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Du wartest auf den Bus? Die S-Bahn fährt nicht los? Du sitzt allein in der Mensa? Kein Problem! Nimm dir diese Kurzgeschichten-Sammlung und verkürze dir die Zeit. Tauche ab in eine Liebesgeschichte, in eine antike oder fremde Zivilisation oder schau in die Zukunft und fiebere mit den Protagonisten mit. Kleine Abenteuer für unterwegs und zu Hause, die deine Welt ein bisschen bunter machen und die Musik in deiner Seele berühren. Neun Kurzgeschichten, die unter die Haut gehen. (First Love) (Fantasy) (Science Fiction)
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Musik in meiner Seele
Das Mädchen, das Fliegen konnte
Gateway of India
Der Freundschaftskuss
Freier Fall
Der dreizehnte Schädel
Der Auftrag
Summen
Das Gegenteilchen
Weitere Bücher von Susanne Leuders erschienen bei HEATHERWAY FANTASY
Impressum
Kurzgeschichtensammlungen
(bisher erschienen)
Musik in meiner Seele
Monster in meiner Seele
Susanne Leuders lebt in der Nähe von Düsseldorf. Ihre All Age-Fantasytrilogie ETENYA SAGA ist bereits in einem kleinen Berliner Verlag erschienen. Ebenso wurde zwei ihrer Romantic Thriller der Fallen-Angels-Reihe dort veröffentlicht. Weitere Informationen unter
https://susanneleuders.jimdofree.com/
Ich danke allen, die diese Geschichten so erfolgreich gemacht haben.
susymah
Mia lag auf ihrem Bett und schloss die Augen. Aufgeregt spürte sie in Gedanken den Berührungen seiner Fingerspitzen nach, die über ihren Körper fuhren. Sanft und an manchen Stellen mit ein wenig Druck. Dabei ließ er alles in ihr vibrieren. Jeder Winkel in ihr seufzte auf und bot ihm seine Resonanz an. Leidenschaftlich und bedingungslos. Ihre Haut war komplett mit einer Gänsehaut bedeckt. Ihr Atem ging jedoch ruhig und still.
Dann war der Song zu Ende.
Mit einem leisen Geräusch füllte sie ihre Lungenflügel mit Luft und wünschte sich, sie wären real. Also, als wären es richtige Flügel mit Federn dran und wie bei einem riesigen Adler hinten an ihrem Rücken. Sie würde ihn einfach packen und mit zu einem geheimen Ort in irgendeinem fernen Gebirge nehmen. Dort würde sie ihm endlich in Ruhe sagen können, welche Gefühle in den letzten Wochen in ihr gewachsen waren. Was er in ihr auslöste.
Wie er wohl darauf reagieren würde?
Der gegen die Scheibe ihres Zimmerfensters prasselnde Regen erinnerte Mia an das weltuntergangsähnliche Wetter draußen und holte sie aus ihrer Fantasiewelt zurück in die Realität. Sie öffnete ihre Augen und verschränkte die Arme mit einem genervten Stöhnen hinter ihrem Kopf.
Vermutlich würde er sie auslachen. Oder er wäre sauer auf sie, weil er bei dem schlechten Wetter klitschnass werden würde. Außerdem würde er ihr wahrscheinlich vorwerfen, dass sie daran schuld wäre, wenn er durch ihren ungeplanten
Ausflug später todkrank im Bett liegen würde und dadurch den bevorstehenden Tourstart verpassen sollte.
Mit Schwung setzte sie sich auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und stellte die Füße auf das Bett. So konnte sie ihre Beine nah an ihren Körper ziehen und mit den Armen umschlingen. Ihr Kinn lag auf den Knien und sie fixierte einen Punkt auf dem ihr gegenüberstehenden Schreibtisch. Mia war verzweifelt.
Janos und ihr Bruder Alex waren seit Ewigkeiten befreundet und hatten vor zwei Jahren eine Band gegründet. Mias Eltern waren damit einverstanden, dass sie einmal die Woche bei ihnen im Keller probten. Heute war so ein Tag.
