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Susanne Leuders

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Beschreibung

Wie weit würdest du gehen, um diejenigen zu retten, die du liebst? Nach ihrer Rückkehr aus Etenya hat sich Olivias Leben komplett verändert. Ihr kurzer Aufenthalt in Etenya hat weitreichendere Folgen als zunächst vermutet. Die Sicherheit, in der sie sich wähnt, scheint nur ein Trugbild zu sein. Trotz der versiegelten Verbindungen zwischen beiden Welten taucht eines Tages ein Beobachter aus Etenya auf und bringt ihr Weltbild erneut ins Wanken. Gibt es doch noch einen Weg zu Lenno? Als mehrere Zeichen darauf hindeuten, dass sich die Prophezeiung zum Teil erfüllt, muss Olivia Entscheidungen treffen, die nicht nur ihr eigenes Leben in Gefahr bringen.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Susanne Leuders

Onida

Die Ersehnte

ROMAN

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Über die Autorin:

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Impressum

„Nicht weil er schwer ist,

wagen wir es nicht,

sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“

(Lucius Annaeus Seneca, Moralische Briefe, 104, 26)

„Sie wird kommen und das Herz unseres Anführers, des wahren Herrschers von Etenya erobern. Sie wird seine Gefährtin sein und ihm einen Thronfolger schenken. Ein mächtiger Nachkomme, der beide Welten in sich tragen wird.

Aber hütet euch vor der Stimme der Ersehnten, denn diese ist die Quelle ihrer Macht, die sie über unsere Völker haben wird. Sie wird tief in jeden Einzelnen eindringen und sein wahres Herz berühren. Für diejenigen, die ihr Böses wollen, wird ihre Stimme grausam erklingen, sodass sie zusammenbrechen und niedergehen werden. Jene, die unseren Zufluchtsort des Friedens mit Gewalt und Trauer verseuchen, wird sie dazu bringen, sich mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.

Sie ist die Ersehnte, die für unser Volk singen wird. Ihr Name ist Onida Kanti.“

(aus der Prophezeiung der Pamuya Meda, Tenya Nahele)

Wie Sand in einem Stundenglas rieselte das Leben Sekunde für Sekunde an ihr vorbei, ohne eine Verbindung zwischen Innen und Außen erschaffen zu können.

Mit geschlossenen Augen spürte sie den sanften Wind Tenya Naheles auf ihren Wangen, und sie folgte mit leicht geneigtem Kopf dem Gesang der Zikaden. Der einsame Ruf eines Vogels lockte sie in eine Welt, die unerreichbar für sie war, und überdeckte ihr Innerstes mit einem Schleier aus Sehnsucht. Wenn sie ihre gesamte Konzentration darauf fokussierte, konnte sie sogar seine Stimme hören, die ihr Liebkosungen zuflüsterte. Doch mit jeder Sekunde, in der sie an ihn dachte, verblassten die Erinnerungen und es legte sich der eiserne Umhang des Vergessens um ihre Schultern, hüllte sie in dunkle Traurigkeit ein.

Dass es derart schnell geschehen würde, hätte Olivia niemals erwartet. Sie musste immer tiefer in ihrem Gedächtnis graben, um die Bilder von Lenno und ihrer Zeit in Etenya einzufangen und für einen winzigen Augenblick festzuhalten. Es waren die schönen Momente, die sich verflüchtigten und sie nach und nach verließen.

Um an die hässlichen Dinge zu denken, die sie in Dena Enola erlebt hatte, brauchte sie sich nicht besonders anzustrengen. Diese suchten sie ohnehin jede Nacht uneingeladen in ihren Träumen heim und schürten die Angst vor dem Alleinsein.

Abends in der Dunkelheit war es nicht der Wind, der über ihre Haut wehte, sondern der faulige Atem ihres Entführers, den sie feucht im Nacken wahrnahm. In manchen Nächten verschob sich ihre Realität derart bizarr und vermengte sich mit ihrer Fantasie, dass sie Bidziils Knurren unter dem Bett hörte oder Nukpana mit seiner zerfetzen Kehle aus einer finsteren Ecke ihres Zimmers auf sie zukommen sah, während er lautlos die Lippen bewegte.

„Eines Tages werden sie dich holen“, flüsterte er im Näherkommen.

Vor zwei Monaten war Olivia zurückgekehrt und seither hatte sie Unmengen an Fragen und Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen.

Die körperlichen Spuren ihrer Gefangenschaft, die Quetschungen, Prellungen, entzündeten Hautabschürfungen und das verstauchte Fußgelenk, heilten recht schnell, sodass sie bereits nach kurzer Zeit aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Doch das Gefühlschaos tief in ihrem Inneren blieb weiterhin wenig beherrschbar.

Sie war in Etenya zu einer kaltblütigen Mörderin geworden. Das war eine grausame Wahrheit, die selbst durch die Tatsache, dass sie dafür niemals zur Rechenschaft gezogen werden würde, nicht abgemildert wurde. Niemand in ihrer Umgebung ahnte etwas davon oder traute ihr eine solche Tat zu. Wenn sie allerdings allein war und in den Spiegel schaute, sah Olivia sie. Die Andere in ihr, roh und mörderisch gefährlich.

Diese dunkle Seite gehörte jetzt zu ihr.

An manchen Tagen half das kleine schwarze Büchlein, das Sven ihr geschenkt hatte, damit sie all die finsteren Gedanken in ihrem Kopf niederschreiben und auf dessen Seiten verbannen konnte.

An ein normales Leben, wie sie es vor ihrem Übergang nach Etenya geführt hatte, war allerdings nicht mehr zu denken.

Jetzt nicht mehr.

Der raue Wind blähte die Mäntel der Menschen auf, die sich bei diesem Wetter nach draußen trauten, und ließ die Kälte in ihre Körper kriechen. Mit dem Erscheinen wärmender Sonnenstrahlen hatte der Frühling in den letzten Tagen zwar sein Kommen angekündigt, aber an diesem Nachmittag hielt der Winter noch einmal Einzug. Der Himmel war mit grauen Wolken bedeckt und es roch erneut nach Schnee.

Olivia hatte sich auf den Weg zur Bibliothek gemacht, um einige Bücher auszuleihen. Beim Durchqueren des Parks war sie jedoch plötzlich von einer seltsamen und doch wohlbekannten Ruhe übermannt worden, die sie dazu brachte, einen Moment auf einer Parkbank an einem kleinen See zu verweilen. Je länger sie diesem Gefühl nachspürte, umso deutlicher spürte sie Erleichterung in sich aufsteigen; Gewissheit, alles würde in ihrem Leben wieder in Ordnung kommen. Aber nichts wies darauf hin, was genau diese Emotion auslöste.

Von einer kühlen Windböe erwischt, versteckte sie die kalte Nase in ihrem Schal und lächelte, abgeschottet von den Blicken der anderen, in ihn hinein. Bei diesem Wetter waren erstaunlich viele Menschen unterwegs. Eine ältere Frau ging mit einem Hund spazieren, Jugendliche spielten auf einer Wiese Fußball. An dem See stand eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn, der aufgeregt auf die im Wasser schwimmenden Fische zeigte. Auf der Bank in einiger Entfernung saß ein Mann, der sich ebenfalls vor der Kälte in seinen Mantel verkrochen hatte und eine Zeitung las.

Die Befragungen bei der Polizei waren anstrengend gewesen. Sie hatte sich immer wieder durch enge Schluchten schlängeln müssen, um nichts über Etenya preiszugeben. Deshalb führten alle Spuren, die sie ihnen in die Hand legte, zurück in dieselbe Sackgasse. Dorthin, wo das Grauen begonnen hatte.

Auf Nukpana, Bidziil und seine Begleiter hatten die Ermittler jedoch keine Hinweise gefunden. Wie sollten sie auch? Es gab ja kaum welche hier in dieser Welt.

Ebenso wenig gab es den geringsten Beweis dafür, dass Lenno je existiert hatte. Darauf war Olivia nicht vorbereitet gewesen.

Ihre Mutter konnte sich zwar an ihre Vermutung erinnern, neue Nachbarn zu bekommen. Allerdings war dies und der junge Mann mit dem Päckchen nahezu vergessen und nichts von beidem brachte sie in Zusammenhang mit dem, was ihrer Tochter an einer vollkommen anderen Stelle der Stadt passiert war. Auch in der Schule erinnerte sich niemand daran, ihm je über den Weg gelaufen zu sein. Einzig Tatjana hätte seine Existenz bestätigen können, doch dieses Wissen behielt Olivia für sich. Es zweifelten ohnehin bereits alle an ihrem Geisteszustand.

Lenno blieb für ihre Umgebung ein großes Mysterium und bald gab es kaum jemanden, der ihn nicht als eines ihrer Hirngespinste abtat.

