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Markus Preiß

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Beschreibung

Fremd unter Freunden Stabil, selbstsicher, wohlhabend. Langweilig, aber meist Klassenbester. Lange blickten unsere europäischen Nachbarn neidisch, aber voll Respekt auf Deutschland. Doch die Dominanz in der EU ist erschüttert. Putins Ukraine-Krieg hat Deutschlands Schwächen offengelegt: Wirtschaftlich anfällig, strategisch naiv und längst nicht so modern, wie wir denken. Brüssel-Experte Markus Preiß analysiert angesichts der Zeitenwende Deutschlands Stellung in Europa. Das Land muss sich neu positionieren. Wie wird es sich dabei verändern? Und wie die Machtbalance in der EU? Was Preiß abseits offizieller Termine von führenden Politikern und Insidern erfährt, fügt er zu einem klärenden Blick auf ein Land zusammen, das für Europas Zusammenhalt unverzichtbar ist.

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Seitenzahl: 383

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Über das Buch

»Wir erleben eine Zeitenwende« – nach rund zwei Jahrzehnten sorgenfreier, selbst- bewusster und mitunter arroganter Überlegenheit in der EU ändert sich das Standing Deutschlands in Europa. Der wirtschaftliche Erfolg, die Basis für die deutsche Stärke, wankt. Putins Ukraine-Krieg hat auch die Vorstellung unserer Nachbarn von einem kühl abwägenden und sicher urteilenden Deutschland wie einen Schleier weggerissen. Zu sehen sind jetzt: eine höchst anfällige Energieversorgung in Europas größtem Industrieland, eine militärisch praktisch wehrlose Nation, eine oft gefährlich China- fixierte Wirtschaft, politische Fehleinschätzungen trotz deutlicher Warnungen, ein Land mit vielen aufreißenden Gräben.

 

Brüssel-Experte Markus Preiß untersucht vor diesem Hintergrund die Rolle Deutschlands in Europa. Wie wird sich das Land verändern? Wer in Europa übt dabei Druck aus? Welche Folgen hat das für die Machtverhältnisse in der EU?

Und: Welche Optionen hat Deutschland, um seine zentrale Rolle in Europa künftig zu behaupten? Was Preiß abseits des offiziellen Politbetriebs von führenden Politikern und Diplomaten sowie auf Reisen durch Europa erfährt, fügt er zu einem klärenden Blick auf die Bundesrepublik zusammen – eine Nation, die angezählt, für Europas Stärke aber unverzichtbar ist.

Markus Preiß

Angezählt

Warum ein schwaches Deutschland Europa schadet

Inhaltsverzeichnis

Widmung

EINLEITUNG

Kapitel 1 PARADIES

Bergamo

Eintagsfliegen

Europäische Geschenke

Werkbank

Ordnung muss sein

Kapitel 2 ARROGANZ

Tod am Nachmittag

Paria

Berliner Republik

Zuchtmeisterin

Hippie-Staat

Allein im Élysée

750 Milliarden

Paradox

Kapitel 3 BLANK

Flugzeugträger-Parkplätze

Das Böse

Last goodbye

Überschall

Hardware

Zeitenwende

Kapitel 4 LEBENSLÜGEN

Das beste Land der Welt

Belgium rules

Milchkannen

Just in time

Pipelines

Neuanfang

Kapitel 5 MACHTVERSCHIEBUNGEN

Attaque française

Polen

Echo, Echo, Echo, India

Freedom Fighters

Nachbarn

Kapitel 6 PANIKMODUS

Der seltsame Herr Scholz

Brandbrief

Bestellvorgänge

Whatever it takes

Doppelwumms

Deckel drauf

Kapitel 7 DEUTSCHE FÜHRUNG

Handwerker

Die unverzichtbare Nation

China

Boden und Schätze

Boris P.

Money, money, money

Diplompsychologen

Kapitel 8 DIE USA EUROPAS

Coke on ice

Fahnenflucht

Die Bombe

Parlamentsvorbehalt

Lower hanging fruits

Kapitel 9 DER MODERNE HIGHTECH-HUB

Der Straßenschreck

Oh, wow!

Die fortschrittlichste Regierung der Welt

Boat Race

Die Büchse der Pandora

Ihr Einsatz, bitte!

Kapitel 10 EUROPAS INTEGRATOR

Frauenpower

Schönen Dank für die Frage

The Future is Europe

Get out the vote

Perfekte Bedingungen

Brüssel ist so langweilig

Verträge

NACHWORT

You’re too brave. Nothing ever happens to the brave.

Ernest Hemingway, A Farewell To Arms

EINLEITUNG

Ich weiß nicht, warum Annalena Baerbock immer diesen Zettel dabeihat. Ein kleines Papier, Größe etwa A5, oft einmal gefaltet. Eng beschrieben ist er meistens. Die Außenministerin klammert sich daran, wenn sie in Brüssel vor unseren Kameras steht. Die Ukraine darf nicht alleingelassen werden. Die Mullahs in Teheran müssen mit neuen Sanktionen rechnen. Immer wieder blinzelt Baerbock an sich selbst herunter, um zu erahnen, was da handschriftlich in ihren Notizen steht. Um bloß nichts zu vergessen. Schon gar nicht den Hinweis auf das wirklich gute Treffen mit den Kolleginnen aus Frankreich oder Belgien zur feministischen Außenpolitik. Sie wirkt unsicher, weil sie besonders sicher wirken will. Manchmal fast wie eine Schülerin, die ein Gedicht aufsagen muss. Wenn es gar nicht anders geht, wenn der Redefluss langsam stockt oder sich besonders überschlägt, weil sie selbst nicht mehr weiß, was in ihrem Statement gleich folgen sollte, versucht sie, so unauffällig wie möglich auf ihren Zettel zu schauen. Nur ein Blinzeln nach unten, das hoffentlich keiner sieht. Und das jeder sieht. Genau das vermittelt den Eindruck, sie sei ziemlich nervös vor den Kameras – auch nach vielen Monaten im Amt. »Gemeinsam« ist das Wort, das ihr immer wieder Zeit verschafft, wenn sie bei ihrem Auftritt einen kleinen Hänger hat. Wie andere ein »ähm« fügt sie gern ein »gemeinsam« als rhetorische Hängebrücke in ihre Sätze. »Gemeinsam« ist immer gut. Entschlossen und durchdacht. Doch bei dem Versuch, ohne hinzuschauen das zu sagen, was sie sich aufgeschrieben hat, liegt Baerbock regelmäßig sprachlich daneben. Sei es mit einem völlig verdrehten Namenskürzel einer internationalen Organisation. Oder aber mit einem größeren sprachlichen Versehen: Das schlägt dem Fass die Krone aus.

Doch Annalena Baerbock kann auch anders. Ganz anders. Immer dann, wenn die Türen verschlossen sind. In sogenannten Hintergrundgesprächen blüht die Außenministerin förmlich auf. Sie zeigt, dass sie ihre Themen kennt. Sie spricht frei, engagiert, oft witzig, selbstironisch. Wenn Journalisten sie hart befragen, kontert sie mit ebenso harten Gegenargumenten. Ihre Lieblingsthemen verteidigt sie, auch wenn ihre Pressesprecher schon lange drängeln, man müsse zum nächsten Termin. Dann schlägt sie die Beine noch mal übereinander, die Augen funkeln, sie rutscht auf ihrem Stuhl nach vorn. Nein, nein. Noch ein Wort zum hybriden Kriegsverbrechertribunal, das sie für die Verfolgung russischer Gräueltaten in der Ukraine vorgeschlagen hat. Es bleibt natürlich nicht bei einem Wort. Die Pressesprecher werden ungeduldig. Baerbock spricht weiter, ist Feuer und Flamme. In solchen Runden erlebt man eine andere Annalena Baerbock. Man versteht, wie Deutschlands Chefdiplomatin denkt. Man erfährt mehr über die größeren Linien. Die Hintergründe. Die Kämpfe, die sie täglich ausficht – in der Berliner Koalition, mit den europäischen Kollegen, bei Treffen auf der ganzen Welt. Man spürt, wo politische Prioritäten sind, wirkliche Leidenschaften. Manchmal schimmert sogar durch, wo sie verletzt ist. Und man fragt sich: Warum spricht sie nicht immer so? Warum wirft sie nicht endlich ihren Zettel weg?

