging diese Bemerkung, ließ Satinka allerdings auch nicht los. Nun brannte ihre Haut nicht nur von innen, sondern darüber hinaus auch noch an den Berührungspunkten mit ihrem Herrn. Hätte sie gekonnt, wäre sie augenblicklich aus dieser Misere geflohen.
Trotz allem war ihr nicht entgangen, dass der Tocho ebenfalls den Atem angehalten hatte, als Helki sie mit ihrem Namen vorstellte. Der Tocho hatte sich aufrecht hingesetzt und hinten an seinen Stuhl angelehnt. Mit beiden Händen und ausgestreckten Armen hielt er sich an der Tischkante fest. In den Augenwinkeln registrierte Satinka, dass er erneut irritiert seine Stirn runzelte und den Tisch mit seinem Blick zu durchbohren schien, als denke er angestrengt nach.
„Von ihr stammt übrigens diese glorreiche Idee zu unserem Treffen“, lobte Helki sie in überschwänglicher Art und verstärkte dabei seine Umarmung, die nun fast besitzergreifend anmutete.
Schließlich stellte er Satinka der Reihe nach den Oberhäuptern persönlich vor.
„Abedabun?“
Die Tala-Anführerin betrachtete Satinka mit ihrem scharfsinnigen Blick, schaute kurz irritiert zu dem Tocho-Anführer und neigte dann in einer ehrerbietenden Weise ihren Kopf vor Satinka. Obwohl diese Geste absolut unangemessen schien, überging Satinka diese Fehleinschätzung der Tala und nickte ihr kurz zu, senkte zur Bekundung ihrer Ergebenheit allerdings sofort wieder den Blick.
„Chogan?“
Der Paco würdigte Satinka nicht eines Blickes, starrte stattdessen die Tala-Anführerin verärgert an, schnaufte vor sich hin und hob halbherzig eine Hand zur Begrüßung. Satinkas Kiefermuskeln traten hervor. Dies war die angemessene Reaktion, die sie als Untergebene erwartet hatte.
„Tocho?“
Ihre flüchtigen Blicke trafen aufeinander, ein angedeutetes Nicken, zu mehr waren weder der Tocho noch Satinka bereit.
Während Satinka sich auf ihren Platz setzte, herrschte angespanntes Schweigen, bis der Honon-Anführer dieses plötzlich unterbrach. „Soweit wir wissen, hat Satinka viel mit deinem Volk gemein, Tocho. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du sie kennst. Aber du, Satinka, kennst du den Anführer der Tochos?“
Die Kämpferin stutzte. Sah Helki ebenfalls diese offensichtlich Verbindung zwischen ihr und dem Berglöwenvolk?
Eigentlich wollte sie jeden weiteren Blickkontakt vermeiden, doch es erschien ihr unhöflich, nun nicht aufzuschauen. Also sog sie die Innenseiten ihrer Wangen ein, biss leicht in das weiche Fleisch in ihrem Mund und schaute ihrem Gegenüber direkt in die Augen. Diese erwarteten sie bereits, wütend und angriffslustig.
Satinka vergrub die Finger in dem Stoff ihres Kleides, um nicht die Fassung zu verlieren. Er stachelte sie mit seinen Emotionen an, die er direkt auf sie überspringen ließ, und mit deren unterdrückter Unbeherrschtheit sie nicht umgehen konnte. Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt. Ein Gefühl, das sie kaum aushalten konnte, ohne selbst aggressiv zu werden.
Während sie sich fragte, ob diese Art miteinander zu agieren bei den Tochos normal war, ließ sie ihren Blick über das Gesicht des Anführers wandern. Dabei schüttelte sie langsam den Kopf, um endlich Helkis Frage zu beantworten. Kaum hatte sie dies getan, loderte das wütende Feuer erneut in dem Tocho auf. Sein Kinn spannte sich an und unter seinem linken Auge zuckte ein kleiner Muskel.
„Schon allein diese Frage würde dich unter anderen Umständen das Leben kosten, Helki, und das weißt du ganz genau“, knurrte er plötzlich und ließ seinen Blick von Satinka zu Helki schweifen. Die Köpfe der beiden Paco drehten sich aufmerksam geworden zu ihm um. Abedabun hingegen atmete tief durch, legte ihre Hände flach auf den Tisch und starrte angespannt vor sich bin. Ihre Begleiterin zog sich in eine ebenso abwartende Haltung zurück. Satinka konnte den verwunderten Blick nicht von ihrem Gegenüber lassen.
„Allerdings geht es momentan um die Zukunft unserer Völker. Und nicht um die Vergangenheit!“, fuhr der Tocho fort und schaute zurück in Satinkas Augen. „Daher verschieben wir diesen Disput auf einen späteren Zeitpunkt und schauen, wohin uns Satinkas Idee führt.“
Ein seltsames Gefühl durchzuckte Satinka.