Seit der Entführung wurde sie von einem Therapeuten begleitet, der ihr half, das erlebte Trauma zu verarbeiten. Ihm gegenüber hatte sie Lenno und Etenya zu Beginn der Gespräche einige Male erwähnt. Jetzt versuchte er, sie davon zu überzeugen, dass diese Fantasien ein Hinweis darauf seien, dass sie Tatjanas Tod noch immer nicht überwunden hatte. Die von ihr erwähnte Parallelwelt stellte seiner Meinung nach eine Fluchtmöglichkeit dar. Sie war in seinen Augen ein Zufluchtsort, an den sie sich zurückzog, um sich ihrer zerstörten Welt zu entziehen, damit sich ihre zerbrechliche Seele den Realitäten der zurückliegenden Entführung nicht stellen musste.

Wie nah er mit diesen Überlegungen an ihre Wahrheit herankam, erstaunte und verunsicherte Olivia gleichermaßen. Hatte er womöglich recht mit seiner Theorie und sie hatte sich alles nur eingebildet? Je länger die Zeit verstrich, umso realistischer erschien ihr diese Möglichkeit.

Während sie an jenem Nachmittag die Leute im Park beobachtete, erwischte sie sich zum ersten Mal bei dem Gedanken, wie absurd sie es selbst finden würde, ihre eigenen Erlebnisse aus dem Munde einer anderen zu hören. Lenno würde sie aber trotzdem niemals aufgeben! Hinterrücks beschlich sie allerdings die Frage, ob die Trennung von ihm nicht weniger schmerzhaft wäre, wenn sie sich dieser Verleumdung hingeben würde.

Es war schon erstaunlich, wie alles, aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, so erschien, als hätte ihr Innerstes immer wieder Wege gefunden, mögliche Zweifel an Lennos Existenz und seiner Welt zu zerstreuen. Sie dachte an die Markierung, die in ihrer Welt nicht zu sehen war, und an die Tatsache, dass sie in Lennos Gegenwart ständig Tatjanas Tod vergessen hatte. Die Panikattacken waren mit seinem Auftauchen sofort abgeklungen und er war jedes Mal genau passend in dem Moment zurückgekehrt, in dem sie ihn am dringendsten gebraucht hatte. Dabei hatte er für sämtliche Fragen Erklärungen parat, die ihre aufgewühlte Seele augenblicklich beruhigt hatten.

Sie konnte es drehen und wenden, wie sie es wollte: Die Zweifel blieben. Bis heute.

In diese Art von Fragen vertieft ließ Olivia nachdenklich ihren Blick weiter durch den Park schweifen und blieb an dem Mann mit der Zeitung hängen. Irgendetwas irritierte sie an ihm.

Während ein seltsames Kribbeln vom Nacken aus über ihren gesamten Körper zog, beobachtete sie den Fremden und fragte sich plötzlich, was mit ihm nicht stimmte.

Fast hatte sie die Suche nach der richtigen Antwort aufgeben und ihre Intuition als Unsinn abstempeln, als etwas Merkwürdiges geschah: Der Mann schaute kurz hinüber und ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Olivia erstarrte innerlich.

Im nächsten Augenblick wendete er sich erneut seiner Zeitung zu. Olivia mochte sich irren, aber ihrer Meinung nach tat er dies in einer äußerst auffälligen Gelassenheit. Wollte er etwa den Eindruck hinterlassen, der vorherige Blickkontakt hätten nur zufällig stattgefunden und nichts zu bedeuten?

Für Olivia bedeutete er etwas – wenn nicht sogar alles!

Das in ihr aufsteigende Gefühl erinnerte sie irrwitzigerweise daran, wie Bidziil sie in der Festung zu Nukpana gebracht hatte. Auch jetzt reichte eine winzige Geste, um in Olivia die Gewissheit heranwachsen zu lassen, der Mann gehöre nicht in diese Umgebung. Automatisch setzte sie sich auf und entschied, zu ihm zu gehen und ihn anzusprechen, um dahinter zu kommen, wer er war.

Während sie von der Bank aufstand, schaute der Fremde erneut zu ihr hinüber, faltete zügig die Zeitung zusammen und erhob sich ebenfalls dabei. Erst jetzt bemerkte Olivia, dass er diese die ganze Zeit verkehrt herum gehalten hatte. Was, verdammt noch mal, ging hier vor?

Während sich der Fremde aufmachte und zu verschwinden drohte, öffnete sich der Schleier des Verdrängens vor Olivias Augen und sie erkannte ihn.

Es war Aya!

Lennos Vertrauter, der alle Verbindungen zwischen beiden Welten versiegeln sollte.

„Aya, warte!“, rief Olivia, doch der Mann drehte sich um und lief schnellen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung davon, als hätte er sie nicht gehört.

Olivia brauchte einen Moment, bis sie ihre Verblüffung abgeschüttelt hatte, und sprintete dann los. Bevor sie allerdings richtig Tempo aufnehmen konnte, prallte sie mit einem Läufer zusammen, der ins Straucheln kam, ihre Schultern packte und sich mit ihr im Kreis drehte. Damit verhinderte er zwar, dass er sie mit seinem Schwung umriss und sie auf dem Gehweg landeten, doch als sich Olivia endlich wieder in Ayas Richtung umwandte, riss es ihr dennoch den Boden unter den Füßen weg. Aya war spurlos verschwunden.

Ungläubig und den Tränen nahe stand sie fassungslos da und fand sich in ihrer eigenen Gefühlswelt nicht mehr zurecht.

Hatte sie etwa eine Chance verpasst, mit Lenno in Kontakt zu treten?

Ihr Vorhaben, zur Bibliothek zu gehen, gab sie auf und machte sich bedrückt und aufgewühlt auf den Weg zurück nach Hause.

In ihrem Zimmer setzte sie sich an den Schreibtisch und starrte eine Weile regungslos nach draußen in den Garten.

Warum war Aya in dem Park aufgetaucht? Hatte Lenno ihn geschickt? Würde er doch ...?

Nein, Olivia war sich dieses Mal sicher, er würde niemals mehr zurückkehren, denn er wollte lieber ohne sie leben müssen, als sie noch einmal in Gefahr zu bringen.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Bei diesem Gedanken zog sich wieder alles in ihrem Magen zusammen.

Traurig öffnete sie die Schublade, holte einen länglichen Gegenstand daraus hervor und legte ihn vorsichtig auf die Tischplatte, ohne ihn loszulassen.

Sie selbst würde es niemals mehr wagen, in diese andere Welt zurückzugehen. Schon allein die Angst davor, Bidziil und seine Begleiter könnten sie entdecken und für Nukpanas Tod zur Verantwortung ziehen, ließ jeden Gedanken an eine Rückkehr nach Etenya sofort im Keim ersticken.

Mit ihrem Finger streichelte sie zärtlich über den vor ihr liegenden Gegenstand, während der Blick an dem kleinen, blauen Kreuz hängenblieb, das sich morgens auf dem freien Feld wie von Zauberhand gebildet hatte.

Lenno würde nie erfahren, dass er bald Vater werden würde.

Olivia war von einem Gespräch mit einer Beraterin der Frauenklinik nach Hause gekommen und saß in ihrem Zimmer auf dem Bett. Ihre Eltern und der Arzt, der die Schwangerschaft bestätigt hatte, gingen davon aus, dass sie während ihrer Entführung missbraucht worden war. Ihre Versuche, diese Geschichte ins rechte Licht zu rücken, stießen auf taube Ohren. Niemand glaubte mehr daran, dass Lenno der Vater sein konnte. Deshalb musste sie dieses Beratungsgespräch über sich ergehen lassen, in dem ihr genau erklärt wurde, was bei einer Abtreibung geschah. Eine derbe Übelkeit war währenddessen in ihr aufgestiegen.

Ein leises Klopfen an ihrer Zimmertür holte sie aus ihren Gedanken, die sich momentan um eine Flucht aus diesem Haus drehten. Vorsichtig wurde die Tür geöffnet und Olivia schaute auf.

Stella?

Svens Mutter lächelte ihr entgegen.

„Darf ich?“

Olivia starrte sie überrascht an.

„Ja, klar, komm rein.“

Sie spürte eine unerwartete Freude in sich aufsteigen, die neue Frau ihres Vaters wiederzusehen. Stella kam zum Bett und umarmte Olivia liebevoll.

„Wie geht es dir?“, fragte sie, während sie ihren Blick forschend über Olivias Gesicht wandern ließ. Diese Situation war irritierend für Olivia, denn ihre Beziehung zueinander war bisher eher durch Distanz geprägt. Stella war nie mehr als ein Störfaktor gewesen, der die Ehe ihrer Eltern und somit ihre Familie zerstört hatte. Das Einzige, was sie an der Lebensgefährtin ihres Vaters gemocht hatte, war ihr Sohn Sven.

Doch nachdem, was Olivia in der Gefangenschaft erlebt hatte, war sie für jede Zuneigung, die sie bekam, dankbar. Deswegen schaute sie Stella völlig durcheinander an und antwortete ehrlich: „Verdammt schlecht geht es mir!“

Mit dieser Äußerung löste sich ein Knoten in ihr und es platze alles heraus: die Worte, die Tränen, die Zweifel. Stella hatte sich zu ihr aufs Bett gesetzt und hörte ihr geduldig zu.