 

Über die Jahre habe ich Hunderte solcher Hintergrundgespräche erlebt. Mit Außenministern, mit Kanzlern und Präsidenten, mit Generälen, Staatssekretären, Wirtschaftsbossen und Wissenschaftlern. Mit britischen Spitzenbeamten, seriös bis in die Haarspitzen, die plötzlich die Brexit-Kapriolen von Boris Johnson als Regierungslinie vertreten müssen. Und die illoyal wären, wenn sie öffentlich an der Genialität des Herrn in Downing Street zweifelten. Ich habe Mediziner erlebt, die während der Corona-Krise mit Tränen in den Augen einen ungeschönten Blick auf die desaströsen Zustände in manchen Krankenhäusern gaben. Und darauf, wie wenig vorausschauende Planung es in unseren vermeintlich so modernen europäischen Ländern gibt. Ich habe Botschafter getroffen, die auspackten. Darüber, wie sehr ihr Land mit der EU spielt. Wie man in ihrer Hauptstadt versucht, »Geld zu melken«. Und Brüssel obendrauf noch als Sündenbock nutzt, für die Probleme, die man selbst daheim nicht gelöst bekommt.

»Hintergründe« sind ein Traum für Journalisten, die die Welt besser verstehen wollen. Die begreifen wollen, wie Dinge zusammenhängen. Sehen, wo Politiker nervös werden. Worauf sie besonders hinweisen wollen – und umgekehrt, wovon sie gern ablenken. Hintergründe sind ein Albtraum für Journalisten, die eine Schlagzeile brauchen. Die jedes dieser Treffen sofort verwerten müssen. Denn egal wie die Hintergründe genannt werden (in Brüssel spricht man oft von »off the record« – deutsch: nicht zum Aufnehmen, nicht fürs Protokoll – oder »deep background«), eines ist immer Bedingung: Wer genau der Gesprächspartner war, der mit mir gesprochen hat, wird nicht offengelegt. Auf keinen Fall der Name. Meist nur ganz allgemein die Funktion. Das sind dann die berühmten »EU-Diplomaten«. Manchmal nicht mal die Funktion. »Eine deutsche Kanzlerin« wäre leicht zu identifizieren. Und manchmal bitten die Quellen, wie wir Journalisten die Gesprächspartner nennen, auch darum, dass man das Gesagte gar nicht verwendet. Einfach, weil der Kreis derjenigen, die zum Beispiel an einer Entscheidung beteiligt waren, so klein ist, dass eine Berichterstattung den Gesprächspartner intern, in seiner Regierung, in seiner Behörde, in seiner Firma, sofort verdächtig machen würde. All diese Schichten der Vertraulichkeit schützen die Gesprächspartner, die in ihrer Funktion eigentlich gar nicht öffentlich sprechen dürften – und wenn, dann auf keinen Fall so offen und schonungslos. Ohne »Hintergrund« bleibt es also langweilig, der Gesprächspartner übervorsichtig, das Gesagte politisch-weichgespült wie oft der Text auf Baerbocks Sprechzettel.

Ich habe diese Hintergrundgespräche immer förmlich aufgesaugt. Diskretion ist eine zentrale Voraussetzung für den Zugang zu brisanten Informationen, selbst wenn es einem noch so sehr unter den Nägeln brennt und man nicht sofort in der Tagesschau berichten kann, was man soeben erfahren hat. Natürlich ist auch bei »Hintergründen« höchste Vorsicht angesagt: Denn kaum jemand spricht völlig freimütig und ohne eigene Interessen. Dennoch lohnt es sich, aufmerksam zuzuhören. Über die Jahre wächst nämlich aus all diesen Eindrücken und Fakten etwas deutlich Wertvolleres. Das Gefühl, halbwegs zu verstehen, was in der EU oder auch in der Bundesregierung passiert. Die Motive der Handelnden besser zu kennen. Zu merken, wo Politiker empfindlich sind, worüber sie ungern reden, wovon sie ablenken wollen. Das hilft, nicht oder zumindest weniger oft reinzufallen auf Inszenierungen, etwa wenn ein Politiker plötzlich »auf eigenen Wunsch« einen neuen Posten besetzt. Einschätzen zu können, ob an der Eilmeldung, wegen der die Kollegen aus Hamburg gerade aufgeregt am Telefon sind, etwas dran sein kann. Und die Stärke, sich gelegentlich mal richtig in den Wind stellen zu können. In manchen Momenten etwas völlig anderes zu berichten als fast alle Konkurrenten. Weil man genau weiß, dass man an einzelnen Punkten einen tieferen Einblick hat.

Was ich aus den Hintergrundinformationen mache, sind vor allem redaktionelle Entscheidungen: Wo müssen mein Team und ich genauer hinschauen? Welchem Narrativ sollten wir mit größter Vorsicht begegnen? Welcher vertrauliche Hinweis kann durch eigene Recherche zu einer Geschichte werden, die man dann doch veröffentlichen kann? Und ich nutze die Informationen für hintergründige Liveschalten. Vor allem die Tagesthemen sind daran immer interessiert. Ich fasse zusammen, was ich weiß – ohne die Anonymität der Quellen zu gefährden. Das ist für mich ein fairer Deal. Ich kann zwar nicht immer Ross und Reiter nennen, muss manchmal etwas schwammiger sein, als ich es selber möchte. Aber ich kann unsere Zuschauer hintergründig informieren, komme etwas näher an das heran, was wirklich passiert, ohne dabei das Vertrauen zu brechen, dass mir meine Gesprächspartner entgegengebracht haben. Dass sorgfältig und fürsorglich mit den Informationen umgegangen wird, merken die Quellen natürlich genau. Und öffnen sich im Idealfall noch weiter. In den jahrelangen Brexit-Verhandlungen tat das etwa einer der Unterhändler. Wenn der Londoner Boulevard einen »Durchbruch« meldete, reichte oft eine SMS von mir – in dem Fall direkt an den Verhandlungstisch. »True?«, fragte ich. Zehn Sekunden später die Antwort: »No.« Noch ein paar weitere Telefonate, dann war die Richtung meiner Liveschalten aus Brüssel endgültig klar. Auch wenn der Moderator im Fernsehstudio immer weiterbohrte: »Der Observer meldet aber …« – den wirklichen Brexit-Durchbruch gab es erst Jahre später.

Tausende Gespräche. Hunderte Reisen. Viele, viele Gipfel. Brüssel ist unter Journalisten dafür bekannt, dass sie Spitzenpolitikern hier besonders nahe kommen können. Bei jedem Europäischen Rat befragen mein Team oder ich persönlich den französischen Präsidenten, den deutschen Kanzler, den Präsidenten aus Litauen, die Ministerpräsidentin aus Estland, die Chefin der EU-Kommission. Alles ist möglich. Als Reporter bei der NATO ist es nicht ausgeschlossen, seine Fragen direkt an Donald Trump oder Joe Biden zu richten. Das ist ein Privileg, von dem Korrespondenten andernorts nur träumen können. In Washington, Paris oder Moskau ist es selbst für große ausländische Medien wie die ARD keinesfalls ausgemacht, dass man mit dem jeweiligen Staatsoberhaupt jemals auch nur ein Wort wechseln wird.