Sie verstand nicht.
Helki schien sich seinerseits über die offensichtliche Wut des Tochos zu amüsieren, lachte leise vor sich hin und verstärkte diese noch damit. Vorsichtig schaute Satinka von einem zum anderen.
Der Tocho fixierte sie weiterhin auf seine energische Art, sodass sie sein Verhalten als offenen Angriff empfand. Er schien es auf sie abgesehen zu haben.
Er ist genauso unheimlich, wie sie gesagt haben, dachte Satinka angespannt und starrte herausfordernd zurück, um keine Schwäche zu offenbaren.
Als stünden sie Stirn an Stirn gegenüber, bemüht darum, dem anderen die eigene Stärke zu beweisen, verhakten sich eine kleine Ewigkeit lang ihre Blicke ineinander. Das Knurren in ihr wurde lauter und sie musste sich zusammennehmen, um es nicht nach außen dringen zu lassen. Denn trotz aller Aggressivität, die er ihr entgegenbrachte und sie bei jedem anderen keinesfalls dulden würde, durfte sie nicht vergessen, wer vor ihr saß. Schließlich war er von weitaus höherem Rang als sie selbst!
Beim nächsten Wimpernschlag unterbrach der Tocho-Anführer allerdings den Blickkontakt und beendete dieses Machtspiel zwischen ihnen mit einem Schlag. Er zog sich für Satinka völlig unvorhersehbar komplett in sich zurück und drehte seinen Kopf zur Seite. Ließ sie links liegen.
Unwillkürlich stemmte sie sich mit den Händen auf ihren Oberschenkeln ab, denn sie hatte bei diesem abrupten Entzug jeglicher Verbindung zueinander das Gefühl, ihr Gleichgewicht zu verlieren. Wo zuvor noch Gegenwehr gewesen war, war von jetzt auf gleich ein riesiges Nichts, in das sie drohte, hineinzustürzen.
Völlig irritiert senkte auch Satinka ihren Blick und versuchte, ihr in Aufruhr geratenes Inneres wieder in den Griff zu bekommen.
Dieser Tocho war wirklich außergewöhnlich seltsam!
Nach dieser Begrüßung kamen alle Beteiligten schnell zum eigentlichen Thema. Es wurde wild über die Verteilung der Reviere diskutiert. Immer wieder ging es um kleine Grenzgebiete, von denen weder die eine noch die andere Seite abweichen wollte. Lediglich der Anführer der Tochos saß da und sagte nichts. Auch Satinka hielt sich zurück und beobachtete aufmerksam die Auseinandersetzungen der anderen. Während sie dies tat, gebaren in ihr aus den Äußerungen, Gedankengängen und Vorlieben der Beteiligten neue Taktiken, mit denen sie erfolgreich sicherstellen würde, dass die Honon ihre starke Position im Überlebenskampf in Etenya beibehielten. Sie war schließlich die verantwortliche Kämpferin und dies ihr hauptsächlicher Auftrag. Die außergewöhnlich präzise Beobachtungsgabe gepaart mit ihrer in der Gefangenschaft erlernten, taktischen Kombinationsfähigkeit und ihrem starken Willen zu überleben, machte sie zu einer gefährlicheren Waffe, als irgendjemand an diesem Tisch vermuten würde.
Deshalb ärgerte sie sich im Stillen darüber, dass sich der Tocho-Anführer nicht an dem Gespräch beteiligte, sondern völlig abwesend wirkte und in sich verschlossen blieb. Eigentlich hatte sie gehofft, bei diesem Treffen insbesondere über ihn und sein Denken am meisten zu erfahren, da ihr sein Volk am unbekanntesten war und gleichzeitig den größten Reiz auf sie ausübte.
Immer wieder warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu, doch er blieb wie ein leeres Blatt für sie und füllte nicht eine neue Seite in ihr.
Ganz das Gegenteil war der Fall. Er ignorierte Satinka einfach, und dieses Verhalten stachelte zu ihrer eigenen Überraschung ihren Ärger umso mehr an und schürte ihre Neugier.
Tief in ihren Gedanken versunken, sprach Helki sie an und bezog sie unerwartet in eine Diskussion um ein Grenzgebiet mit den Tala im Süd-Osten des Honon-Gebietes ein.
Satinka stand auf und schaute auf die Karte, die in der Mitte des Tisches lang. Sie selbst hatte diese angefertigt, einerseits aus ihrer eigenen örtlichen Kenntnis, andererseits aus genauen Beschreibungen anderer Ortskundiger, um eine Gesprächsgrundlage für dieses Treffen anbieten zu können.
„Dieses Gebiet ist uninteressant“, meinte sie schließlich kopfschüttelnd und zeigte dabei mit ihrem Finger auf das diskutierte Land. Stattdessen wanderte sie mit ihrer Hand nach Südsüdwesten in eine felsige Flusslandschaft und tippte mit dem Zeigefinger auf ein Gebiet, das den Namen Aponovi trug.