„Olivia, mir ist klar, dass wir uns nicht so nahe stehen, wie wir es eigentlich sollten. Aber ich weiß, dass dir in deiner jetzigen Situation jeder rät, das Baby nicht zu bekommen, weil du in ihren Augen selbst noch zu jung bist. Keiner kommt auf die Idee, dir eine Alternative zu bieten. Sie denken, es sei das Beste für dich.“

Glaubte Stella ihr etwa, dass Lenno mehr war als nur eine Fantasie? Hatte Sven seiner Mutter von ihnen erzählt? Olivia wurde aufmerksam.

„Als ich ungefähr in deinem Alter war, steckte ich in einer ähnlichen Situation und es erging mir damals genau so, wie jetzt dir. Bis mir eine Freundin meiner Mutter doch eine Alternative bot, indem sie mir versprach, mich in jeder Hinsicht zu unterstützen, falls ich mich für das Kind entscheiden sollte.“

Stella lächelte Olivia einen Moment lang an.

„Solch ein Angebot möchte ich dir jetzt ebenfalls machen, auch wenn deine Eltern bestimmt nicht begeistert davon sein werden, dass dies ausgerechnet von mir kommt.“ Es entstand eine Stille zwischen ihnen, die mehr als nur Sprachlosigkeit war, bis Stella nachdenklich fortfuhr: „Aber manchmal ist es sehr wertvoll, ebenso die Alternativen in Erwägung zu ziehen.“ Noch verstand Olivia nicht ganz, worauf sie hinauswollte. „Allerdings bin ich mir sicher, damals das Richtige getan zu haben, als ich dieses Angebot annahm. Denn weder du noch ich würden heute gern auf Sven in unserem Leben verzichten, oder?“ Olivia schluckte.

Ohne großartig darüber nachzudenken, nahm sie Stella das erste Mal in ihrem Leben aus freien Stücken in den Arm und drückte sie fest an sich. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es kamen ihr keine Worte über die Lippen, die das auszudrücken vermochten, was sie in diesem Moment empfand.

„Ich habe dir morgen früh einen Termin bei jener Freundin meiner Mutter gemacht, denn sie ist selbst Ärztin. Sie kennt deine Vorgeschichte nicht und es steht dir frei, ihr so viel zu erzählen, wie du möchtest. Sie wird dich vollkommen unvoreingenommen beraten. Wenn sie dir von der Schwangerschaft abrät, dann kannst du beruhigt den Weg gehen, den dir alle vorschlagen.“

Olivia konnte es kaum fassen, was sie da hörte. Stella bereitete ihr, ohne es zu wissen, mit diesem Angebot den einen Ausweg, nach dem sie die ganze Zeit verzweifelt gesucht hatte.

Als Olivia abends im Bett lag und einschlafen wollte, legte sie ihre Hände auf den Bauch und dachte über das Wunder nach, das in ihr wuchs. Was würde die Zukunft wohl für sie und dieses Kind in ihr bereithalten?

In der Praxis der befreundeten Ärztin, die Stella schlicht als Rosi vorstellte, schilderte Olivia knapp den Inhalt der Beratungsgespräche und die Zweifel und Sorgen, die ihre Situation betrafen. Lenno verschwieg sie.

„Nun“, sagte Rosi aufmunternd, „dann wollen wir uns den Kleinen oder die Kleine einmal ansehen.“

Olivia wurde merklich nervös.

Als sie mit entblößtem Bauch im Behandlungszimmer lag und das kalte Gel auf ihrer Haut verteilt war, fuhr die Ärztin mit einem Handgerät darüber und es entstand auf dem Monitor ein Ultraschall-Bild. Olivia verstand überhaupt nicht, was sie dort sah.

„Na, was haben wir denn da?“, fragte Rosi überrascht und beugte sich näher zum Bildschirm, während sie über den Brillenrand hinweg mit zusammengekniffenen Augen auf das Schwarz-Weiß-Gebilde starrte, um es genauer zu betrachten.

Olivia hielt vor Aufregung die Luft an. Der angestrengte Gesichtsausdruck der Ärztin ließ absolut keinen Rückschluss darüber zu, ob es etwas Positives oder doch eher etwas Negatives war, was sie dort entdeckt hatte. Hoffentlich war alles in Ordnung in ihrem Bauch. Hatte Bidziil ihr nicht in den Unterleib geschlagen? Ihr Magen begann zu rebellieren.

„Das ist nicht nur eines“, murmelte Rosi vor sich hin und drehte lächelnd den Kopf zu Olivia. „Du bekommst Zwillinge, meine Liebe.“

Als säße sie vor dem Fernseher und schaute im Schutze der Anonymität ihres Wohnzimmersessels eine Sendung an, beobachtete Olivia die Ärztin, wie sie auf den Monitor zeigte. Sie umfuhr zwei dunkle Stellen auf dem Bildschirm, als würde sie das Wetter von morgen vorhersagen. Völlig teilnahmslos starrte Olivia auf das Gerät und nur langsam tröpfelte die Erkenntnis in ihren Verstand. Erst nach und nach konnte auch sie die winzigen Gestalten in den kleinen Blasen ausmachen, die sich mitten im Dunkeln ihrer schützenden Gebärmutter eingenistet hatten.

Olivia hatte tatsächlich einen Teil von Lenno aus Etenya mit in ihre Welt genommen. Etwas Lebendiges, Reales: ihre gemeinsamen Kinder.

Plötzlich hörte sie ein leises Fauchen in ihrem Kopf und schaute erschrocken zu Rosi, die davon allerdings nichts mitbekommen hatte. Entschlossen lächelte sie vor sich hin.

Niemals mehr, und zwar für den Rest ihres Lebens, würde sie an Lennos Existenz zweifeln müssen. Diese Kinder waren der beste Beweis dafür, dass er real war und lebte. Nicht hier, aber irgendwo in seiner Welt, die neben ihrer existierte.

Olivia lachte aufgeregt und nickte leicht, denn sie schloss in diesem Moment mit sich selbst einen Pakt: Um diese beiden Kinder würde sie kämpfen wie eine Berglöwin! Auch, wenn es ihr eigenes Leben kosten sollte.

Ein dunkles Grollen aus den Tiefen der Erde schreckte die Vögel auf, die allesamt mit lautem Gekreische in den blauen Himmel Etenyas stoben, während die Zikaden in Tenya Nahele für einige Augenblicke verstummten. Eine bedrückende Stille legte sich in jeden Winkel dieser Welt, als hielte sie den Atem an.

Der Blick aus zwei tiefschwarzen, ernsten Augen, mandelförmig und von langen, dichten Wimpern umrahmt, wanderte langsam über die Aponovi-Ebene und beobachtete diese unwirkliche Szenerie. Zwischen diesen Augen bildete sich eine tiefe, nachdenkliche Falte und sie selbst spiegelten die Erkenntnis wider, dass irgendetwas von großer Bedeutung für diese Welt geschehen sein musste.

Durch eine großflächige Scheibe, die neben ihr den Blick auf die Straße freigab, beobachtete Olivia in Gedanken versunken das Treiben dort draußen. Das Café, in dem sie mit Sven verabredet war, wirkte um diese Zeit fast überfüllt, doch von dem Trubel um sie herum bekam sie kaum etwas mit. Ihre Grübeleien drehten sich permanent um die Umbrüche, die in naher Zukunft ihr Leben bestimmen würden. Sie waren zu ständigen Begleitern geworden, die ihre gesamte Aufmerksamkeit bündelten.

Ihre Eltern hatten wenig erfreut reagiert, als sie von Olivias Entscheidung erfuhren, die Kinder zur Welt zu bringen und keinesfalls zur Adoption freizugeben. Es hatte lange gedauert, sie davon zu überzeugen, dass die Schwangerschaft keine Folge der Gewalt war, die man ihr in der Gefangenschaft angetan hatte. Auch konnten sie sich nur schwer mit der Tatsache abfinden, dass der Vater ein Unbekannter sein sollte, der im Leben ihrer Tochter eine wichtige Rolle eingenommen hatte, ohne dass sie es bemerkt hatten. Es war nicht zu übersehen, dass sie sich deswegen Vorwürfe machten.