Das ist der Zauber von Brüssel. Einer Stadt, die oft als grau wahrgenommen wird. Als Inbegriff der Bürokratie, mit dem Flair staubiger Verwaltungsakte, wo man sich um aus der Zeit gefallene Dinge wie Karottenkategorien und Butterberge kümmert. Wo man immer noch eine weitere nervige Regelung in petto hat, die Mittelständlern in Bamberg oder Warendorf das Leben verkompliziert. Doch diese Stadt und die EU, für die »Brüssel« zum Synonym geworden ist, haben sich radikal verändert. Brüssel ist Europas heimliche Hauptstadt geworden. Und ich hatte in meinem Journalistenleben das Glück, bei diesen Veränderungen, bei dieser politischen Gewichtszunahme, dabei zu sein.

»Ich habe Brüssel immer als großen, grauen Moloch wahrgenommen«, sagte Anfang 2006 einer meiner Vorgänger in dieser Stadt, der WDR-Kollege Jürgen Thebrath. Na prima, dachte ich. Gerade hatte mein damaliger Chefredakteur Jörg Schönenborn in der morgendlichen Stehkonferenz verkündet, dass ich demnächst als EU-Korrespondent berichten würde. »Also ich fand’s klasse«, widersprach Markus Schmidt, ein anderer Ex-Brüssel-Korrespondent in der Runde. Natürlich bin ich in den nächsten Tagen lieber mit ihm mittagessen gegangen, um mich auf die neue Aufgabe vorzubereiten: mit gerade mal 28 Jahren, als einer der jüngsten Fernsehkorrespondenten, den die ARD je ins Ausland schickte.

Doch die Ambivalenz gegenüber dem »grauen Moloch« lebte auch in mir selbst. Moskau. Nairobi. Notfalls Amerika. Das waren die Ziele, von denen ich träumte. Von Reportagen, von Begegnungen mit Tschuktschen und Inguscheten, von wilden, epischen Landschaften, von staubigen Steppen und tiefgefrorener Tundra. Von Autopannen mitten in der Wildnis wie bei Gerd Ruge, Fritz Pleitgen oder Klaus Bednarz. Brüssel stand ganz, ganz hinten auf meiner Liste vom Traum als Auslandskorrespondent. Genau genommen stand es gar nicht drauf. Staatssekretären und Beamten zu begegnen erschien mir längst nicht so verlockend wie eine Reise zu den Warlords im Kaukasus. Dass auch die Brüsseler Geschöpfe ein ziemlich exotisches, aufregendes Völkchen formen, das man ebenfalls mit einer gewissen ethnologischen Brille beobachten kann, begriff ich erst später. Und genau deshalb wollte ich nach meiner Junior-Zeit von 2006 bis 2011 (nach fünf Jahren ist in der Regel Schluss für Auslandskorrespondenten) schnell wieder zurück nach Brüssel. Die Leitung des ARD-Europastudios zu übernehmen war in den Jahren vor 2016 mein großes berufliches Ziel. Brüssel war plötzlich und leidenschaftlich ganz nach vorne gerückt auf meiner Liste.

Babylon Brüssel fasziniert: Souveräne Franzosen. Elegante Italiener. Schüchterne Polen. Und unauffällige bis langweilige Deutsche. Menschen, die sechs Sprachen sprechen. Das tägliche EU-Experiment, aus unterschiedlichen Kulturen und Mentalitäten einen Dschungel von Paragrafen zu machen, ist ein kleines Wunder. Zudem hat Brüssel in den letzten knapp 20 Jahren unglaublich an Bedeutung gewonnen. 2004 erweiterte sich die EU von 15 auf gleich 25 Länder. Estland trat bei, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Zypern und Malta. Dieser Schritt sollte den Westen Europas zunächst viel Geld kosten. Hunderte Milliarden Euro flossen den neuen Mitgliedern zu. Aber die Integration von Mittel- und Osteuropa war auch ein Grundstein für den fast schon beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung, den Deutschland in den Folgejahren nahm. Die EU-Erweiterung vergrößerte die Werkbank deutscher Firmen. Mit gut ausgebildeten Arbeitskräften und niedrigeren Kosten in Ungarn oder der Slowakei. Es waren also keinesfalls nur deutscher Fleiß und Ordnungsliebe, die unser Land in den letzten 20 Jahren wieder zu einem Wirtschaftsriesen gemacht haben. Dazu später mehr.

Kurze Zeit nach der Osterweiterung betrat eine Frau die Brüsseler Bühne, die zu einer großen Figur der europäischen oder zumindest der EU-Geschichte werden sollte. 2007 kämpfte die noch neue Kanzlerin Angela Merkel, gerade ein Jahr im Amt, um modernere Arbeitsweisen und für eine bessere Entscheidungsfindung in der vergrößerten Gemeinschaft. Den pathetischen Verfassungsvertrag hatten Niederländer und Franzosen zuvor 2004 in Volksentscheidungen abgelehnt. Es musste etwas anderes, Nüchterneres her. Die Aufgabe fiel den Deutschen und den Portugiesen zu, die 2007 die EU-Ratspräsidentschaft innehatten, eine alle sechs Monate in fester Reihenfolge zwischen den Mitgliedsstaaten weiterwandernde Chefrolle. Und Deutschland und Portugal lieferten. 2007 stand der Vertrag von Lissabon: Deutschland hatte den diplomatischen Punch geliefert, Portugal die Kulisse. Von »Verfassung«, wie es noch einige Jahre zuvor angedacht war, fand sich in dem Text allerdings nichts mehr. Alles, was auch nur an einen Bundesstaat erinnern könnte, was Emotionen hervorrufen, was Konkurrenz zu Nationalstaaten schaffen könnte, wurde in diesem Vertrag gestrichen: keine offizielle EU-Flagge. Kein Wort von Beethovens Neunter als Hymne. Alles schön sachlich. Dazu Verabredungen, öfter mit Mehrheit zu entscheiden – etwa in Fragen der Wirtschafts- oder Agrarpolitik. Und: zwei neue Jobs. Die neu geschaffene Position des EU-Ratspräsidenten sollte die EU-Gipfel professionalisieren. Die Effizienz der europäischen Machtmaschine sollte nicht davon abhängen, wie gut der zufällig amtierende Vorsitzende aus dem Land der Ratspräsidentschaft die Treffen der Staats- und Regierungschefs konzipierte und führte. Und der neue Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik war der Versuch der EU, mit einem Gesicht und mit einer Stimme in der Welt aufzutreten. Der Gipfel in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon am 18. und 19. Oktober 2007 ist mir noch in guter Erinnerung. Das Gefühl, dass dort etwas Historisches passiert sei, beseelte viele.

Die politische Gewichtszunahme der EU ging rasant weiter: Die Banken- und die anschließende Eurokrise in den Jahren 2007 bis 2011 – und dann in Verlängerung bis 2016 – machten nicht nur den Bewohnern des Planeten Brüssel deutlich, wie sehr der Kontinent durch den Euro und den Binnenmarkt wirtschaftlich verflochten war. Jede nationale Entscheidung, jedes Schuldenmachen, jedes Sparen hatte Auswirkungen auf alle.