Anfangs hatte Mia sich häufig hinuntergeschlichen, um ihnen zuzusehen. Als Janos jedoch mit der Sängerin zusammenkam, hatte sie damit aufgehört. Sie hasste Jennifer! Und das nicht nur, weil sie zwei Jahre älter war als sie selbst und somit im gleichen Alter wie er.
Seit drei Wochen war das allerdings vorbei. Jennifer hatte mit Janos Schluss gemacht. Warum wusste Mia nicht. Aber das war ihr auch egal.
Erneut begann die Band einen Song zu spielen. Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Einsatz der Gitarre. Ihr Herz galoppierte bei den ersten Tönen sofort los. Sie sah ihn direkt vor sich. Mit gesenktem Kopf stand er in ihrer Vorstellung unten in dem kleinen Raum. Seine schwarzen Locken fielen ihm ins Gesicht, sodass sie gerade noch die untere Partie sehen konnte. Meistens verzog er beim Spielen merkwürdig seinen Mund, aber Mia fand das einfach nur süß. Genauso wie den Moment, wenn ein Song endete und seine blauen Augen für einige Sekunden irritiert durch die Gegend schauten. Eben der Moment, den er brauchte, um sich klarzumachen, wo er wirklich war. Er schien immer in eine vollkommen andere Welt einzutauchen, wenn er auf seiner Gitarre spielte. Mia würde ihr Leben dafür geben, ihm nur einmal dorthin folgen zu können.
Sie sah seine Hände vor sich, wie sie über die Saiten und das Griffbrett seiner Gitarre glitten. Jeder Fingertipp hinterließ ein Kribbeln auf ihrer Haut. Nicht dass sie genau wusste, wie sich seine Berührungen wirklich anfühlten, aber sie hatte eine ganz genaue Vorstellung davon, wie es sein würde. Lediglich wie ein Kuss von ihm schmeckte, das wusste sie genau. Ihre Finger fuhren über ihre Lippen, die er nach dem letzten Auftritt mit seinen berührt hatte. Und das auf eine Art, die sie niemals mehr vergessen würde.
Er hatte damals im Treppenhaus des Jugendtreffs gesessen, in dem die Band einen Auftritt gehabt hatte – und er war allein gewesen. Vorsichtig hatte sie sich ihm genähert und ihn eine Weile beobachtet. Sie bekam jetzt noch ganz weiche Knie, wenn sie daran dachte, wie er mit den Ellenbogen auf seinen Knien aufgestützt dasaß und die Hände seitlich in seine Locken geschoben hatte. Während sie noch darüber nachdachte, wie sie ihn ansprechen sollte, hatte ihr Herz einen irren Trommeltanz begonnen. Noch bevor ihr bewusst wurde, was geschah, hatte er plötzlich aufgesehen. Ihre Blicke hatten sich getroffen und die Welt war einfach stehen geblieben. In diesem Moment hatte es sich so angefühlt, als würde er bis in ihre Seele hineinsehen. Und genau da war es passiert.
Das, was sie in seinem Blick entdeckte, hatte wie ein Plektrum eine Saite in ihr angeschlagen und dieser besondere Ton hatte plötzlich in ihrem Innern Gestalt angenommen. Seine blauen Augen waren schließlich mit einer Spur Neugier über ihr Gesicht gewandert, während er so aussah, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben erblicken. Sie war innerlich fast durchgedreht, während er sie äußerlich in seinen Bann zog.
„Sie hat einfach diesen Kerl geküsst, um mir zu zeigen, dass zwischen uns Schluss ist!“
Seine Worte hatten ein Desaster in ihr ausgelöst. Sofort war sie davon überzeugt, aus dem von ihm angeschlagenen Ton in ihrem Innern mehr machen zu müssen. Also hatte Mia einfach das getan, was sie schon lange tun wollte.