„Jedoch wäre die Teilung dieses Gebietes von Vorteil.“
„Inakzeptabel“, knurrte der Tocho-Anführer sofort und sie drehte sich überrascht zu ihm um. Während er sie böse anfunkelte, stellte Satinka sich aufrecht hin und horchte auf. Hatte sie da etwa einen versteckten Hebel gefunden, der das Tor zu seinen tief verborgenen Geheimnissen und Schwächen öffnen würde?
„Warum?“, fragte sie frei heraus und schaute ihn aufmerksam an. „Wofür braucht ihr es schon? Nach Angaben meiner Leute liegt euer Zentrum weiter südlich. Dieses Land ist so gut wie unbewohnt.“
Misstrauisch verengten sich seine Augen und die Frage, woher ihre Kämpfer diese Informationen über sein Gebiet hatten, stand ihm augenscheinlich ins Gesicht geschrieben.
Jetzt!
Jetzt begannen sich, Satinkas Seiten zu füllen. Allerdings würde die eigentliche Herausforderung erst beginnen. Das Tor zu seinem Inneren war nur ein Spalt geöffnet und sie musste es schaffen, es vollends aufzustoßen. Dann, so war sie sich plötzlich sicher, würde er ganze Romane füllen.
Bei diesem fremdartigen Gedanken stutzte sie einen Moment und bemerkte zu spät, dass sie ihm mit ihrer Unaufmerksamkeit erneut die Macht übergeben hatte. Während sich der Tocho langsam und erbost von seinem Platz erhob und sich auf den Weg um den Tisch herum auf sie zu machte, beherrschte er auf einmal mit seinem Blick den ihren und schien wenig gewillt, diesen alsbald wieder freizugeben.
„Du weißt genau, warum dieser Vorschlag auf keinen Fall akzeptabel ist“, entgegnete er in einer Ruhe und Bestimmtheit, dass sich Satinkas Nackenhaare stäubten.
Die Köpfe der anderen Gäste drehten sich abrupt zu den beiden. Nur Helki starrte weiterhin auf die Karte und wirkte betont unbeteiligt, versteckte allerdings ein Schmunzeln hinter seiner Faust.
Das Verhalten ihres Herrn stärkte ihr den Rücken. Unbewusst stellte sie sich aufrecht und breitbeinig vor Helki, als wolle sie ihn, sein Volk, sein Land mit dieser Geste verteidigen und zog abschätzig eine Augenbraue hoch.
„Nein“, antwortete sie ebenso bestimmt, schüttelte dabei leicht den Kopf und zuckte mit den Schultern, „ich kann mir beim besten Willen nicht einen einzigen wichtigen Grund vorstellen, der über dem Allgemeinwohl aller Völker und dem Frieden zwischen ihnen stehen sollte.“
Inzwischen war der Tocho bei ihr angekommen und nur einen Schritt weit von ihr entfernt stehen geblieben. Verbittert schaute er auf sie hinab. Die Luft zwischen ihnen klirrte vor Kälte. Satinka fröstelte innerlich. Die Muskeln in seinem Kiefer spannten sich an und er beugte sich leicht zu ihr hinunter. Seine Augen wirkten noch schwärzer als zuvor und sein Gesicht bedrohlich.
„Die Honon haben von uns Tochos weit mehr genommen, als du dir offensichtlich vorstellen kannst.“ Seine Wut sprang auf Satinka über und fand einen üppigen Nährboden in ihr. Wie Tentakel drängten sich kleine Triebe daraus empor und begannen, ihre Selbstdisziplin zu überwuchern. „Aponovi ist und bleibt indiskutabel! Das wird Helki von mir nicht bekommen.“
Satinka hob angriffslustig ihr Kinn und reckte sich ihm ebenfalls entgegen. Drang mit ihrer Nähe in seine absolute Tabuzone ein und spürte instinktiv, wie er sich anspannte, sich zu beherrschen versuchte, um ihr nicht im nächsten Moment an die Gurgel zu gehen. Mit seiner Reaktion stachelte er ihre Angriffslust weiter an. Sie hatte ihn offensichtlich an der richtigen Stelle gepackt, seine Kehle lag frei. Jetzt musste sie nur noch zubeißen.
Provokativ näherte sie sich seinem Gesicht bis auf wenige Zentimeter und flüsterte ihm ihre Worte mit unverhohlener Aggressivität entgegen: „Wenn nicht das, was bekommen die Honon dann von dir?“
Wie zwei Raubtiere kurz vor ihrem Angriff blickten sie sich regungslos an. Satinka spürte seinen Atem auf ihrer Haut, während sein Duft immer deutlicher in ihr Bewusstsein drang. Er war es gewesen, der dieses Erdbeben draußen auf dem Flur in ihr ausgelöst hatte!