Es folgten 2015 und 2016 die Millionen Flüchtlinge, die vor allem aus dem Bürgerkriegsland Syrien, aber auch aus Afghanistan, dem Irak, Eritrea ungebremst, unkontrolliert, unversorgt, unvorbereitet zu uns kamen. Auch hier wurde deutlich: Nationale Politik wie Angela Merkels »Wir schaffen das!« kann ganz Europa verändern. Umgekehrt kann selbst konsequenteste nationale Politik wirkungslos bleiben: Ein striktes Schließen seiner Häfen für Flüchtlinge entschärft die Lage für Italien längst nicht mehr. »Europa wird in Krisen geschmiedet. Und es wird die Summe der zur Bewältigung dieser Krisen verabschiedeten Lösungen sein.« Gesagt hat das der Franzose Jean Monnet, einer der Gründerväter der EU. Wenn er recht hat, dann müsste es rasant vorwärtsgehen mit der Entwicklung der Gemeinschaft. Eine einzige Zukunftsschmiede, in der die Funken nur so fliegen. Wie von einem riesigen Blasebalg werden immer neue Probleme und Krisen in die europäische Glut geblasen. Krisen gehen Europa offenbar nicht aus. Den Beben der Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrisen folgten in schnellem Rhythmus die Brexit-Entscheidung der Briten und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016. Das Corona-Virus legte sodann 2020 die nationalen Egoismen schonungslos offen. Als es vermeintlich um Leben und Tod ging, behielt das zunächst kaum betroffene Deutschland seine Atemschutzmasken zurück, die in Bergamo so dringend gebraucht wurden.

Diese Krisen und das anschließende Hämmern und Schmieden habe ich aus nächster Nähe erlebt. Die dramatischen Momente, die Helden und Verlierer, die paradoxen Lösungen. »Don’t ask me to explain the inexplicable«, sagte mir ein EU-Beamter nach jener Nacht, als der vermeintliche Ausweg im Brexit-Streit formuliert wurde. »Bitten Sie mich nicht, das Unerklärliche zu erklären.« Ich hatte ihn danach gefragt, ob er meine erste Einschätzung teile, nach der vollkommen widersprüchliche Dinge im Brexit-Vertrag stünden. Oder dieser Moment: »Es ist wie ein Boxkampf. Blaue Ecke: Ungarn. Rote Ecke: der Holländer. Ich weiß nicht, warum er mich so hasst«, schimpft Ungarns Ministerpräsident einige Monate später in unser Mikrofon. Er ist bei einem Spaziergang im Brüsseler Parc Léopold unterwegs, als man schon seit Tagen bei einem der längsten Gipfeltreffen der EU-Geschichte um viele Hundert Milliarden Euro Corona-Hilfen streitet. Der böse Mann in Orbáns imaginärer roter Ecke ist der niederländische Regierungschef Mark Rutte. Der pocht zum Ärger Orbáns – und natürlich zur Selbstprofilierung als harter Hund – extrem auf Sparsamkeit. Und noch schlimmer für Orbán: Er besteht darauf, dass man schon ein Rechtsstaat sein müsse, wenn man so viel Geld von der EU wolle. Zwei Tage später treffen wir Orbán wieder. Satt und auftrumpfend: »Manche wollten uns hier ja …, nun ja … ich würde nicht sagen: erniedrigen. Aber doch: belehren«, erklärt er, diesmal in der Botschaft Polens. Um dann schmunzelnd fortzufahren: »Aber wir haben es nicht nur geschafft, ein schönes Päckchen Geld zu bekommen. Wir haben auch den Stolz unserer Nation gerettet.«

Brüssel ist immer mehr der Schauplatz für die großen politischen Kämpfe auf unserem Kontinent. Und fast immer ist Deutschland der zentrale Akteur. Mit mehr als 80 Millionen Einwohnern ist das nicht überraschend. Doch die meisten Einwohner in der EU hatte Deutschland schon immer. Seine politische Dominanz aber ist erst seit etwa 15 Jahren so ausgeprägt. In der Euro-Krise polterte Wolfgang Schäuble von »isch over« und beschied seinem Finanzministerkollegen aus Griechenland wie einem Lehrling: »Just do it!« Brennende Deutschlandfahnen in Athen und Transparente, die die Bundeskanzlerin mit Hitlerbärtchen zeigten, waren die Folge. Die Flüchtlinge kamen 2015 aus Sicht vieler Europäer nur deshalb in so großer Zahl zu uns, weil Deutschland berauscht war von seiner »Willkommenskultur«. Hinter den Kulissen begegneten mir viele Beamte mit Kopfschütteln. »Ihr seid doch die, die Griechenland immer die Regeln gepredigt haben. Und jetzt setzt Berlin eigenmächtig die Asylregeln und de facto das Dublin-Abkommen außer Kraft.« »Viel Spaß, das alles in Deutschland zu bewältigen«, war noch der freundlichste Sarkasmus, den ich zu hören bekam.

Während der Brexit-Verhandlungen fühlte ich mich als deutscher Korrespondent zeitweise wie eine Mischung aus Spionage-Asset und Botschafter meines Landes. Immer wieder gab es Einladungen von britischer Seite, Gespräche, Diskussionen, Abendessen und auch zweimal eine »Tea-Time«: »Was will Merkel?«, versuchten die Briten, von mir zu erfahren. Wie hart wird Deutschland den Ausschluss Großbritanniens aus dem Binnenmarkt forcieren? Kann das wirklich im Interesse von VW und Siemens sein? Für die Briten war klar: Deutschland macht in der EU die Ansagen.

Am Morgen des 24. Februar 2022 aber sieht die Welt noch einmal ganz anders aus. Russland hat die Ukraine überfallen. »Wir erleben eine Zeitenwende«, sagt der gerade erst drei Monate amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz wenige Tage später im Bundestag. Als Beschreibung der Lage würden das sicher viele in der EU unterschreiben. Aber für kaum ein Land stimmt das Wort von der Zeitenwende so konkret, so vielschichtig, so fundamental wie für Deutschland.

Denn Litauen erlebt keine Zeitenwende, weil es sich schon länger in genau jener Zeit wähnte, in der es Russland einen Krieg zutraut. Auch Polen hatte diese neue Zeit lange vorausgesehen, viele US-Soldaten ins Land geholt, um genau für diese Lage Washington möglichst stark an sich zu binden. Polen hatte die Deutschen zudem eindringlich gewarnt – vor dem Bau einer zweiten Nordstream-Pipelineröhre. »Wir erleben eine Zeitenwende« mag für Europa insgesamt stimmen. Aus historischer Perspektive. Als Überschrift. Doch von vielen Politikern höre ich, korrekter wäre: »Ihr erlebt eine Zeitenwende. Ihr Deutschen!«

Die russischen Luftschläge treffen in diesen Tagen und Wochen nicht nur Wohnhäuser in Kiew und Hochöfen in Mariupol. Sie treffen auch das Rückgrat der Bundesrepublik. Die Versorgung mit Energie in einem der größten Industriestaaten der Erde steht plötzlich infrage. Genauso die über Jahrzehnte so bequeme wie beruhigende Vorstellung, man könne überall Geschäfte machen – und tue damit Gutes. Die russischen Granaten treffen die internationale Ordnung, die Regeln und Gesetze des weltweiten Miteinanders, die den deutschen Wohlstand ermöglichen und für die wir selbst nie härter kämpfen mussten als vor einem internationalen Gericht. Die Panzer mit dem »Z« treffen auch die deutsche Selbstgefälligkeit, es besser zu wissen als andere. Abgeklärter zu sein, smarter, und nicht so schreckhaft. Der Kaiser hat keine Kleider an. Wie es im Märchen die Kinder erkennen, sieht das beim Blick auf Deutschland am 24. Februar 2022 jeder in Europa.