Mit wenigen Schritten war sie bei ihm gewesen. Noch während er sich verwundert aufsetzte, hatte sie bereits sein Gesicht behutsam in ihre Hände genommen und ihn geküsst. Nein, eigentlich hatte sie nur ihren Mund auf seinen gelegt. Er war derjenige gewesen, der einen richtigen Kuss daraus gemacht hatte, indem er ihre vorsichtige Annäherung erwiderte und sie noch näher an sich heranzog. Plötzlich war aus dem Ton so etwas wie eine Melodie geworden. Ein Refrain, der sich in einer Endlosschleife immer und immer wiederholen und niemals mehr enden sollte. Als wären sie für kurze Zeit miteinander in seine geheimnisvolle Anderswelt eingetaucht, fuhr Janos ihr unter die Haut, tätowierte sich in ihr Herz und ließ jede Faser in ihr schwingen.
Sicherlich wäre Mia in diesem Kuss ertrunken oder ihr Körper hätte zu summen begonnen, wenn Jennifer nicht plötzlich hinter ihr gestanden hätte. Trotzdem sie an dieser ganzen Situation schuld war, machte sie eine abfällige Bemerkung und brachte Janos dazu, sich von Mia zu lösen und diese ruppig von sich wegzuschieben. Er schaute sie noch nicht einmal mehr an und ließ sie ohne ein Wort stehen. Einfach so.
Seither hatte sich sein Verhalten nicht mehr geändert. Er beachtete sie nicht mehr und tat so, als sei sie Luft. Selbst als sie ihn durch Zufall bei einer der Proben unten im Flur getroffen und ihn direkt angesprochen hatte.
Ständig schwankte Mia im Minutentakt zwischen Zweifel, Wut, Enttäuschung und simpler Hoffnung, während sie permanent diese Tonfolge, ihren gemeinsamen Refrain, in sich spürte. Er war zu einem Ohrwurm mutiert, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Es war zum Verrücktwerden!
Noch heute musste sie allerdings eine Entscheidung treffen. Morgen begannen die Sommerferien und Janos würde zwei Wochen lang mit ihrem Bruder jeden Abend in einer anderen Stadt spielen. Das war schon seit Langem geplant. Der Gedanke daran, nicht wenigstens ein Mal noch mit ihm gesprochen zu haben, war unerträglich. Aber wie sollte sie das anstellen, ohne sich furchtbar zu blamieren?
Verzweifelt warf sich Mia seitlich zurück in ihr Bett und drückte ihr Gesicht in das kühle Kissen.
In diesem Moment begann er unten im Keller erneut zu spielen. Mit jedem einzelnen Akkord, den er anschlug, brachte er sie an den Rand des Wahnsinns. Bis sie es nicht mehr aushielt.
Jetzt reichte es ihr!
Mia drückte sich aus dem Kissen hoch, sprang aus dem Bett und riss die Zimmertür auf. Die Türklinke bohrte sich in den Putz, der vergessen war, noch bevor er auf den Boden rieselte. Polternd rannte sie die Treppen hinunter, bis zur verschlossenen Kellertür. Ohne zu zögern, stürmte sie in den mit Matratzen und Dämmmaterial verkleideten Raum dahinter und stand im nächsten Moment vor Janos.
„Sag mal, Mia, hast du sie noch alle?“
Alex war wirklich sauer. Das hörte sie an seiner Stimme. Doch das interessierte Mia überhaupt nicht. Sie hatte nur Augen für Janos. Der bemerkte allerdings nichts von dem, was um ihn herum los war. Stattdessen spielte er einfach sein Solo weiter, in das Mia gerade hineingeplatzt war.
Wie erstarrt blieb sie vor ihm stehen. Das war unmöglich!
Man hätte behaupten können, dass er ihr mit dem, was er spielte, komplett den Wind aus den Segeln nahm. Allerdings fühlte es sich für sie eher so an, als stürmte eine unbändige Windböe direkt aus seinem Verstärker auf sie zu, um sie umzuwerfen. Innerlich musste sie sich mit aller Macht dagegenstemmen, um nicht völlig aus dem Gleichgewicht zu geraten. In ihrer Hilflosigkeit schloss sie für einen Moment die Augen, ließ seinen unverwechselbaren Gitarrensound wie Sommerregen auf sich niederprasseln und sog jeden einzelnen seiner Töne in sich auf, während er exakt die Melodie spielte, die Mia seit Wochen in sich spürte. Note für Note.