„Und? Dieser Lenno fühlt sich für nichts verantwortlich?“, hatte ihre Mutter aufgebracht gefragt, während sie auf das Ultraschallbild vor sich auf dem Tisch zeigte. „Wo ist er denn jetzt? Wird er dich dabei nicht unterstützen?“

Bis auf ein Mal hatte Olivia nie über Lennos Herkunft mit ihren Eltern gesprochen. Der Vorwurf in den Worten ihrer Mutter war unüberhörbar gewesen und hatte Olivia zutiefst geärgert. Dennoch hatte sie so bedacht wie möglich geantwortet: „Er kann nicht, Mama. Wir leben einfach in verschiedenen Welten.“

Die Bedienung kam an den Tisch und riss Olivia abrupt aus ihren Gedanken. Nachdem sie einen Tee bestellt hatte, blickte sie ein weiteres Mal auf die Getränkekarte in ihren Händen, ohne diese wahrzunehmen. Die Antwort, die sie ihrer Mutter gegeben hatte, geisterte permanent in ihrem Kopf herum und schnürte ihr die Kehle zu. Immer wieder nahm sie sich vor, all die Fragen, ob und wann sie Lenno wiedersehen würde, von sich zu weisen und sie tapfer zu ignorieren, sobald sie drohten sich uneingeladen in den Mittelpunkt zu drängen. Trotzdem erwischte sie sich erneut bei der Überlegung, wie sie es hinbekommen könnte, ihm wenigstens zu sagen, dass er Vater werden würde.

Hätte sie Aya doch nur zügiger erkannt!

Bedeutete sein Auftauchen, dass Lenno ebenfalls jederzeit ...

Ihr Herz begann zu rasen. Rasch schob sie die Getränkekarte beiseite, genauso wie die Gedanken, die sie quälten. Ohne darüber nachzudenken, legte sie die frei gewordenen Hände auf ihren Bauch. Sie musste sich auf die Babys konzentrieren, statt auf sich selbst. In Lennos Welt hatte sie sich nicht unbedingt zu einer talentierten Kämpferin entpuppt. Deshalb wollte sie in ihrer umso mehr um ihre Kinder kämpfen. Und da blieb wenig Raum zum Trübsal blasen.

Zur Ablenkung schaute sich Olivia in dem kleinen Café um, in dem Sven häufig seine Freunde traf. Einige der Gesichter kannte sie aus der Schule. Offenkundig war sie in Vergessenheit geraten, denn es machte den Anschein, als würden sie niemand wiedererkennen. Sie beließ es dabei. Es war nicht mehr wichtig. Genauso wie die Schule selbst. Die hatte sie seit ihrer Rückkehr nur noch unregelmäßig besucht und mit der Entscheidung, die Kinder zu bekommen, endgültig aufgegeben. Dafür konnte sie, um ein bisschen Geld zu verdienen, stundenweise im Buchladen ihrer Mutter aushelfen.

Jetzt waren ihre beiden Kinder ohnehin das Wichtigste in ihrem Leben.

Gedankenverloren schaute Olivia wieder hinaus auf die Straße. Die Vorstellung, zumindest einen winzigen Teil von Lenno - oder zwei - in sich zu tragen, gefiel ihr immer besser. Allerdings hatte sie auch Angst davor, ihr neues Leben ganz allein bewältigen zu müssen. Manchmal erdrückten sie die Veränderungen fast, die auf sie zukamen. Alles würde sie zum ersten Mal tun.

Oftmals dachte Olivia darüber nach, ob sie von zu Hause ausziehen sollte. Bei ihrer Mutter wohnen zu bleiben, wäre garantiert der einfachere Weg. Es gehörte für sie aber eindeutig nicht zum Erwachsenwerden, allen Schwierigkeiten im Leben aus dem Weg zu gehen.

Bei dieser Art von Gedanken tauchten jedes Mal unweigerlich Bilder von ihr und den Babys im Kopf auf, wie sie allein mit den beiden in einem heillosen Chaos versumpfte. Solche Vorstellungen nahmen ihr sofort komplett den Wind aus den Segeln. Stella hatte zwar versprochen zu helfen, aber würde sie so eine Überlegung ebenso unterstützen? Was würde ihre Mutter dazu sagen?

Als die Bedienung den Tee brachte, beanspruchte sie von Neuem Olivias Aufmerksamkeit. Nachdem sie kurz zum Dank gelächelt hatte, zog etwas am anderen Ende des Raumes ihr Augenmerk auf sich: Svens Gesicht.

Kaum war ihr Bruder durch die Eingangstür getreten, hatte er sie entdeckt und strahlte sie an. Er war einfach unglaublich! Allein durch sein Auftauchen schaffte er es, jeglichem Gefühl die dunkle Tönung zu nehmen und sie augenblicklich aus ihrem Innern zu verbannen. Er hatte schon immer eine Gabe, die Sonne um sich herum aufgehen zu lassen.

Auf dem Weg zu ihr nickte Sven einigen Freunden und Bekannten zu.

„Hi, toll, dass du angerufen hast. Ich hoffe, es gibt gute Neuigkeiten, Livi“, begrüßte er sie gut gelaunt, bückte sich zu ihr, drückte sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Ja“, lachte sie, „meine Entscheidung steht nun fest: Du wirst Onkel. Ich habe dir auch ein Bild mitgebracht.“ Dabei sah sie ihn vorsichtig an.

„Cool“, meinte Sven, „lass mal sehen!“

Olivia kramte umständlich in ihrem Rucksack, um Zeit zu schinden. Währenddessen plapperte sie in einer äußerst belanglosen Art weiter, als würde sie ihm nicht aufregende Veränderungen in ihrem Leben mitteilen, sondern eine genaue Beschreibung ihres letzten Frühstücks geben: „Außerdem habe ich mir überlegt von zu Hause auszuziehen und mir eine kleine Miniwohnung zu nehmen.“

Allerdings war Sven nicht der Typ, der sich von Olivias Tricks beeindrucken ließ. Sie hatten in den vergangenen Monaten zu viele einschneidende Erlebnisse miteinander geteilt, als dass er nicht hinter jeder ihrer Aussagen eine weitere Katastrophe vermutete. Immerhin konnten die nächsten Worte aus ihrem Mund durchaus bedeuten, ihr wieder einmal das Leben retten zu müssen. Insbesondere ihr Versuch, ihn zu beschwichtigen, ließ offensichtlich seine Alarmglocken in den schrillsten Tönen erklingen. Er setzte sich aufrecht hin und beobachtete sie wachsam.

Durch seine Art, sie zu durchschauen, machte er Olivia wahnsinnig. Nervös kramte sie weiter in ihrer Tasche herum, fand schließlich das Ultraschall-Bild und griff danach.

„Also, das mit dem Ausziehen, finde ich genau richtig“, überraschte Sven sie und sie blickte zu ihm auf. „Deshalb frage ich mich, ob wir uns nicht gemeinsam eine Wohnung suchen sollten. Du hilfst mir im Haushalt und ich dir beim Wickeln. Wenn ich in einigen Wochen meinen Abschluss in der Tasche habe, wollte ich mir sowieso eine eigene Bude nehmen. Warum nicht mit dir zusammen? Wir machen eine WG auf“, erzählte er drauflos, als hätte er schon länger darüber nachgedacht. Olivia sah ihn verdutzt an und ließ das Bild wieder in den Rucksack gleiten.

„Weißt du überhaupt, auf was du dich da einlassen würdest?“, fragte sie verblüfft. Sven grinste. „Na, klar, eine Baby-WG: durchgemachte Nächte, ein Haufen stinkender Windeln, Kinderkrankheiten und ständig auf dem Boden herumliegende Sachen. Das kenne ich alles noch von meiner kleinen Schwester.“ Olivia schluckte. „Die Sache hat nur einen Haken, Sven.“ Überrascht hob er die Augenbrauen. Sie presste die Lippen aufeinander, zögerte kurz, holte endgültig das Bild aus ihrer Tasche und legte es vor ihn auf den Tisch. „Es sind zwei.“

Ihr Bruder stutzte einen Moment. Sicher würde er jetzt einen Rückzieher machen. Er zog die Abbildung zu sich und betrachtete sie genauer.

„Wahnsinn“, flüsterte er plötzlich. „Zwillinge?“

Als er zu ihr aufschaute, nickte sie verunsichert. Sven ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass er durchaus wusste, was auf ihn zukam, wenn er mit Olivia und den Babys zusammenziehen würde.

„Umso besser. Das wird ein richtiges Trainingslager. Das wird die Mädels schwer beeindrucken!“

Vor Schreck lachte Olivia auf.

„Welche Mädels? Die flüchten doch alle, sobald sie erfahren, dass du mit deiner Halbschwester zusammenwohnst, der du beim Hüten ihrer unehelichen Kinder helfen musst.“

Daraufhin wurde Sven außergewöhnlich ernst und Olivia nervös. Hatte sie ihm jetzt die Wahrheit zu extrem vor Augen geführt, weshalb er sich lieber nach einer Alternative umsehen würde?

Ihr gefiel der Gedanke, mit ihm zusammenzuziehen, plötzlich so gut, dass sie sich gar nichts anderes mehr vorstellen wollte. Ihr Magen rebellierte ein wenig und sie nippte schnell an ihrem Tee.

Während sie den Atem anhielt, ließ Sven die Luft mit einem zischenden Laut aus seinem Mund ab. „Sollen sie doch flüchten.“ Dabei zog er eine Schulter hoch. „Wenn das passiert, dann ist es eben nicht die Richtige gewesen.“

Olivia zog die Stirn kraus. Sollte sie zulassen, dass sich ihr Bruder ihretwegen das eigene Leben derart verkomplizierte?