Jetzt muss der Kaiser sich neu kleiden. Deutschland ist gezwungen, sich zu ändern – und ist schon dabei. Doch wenn sich die zentrale Kraft der EU so fundamental wandelt, wird das Folgen für Europa haben. Genau darum soll es in diesem Buch gehen. Ich versuche einen Blick hinter die Kulissen von Pressekonferenzen und öffentlichen Statements zu geben. Meinen Blick auf das wichtigste Land für den Zusammenhalt des politischen Europas: die Bundesrepublik. Und darauf, wie dieses Land derzeit herausgefordert wird. Lange haben wir Deutschen aus einer entspannten Position auf die verschrobenen Briten geschaut, die sturen Griechen, die chaotischen Italiener, die undankbaren Ungarn. Nun steht Deutschland angezählt da: wirtschaftlich, militärisch, finanziell, innen- und außenpolitisch.

Kapitel 1PARADIES

Bergamo

Das passiert nicht oft. »Mach, so lange du willst. Die Zeit spielt keine Rolle. Hauptsache, du zeigst das.« Normalerweise ist das Schreiben und Schneiden eines Films für die Tagesschau um 20 Uhr ein Feilschen um jede Sekunde. Viele Korrespondenten in Deutschland oder aus dem Ausland möchten jeden Tag einen Platz in Deutschlands wichtigster Nachrichtensendung ergattern. Und 15 Minuten Sendezeit von 20 Uhr bis 20:15 Uhr sind schnell vergeben. Eine Minute und 30 Sekunden. Eine Minute, 45 Sekunden. Wenn es ganz gut läuft: zwei Minuten. Die Kürze der Beiträge und die hohe Konkurrenz um einen der üblicherweise fünf bis sechs Plätze für Filmberichte sind der Preis dafür, bis zu 13 Millionen Zuschauer zu erreichen. Das Team von ARD-aktuell, angesiedelt beim NDR in Hamburg, weiß um seine Macht. Die Kolleginnen und Kollegen entscheiden, welches Thema es in die Sendung schafft, von wem und in welcher Länge.

Doch heute Abend habe ich die Macht. Wir sitzen an diesem Samstag, dem 21. März 2020, schon seit dem Nachmittag an einem Bericht. Darüber, wie sich die EU auf das geheimnisvolle Corona-Virus einstellt, das zuerst in China aufgetaucht ist. Wie die Schuldenregeln vorübergehend außer Kraft gesetzt werden können. Wie den Staaten finanziell so ziemlich alles erlaubt wird, um die Wirtschaft in Gang zu halten. Wichtige, grundsätzliche Entscheidungen. Aber auch alles sehr technisch, alles noch etwas unkonkret. Plötzlich tauchen Bilder aus Italien auf. Dunkelgrüne Armeefahrzeuge mit riesigen Reifen. Sie wirken gewaltig, wie eindringende Roboter auf den Landstraßen Norditaliens. In der Region Bergamo ist das Militär angefordert worden, um all der Leichen Herr zu werden. In einer gespenstischen Prozession bringen die Fahrzeuge die Särge in die Krematorien. 800 Menschen, so sagen es die lokalen Behörden, sind in den letzten 24 Stunden an und mit Corona gestorben. 800 Menschen an einem Tag. Es sind Bilder, die mich schockieren. Und die unbedingt gleich in der Sendung gezeigt werden sollen. »Es ist ernst. Nehmen Sie es ernst«, hatte Angela Merkel gerade über das Corona-Virus gesagt. Mir ist das spätestens beim Anblick dieser Bilder an diesem Abend klar. Und den Redakteuren der Tagesschau auch. »Bau das ein. Zeig das. Vergiss den Rest.«

Mein Bericht über die EU-Politik sah kurze Zeit später ganz anders aus – und er war fast drei Minuten lang. Nicht nur die ungewöhnliche Länge dieses Beitrags zeigte: Es war etwas Einschneidendes passiert an diesem Tag. Die Bilder aus Bergamo machten die abstrakte Erkenntnis, dass Corona eine virologische Herausforderung für ganz Europa sein könnte, endgültig zu einer ganz unangenehmen Emotion. Zu Angst, Sorge. Nicht im Kopf. Sondern tief im Bauch.

Umso überraschender diese Worte: »Es wird so sein wie immer. In Italien wird es chaotisch laufen, in Tschechien wird man die Sache so lange wie möglich ignorieren. Deutschland ist wie gewohnt schnell und gut organisiert. Und am Ende stehen die Deutschen wirtschaftlich sogar besser da als vorher. Auf jeden Fall besser als die anderen.« Mit diesen Worten prophezeit mir kurz darauf ein Diplomat in Brüssel, wie er sich den Verlauf der Corona-Pandemie in der EU vorstellt. Wie er denn darauf komme, frage ich ihn. Das Virus ist potenziell tödlich. Es ist unsichtbar und kennt keine Grenzen. Niemand hat einen Wissensvorsprung. Und ein Medikament dagegen existiert auch nicht. Dennoch spricht der Diplomat immer weiter und mit großer Bewunderung von Deutschland. So, als ob die Bundesrepublik magische Kräfte hätte. Intellektuelle. Technische. Organisatorische. Finanzielle. So groß, um selbstbewusst auch einer solchen globalen Katastrophe entgegenzugehen. Deutschland genießt großen Respekt in der EU. Die Bundesrepublik gilt zu Beginn der 2020er Jahre als ein faszinierend sorgenfreies Land.

Eintagsfliegen

Das fängt schon mit der politischen Stabilität an. »Die Groko nervt«, »Merkel muss weg!«, »Es braucht Veränderung« – solche Sätze habe ich oft gehört, wenn ich in Deutschland war. Doch was wir hierzulande gelegentlich als bleiern und träge erlebt haben – Kanzler oder Kanzlerinnen, die viele Jahre im Amt sind, im Kern zwei Parteien, die abwechselnd oder gemeinsam die Regierung führen, ein im Großen und Ganzen existierender politischer Konsens –, das ist aus Sicht anderer Europäer ein wertvoller Besitz. Während der Amtszeit von Angela Merkel hatte Frankreich vier Präsidenten: Chirac, Sarkozy, Hollande, Macron. Italien brachte es auf acht Ministerpräsidenten: Berlusconi, Prodi, Monti, Letta, Renzi, Gentiloni, Conte, Draghi. In Polen waren es fünf, in Belgien sieben, in Griechenland ebenfalls. Wechsel tun der Demokratie gut. Allerdings nicht im Monats- oder Jahresrhythmus.

Oft genug wohnt gerade in der EU einem personellen Neuanfang kein Zauber inne. Denn um auf europäischer Ebene die eigenen Interessen durchsetzen zu können, braucht es für einen Präsidenten oder eine Regierungschefin zweierlei: ein gutes Verständnis von der Funktionsweise der Gemeinschaft, Einblick in die Fallstricke und Risiken dieser Bürokratiemaschine. Und es braucht mindestens genauso sehr Vertrauen, menschliche Beziehungen, Verlässlichkeit. »Manchmal ist ein Europäischer Rat wie ein Speed-Dating«, sagt mir der Botschafter eines großen EU-Landes. »Selbst mancher Regierungschef muss seinen frisch gewählten Amtskollegen aus Slowenien oder Bulgarien nach der Ankunft beim Gipfel erst noch mal fragen, wie er heißt.« Man kann sich denken, dass auf die politischen Forderungen solcher »potenziellen Eintagsfliegen«, wie er sie spöttisch nennt, niemand gern eingeht. Denn Politik ist Geben und Nehmen. Und jemand, der sein Amt vielleicht beim nächsten Gipfel in drei Monaten wieder verloren hat, kann nichts mehr zurückgeben.

Die immer neuen Gesichter im Europäischen Rat sind Ausdruck der wachsenden innenpolitischen Zersplitterung und Instabilität in Europa. Zu wissen, welche Koalition in Schweden regiert, welche Vorgeschichte und Interessen die Parteien haben, wer die neue Präsidentin der Slowakei ist, welcher Skandal gerade Rumänien erschüttert und welche ideologischen Debatten in Portugal geführt werden, ist für mich als Korrespondent in Brüssel genauso wichtig wie Informationen aus dem EU-Parlament oder der Kommission. Denn genau diese Entwicklungen zu Hause werden das Handeln der jeweiligen Länder in Brüssel prägen – und damit auch das Ergebnis, dass hier zustande kommt.