Im selben Moment kehrten in das Gesicht des Tochos erneut sein anfängliches Entsetzen und die Fassungslosigkeit zurück, als stünde er einer Erscheinung gegenüber, die ihn an seinem eigenen Verstand zweifeln ließ.
Satinka hatte sich gegen jeden vermeintlichen Angriff seinerseits gewappnet, womit er allerdings tatsächlich ihre leeren Seiten füllte, offenbarte eine Wendung, die sie verblüffte.
Ein kleines, irritiertes Zusammenzucken ihrer Augenbrauen bewirkte bei ihm sofort einen inneren Rückzug. Seine wütenden Flammen erstickten und ein andersgeartetes Leuchten begann, sich einen Weg tief aus seinem Inneren zu bahnen. Bevor es allerdings für Satinka sichtbar wurde, schloss er seine Augen, atmete tief durch und verließ wortlos den Raum.
Verwundert schaute sie ihm nach.
Helki klopfte ihr lobend auf die Schulter. Sie schaute sich zu ihm um und er lachte sie vielsagend an.
Nach diesem Zwischenfall wurde die Besprechung bald beendet und auf den nächsten Tag verlegt. Satinka verschwand zügig aus dem Raum und nutzte die Gelegenheit zur Heilerin am Rand der Stadt zu eilen, bevor gänzlich die Nacht anbrach.
In Gedanken immer noch bei der Auseinandersetzung mit dem Tocho registrierte sie zu spät, wie sich aus dem Dunkel einer menschenleeren Seitengasse ein Schatten löste und auf sie zukam. Noch bevor die Geschehnisse in ihr Bewusstsein sickerten, griff von hinten eine Hand in ihren Nacken, zog sie in das Halbdunkel der Gasse und presste sie mit der Brust gegen eine Hauswand. Vollkommen überrumpelt von diesem Angriff - ein Unding mitten in der Stadt - konnte Satinka im ersten Moment die Situation weder richtig einordnen noch adäquat darauf reagieren. Im nächsten Moment drang allerdings ein unverwechselbarer Duft in ihre Nase. Der Tocho!
Mit voller Wucht rammte sie ihm den Ellenbogen in den Magen, sodass er sich vor Schmerz krümmend und leise keuchend nach von beugte. Gleich darauf spürte sie den Druck seines Körpers, den er unwillkürlich gegen ihren lehnte, um wieder zu Sinnen zu kommen. Sofort nutzte sie seine Schwäche aus und warf sich in einer Drehbewegung mit ihrer Schulter gegen ihn, sodass er ins Straucheln kam. Er taumelte in Richtung beleuchteter Straße und ließ schließlich von ihr ab. Während er sie überrascht anblickte, folgte sie ihm, ging neben ihm in die Hocke und trat mit einer schnellen Drehbewegung von hinten seine Beine weg, sodass er stolperte und mit dem Rücken auf dem harten Steinboden landete. Im nächsten Moment kniete sie über ihm, drückte ihm ihr Knie an die Kehle und presste seine Arme fest auf den Untergrund, um ihn zu fixieren.
Schwer atmend starrten sich beide an.
Was, um Himmels willen, fiel diesem verrückten Tocho ein, sie hier anzugreifen?
Er machte jedoch keine Anzeichen, sich weiter zu verteidigen. Es war vorbei.
Nahende Schritte ließen ihren Blick kurz in deren Richtung wandern. Es waren eindeutig die Stiefel der Wachen, die durch die Gassen hallten. Würde der Tocho es so drehen, dass sie ihn angegriffen hatte? Würde Helki ihr glauben? Oder dem Gleichrangigen einfach beipflichten?
Verunsichert entzog sie sich ihm, stand zügig auf und drohte: „Wenn ich die Wachen hole, bist du tot.“
Er setzte sich langsam auf und legte seinen Arm über den Rumpf.
„Tu dir keinen Zwang an. Ruf sie doch, wenn dir mein Tod so gefällt, verdammt!“, knurrte er verärgert zurück.
Etwas Unbestimmtes amüsierte Satinka plötzlich an seiner Art, wütend auf sie zu sein. Sie blickte auf und sah bereits die verlängerten Schatten der Wachen. Die Männer durchschritten einen Torbogen und wurden durch den Lichtschein der Fackeln beschienen, die zu beiden Seiten dort angebracht waren.
„Wenn das mein Ansinnen gewesen wäre, dann hätte ich es eben selber getan“, flüsterte sie ihm zu, streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn auf die Füße. Im nächsten Moment schubste sie ihn in das dunkle Gässchen und verbarg ihn hinter sich in der Dunkelheit.