Sie umklammerte den Teebecher und verzog skeptisch einen ihrer Mundwinkel. Sven beugte sich vor, packte über den Tisch hinweg ihre Unterarme und sagte eindringlich: „Livi, ich bin verdammt stolz auf dich. Dass du das durchziehen willst. Wahnsinn!“ Im nächsten Moment lehnte er sich nach hinten und strich mit beiden Händen durch seine kurzen, blonden Haare.

„Und dann auch noch Zwillinge! Der Hammer!“ Olivia lachte erleichtert auf.

Abends war eine Bandprobe verabredet und Colin nahm sie auf dem Rückweg mit nach Hause. Dort angekommen blieben sie einen Moment im Auto sitzen, denn Colin hatte sie darum gebeten.

„Ich habe gehört, was dir passiert ist und es tut mir wahnsinnig leid, dass ich mich ausgerechnet kurz davor so blöde benommen habe“, sagte er aufrichtig. Olivia versuchte zu lächeln, machte eine abwehrende Handbewegung und entgegnete trocken: „Ach, lass es uns einfach vergessen. Freunde machen das so!“

Mit dem Rücken zum Haus gedreht legte sie ihm dabei ihre Hand auf den Arm. Dabei sahen sie sich einen Moment lang an, bis plötzlich Colins Blick, angelockt von etwas, das hinter Olivia an der Haustür geschah, an ihr vorbei rutschte.

„Da ist er schon wieder“, raunte er genervt. Begreifen, was und wen er damit meinte, tat sie zunächst nicht.

„Wie ... was?“, stammelte sie nur.

„Na, der Typ mit der Katze“, sagte Colin, um ihr auf die Sprünge zu helfen. Er zeigte über ihre Schulter hinweg auf die Eingangstür und Olivia folgte ungläubig seinem Blick. Sie konnte sich aber anstrengen, wie sie wollte, erkennen tat sie in der Dunkelheit rein gar nichts.

Meinte er etwa Lenno? Das konnte nicht sein!

Olivia drehte sich zu Colin zurück und sah ihn überrascht an. „Du kannst dich an ihn erinnern?“

„Natürlich! So, wie der mich angegiftet hat. Als wollte er mir gleich ins Gesicht springen.“

Für einen Moment stockte Olivia der Atem. Ohne es zu wissen, brachte Colin ihre Welt wieder in Ordnung. Er war der einzige Mensch in ihrer Umgebung, der Lenno jemals bewusst gesehen hatte und lebte. Einem Impuls folgend zog sie sein Gesicht mit beiden Händen zu sich und gab ihm lachend einen Kuss auf die Wange.

„Ich danke dir, Colin!“

Er sah sie verwirrt an und Olivia begriff sofort, dass sie ihm erneut falsche Hoffnungen gemacht hatte. Augenblicklich ließ sie ihn los, drehte sich von ihm weg und schaute etwas verlegen zurück auf die Straße.

„Er kann das aber nicht gewesen sein“, flüsterte sie eher zu sich selbst. „Er wohnt gar nicht mehr neben uns.“

Im selben Moment ging an der Haustür das Licht an. Nora hatte offenbar das Auto gehört. Aus dem Augenwinkel heraus glaubte Olivia, eine Bewegung gesehen zu haben. Sofort drehte sie ihren Kopf zum Haus und starrte fassungslos auf die kleine Gestalt, die im Eingang gesessen hatte. Ein goldbrauner Kater!

Noch bevor Olivia realisierte, was sie dort sah, huschte er um die Ecke, sodass sie lediglich seiner Schwanzspitze hinterherblicken konnte.

Lenno! Er war doch hier! Das war unmöglich!

Als würde sie ihn dadurch festhalten können, streckte Olivia intuitiv den Arm nach ihm aus und schlug mit der flachen Hand gegen das Autofenster.

„Oh, nein, warte!“, schrie sie, doch der Kater verschwand in der Dunkelheit.

Verzweifelt versuchte sie, die Tür zu öffnen, fand aber in der Hektik den Griff nicht. Aufgebracht trommelte sie mit den Fäusten auf die Scheibe ein und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich Colin hinüberbeugte und ihr endlich hinaus half.

Wie eine Furie stürmte Olivia los, am Haus vorbei und in den dunklen Garten dahinter. Sie rief seinen Namen, bat ihn, auf sie zu warten. Sie flehte ihn an, wieder zurückzukommen. Doch von dem Kater blieb spurlos verschwunden. Dann wurde es still. Absolute Leere herrschte in ihrem Inneren.

Sie hatte Lenno nur um Haaresbreite verpasst!

Er hatte sie erwartet, wollte zu ihr.

Und sie hatte vor seinen Augen einen anderen geküsst!

Später im Bett legte Olivia die Hände auf den Bauch und umschloss ihn liebevoll. Colin hatte Lenno eindeutig wiedererkannt. Wenn er trotz der Absprache, die sie getroffen hatten, erneut zu ihr zurückgekommen war, wollte er sie genauso wenig aufgeben, wie sie ihn. Zaghaft keimte in ihr eine Hoffnung auf, die sie die ganze Zeit versucht hatte, zu unterdrücken. Sie glaubte fest daran, dass er auch ein nächstes Mal wiederkommen würde. Ebenso wie vor ihrer Gefangenschaft würde er sich nicht von ihr fernhalten können. Davon war sie absolut überzeugt.

Beruhigt atmete sie tief durch. Sie würde auf jeden Fall auf Lenno warten. Egal, wie lange es dauerte.

Das hatte sie sich schon einmal geschworen.

Olivia wartete vergeblich.

Die Abschlussprüfungen kamen und kurz danach suchte Sven mit ihr zusammen eine Wohnung. Nach einigen Besichtigungen und Gesprächen fanden sie eine Altbauwohnung mit drei Zimmern und einer großen Wohnküche.

Bei den Untersuchungen war deutlich zu sehen gewesen, dass die Zwillinge Jungen sein würden. Sven schlug sofort vor, das Kinderzimmer klassisch in Hellblau zu streichen. Olivia entschied sich dagegen und verwandelte die weißen Wände in einen farbenfrohen Urwald. Für sich richtete sie das kleinste Zimmer ein, das so winzig war, dass nur Platz für ein Bett, einen Schrank, ein Bücherregal und ihren Schreibtisch war. Letzteren stellte sie unmittelbar vor das Fenster, damit sie wie gewohnt den Blick nach draußen genießen konnte. Diesmal schaute sie auf einen Park, der auf der gegenüberliegenden Seite der Straße begann.

An der Wand zwischen dem Fenster und dem Regal befestigte sie eine Pinnwand, an die sie stolz die ersten Ultraschallfotos heftete. Direkt daneben befestigte sie den Zettel mit weiteren Arztterminen, zu denen Nora und Stella sie abwechselnd begleiten wollten. Ihr Termin für den Kaiserschnitt fiel auf Mitte September.

Als der Sommer seinem Ende zuging, erblickten Tom Lenno Wynono und Phillipp Yuma Nashoto das Licht der Welt, Olivias Welt, mit Lennos dunklen Augen und den hübschen langen Wimpern.

Nach der Geburt waren alle etwas entsetzt, da die beiden eine seltsame, gefleckte Hautfärbung aufwiesen. Man wollte Olivia zu Fachleuten schicken. Spezialisten sollten dieses ungewöhnliche Phänomen untersuchen und Behandlungsmöglichkeiten finden. Aber sie wollte von alldem nichts wissen, blieb gelassen und schmunzelte innerlich nur über die Unwissenheit der Menschen in ihrer Umgebung.

Sie selbst hatte im Internet in eine andere Richtung recherchiert und war sich sicher, die Hautflecken der Kinder würden verschwinden, noch bevor sie ihr erstes Lebensjahr vollendet hatten. Und sie behielt recht. Olivia wartete die ersten zwölf Monate geduldig ab, denn für sie war das alles nicht verwunderlich; bei diesen Eltern.

Tocho blieb eben Tocho.

In dem Sommer vor dem ersten Geburtstag ihrer Söhne war Olivia häufig bei ihrer Mutter, damit Lenno Wynono und Yuma im Garten auf der Wiese die ersten Gehversuche machen konnten, ohne sich zu verletzen. Bei einem dieser Besuche saß Olivia mit den Kindern im Schatten auf einer Decke, als Nora kam und ihr eine kleine Tüte gab.

„Die soll ich dir von Renate Schäfer, der Kommissarin, geben. Das sind die Sachen, die man damals als Beweismittel aus deinem Zimmer mitgenommen hatte.“

Olivia sah sie überrascht an und schaute hinein.

„Die Ermittlungen wurden zwar nicht eingestellt, aber wegen mangelnder Spuren oder so auf Eis gelegt“, sagte Nora tonlos. Die Enttäuschung darüber, dass niemand für das, was ihrer Tochter angetan wurde, zur Rechenschaft gezogen werden würde, schwang unüberhörbar mit.