Viele Regierungen hängen in ihren Ländern politisch am seidenen Faden. Das macht sie auf EU-Ebene zu Leichtgewichten. Aber es führt oft auch zu einem besonders aggressiven Auftreten: Der neue Mann aus Sofia oder die neue Frau aus Italien brauchen Erfolge oder zumindest einen kämpferischen Auftritt – und zwar sofort. Das macht die Kompromissfindung nicht leichter. Die Zeiten, in denen Europa tief verändert und langfristig gestaltet wurde, sind nicht zufällig die, in denen Dauerbrenner regierten: in Deutschland Helmut Kohl, 16 Jahre. In Frankreich François Mitterand, 14 Jahre. Und in Spanien Felipe González, ebenfalls 14 Jahre.

»Früher lief das so«, erzählt mir ein Mitarbeiter des Rates. »Wenn es ein Problem gab, dann haben sich diese Männer in die Augen geschaut. Und gesagt: Helmut! François! Felipe! – oder wer auch immer: Haben wir dich jemals hängen gelassen, wenn es wirklich wichtig für dein Land war?« Die Gefragten mussten meist einräumen, dass das nicht der Fall war. »Und deshalb bitten wir dich, jetzt zuzustimmen. Wenn du beim nächsten Mal wieder etwas brauchst, kannst du dich auf uns verlassen.« So funktionierte Europa lange. Denn es gab die Gewissheit, dass Regierungen stabil waren, die handelnden Personen noch lange im Amt. Man konnte von ihnen also irgendwann eine Kompensation erwarten.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Es gibt nur noch wenige Regierungschefs, die ihr Land mehr als zehn Jahre in Europa vertreten haben. Es ist kein Zufall, dass es zuletzt mit Angela Merkel, dem niederländischen Premier Mark Rutte und Viktor Orbán aus Ungarn die Politiker sind, die Europa besonders stark geprägt haben. Für Deutschland war diese Stabilität jedenfalls ein Pfund.

Dauerpräsenz hat in Brüssel schon deshalb einen Wert, weil die politischen Mühlen in dieser Stadt bekanntlich sehr langsam mahlen. Oft vergehen viele Jahre, bis aus einer Idee ein konkretes Gesetz wird, eine Verordnung oder eine Richtlinie, wie die korrekte Bezeichnung lautet. Viele Kurzzeit-Regierungschefs haben also gar keine Chance, einen solchen Prozess entscheidend und von Anfang bis Ende mitzugestalten. Zum einen, weil ihr Land nur eines von vielen ist. Zum anderen aber auch, weil sie meist in einem Moment, in dem das Verfahren schon längst läuft, ins Amt kommen. Und es oft genug auch schon wieder los sind, noch bevor das Projekt sein Ziel erreicht. Auf nationaler Ebene stoppt eine neue Regierung meist die Gesetzesvorhaben der abgewählten Vorgänger. Und setzt dann neue, eigene Akzente. In der EU dagegen laufen die Dossiers weiter. Schließlich wird immer irgendwo gewählt und abgewählt. Präsidenten und Ministerpräsidenten wirken da manchmal wie traurige Fußballer. Sie werden in der 60. Minute eingewechselt – und müssen in der 82. Minute schon wieder vom Platz. Wie soll man da zum anerkannten Strategen werden, sich einen Platz in den Geschichtsbüchern erobern?

Angela Merkel aber hat durchgespielt. Und allein diese Konstanz war ein Vorteil für Deutschland. Die Kanzlerin behielt genau im Auge, was bestimmte Ideen auf EU-Ebene für Deutschland bedeutet hätten. Am Anfang ihrer Kanzlerschaft 2007, als sie frisch zu bereits laufenden Prozessen dazukam, bremste sie noch recht rabiat ambitionierte Grenzwerte für den CO2-Ausstoß von Pkws aus. »Madame Non« wurde schnell ihr Synonym in Brüssel. Doch bald schon konnte Merkel eleganter vorgehen: Sie baute Vertrauen bei ihren Kolleginnen und Kollegen auf. »Sie war ein Dealmaker. Wenn es nicht mehr weiterging, rief sie in den Gipfelnächten einzelne ihrer Kollegen zusammen, um Kompromisse auszuloten.« So erzählt es ein anderer früherer Regierungschef. Er verweist darauf, dass dieses Dealmaking meistens gar nicht Merkels Aufgabe war. Denn das Führen der Debatte im Europäischen Rat obliegt dem EU-Ratspräsidenten. In Merkels Amtszeit waren das erst der Belgier Herman Van Rompuy, danach Donald Tusk aus Polen und zuletzt Charles Michel, wieder aus Belgien. Merkel aber hatte über die Jahre eine herausgehobene Position. Obwohl französische Präsidenten zu Hause über eine weitaus größere persönliche Macht verfügen, als das für deutsche Bundeskanzler in Berlin zutrifft, und obwohl sie aus dem anderen wichtigen EU-Staat kommen, haben weder Chirac noch Sarkozy, Hollande oder Macron in der EU je eine solch zentrale Rolle gespielt. Merkel ist es gelungen, Europa zu formen. Und dafür zu sorgen, dass die Brüsseler Entscheidungen deutschen Interessen nie wirklich gefährlich wurden.

Europäische Geschenke

Deutschland erlebte nicht unbedingt wegen, aber mit Angela Merkel goldene Jahre: Als sie am 22. November 2005 ihr Amt antritt, meldet die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, es seien ihr 4 530 000 Menschen als arbeitslos gemeldet. 10,9 Prozent der arbeitsfähigen Deutschen haben keinen Job. Ausländische Zeitungen sprechen seit Jahren von Deutschland mitleidig als dem »kranken Mann Europas«. Doch die Arbeitslosigkeit geht nun Jahr für Jahr zurück: 8,1 Prozent 2009. 6,8 Prozent im Jahr 2012. 5,0 Prozent 2019, der Tiefstwert im Jahr vor Corona. Als Angela Merkel ihr Amt 16 Jahre später, am 8. Dezember 2021, wieder abgibt, liegt die Quote bei 5,7 Prozent. Ganz ähnlich sieht die Entwicklung bei der Wirtschaftskraft aus. 2005 produziert Deutschland Waren und Dienstleistungen im Wert von 2,28 Billionen Euro. 2021 weist die Statistik 3,6 Billionen aus. Ein Zuwachs um fast 60 Prozent – in 16 Jahren. Deutschland ist ein wirtschaftlicher Gigant, weltweit auf Platz 4 – hinter den USA, China und Japan. Es sind deutscher Fleiß, deutsche Findigkeit, Lust am Erfolg, ganz besonders am Exporterfolg, die das möglich gemacht haben. Die Qualität von deutschen Autos, die technische Stärke unserer Maschinenbauingenieure. Auch die Hartz-Reformen, die Merkels Vorgänger Gerhard Schröder in den Jahren 2003 bis 2005 durchsetzte, waren ein zentraler Baustein dieses fulminanten Erfolges. Mit ihnen wurde Deutschland wieder zu einem wettbewerbsfähigeren Land, wenn auch mit stärkeren sozialen Verwerfungen.

Doch zwei ganz zentrale Elemente für Deutschlands goldene Jahre von 2005 bis 2020 sind durch und durch europäisch – und werden oft übersehen.