Im nächsten Augenblick wurde sie allerdings gepackt und kurzerhand rückwärts in Richtung Tür geschoben. Alex gab seltsame, knurrende Geräusche von sich und verfrachtete sie zurück vor die Kellertür.
„Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass du während der Proben hier nichts zu suchen hast, Mia“, maulte ihr Bruder sie an.
Plötzlich herrschte eine Todesstille, als sei sie in das Auge eines Tornados geraten. Erschrocken riss sie die Augen auf und schaute erst Alex an und ließ dann ihren Blick zu Janos schweifen.
Und da war er wieder. Dieser Moment der Irritation, des Auftauchens, der in Mias Bauch ein Feuerwerk entzündete, das seine Funken von innen auf ihre Haut legte und sie außen mit einer Gänsehaut bedeckte. Sie war kurz davor, seinen Namen zu sagen, ihn zu fragen, warum er sie nicht mehr wahrnahm. Endlich wollte sie ihm sagen, was sie fühlte. Egal, wer dabei war! Sie öffnete bereits ihren Mund, als aus Janos’ Irritation blanke Fassungslosigkeit wurde.
Im nächsten Moment hatte ihr Bruder die Tür zwischen ihnen zugeknallt. Die Sekunde davor kam ihr allerdings wie eine Ewigkeit vor. Noch bevor der Blickkontakt zwischen Janos und Mia abriss, flammte in ihr plötzlich der unerträgliche Gedanke auf, er könnte sich für sie schämen, ihren Auftritt übertrieben und ihr Verhalten albern finden.
Das tat weh.
Ohne eine Chance, sich dagegen wehren zu können, schossen ihr die Tränen in die Augen.
„Sorry“, hörte sie, wie Alex sich hinter der Tür für sie entschuldigte. „Lasst uns weitermachen. Mia spinnt in letzter Zeit ein bisschen.“
Nach einer Bemerkung, die sie nicht verstehen konnte, lachten alle. Mias Magen krampfte sich zusammen. Oder war es ihr Herz? Egal, sie musste hier weg.
Im Takt der Drumsticks, die zum Anzählen aneinandergeschlagen wurden, lief sie die Stufen hinauf zur Haustür und einfach auf die Straße. Während ihr die Regentropfen ins Gesicht klatschten und innerhalb kürzester Zeit ihre Kleidung bis auf die Haut durchnässten, stampfte sie mit weiten, wütenden und enttäuschten Schritten durch die Pfützen, in denen sich bereits überall auf den Bürgersteigen der sommerliche Platzregen gesammelt hatte.
„Mia, warte!“, hörte sie hinter sich rufen, doch weder ihr Verstand noch ihr Herz waren dazu bereit, darauf zu reagieren. Noch hatten sie zu viel damit zu tun, das zu verstehen, was gerade passiert war. Verdammt!
Wie hatte sie sich nur so blamieren können? Sie war ihm peinlich! Etwas Schlimmeres gab es doch gar nicht.
Sie hörte zwar die Schritte hinter sich und auch das Keuchen, aber erst als sie am Handgelenk gepackt wurde, um sie aufzuhalten, registrierte sie, dass ihr jemand gefolgt war.
Überrascht drehte sie sich um. Janos!
Vollkommen atemlos ließ er ihren Arm los und stützte sich auf seinen Knien ab, um nach dem Sprint wieder zu Atem zu kommen.
Mia hielt unweigerlich die Luft an. Nervös wartete sie auf das, was passieren würde, und trat dabei von einem Fuß auf den anderen. Ihre Hände wurden plötzlich überflüssig und sie vergrub sie schnell in ihren hinteren Jeanstaschen. Erst als er sich langsam zu ihr aufrichtete, holte sie tief Luft und spürte, dass eine Welle von Dissonanzen in ihr aufstieg, die sie nicht mehr aufhalten konnte.
„Was willst du?“
Sie schrie ihn nicht wirklich an, aber die Worte waren ihren Lippen aufgebrachter entflohen, als sie es sich gewünscht hätte.