Olivias Blick wanderte von ihrer Mutter zum Inhalt der Tüte, den sie in ihre Hand geschüttet hatte. Es waren zwei Gegenstände: der Haustürschlüssel, der seit Olivias Verschwinden an ihrem Schlüsselbund gefehlt hatte und ihr altes Handy.

„Ach, von dem müssten wir mal den Vertrag kündigen. Du hast doch jetzt ein neues“, sagte ihre Mutter, während sie auf das Handy zeigte. Im nächsten Moment zogen die Kinder ihre Aufmerksamkeit auf sich und sie rannte hinter einem der Jungen her, der sich in Richtung Nachbargarten verabschiedete.

Olivias Blick wanderte vom Handy hinüber zum Gartenzaun und sie sah sich plötzlich selbst in ein Handtuch gehüllt oben am Schreibtisch stehen und Lenno unten am Zaun. Mit zitternden Fingern versuchte sie, das Gerät einzuschalten. Es klappte!

Der Akku war halb geladen, und das Handy hatte sofort Empfang. Wie benommen tippte Olivia in dem betreffenden Menü herum und suchte aufgeregt eine Nachricht, die das Datum ihres Auftritts und der entsprechenden Uhrzeit trug. Es dauerte eine Weile, bis sie die Stelle gefunden hatte. Sie starrte die Handynummer an, die ihr nahezu aus dem Display entgegensprang. Sollte sie es wagen?

Während sie die Wahltaste drückte, um die Voicemailbox anzurufen, fing ihr Körper vor Aufregung an zu beben.

„Sie haben eine gespeicherte Nachricht“, säuselte ihr eine weibliche Stimme ins Ohr und führte sie durch ein weiteres Menü.

Den Anweisungen folgend drückte Olivia die entsprechenden Tasten, bis sie an ihrem Ziel war. Aufgeregt schloss sie die Augen.

„Hi, Olivia“, streichelte Lennos Stimme über ihr Trommelfell, und es raubte ihr auch diesmal fast die Sinne. „Du fehlst mir und ich denke wirklich jede Sekunde an dich ... bitte rufe mich zurück, wenn du das hier hörst ... bitte.“

Olivia saß bewegungslos da und wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Es war, als säße sie in einer Blase, abgetrennt vom Rest der Menschheit. Sie vergaß sogar, für eine Weile weiter zu atmen.

Erst, als sich ihr Körper gegen diesen absoluten Stillstand wehrte, platze, ähnlich einer Seifenblase, die isolierende Membran um sie herum auf und ließ Olivia wieder am normalen Leben teilhaben.

„Wollen Sie den Teilnehmer zurückrufen? Dann drücken Sie bitte die Drei“, bot ihr die weibliche Stimme an und holte sie mit ihrer Fremdheit zurück in die Realität.

Olivia starrte das Handy in ihrer zitternden Hand an.

Wie betäubt befolgte sie, ohne lange darüber nachzudenken, den weiteren Anweisungen, führte das Gerät zögernd ans Ohr und rechnete fest mit einer erneuten Ansage. War die Nummer überhaupt noch vergeben? Oder würde ihr mitgeteilt werden, der Teilnehmer könne den Anruf momentan nicht entgegennehmen?

Nichts von beidem geschah.

Es klingelte dreimal.

Danach war nur ein leises Rauschen zu hören.

Ein fernes Rauschen, das aus einer anderen Welt zu kommen schien.

Vor allem im ersten Jahr war Sven eine große Hilfe für Olivia. Er durchwachte bereitwillig und geduldig die Nächte und wechselte mit einer beneidenswerten Ausdauer feuchte Windeln.

Auch stellte sich heraus, dass er, durch seine jahrelange Erfahrung mit seiner kleinen Schwester, ein vorbildhafter Babysitter war. Als Dankeschön erledigte Olivia ihm fast den gesamten Haushalt und verbrachte die Wochenenden meistens bei Nora, damit Sven die Wohnung für sich allein hatte.

Bis zu Lenno Wynonos und Yumas zweitem Geburtstag war Oma Noras Garten ein reines Spiel- und Bewegungsparadies geworden. Olivias alte Schaukel musste einer Kletter-Schaukel- Tobe-Landschaft weichen. Doch am liebsten spielten die beiden Fußball, was insbesondere Sven sehr freute. Hierbei konnten sie ihren natürlichen Jagdtrieb ein wenig an dem Ball ausleben. Ebenso oft fand man die Jungen, einem Wollknäuel ähnlich, ineinander verschlungen beim Raufen wieder, eine weitere Lieblingsbeschäftigung. Oftmals schaffte Olivia es nur, sie durch ein strenges, mütterliches „Tom! Phillipp! Nicht so wild!“ aus ihrer Kampfeslust herauszuholen, bevor sie sich ernsthaft wehtaten. Der eine oder andere biss im Eifer des Gefechts gerne einmal zu.

Abgesehen davon hatten die beiden eine liebevolle Art miteinander umzugehen, hielten zusammen wie Pech und Schwefel und entwickelten eine ausgesprochene Fantasie, in der sie sich gegenseitig zu ergänzen schienen.

Zu ihrem dritten Geburtstag bekamen Lenno Wynono und Yuma von Olivias Vater und seiner Frau ein weißes Kaninchen als Haustier. Stella meinte, es wäre eine wichtige Erfahrung für die beiden, sich in diesem Alter um ein anderes lebendiges Wesen kümmern zu müssen.

Olivia hingegen dachte unwillkürlich an ihre gemeinsamen Jagdausflüge mit Lenno als Berglöwin auf Wapi Zaltana und betrachtete dieses Geschenk etwas kritischer. Ihr tat das Kaninchen eher leid. Sie konnte nicht recht einschätzen, was Lenno Wynono und Yuma mit ihrem neuen Spielzeug anstellen würden.

Verblüfft und ein wenig stolz beobachtete Olivia allerdings, dass ihre Söhne sehr respektvoll mit dem Tier umgingen. Sie nannten es Lulu und es begleitete sie von Stund an auf Schritt und Tritt.

Umso mehr war Olivia erstaunt, als sie eines Tages von der Arbeit aus dem Buchladen nach Hause kam und Yuma allein und weinend in Noras Garten vorfand.

Zunächst bekam sie kein Wort aus ihm heraus und tröstete ihn liebevoll. Dann fragte Olivia: „Yuma, wo ist dein Bruder?“

Yuma sah sie mit seinen großen, wundervollen und nun furchtbar traurigen Augen an.

„Mami, Lenno versteckt sich im Zauberwald. Er hat was Schlimmes gemacht.“

Olivia sah ihn verdutzt an und fragte: „Was für ein Zauberwald?“

„Na, du weißt schon, wir spielen da doch immer und erleben ganz viele Abenteuer.“

Olivia nickte verständnisvoll, denn diese Art von Antwort bekam sie in der letzten Zeit des Öfteren zu hören, wodurch sie es für eine Art kindliches Fantasy-Spiel zwischen ihren Söhnen hielt. Ein wenig schuld war sie ja selbst. Offensichtlich waren diese Fantasien von ihren eigenen Malereien im Kinderzimmer geprägt.

„Ah, dieser Zauberwald“, gab Olivia wissend zurück. „Und was hat Lenno dort so Schlimmes getan, dass du jetzt traurig bist und weinen musst?“

Yuma sah seine Mutter unschlüssig an und rang mit sich, ob er es ihr wirklich verraten sollte oder nicht. Schließlich trat er mit ängstlichen Augen dicht an sie heran und flüsterte: „Mami, Lenno hat sie einfach mit in den Wald genommen, obwohl wir gesagt haben, dass das viel zu gefährlich für sie ist.“ Yuma machte eine kleine Pause, in der Olivia eine grausige Kälte in sich aufsteigen fühlte, die ihr den Atem stocken ließ. „Und jetzt ist Lulu weggelaufen.“

Seine letzten Worte bekam sie allerdings schon nicht mehr mit, sondern blinzelte nervös mit den Augen.

Was sagte ihr Sohn?

Nein, sie hatte sich garantiert verhört! Sie hörte da etwas absolut, total Falsches heraus!

Offensichtlich hatte sie Yuma derart fassungslos angestarrt, dass er erschrocken zurückstarrte und befürchtete, seine Beichte könnte schlimme Folgen nach sich ziehen.

„Mami, das ist nur ein Spiel!“, hörte sie ihren Sohn auf sich einreden.