Der erste Schub für das Wirtschaftswachstum setzte 2002 mit der Einführung des Euro als gemeinsames Zahlungsmittel in zwölf EU-Staaten ein. Heute wird er außer in Schweden, Dänemark, Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien überall in der EU verwendet. Das schaffte zunächst praktische Vorteile. Kein lästiges Umtauschen mehr für Touristen auf Reisen. Kein Franc, keine Lira, keine Peseta und keine Drachme mehr. Für deutsche Firmen war dieser neue Zustand bares Geld wert. Sie brauchten sich bei Geschäftsentscheidungen in wichtigen europäischen Märkten ab diesem Zeitpunkt keine Sorge mehr um das Risiko sich ändernder Wechselkurse zu machen. Ein Euro ist ein Euro, ob in Deutschland oder Italien. Plötzliche Abwertungen, zum Beispiel der Lira durch die italienische Notenbank, und im Gegenzug eine Aufwertung der D-Mark, die deutsche Produkte in Italien teurer gemacht hätte – das war nun nicht mehr zu befürchten. Es kehrte eine noch größere Verlässlichkeit für die deutsche Exportwirtschaft auf den Märkten Europas ein.

Der Euro brachte Deutschland zudem einen Vorteil, von dem Wirtschaftspolitiker oft träumen: eine stabile, große, frei gehandelte Währung, die trotzdem, ganz ohne Währungsmanipulation, stets leicht unterbewertet ist. Genau das bot der Euro der Bundesrepublik. Die Nostalgie, das schwärmerische Betrauern der guten alten D-Mark, die viele deutsche Bürger rund um die Einführung des Euro noch verspürten, war in den Chefetagen der Industrie, bei exportierenden Mittelständlern und den Experten im Wirtschafts- und Finanzministerium sehr schnell Geschichte. Zu deutlich zeigte sich, dass die neue Währung nach gewissen Problemen in der Anlaufphase und in Kombination mit der steigenden Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft durch die Hartz-Reformen insbesondere Deutschland gehörig half. Das Land, das sich so lange vor einer europäischen Weichwährung gemeinsam mit Franzosen und Italienern gefürchtet hatte, sahnte nun den dicksten Bonus ab.

Zustande kam der so: Die Europäische Zentralbank steuert durch eine Erhöhung oder Senkung der Leitzinsen und eine Ausweitung der Geldmenge zumindest mittelbar die Stärke des Euro, seinen Wechselkurs zu anderen Währungen wie dem Dollar, dem Yen, dem Pfund. Bei seinen Entscheidungen berücksichtigt der Zentralbankrat in Frankfurt die reale Wirtschaftslage im Euro-Raum. Und genau das ist das Entscheidende: im gesamten Euro-Raum. Es gibt keine eigene Zinspolitik mehr für Deutschland, Italien oder Griechenland. Es gibt nur noch eine Geldpolitik für alle Euro-Mitglieder, eine Art Durchschnittswert. Und das bedeutete lange Zeit: relativ zur deutschen Wirtschaftsstärke zu niedrige Zinsen – und damit einen etwas schwächeren Euro. In Zahlen lässt sich der Wert dieses Euro-Vorteils kaum berechnen. Doch es ist unter Experten unbestritten, dass er Deutschland gigantisch half. Denn ein leicht unterbewerteter Euro macht Exporte in andere Währungsräume wettbewerbsfähiger und die eigenen Waren damit attraktiver. Steht der Euro beispielsweise bei 1,10 Dollar, kostet ein 50 000 Euro teurer BMW in den USA55 000 Dollar. Steht der Euro bei 1,00 Dollar, kostet das gleiche Auto in den USA nur 50 000 Dollar. Für den Anbieter eröffnet das zwei Chancen: Entweder er nutzt den Vorteil dadurch, dass er den US-Preis gleichhält und 5000 Dollar zusätzlichen Gewinn macht. Oder aber: Er senkt den Dollarpreis für das Auto leicht, um durch günstigere Angebote mehr Kunden in den USA zu gewinnen. Er kann also im besten Fall dort seinen Marktanteil ausbauen – allein durch den Spielraum, den ihm der Währungsgewinn ermöglicht.

Wäre in Deutschland weiter die D-Mark das Zahlungsmittel, hätte man in den Jahren 2005 bis 2020 wohl immer einen deutlich höheren Wechselkurs gehabt als mit dem Euro. Sprich: weniger Absatzchancen oder weniger Gewinn. Die deutsche Währung wäre ein Klotz am Bein gewesen. Die gemeinsame Währung hingegen wurde völlig unerwartet eine Multi-Milliarden-Euro-Spritze für Deutschland. Während Sparer über die niedrigen Zinsen schimpften, ermöglichten sie für viele Unternehmen erst die wirtschaftlich paradiesischen Zustände dieser Jahre. Donald Trump sprach in seiner Zeit als Präsident mehrfach von »monetärem Dumping« durch den relativ billigen Euro. Und davon, dass den USA so ein »big disadvantage« entstehe. In der Pauschalität überzogen – bezogen auf Deutschland aber sicher nicht falsch. Doch die Bundesrepublik saß solche Angriffe locker aus: Deutschland konnte ja schlecht aus dem Euro aussteigen.

Werkbank

Auch ein zweiter großer Push für das Florieren der deutschen Wirtschaft kam von der europäischen Ebene: eine revolutionäre Entscheidung, die zur Genesung des kranken Mannes genauso beitrug wie die Hartz-Reformen und der Euro.

Am Abend des 30. April 2004 zischen über der 251 Meter langen Stadtbrücke in Frankfurt/Oder Feuerwerksraketen in den Himmel. Trompeter blasen die Backen auf, die Europahymne erklingt. Joschka Fischer und der damalige polnische Außenminister Włodzimierz Cimoszewiccz hören gar nicht mehr auf, sich die Hände zu schütteln und sich zu umarmen. Der polnische Chefdiplomat ballt die Faust, wie ein Tennisspieler nach einem entscheidenden Punkt. Am nächsten Tag, am 1. Mai, spricht Bundeskanzler Gerhard Schröder 160 Kilometer Luftlinie weiter südlich in Zittau beim »Bürgertreff der Sächsischen Landesregierung zur EU-Erweiterung« von einer »Sternstunde«. Er beschreibt das erhebend schöne Gefühl, dabei zu sein, wenn Europa zusammenwachse.

20 Jahre ist das her. Als ich mir die Bilder anschaue, spüre ich Bewunderung. Polen in der EU, so erinnere ich mich, war damals ein Thema, mit dem auch viele Ängste geschürt wurden. Vor Kriminalität etwa, vor Dieben. Vor Jobverlusten durch osteuropäische Dumping-Arbeiter oder Fabrikverlagerungen in den neuen Osten der EU. Und trotzdem gab es damals Politiker, die diesen Schritt wollten und dafür sorgten, dass er vollzogen wurde. Politiker, die Europa entwickelt und verändert haben. Mit historischen Taten, mit Willen und Durchsetzungskraft, nicht nur im Klein-Klein.

Gerhard Schröder spricht an diesem grauen Maitag in Zittau, die runde Nickelbrille immer wieder auf der Nase verschiebend, von den vielen Problemen, die die Aufnahme von gleich zehn neuen Mitgliedern in die EU noch bringen werde. Aus einer Gemeinschaft mit 380 Millionen Menschen ist jetzt eine mit 450 Millionen geworden. Aber Schröder spricht auch von den Chancen. Und genau die wird vor allem Deutschland nutzen.