Die Wachen waren auf die Geräusche aufmerksam geworden und kamen direkt auf sie zu. Satinka stützte einen Arm an der Hauswand ab und nickte kurz zur Begrüßung, als die beiden Kämpfer vor ihr stehen blieben.
„So spät noch unterwegs?“, fragte der eine und betrachtete Satinka aufmerksam. Sie kannte ihn gut. Er war einer der wenigen Honon-Kämpfer, auf dessen Loyalität sie sich ohne Bedenken verlassen konnte.
„Du weißt doch, meine Verletzung“, antwortete Satinka freundlich. „Der Mistkerl hat kräftig zugetreten, bevor er vorhin ein für alle Mal niederging. Ich bin auf dem Weg zur Heilerin und musste kurz wegen der Schmerzen eine Pause einlegen.“ Der Blick des Honon wanderte hinunter zu ihrem Bein, der andere war bei der Erwähnung der Tötung des Kämpfers einen Schritt zurückgewichen. Nachdenklich betrachtete er Satinkas Gesicht. „Kommst du allein zurecht?“ Sie nickte dankbar und die beiden Wachen gingen weiter.
Kaum hatten sich die Schritte weit genug entfernt, drehte sie sich zu dem Tocho um, der still mit dem Rücken an der Wand gelehnt hatte und sich nun aufrecht zu ihr umdrehte. Im Streulicht der Fackeln konnte sie sein Gesicht leicht erkennen. Zu ihrer Verblüffung brachte es plötzlich seine Gefühle derart zum Ausdruck, dass sie darin wie in einem offenen Buch zu lesen vermochte.
Wie konnte er sich ihr nur so verletzlich zeigen?
„Warum bist du so hart zu mir, Olivia, was habe ich dir getan? Was machst du hier?“, fragte der Tocho plötzlich vollkommen frei von Hass oder Wut und mit einer wesentlich sanfteren Stimme, die ihre eigene Weichheit hervorzulocken drohte, die sie so sorgsam in sich verborgen hielt.
Satinka starrte ihn sprachlos an. Ein weiteres Mal verblüffte er sie derart, dass sie ihre Verteidigung vollkommen vergaß und sich ihm schutzlos darbot. Die klirrende Kälte zwischen ihnen hatte sich mit einem Mal in eine besänftigende Wärme gewandelt, die sie innerlich berührte. Erneut löste er dieses Erdbeben aus, das an ihrem dunklen Geheimnis rüttelte und ihr die Brust zuschnürte. Seine Hand, die er vorsichtig hob, um ihr Gesicht zu berühren, brachte sie zurück zur Besinnung. Augenblicklich wich sie vor ihm zurück, schlug seine Hand wütend weg und fauchte: „Wage es nicht!“
„Gut, ich wage es nicht“, versuchte er sofort einzulenken, sich offensichtlich bewusst darüber, viel zu weit gegangen zu sein. Beschwichtigend hielt er beide Hände nach oben und trat selbst ebenfalls einen Schritt zurück.
Satinka war verwirrt. Sie durfte sich nicht so gehen lassen!
„Wer ist diese Olivia?“, fuhr sie ihn barsch an. „Du musst mich verwechseln!“
Der Tocho entfernte sich einen weiteren Schritt, legte eine Hand flach auf seine Brust und streckte die andere nach ihr aus, ohne sie zu berühren.
„Du …“ Ihm versagte die Stimme. „Du erkennst mich wirklich nicht?“
Satinka war kein Mensch, der Mitleid kannte, doch sie vermutete, dass es genau das war, was sie gerade in sich aufkommen spürte. Sie schluckte es wieder hinunter, schüttelte leicht den Kopf, betrachtete den Tocho einen kurzen Augenblick und antwortete schließlich mit fester Stimme: „Nein, ich habe dich in meinem ganzen Leben noch niemals gesehen.“
Da war er wieder, dieser Blick. Eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Entsetzen.
Satinka wusste nicht wirklich mit dieser seltsamen Reaktion umzugehen. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Sie war es einfach nicht gewöhnt, sich so lange mit jemandem abzugeben, ohne permanent darüber nachzudenken, wie sie ihn umbringen könnte, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Nervös knabberte sie auf der Unterlippe herum.
„Was wolltest du von mir?“, fragte sie angespannt.
„Nur einige Fragen stellen. Das habe ich hiermit getan.“
Satinka zog ihre Augenbrauen hoch.
„Dann sprich mich das nächste Mal direkt an, anstatt mich anzugreifen. Das hätte auch anders enden können“, fauchte sie ihn schroff an.
Schweigend betrachtete er sie eine Weile, nickte dann verhalten und lächelte ein wenig. „Ich werde es mir merken.“
Seine Reaktion besänftigte ihre Wut und sie sah ihn ebenfalls nachdenklich an. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm.