Olivia lächelte nervös und erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, die plötzlich rau klang. „Dann hol deinen Bruder jetzt aus dem Zauberwald, und hilf ihm, Lulu zu suchen. Ich muss kurz ins Haus.“

Getrieben von den Dämonen ihrer Vergangenheit lief sie los und flüchtete ins Badezimmer. Dort schloss sie die Tür zu, stützte sich am Waschbecken ab und versuchte, ihre Atmung wieder in den Griff zu bekommen. Olivia hatte das Gefühl, als hätte sie auf dem gesamten Weg vom Garten bis hinauf ins Bad nicht ein Mal Luft geholt. Jetzt rang sie heftig danach, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt, ließ sie kaum einatmen. Erst als sie mit der Faust panisch auf den Beckenrand einschlug, löste sich der Brocken in ihrem Hals auf und ließ den ersehnten Sauerstoff in die Lungen strömen. Im nächsten Moment begann sie zu weinen.

Seit einer Ewigkeit war sie nicht mehr mit dieser Hilflosigkeit konfrontiert worden, hatte sie fast schon vergessen. Nach der Geburt ihrer Söhne hatte sie immer alle Gedanken, die sie zurück nach Tenya Nahele und Aponovi brachten, systematisch verdrängt. Jetzt hatten Yumas Worte etwas Unerwartetes in ihr ausgelöst und ließen den unterdrückten Schmerz über Lennos Verlust unaufhaltsam wie ein Lavastrom durch ihren Körper fließen. Gleichzeitig spürte sie diese unendliche Sehnsucht nach ihm in sich aufsteigen, die sie in all ihrer Wucht so heftig traf, dass es sich anfühlte, als zerreiße es ihr das Herz.

Lenno hat sie einfach mit in den Wald genommen, obwohl wir gesagt haben, dass das viel zu gefährlich für sie ist.

Das konnte Yuma nicht so gemeint haben, wie Olivia es verstanden hatte. Er hatte von seinem Vater und Olivias Aufenthalt in Tenya Nahele nicht die geringste Ahnung.

Und dennoch erschauderte sie tief in ihrem Inneren und eine Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper.

Es war sicher nur ein Fehler in ihrer Wahrnehmung. Zumindest versuchte sie, sich mit diesem Gedanken wieder zu beruhigen. Um einen klaren Kopf und ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, spritzte sie eiskaltes Wasser in ihr Gesicht.

Als sie kurze Zeit später in den Garten zurückkehrte, ließ sie sich von ihrem Gefühlschaos nichts mehr anmerken. Lenno Wynono war aus seinem Versteck aufgetaucht und gemeinsam suchten sie die nähere Umgebung nach Lulu ab. Das Kaninchen blieb verschwunden.

Je älter ihre Söhne wurden, desto deutlicher zeigte sich die Ähnlichkeit zu ihrem Vater. Äußerlich waren sie ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Olivia war in ihrer Familie allerdings die Einzige, die das sehen konnte. Colin erkannte dies genauso, sagte aber nichts dazu.

Neben ihrem Aussehen hatten sie ebenso Lennos Charme geerbt, mit dem die Zwillinge sämtliche Herzen der Mütter ihrer Kindergartenfreundinnen im Handumdrehen eroberten. Als Lenno Wynonos und Yumas vierter Geburtstag anstand, war die Liste der Kinder, die sie einladen wollten, derart lang, dass Olivia gemeinsam mit den Großeltern eine Party in dem Park nahe dem Kindergarten organisierte. Die anderen Mütter halfen mit und zusammen zauberten sie ein Picknick und spielten einige Spiele. Den Rest des Nachmittages konnten die Kleinen frei auf einem Spielplatz verbringen oder auf der Wiese herumtollen.

Während Olivia mit den beiden Geburtstagskindern an der Rutsche stand, sagte eine der Mütter plötzlich zu ihr: „Schau mal, Olivia, findest du diesen Typen dort drüben auf der Bank nicht auch etwas seltsam?“

Erst dachte Olivia, es sei wieder jene überspitzte Wachsamkeit in öffentlichen Parks, die fast alle Mütter an den Tag legten, einschließlich ihr selbst. Als sie jedoch dem Blick ihrer Bekannten folgte, stellten sich ihre Nackenhaare zu Berge. In ihrem Kopf dröhnte ein Fauchen.

Olivia erkannte in dem Mann sofort. Sein narbiges Gesicht verriet ihn. Es war Bidziils Begleiter, den sie selbst angegriffen und so zugerichtet hatte.

„Sag bitte meiner Mutter, sie soll auf die Kinder achten. Ich bin gleich zurück“, sagte sie tonlos und bewegte sich zügig auf den Mann zu. Gleichzeitig stand der Kerl auf und wollte sich davonmachen.

In Olivia kochte plötzlich eine Hitze, die sie schon seit Jahren nicht mehr gespürt hatte, und die sie zwang, dem Fremden zu folgen. Als er drohte wegzurennen, fauchte sie ihm hinterher: „Wage es nicht zu verschwinden! Bleib stehen!“

Zu ihrer Überraschung hielt er umgehend inne und tat das, was sie von ihm verlangte. Olivia ging vorsichtig um ihn herum und sah in das Gesicht des Mannes. Er konnte ihr kaum in die Augen sehen. Sie hatte ihn erwischt, er hatte versagt. Jetzt nahm er eine Demutshaltung ein.

Überrascht von seiner Reaktion legte sie ihre Hand auf seinen Arm und fragte: „Wie heißt du?“

„Dohosan.“ Seine Antwort kam prompt.

„Wer schickt dich?“

Er kämpfte mit sich, konnte sich aber offenbar der Wirkung ihrer Stimme nicht entziehen und musste sein Geheimnis preisgeben, weil Olivia es von ihm verlangte.

„Tablita gab mir den Befehl“, würgte er heraus, ohne es zu wollen.

„Wer ist das?“

„Nukpanas Gefährtin.“

Ihr Magen krampfte sich zusammen.

Eines Tages werden sie dich holen, waberte Nukpanas Stimme wie in ihren Albträumen durch sie hindurch. Eine heißkalte Welle des Entsetzens ergoss sich über Olivias Körper. Sie begann zu zittern. „Warum?“

„Um Tocho davon zu berichten.“

Mit der Erwähnung seines Namens rammte Dohosan ein imaginäres Beil direkt zwischen Olivias Füßen in den Asphalt und spaltete damit die Erde. Sie begann zu wanken.

„Was hat sie mit Tocho zu tun?“, raunte Olivia aus ihrer verdorrten Kehle, während Dohosan hektisch mit den Augen blinzelte, als erwartete er eine fürchterliche Strafe, wenn er die Wahrheit aussprach.

„Er hat sie zur Gefährtin genommen!“, flüsterte er zaghaft, fast wie eine Frage betont.

Olivia verlor den Halt.

Fiel.

Raste den Abgrund hinab.

Zumindest fühlte es sich für sie so an. In Wirklichkeit wich sie einen Schritt von ihm zurück, starrte ihn an und war sich sicher, seine Worte falsch verstanden zu haben. Deshalb stellte sie ihre Frage erneut, bekam jedoch exakt die gleiche Antwort.

Wie konnte das sein?

Wieso ...?

„Weiß Tablita über meine Söhne Bescheid?“

„Nein“, er schüttelte den Kopf, „bisher wurde niemand außer mir hierher geschickt. Ich bin der Erste.“

„Wie ...“, begann sie ungläubig zu stottern. „Wie bist du hierhergekommen? Ich dachte, sämtliche Verbindungen sind versiegelt worden!“

„Ayawamat hat eine geöffnet. Tablita bedroht seine Familie.“

Das durfte nicht wahr sein! Sie hatte sich offenbar die ganze Zeit in einer Sicherheit gewähnt, die überhaupt nicht existent war. Was hatte das zu bedeuten?

Die Kinder!

Ein weiteres Mal entfuhr ihr ein wütendes Knurren. Tablita durfte nichts erfahren!

Zügig überlegte sie, wie sie den Schutz der Zwillinge garantieren konnte, funkelte Dohosan böse an und presste eindringlich hervor: „Sorge dafür, dass die Existenz meiner Kinder geheim bleibt. Für alle! Hast du mich verstanden?“

Dohosan nickte im vollen Gehorsam und zog sich von ihr zurück, so als wolle er endlich verschwinden. Olivia hielt ihn am Arm fest. Sie zögerte.

„Wie geht es Aiyana, Leotie, Aquene und Magena?“, fragte sie. „Haben Tochos Leute sie befreit? Hast du ihnen geholfen?“

Er schaute sie zuversichtlich an. „Sie führen ein angenehmes Leben in Dena Enola.“

Beruhigt lockerte sie ihren Griff. „Ich danke dir. Dafür, und auch für das, was du in meiner Gefangenschaft für mich getan hast.“ Er entspannte sich etwas und nickte ihr wiederholt zu.

Eine letzte Frage brannte in ihr. Sie musste unbedingt wissen, wie es Lenno ging. Um sie zu stellen, öffnete sie den Mund, zögerte aber, als sie hinter sich plötzlich sich zügig nähernde Schritte wahrnahm. Überrascht drehte sie sich um und erblickte ihren Vater.

Endlich ließ sie Dohosan schweren Herzens und ungefragt gehen, blieb mitten auf dem Weg stehen und starrte ihm hilflos nach.

Sollte alles von vorn beginnen?