Janos sah sie unverwandt mit einem furchtbar ernsten Gesichtsausdruck an. Die Zeit schien stillzustehen, während sie sich gleichzeitig wie Kaugummi in die Länge zog und seinen Blick unerträglich machte! Dieser nagte an ihr und bohrte sich in ihren Verstand. Was war hier los? Wie sollte sie jetzt reagieren? Konnte Janos nicht einfach irgendetwas von sich geben? Ein Knurren hätte ihr gereicht!
Aber es kam nichts von ihm. Rein gar nichts!
Vehement versuchte Mia die Melodie zu ignorieren, die weit entfernt zu ihr drang, als käme sie direkt aus seinem Brustkorb. Sie war schließlich sauer auf ihn!
Irritiert musste sie allerdings feststellen, dass der Regen ihre Wut wie eine überflüssig gewordene Schlammkruste abspülte und ihre wahren Gefühle für ihn sichtbar machte. Wenn sie darüber hinaus seinen Gesichtsausdruck richtig interpretierte, schien es ihm ähnlich zu gehen. Zwischen den Schulterblättern drückten ihre Flügel. Sie wollten hervorbrechen, damit sie ihn sich endlich schnappen und mit ihm verschwinden konnte. Ihr Herz trommelte gegen den Brustkorb, um freigelassen zu werden und zu ihm hinüber zu hüpfen.
„Mia, du bist fünfzehn!“
„Sechzehn!“
Er schluckte und biss auf seine Unterlippe.
„Du bist Alex’ kleine Schwester!“
„Und du sein bester Freund. Na und?“
Sie spürte in sich den Impuls, ihn an den Schultern zu packen und kräftig durchzuschütteln.
„Ich habe ihm mein Wort gegeben, Mia. Wegen der Band.“
Sie hatte bereits ihre Arme leicht gehoben, um ihn endlich zu berühren. Doch bei seinen Worten hielt sie abrupt inne. Verdammt! Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Wie bei einem Crescendo prasselten diese Worte auf sie ein und drückten sogleich den in ihr heimlich aufkeimenden Funken Hoffnung nieder, dessen Überreste mit dem Regenwasser in den nächsten Gully gespült wurden. Stattdessen entflammte erneut Mias Wut.
„Dann vergiss es einfach!“, schmetterte sie ihm enttäuscht entgegen.
Sie drehte sich um und wollte so schnell wie möglich verschwinden. Janos hielt sie allerdings erneut davon ab.
„Kann ich aber nicht, Mia!“
Überrascht sah sie über die Schulter zu ihm zurück. Ein wirklich tolles Lächeln stahl sich in sein Gesicht, das die Grübchen in seinen Wangen sichtbar und diese Melodie in ihr erneut lauter werden ließ.
„Ich höre dich ständig in mir.“ Dabei legte Janos eine Hand auf die Stelle, unter der sie sein Herz wummern spürte, eindringlich und im satten Sound einer Bassdrum. „Immer, jede Sekunde des Tages. Das geht nicht einfach wieder weg!“
Janos’ blaue Augen wirkten plötzlich noch intensiver und Mia traute ihren Ohren nicht. Hatte er das jetzt wirklich gesagt? Konnte es sein, dass er dasselbe empfand wie sie?
Neugierig drehte sie sich mit ihrem gesamten Körper zum ihm um und versuchte, ein breites Grinsen zu unterdrücken.
„Und ich dachte schon, du hättest sie nicht gehört.“
Er kam einen Schritt auf sie zu und berührte sacht ihr Gesicht, um es von einer nassen Strähne zu befreien. Dabei schüttelte er leicht den Kopf.
„Ich habe es versucht! Ehrlich! Aber diese Melodie kann ich einfach nicht ignorieren.“
Während er sich zu ihr hinunterbeugte, setzte das Decrescendo ein und brachte plötzlich vollkommen neue Harmonien hervor.
Noch bevor seine Lippen die ihren berührten, lachte Mia leise auf. Jetzt – genau in diesem Augenblick – waren Janos und sie dabei, die erste Strophe für ihren gemeinsamen Song zu schreiben.