Schließlich wandte sie sich ab. „Ich muss jetzt gehen.“
„Wohin? Zu der Heilerin?“
Verwundert drehte sie sich zu ihm zurück. „Warum willst du das wissen?“
Der Tocho-Anführer wirkte plötzlich gar nicht mehr so hart und düster wie zuvor bei dem Treffen, sondern eher verloren und verletzt. Er zog hilflos die Schultern hoch und schüttelte lediglich den Kopf.
Wollte er sie einfach nur daran hindern wegzugehen?
Sie rieb sich die Nase, schaute kurz auf den Boden und entschied sich spontan dazu, ihm auf seine Frage zu antworten.
„Ja, ich wollte zur Heilerin. Ich brauche Medizin. Die Letzte hat mehr Schaden angerichtet, als dass sie geholfen hätte.“
Was tat sie hier eigentlich? Wie konnte sie nur so vertrauenswürdig gegenüber diesem wildfremden Tocho sein?
Was war nur los mit ihr?
Sie schüttelte über ihr eigenes Verhalten entrüstet den Kopf und drehte sich aufgebracht weg, während sie erneut ankündigte: „Ich muss jetzt wirklich los.“
„Warte, nimm dies!“
Als sie sich ein letztes Mal zu ihm umdrehte, hielt er ihr seine flache Hand entgegen, auf der ein kleines Päckchen lag. Satinka starrte es an. Dieses eingerollte Ding auf seiner Handfläche nahm sie plötzlich auf eine seltsame Weise gefangen und rief einen einzigen Gedanken in ihr wach: Wenona.
Misstrauisch blickte Satinka in sein Gesicht. Hatten diese Tochos doch etwas mit Geistern und Magie zu tun? Die feinen Haare in ihrem Nacken sträubten sich. Sie entfernte sich einen Schritt von ihm.
„Willst du mich vergiften?“, fauchte sie ihn an und nickte verächtlich zu seiner Hand. Er schüttelte langsam den Kopf, ließ das Päckchen zwischen seinen Daumen und dem Zeigefinger rollen und streckte es ihr weiterhin entgegen.
„Nein, aber die Honon wissen nicht, was deinem Körper hilft.“
Sie zögerte. Erneut standen sie sich gegenüber und musterten einander, er sie aufmerksam und sie ihn neugierig. Er hatte etwas in seinem Blick, das es ihr schwer machte, das Päckchen nicht zu ergreifen. Sie biss sich unentschlossen auf die Unterlippe, dann streckte sie die Hand aus und wollte sich schnell das Päckchen schnappen.
Doch er ließ nicht sofort los, sondern fing noch einmal ihren Blick ein.
„Benutze es aber auch“, sagte er eindringlich.
Satinkas Augen verengten sich. Sie entzog ihm das Päckchen mit einem kräftigen Ruck. „Ich werde es mir überlegen!“
Damit drehte sie sich um und verschwand durch die kleine Gasse, durch die sie gekommen war, das Päckchen fest in ihrer Hand.
Kurz bevor Satinka an diesem Abend das Licht in ihrem Schlafraum löschte, lag sie eine Weile mit verschränkten Armen hinter dem Kopf auf ihrem Bettlager und ließ den Tag mit all seinen Wunderlichkeiten langsam Revue passieren. Unweigerlich dachte sie an die seltsame Begegnung mit dem Tocho und ihr Blick wanderte zu dem kleinen Medizinpäckchen, das sie neben sich auf einem sauberen Tuch platziert hatte. Sie beugte sich dorthin, nahm es in die Hand und legte sich wieder auf den Rücken zurück. Langsam drehte sie es zwischen ihren Fingern und betrachtete es dabei nachdenklich.
Ob sie es wagen konnte, diese Substanz auf ihrer Wunde anzuwenden?
Sie schnupperte daran und stellte fest, dass daran der Duft des Tochos haftete. Sofort erinnerte sie sich an ihre Reaktion, als sie denselben im Flur wahrgenommen hatte. Einen kurzen Moment schaute sie wieder auf das kleine Päckchen, legte es dann sorgsam beiseite und löschte schließlich das Licht.
Die Nacht gehörte Satinka. Seit sie sich frei in Leyati bewegen konnte, hatte sie sich das Schlafen so gut wie abgewöhnt. Meistens gönnte sie sich gegen Morgen lediglich einige Stunden der Erholung, um sich für den Tag zu regenerieren.
Getrieben von einer inneren Unruhe, aber auch von dem Drang ihre Freiheit zu spüren, verwandelte sie sich regelmäßig in eine Berglöwin, nachdem sie das Licht in ihrem Schlafraum gelöscht hatte. Durch ein Fenster kletterte sie auf die Mauern der Stadt. Ein geheimes Schlupfloch in der äußeren Umrandung, das sie irgendwann entdeckt hatte, entließ sie in die Wildnis, sodass sie unbemerkt in der Dunkelheit verschwinden konnte.