„Stimmt etwas nicht, Livi?“

Ihr Vater blieb neben ihr stehen. Olivia schüttelte schweigend den Kopf und sah Dohosan hinterher, dessen Verschwinden eine betäubende Leere in ihr hinterließ.

Olivia schrie seinen Namen, so laut sie konnte. Es kam jedoch kein Ton aus ihrem Mund. Verstört stellte sie fest, dass sie wieder einmal in diesem dunklen Nichts im Übergang zwischen Etenya und ihrer eigenen Welt stecken geblieben war. Es war ein finsterer Ort, an dem weder Licht noch Schall existierten. Absolut orientierungslos und völlig verwirrt schaute sie sich um, hatte keine Idee, was sie tun sollte. Eiskaltes Grauen kroch ihren Körper empor und umklammerte ihre Kehle.

Mit einem Mal fiel sie, immer schneller, immer tiefer, hinein in die Finsternis. Ihr lautloser Schrei verhallte ungehört in ihrem Inneren und drohte, sich gegen sie selbst zu wenden. Mit voller Wucht prallte sie auf hartem Felsboden auf und ihr gesamter Körper - jeder Knochen, jede Faser - schmerzte. In ihrem Kopf pochte ein dumpfer, anschwellender Druck. Olivia lag erneut in ihrem Verlies in Dena Enola, verletzt, nackt, schutzlos.

Tablita hatte sie erwischt.

Blankes Entsetzen verhüllte ihren Verstand, nahm ihr den Atem, vernebelte für einen kurzen Augenblick den Schmerz. Ihr Körper zuckte und zitterte unkontrolliert vor Angst und Anspannung.

Etwas legte sich auf ihren Arm.

Olivia erstarrte. Ihre Haut brannte.

Sie war nicht allein. In der Finsternis lauerte etwas.

Im nächsten Moment flüsterte die Stimme eines Kindes in ihr Ohr: „Mami, wir sind auch hier!“

Olivia saß hellwach in ihrem Bett, schnappte hektisch nach Luft und krallte die Finger in das Bettlaken. Jetzt! Jetzt werde ich ersticken.

Warum hinderte sie ihr Körper daran, auszuatmen?

Schweißperlen rannen an ihrer Wirbelsäule hinunter. Sie fokussierte all ihre Konzentration und Kraft darauf, die aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen.

Nur langsam stellte sich ihre normale Atmung wieder ein, und ihr rasender Herzschlag beruhigte sich. Sie hob die zitternde, eiskalte Hand und strich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht. Erschöpft und mit einem flauen Gefühl im Magen stand sie auf, nahm ein frisches T-Shirt aus dem Schrank und ging ins Bad.

Seit sie ein Jahr zuvor Dohosan getroffen hatte, verfolgte dieser Traum, oder ähnliche, sie nahezu jede Nacht und sie wurden immer grauenhafter. Bis zu dem Treffen hatte sich Olivia in ihrer Welt sicher gefühlt, aber dies war ein Trugschluss gewesen. Sein Auftauchen hatte Olivias Ängste und Erinnerungen an ihre Gefangenschaft erneut heraufbeschworen, die sie nun stetig begleiteten. Sie konnte kaum schlafen oder essen, hatte ständig dunkle Ringe unter den Augen und einiges an Gewicht verloren.

Was ihr besonders Angst machte, war die Tatsache, dass ihr alle möglichen Menschen verdächtig vorkamen. Sei es, weil diese sie zu lange ansahen oder aber ihrer Meinung nach bewusst an ihr vorbei schauten. So, wie sie es damals in der Festung auf dem Weg zu Nukpana erlebt hatte, bevor sie ihn tötete.

Olivias größte Furcht bestand darin, jemand könnte aus Etenya kommen, um ihr die Kinder wegzunehmen. Könnte sie aufs Neue in den Tiefen Dena Enolas in ein dunkles, kaltes Loch werfen, um sie diesmal zu vergessen.

Am Abend des fünften Geburtstages ihrer Söhne erschütterte ein mittelschweres Erdbeben Olivias Welt und zwang sie zu neuen Entscheidungen.

Lenno Wynono und Yuma hatten den ganzen Nachmittag mit ihren Freunden in Noras Garten herumgetobt. Als Piraten verkleidet, hatten sie bei einer Schatzsuche eine Riesentruhe mit Plastikgold und Süßigkeiten gefunden. Danach hatte es ein Abendessen mit Pommes, Fleisch- und Gemüsespießen gegeben, bei dem sämtliche Tisch- und Essmanieren vergessen worden waren. Jetzt lagen sie aufgedreht in dem Doppelstockbett, das zusätzlich zu Olivias früherem Bett in ihrem ehemaligen Zimmer stand.

Zusammen mit ihrer Mutter räumte Olivia die letzten Reste der Party weg, während sie immer wieder wildes Gepolter von oben hörten. Trotzdem setzten sie sich gemeinsam ins Wohnzimmer, als Nora fast nebenbei anmerkte: „Du wirkst seit Längerem angespannt. Vielleicht gönnst du dir mit den Kindern mal einen Urlaub. Jetzt im September könntet ihr noch Glück mit dem Wetter haben, wenn ihr ans Meer fahren würdet.“

Olivia lächelte ihre Mutter an.

„Oh, ja, das wäre schön, aber mit dem Geld, das ich im Laden verdiene, bin ich gerade in der Lage, meinen Teil der Miete zu bezahlen und alles Nötige, was meine beiden Süßen brauchen. Da kann ich mir keinen Urlaub leisten, Mama.“

Obwohl sie sich finanziell immer auf ihre Familie verlassen konnte, akzeptierte sie deren Hilfe nur bedingt. Sie wollte sich selbst beweisen, es auch ohne Hilfe zu schaffen. Sven kürzte ihr ständig den Mietanteil oder den der Nebenkosten. Jedoch wusste Olivia, dass er sein Geld genauso gern für andere Dinge ausgeben würde. Also verweigerte sie dieses Angebot strikt und vergaß einfach die Abrechnungen der nächsten Einkäufe. Eher setzte sie ihn einige Stunden länger als Babysitter ein, um etwas mehr arbeiten zu können, wenn eine größere Anschaffung anstand.

Nur Besonderes wie Rollschuhe, Fahrräder oder Kleidung, ließ sie von den Großeltern kaufen, weil sie alles doppelt brauchte und sie sich selbst kaum ein Mal leisten konnte.

Nora betrachtete ihre Tochter besorgt.

„Dein Vater und ich würden auch etwas dazu beisteuern, wenn es zu teuer für dich ist“, sagte sie vorsichtig, jedoch wehrte Olivia ab.

Die Sorgen in Noras Gesicht verschwanden dennoch nicht. Deshalb sah Olivia sie fragend an. Ihre Mutter presste die Lippen aufeinander, als ob sie sich selbst verbieten wollte, die Fragen zu stellen, die ihr auf der Seele brannten. Olivia kannte diesen Ausdruck jedoch mittlerweile nur zu gut und wusste, in welche Richtung das Gespräch nun gehen würde. Daher überraschte es sie nicht, als ihre Mutter sagte: „Schatz, wenn ich mich recht erinnere, hat deine Anspannung begonnen, nachdem du dich mit diesem Fremden im Park unterhalten hattest. Ich weiß nicht, wer das gewesen ist, aber hatte er Kontakt mit dem Vater deiner Kinder? Hat er dir irgendetwas gesagt, das dich beunruhigt hat?“

Olivia ärgerte sich, dass sie Noras Mutterinstinkte nicht hatte täuschen können. Natürlich ging es nicht spurlos an ihr vorbei, Lenno ein weiteres Mal verloren zu haben und diesmal offensichtlich für immer. Sie verstand nur nicht, warum es ausgerechnet Nukpanas Gefährtin sein musste.

Warum verbündete er sich mit dem Feind? Was hatte sich nach Nukpanas Tod in Etenya verändert, dass er zu solchen Maßnahmen griff? Setzte diese Tablita Lenno unter Druck? Aber womit? Etwa, Olivia etwas anzutun, wenn sich Lenno von ihr lossagte? Sie fuhr mit einer Hand durch ihre Haare und begann, nervös auf der Unterlippe zu knabbern.

Oder blieb er freiwillig bei ihr?

Olivia hatte keine Ahnung, wer diese Frau war.

Hatte Lenno vielleicht einen guten Ersatz für sie, Olivia, gefunden?

Diesen Gedanken wollte sie möglichst nicht weiterspinnen und schaute zu Nora.

Wie schaffte es ihre Mutter nur immer, die Dinge genau auf den Punkt zu bringen?

Als hätte Nora ihre Fragen gehört, sagte sie plötzlich: „Schatz, guck nicht so, ich bin deine Mutter! Und jetzt, wo du selbst eine bist, solltest du wissen, dass mir so etwas nicht entgehen kann.“

Olivia lächelte sie verkniffen an und entgegnete gequält: „Ach, Mama!

---ENDE DER LESEPROBE---