Die potenziell neue ausländische Billigkonkurrenz hingegen, die »Deutschen die Jobs wegnehmen könnte«, wird Deutschland erst mal im wahrsten Sinne des Wortes ausschließen. Sternstunden hin oder her, sieben Jahre lang setzt die Bundesrepublik mit einer vor der Erweiterung vereinbarten Übergangsfrist die sogenannte Freizügigkeit aus. Die ist eigentlich eine der Grundfreiheiten aller EU-Bürger und besagt: Ich darf leben und arbeiten, wo ich möchte. Während Großbritannien und ein Großteil der anderen EU-Staaten den neuen EU-Bürgern aus Estland, Tschechien oder Ungarn dieses Recht vom ersten Tag an zugestehen, bleiben die Türen in Deutschland noch bis 2011 eher versperrt. Nur wer nachweisen kann, dass es wirklich keinen Deutschen gibt, der den Job machen will, kann kommen. Das sind dann meist Zimmermädchen, Bauarbeiter und Spargelstecher, die oft auch nur nach Deutschland entsandt werden.

Deutschland zapfte also bewusst den mittel- und osteuropäischen Arbeitsmarkt für einfache Jobs an, hielt aber die Türen für Höherqualifizierte zu. Doch genau diese besser ausgebildeten Arbeitskräfte wurden schon bald anderswo von Deutschland gebraucht: nicht in deutschen Werkshallen in Wolfsburg oder Bielefeld, sondern zu Hause in ihren Heimatländern als zahlungskräftige Konsumenten. Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Malta und Zypern waren als EU-Staaten nun auch Teil des EU-Binnenmarktes. Das macht sie grundsätzlich für die deutsche Exportindustrie zu wichtigen Absatzmärkten.

Schon kurz nach den Umarmungen auf der Stadtbrücke von Frankfurt/Oder und Schröders Rede in Zittau liegt das deutsche Handelsvolumen mit den zehn neuen EU-Staaten zusammen höher als das mit den USA. Und da diese Länder im Wachstum begriffen sind, ihre Menschen wohlhabender werden, viel investiert wird, werden die Aussichten, sie über viele Jahre weiter mit Produkten »Made in Germany« zu beglücken, mit jedem Jahr rosiger.

Noch wichtiger ist ein anderer Effekt: Die Länder verfügen über gut ausgebildete Techniker und Ingenieure, aber nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kaum noch über nennenswerte Industrie. Westeuropäische Maschinenbaufirmen, Textilunternehmen und vor allem die Automobilindustrie nutzen diese Chance. Sie errichten Produktionsanlagen in Polen und Tschechien, in Ungarn und Estland. In beeindruckendem Tempo werden Ost- und Mitteleuropa zu einer verlängerten Werkstatt vor allem Deutschlands. Die Investitionen hier lohnen sich: Die neu eingerichteten Anlagen sind hochmodern, die Löhne niedrig, die Menschen glücklich über einen Job bei einem westlichen Unternehmen.

Der Autohersteller Škoda ist eine besondere Erfolgsgeschichte. 1991, als in der damaligen Tschechoslowakei der Verkauf von Staatsunternehmen an private Interessenten erfolgt, greift Volkswagen zu. Immer weiter stocken die Wolfsburger ihre Beteiligung in den folgenden Jahren auf. Bald gehört der tschechische Autobauer vollständig den Deutschen. Und die zunächst als Ostautos belächelten Škodas verkaufen sich gut. Mehr als 40 Fahrzeugtypen, mehr als 800 000 Stück lautet die Bilanz im Jahr 2018. Zwischenzeitlich muss Volkswagen sogar aufpassen, dass die hochwertigen, aber günstigeren Škoda Octavia und Škoda Superb nicht den eigenen Modellen VW Golf und VW Passat gefährlich werden. Im Jahr 2020 liefert Škoda im VW-Konzern einen operativen Gewinn von einer Milliarde Euro ab. Die Rendite liegt nach eigenen Angaben bei 6,1 Prozent. Nur die Premiummarken Porsche und Audi sind innerhalb des Konzerns rentabler.

Škoda kennt man. Viele Tausende andere solche Beispiele kennt man nicht. Vor allem nicht die vielen kleineren Zulieferfirmen, die nicht ein ganzes Fahrzeug bauen, sondern nur ein Zahnrad für dessen Getriebe, einen Scheibenwischer, den Sitzgurt. Diese Teile speisen wie ein großer, unsichtbarer Strom die deutschen Fabriken in jenen Jahren. Die Qualität ist hoch, die Preise sind moderat. Und wenn man viele relativ günstige Teile zu einem hochwertigen Produkt zusammenbaut, hat man mit der entstehenden Ware Erfolg bei Käufern weltweit. Genau das passiert den deutschen Firmen ab 2005. Es läuft wie geschmiert. Die Osterweiterung, einst als Jobkiller in Deutschland gefürchtet, erreicht das Gegenteil. Die Produktion kann ausgeweitet werden. Das Geschäft in Deutschland wächst, das Geschäft in der EU auch. Und das Geschäft im Rest der Welt erst recht, da hier der moderate Eurokurs noch weiterhilft.

Der Boom der Merkel-Jahre war also nicht nur dem deutschen Fleiß, dem Gürtel-enger-Schnallen und Anpacken mit den Hartz-Reformen zu verdanken. Es waren zu einem großen Teil auch die politischen Umstände in Europa, die das deutsche Selbstbewusstsein wieder wachsen ließen. Wie das Paradies auf Erden wirkten diese Zeiten. Exportweltmeister. Fußballweltmeister. Die Steuereinnahmen sprudelten, die Arbeitslosigkeit sank. Die Ressourcen Deutschlands schienen plötzlich unbegrenzt. Während Hans Eichel als Finanzminister unter Gerhard Schröder noch eisern sparen musste, konnte es sich Wolfgang Schäuble später leisten, sparen zu wollen. Der kranke Mann Europas hatte eine Frischzellenkur bekommen.

Ordnung muss sein

Auch die globale Ordnung kam Deutschland zugute. Über Regeln der Welthandelsorganisation WTO denkt man nicht allzu oft nach. »Unser Ziel ist es, dass der Handel so reibungslos, vorhersehbar und frei wie möglich vonstattengeht«, schreibt die Organisation mit Sitz in Genf über sich selbst. Sie schlichtet Streitfälle, wenn etwa einzelne Länder Subventionen einführen und der heimischen Wirtschaft so in womöglich unfairer Form unter die Arme greifen. Oder wenn ein Land Zölle verhängt, um ausländische Konkurrenz fernzuhalten. Sie wacht darüber, ob geistiges Eigentum geschützt wird. All das ist wichtig für den Exportriesen Deutschland. Denn wenn alle nach genau diesen Regeln spielen, ist Deutschland wettbewerbsfähig und stets in einer starken Position. Das Schöne: Grundsätzlich tun das die großen Wirtschaftsblöcke EU, USA, China und Südostasien, auch wenn es immer mal Streit gibt. Erst mit der Wahl von Donald Trump wird die WTO tief in die Krise geraten und die schöne alte, geregelte Welt des Exportweltmeisters wieder mehr zum Wilden Westen. Doch die Phase, in der die WTO besonders gut funktionierte, war auch für Deutschland eine besonders lukrative.

Zur internationalen Ordnung, von der Deutschland profitierte, zählte in diesem Zusammenhang auch, dass sich grundsätzlich andere darum kümmerten, dass deutsche Waren sicher ihr Ziel erreichten. Die Kalaschnikow vor der Brust, ein Tuch zur Vermummung um den Kopf geschlungen, ein gelbes T-Shirt statt einer Tarnuniform – so sah einer der Piraten aus, die im Golf von Aden vor Somalia versuchten, Handelsschiffe zu entführen. Leicht bewaffnet, aber hochgefährlich. Auch vor Singapur oder im Golf von Guinea kam es ab etwa 2002 immer häufiger zu solchen Vorfällen. Die USA verstärkten ihre Präsenz. Die EU entsandte die sogenannte Mission Atalanta, an der sich auch die deutsche Marine beteiligte. Am 25. Dezember 2008