Sie liebte es, durch die Berge und Wälder zu streifen, einfach nur zu rennen und ihren starken Körper zu spüren. Dies war für sie die einzige Möglichkeit, ihr wahres Wesen auszuleben, denn die Verwandlung war ihr absolut verboten, solange sie sich in dem Gebiet der Honon aufhielt.
Jeden Quadratkilometer in einer Entfernung von zwei bis drei Stunden hatte sie als Berglöwin bisher durchstreift und kannte in der Umgebung bald jeden Baum und jede Höhle.
Es war eine kalte, sternenklare Nacht, deren Luft mit all den fremden Gerüchen erfüllt war. Sie passierte vorsichtig das Paco-Lager und machte einen großen Bogen um das der Tala, um dann endlich ihre gewohnten Strecken abzulaufen.
Satinka lief einige Zeit Richtung Westen durch Wälder mit hohen, dunklen Nadelbäumen, die schwerfällig in dem eisigen Wind knarrten, an dem steinigen Ufer eines wilden Flusses entlang, hinein in eine Gebirgskette voller Schluchten und Höhlen. Ein fremder Duft drang in ihre Nase und wurde immer deutlicher wahrnehmbar. Nervös verlangsamte sie ihr hohes Tempo und versuchte sich seinem Ursprung unerkannt zu nähern.
Anhand der Vielzahl an Düften musste es sich um eine große, eine sehr große Gruppe von Menschen handeln. Satinka spürte, dass sich ihre Muskeln anspannten.
Vorsichtig drängte sie sich durch das Unterholz und näherte sich einer Schlucht, in der sie ein Lager vermutete. Um einen Blick von oben auf die Fremden werfen und dabei gleichzeitig unentdeckt bleiben zu können, machte sie schließlich einen großen Bogen um sie und kletterte eine kleine Anhöhe hinauf.
Der Anblick fuhr ihr unter das Fell.
Mindestens sechzig bis siebzig Gestalten in weißen, langen Gewändern schliefen, standen zusammen oder saßen an Feuerstellen. Die Geisterarmee der Tochos!
Satinka begann, vor Aufregung zu hecheln. Ihre Schwanzspitze wischte angespannt über den Boden.
Dieser Tocho hatte also doch seine schaurige Armee mitgebracht!
Unter ihren tief sitzenden Kapuzen verloren sich ihre Gesichter, was ihnen einen noch unheimlicheren Anblick verlieh.
Suchend beobachtete sie die Gruppe und fand schließlich den Tocho-Anführer, der mitten unter ihnen stand und mit einer dieser Gestalten heftig diskutierte. Satinka duckte sich intuitiv und schlich ein Stück weiter, um noch mehr in seine Nähe zu gelangen.
Erst jetzt bemerkte sie noch eine weitere Person, die sich gerade von dem Tocho und seinem Gesprächspartner wegbewegte und von seiner Kleidung her keinesfalls zu der Gruppe gehörte. Unter dem dunkelgrauen Umhang schaute schwarzes Leder hervor. Abedabun?
Verdutzt reckte Satinka den Kopf, um einen besseren Blick zu erhaschen. Dabei machte sie unbewusst eine kleine Bewegung nach vorn und übersah eine lockere Stelle an der Felskante, von der sich einige kleine Steine lösten und in die Schlucht polterten.
Erschrocken fuhr ihr Kopf in die Richtung des Tocho-Anführers und auch er hob seinen und schaute zu ihr hinauf.
Für einen Moment wurde es totenstill in der Schlucht. Nur das Rascheln des Laubwaldes im Wind war zu hören. Die Tocho-Armee in ihren gesichtslosen Umhängen starrte geschlossen zu Satinka hoch, die sich ertappt aufrichtete.
Als die Gestalt neben dem Tocho-Anführer einen Warnruf von sich gab, flackerten und zerborsten plötzlich gleichzeitig etwa zwanzig dieser Körper, aus denen Berglöwen entsprangen, die aus der Schlucht herausliefen.
Vor Schreck fauchte Satinka los.
Kurz bevor sie sich zum Sprint bereit machte, traf ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde nochmals den des Anführers. Während sie in ihrer Bewegung verharrte, machte er einen Schritt auf sie zu, als erkenne er die Berglöwin. Die sich nähernden Geräusche zwangen Satinka jedoch, sich aus diesem verwirrenden Moment zu lösen. Rasch unterbrach sie den Blickkontakt und lief in die Dunkelheit hinein. Zügig verschwand sie in die entgegengesetzte Richtung, ließ sich von der finsteren Nacht verschlucken und den Wald, wie auch die Berge, unbeachtet an sich vorbeirauschen.