„Mit vierzehn ist das Leben wirklich Kacke. Ich sage es einfach mal so, wie es ist. Alle denken, du bist groß, du könntest dein Leben und deine Probleme selbst in den Griff kriegen. Wenn sie überhaupt deine Probleme ernst nehmen. Manchmal glaube ich, Erwachsene denken, wir haben nichts, was uns das Leben schwer machen könnte, oder wir bilden es uns nur ein. Sie meinen, ihre Sorgen wären schlimmer. Haben die eine Ahnung. Die sind so dumm!
Mit meiner Mutter kann ich nicht darüber reden. Die weint immer sofort. Weiß nicht, ob sie wegen mir weint oder weil mein Alter vor zwei Jahren ausgezogen ist. Ich werde ihr auf keinen Fall noch mehr Probleme machen. Das will ich nicht. Die hat ihre eigenen. Deswegen verziehe ich mich immer hier oben hin, auf das Dach von unserem Hochhaus. Tolle Aussicht, echt!“
Schwindelerregende Höhe im Smartphone-Format.
Ich weiche ein Stück zurück. Irgendwie bin ich froh, dass es Nacht ist.
„Hier bin ich alleine und kann nachdenken. Manchmal denke ich dann an Annie, das Mädchen, das fliegen konnte. Ich vermute, sie ist die Einzige, die das schafft.“
Er lacht vor sich hin.
„Nee, ich meine nicht das mit dem Fliegen. Nein, das geht viel tiefer. Ich bin mir sicher, dass sie der einzige Mensch im ganzen Universum ist, der … ich sag es jetzt einfach mal … der mich zum … na ja, zum Lächeln bringt. Shit, ich weiß, wie bescheuert sich das anhört … aber ich bin mir ganz schön sicher, dass das stimmt … Ob sie wirklich fliegen kann, weiß ich nicht, aber ich habe mir immer vorgestellt, dass sie es könnte. Sie … sie war so … leicht.“
Der Wind rauscht über das Mikrofon. Im Hintergrund hört man einen Güterzug, der mit einem regelmäßigen Rhythmus über die Gleise schleicht. Ohne Erfolg. Tocktock. Tocktock. Tocktock.
„Als sie das erste Mal in unserer Klasse auftauchte, stand sie verängstigt an der Tür und ich bekam selbst Schiss, weil ihre blauen Augen so weit aufgerissen waren, dass ich fürchtete, sie könnten rausfallen. Bekloppt!“
Wieder lacht er. Dann zündet er sich eine Zigarette an. Einige Versuche braucht er, legt das Handy an die Seite. Er sitzt auf der Kante des Daches.
Ich beuge mich vor, stütze mich auf meine Ellenbogen und lege das Kinn auf meine Daumen, die restlichen Finger verschließen meine Lippen. Was kommt jetzt?
„Von da an saß sie auf dem Platz genau vor mir. Mann, ich konnte mich kaum konzentrieren. Ständig musste ich auf ihre langen, blonden Haare starren. Eigentlich waren sie total glatt, aber irgendwie hatten sie so ganz kleine Wellen, die das Sonnenlicht, das direkt vom Fenster darauf schien, in sich aufnahmen und in ein unglaubliches Glitzern und Funkeln verwandelten. Ich konnte gar nicht genug davon kriegen, mir dieses Lichterspiel anzusehen. Manchmal konnte ich mich kaum zusammenreißen, denn ich hätte es gerne mal in meinen Händen gefühlt. Wollte nur wissen, ob es auch so weich war, wie es aussah. Dran zu schnuppern wäre natürlich das Größte gewesen.“
Ich höre ihn tief ein- und ausatmen, einem bedauernden Seufzen gleich.
„Aber das habe ich mich natürlich nicht getraut.“
Als würde er in seinen Gedanken alle diese Situationen in der Schule noch einmal im Geiste durchleben, dauert es eine Ewigkeit, bis er weitererzählt.
„Ich habe sogar ein Gedicht geschrieben, nachdem sie wieder weg war.“
Es raschelt, er zieht offensichtlich etwas aus der hinteren Hosentasche.