Erst als sie sich sicher war, dass sie ihre Verfolger abgeschüttelt hatte, machte Satinka eine kleine Verschnaufpause. Danach lief sie in einem weiten Bogen zurück zur Stadt. Vorsichtshalber näherte sie sich ihr von der anderen Seite und schlich zügig ihre geheimen Wege entlang. Ihr Ausflug hatte wesentlich länger als geplant gedauert. Jetzt geriet sie in Gefahr, in ihrem Berglöwinnenkörper innerhalb der Stadtmauern entdeckt zu werden.
Verdammt! Das würde sie garantiert nicht nur ihre Freiheit kosten!
Vorsichtig und wachsam erreichte sie unbehelligt ihre Unterkunft. Es blieben ihr lediglich zwei Stunden Schlaf. So hatte sie das allerdings nicht geplant!
Unruhig wälzte sie sich hin und her, um diese Bilder aus der Schlucht loszuwerden, die jetzt in der Ruhe ihrer vier Wände ihre Wirkung zeigten. Die Verwandlung in die Berglöwen war beängstigend gewesen. Genauso wie der Gedanke, was hätte passieren können, wären sie schneller gewesen als Satinka. Schließlich stand sie, noch immer todmüde, auf und machte sich für ihr Training fertig.
Der Vormittag lief alles andere als gut für Satinka. Vollkommen übermüdet stellte sie sich ihren Kämpfern und Kämpferinnen und kassierte durch ihre Unachtsamkeit wesentlich häufiger harte Schläge und Tritte, als es sonst der Fall war. Ein heftiger Faustschlag landete mitten in ihrem Gesicht und beförderte sie in hohem Bogen in den Dreck, während ihr Wangenknochen augenblicklich anschwoll. Nachdem sie darüber hinaus auch noch einen weiteren schweren Tritt gegen ihre entzündete Wunde hatte einstecken müssen, übergab sie schließlich die Verantwortung für das laufende Training etwas früher. Dadurch erhielt sie genügend Zeit, um sich waschen, umziehen und verarzten zu können, bevor sie wieder bei Helki und seinen Gästen erscheinen musste. Misu hatte ihr erneut die Nachricht zukommen lassen, dass Helki und seine Gäste sie erwarteten. So, wie sie zugerichtet war, konnte sie allerdings keinem der Anwesenden unter die Augen treten.
Genüsslich entspannte sie sich wieder in dem warmen Wasser des Badehauses, schloss für einen Moment die Augen und spürte, wie sich ihre hart gewordenen Muskeln und ihre angespannte Seele auflockerten.
Die Bilder, die sie schlaflos gemacht hatten, tauchten kurz wieder auf. Sie musste bei ihren nächtlichen Ausflügen vorsichtiger werden! Auf dies hier wollte sie auf keinen Fall mehr verzichten müssen.
Sie lächelte zufrieden vor sich hin und tauchte mit dem Kopf unter Wasser.
Frisch gebadet und mit dem Gefühl, etwas wacher als zuvor zu sein, saß sie schließlich auf ihrem Strohbett und betrachtet die Wunde am Bein. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu dem kleinen Päckchen, das immer noch unberührt neben dem Bett lag. Sie nahm es in die Hand und führte es an ihre Nase. Es duftete immer noch nach dem Tocho-Anführer. Nachdenklich ließ sie die Tocho-Medizin sinken, betrachtete sie und rollte das Päckchen unschlüssig in ihrer Hand hin und her.
Schließlich legte sie es zurück neben das Bett, griff nach der alten Tinktur und biss kräftig die Zähne aufeinander, noch bevor sie die Flüssigkeit auf die Wunde kippte.
Durch ihre Verletzung und die Behandlung, die alles nur noch schlimmer gemacht hatte, humpelte sie mittlerweile heftig, auch wenn sie versuchte, es zu verbergen. Um niemandem ihre Schwäche zeigen zu müssen, schlich Satinka weit vor dem ausgemachten Zeitpunkt zum Speisesaal. Dafür verzichtete sie auf ihre Speisung, damit sie als Erste dort sein würde.
In dem leeren Saal setzte sie sich auf den Stuhl, der ihr am Tag zuvor zugewiesen worden war. Eine seltsame Übelkeit übermannte sie, doch auch diese Schwäche überging sie geflissentlich.
Bald darauf registrierte sie an der Tür eine Bewegung und schaute auf. Der Tocho-Anführer betrat den Raum.
Ihre Blicke trafen sich und hielten einander fest, während sich der Raum mit einer Spannung füllte, die Satinka nicht recht einordnen konnte. Genauso, wie dieses seltsame Gefühl in ihren Gedärmen, als habe sie einen lebendigen Fisch verschluckt, der auf einmal begann, hin und her zu zappeln.
Trotz ihrer Verunsicherung hielt sie zunächst seinem Blick stand und bemerkte überrascht, dass er ihr diesmal auf eine sehr viel offenere Art begegnete, die ihm das Unheimliche des Vortages komplett nahm.