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Äußerlich gesehen könnte man es beinahe ideal nennen: Die Sonne scheint, Joop hat Ferien und vor sich ein Fest, bei dem er nichts weiter zu tun hat, als anwesend zu sein. Aber statt zu genießen, versinkt er in einem Sumpf aus eigenen Ansprüchen und Perfektion, Selbstzweifel, Ängsten und Depression. Eine unheilbare Schmerzerkrankung macht für ihn alles noch schlimmer. Erst durch eine alltägliche Beobachtung gelingt es ihm seine Lähmung und Sprachlosigkeit zu überwinden.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Andreas Sperling Pieler
Angst
oder die kleine Feier
Eine Erzählung
Texte: © Copyright by Andreas Sperling-PielerUmschlaggestaltung:
© Copyright by Andreas Sperling-Pieler
Verlag:Andreas Sperling-Pieler
Meierhofstr. 37
79664 Wehr
Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Aus den Tiefen rufe ich, HERR, zu dir:
Mein Herr, höre doch meine Stimme!
Lass deine Ohren achten
auf mein Flehen um Gnade.1
Seht euch die Vögel des Himmels an:
Sie säen nicht, sie ernten nicht
und sammeln keine Vorräte in Scheunen;
Sorgt euch also nicht um morgen;
denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen.
Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage.2
Zur Erzählung
Äußerlich gesehen zeigt sich für den Protagonisten das Leben von seiner positiven Seite. Aber statt zu genießen, versinkt er in einem Sumpf aus eigenen Ansprüchen und Perfektion, Selbstzweifel, Ängsten und Depression. Erst durch eine alltägliche Beobachtung gelingt es ihm seine Lähmung und Sprachlosigkeit zu überwinden.
Joop sitzt in der Ecke der Laube. Es ist seine Ecke.
Als er vor Jahren das Haus kaufte, brachte er an der Vorderseite der Laube eine schmale Wand an, so dass ein Platz entstand, an den wirklich nie Sonne hingelangen konnte. Das war eine seiner ersten Unternehmungen. Denn grelles Licht verträgt er nicht gut, und es wird immer schlimmer.
Heute stört ihn nicht nur die Sonne, sondern vieles andere auch, selbst die Spatzen, die ausgelassen im Apfelbaum toben. Eigentlich stört ihn alles, aber vor allem die Sonne – auch wenn sie sich nur in den Fensterscheiben spiegelt.
Er will eine Liste mit allen Aufgaben erstellen, die heute noch vor ihm liegen, mit allen Dingen, die er noch zu erledigen hat. Denn er muss am Abend in der Landeshauptstadt sein. Muss! Vor allem muss er dort sein – oder sollte, denn Gertis Verabschiedung steht an. Nur eine kleine Feier – hat sie gesagt – wenn überhaupt. Aber genau wusste sie es auch nicht. Es graut ihm vor der Feier, genauso, wie vor der Unsicherheit.
Statt mit seiner Liste zu beginnen, steht er auf und geht ins Haus. Ein Fenster öffnet er, ein anderes schließt er. Auf dem Weg zurück in die Laube fällt sein Blick auf das schmutzige Geschirr in der Spüle. Er hätte gestern die Spülmaschine noch laufen lassen sollen. Missmutig räumt er das Wenige, das da noch steht, ein und stellt die Maschine an.
Zurück in der Laube stellt er zufrieden fest, dass die Reflexionen im Fenster nun endlich verschwunden sind.
Es geht ihm nicht gut und das nicht nur wegen der Sonne. „Die keine Feier“ liegt ihm im Magen, aber vieles andere auch. Er hat das Gefühl, alles laste auf ihm, das ganze Haus, die Verantwortung, einfach alles; es sitzt ihm buchstäblich im Nacken. Er fühlt sich aufgefressen. Dazu noch die grelle Sonne. Es gibt Tage, die sollte es einfach nicht geben, da wird ihm alles zu viel. Heute ist so ein Tag – und gestern und vorgestern auch ...
Er nimmt die Sonnenbrille vom Tisch,tauscht sie gegen seine normale Brille aus und lässt das Gesicht in die Hände sinken. Dieser Druck des Alltäglichen ist nicht neu; er sucht ihn regemäßig heim. Jetzt geht es schon einige Tage so - eine gefühlte Ewigkeit.
Manchmal fragt er sich, ob es jemals anders war.
Er schiebt die Kaffeetasse zur Seite und notiert auf seinen Zettel: Spülmaschine, Wäsche, Steuer, KFZ-Versicherungbezahlen (Steuer und Autoversicherung haben schon angemahnt), Lebensversicherung abklären, Überweisung auf die Bank (vorher muss er sie noch ausfüllen – auch das notiert er), staubsaugen ...
Manchmal möchte er einfach alles liegen lassen und später erledigen. Sein Freund und Kollege Jonas hat ihn einmal gefragt, warum er das nicht mache. Aber Joop weiß warum: Nach der Schmerzepisode ist vor der Schmerzepisode. Und die dauert meist acht bis zwölf Wochen. Seit ihn diese verdammte Krankheit das erste Mal heimsuchte – das war vor zwanzig Jahren – seither ist es ihm in Fleisch und Blut übergegangen: Was Du nicht gleich erledigst, bleibt vielleicht für Wochen liegen. Wenn die Schmerzen kommen, muss alles erledigt sein. Denn dann geht nichts mehr. Und die Schmerzen werden kommen. Wenn nicht heute, dann morgen, nächsten Monat oder in einem halben Jahr.
Panik steigt in ihm auf. Joop reibt sich den Nacken. Er weiß nicht, wie er es schaffen soll, vor allem, falls er doch noch heute fahren muss. Aber das wusste Gerti noch nicht. Er hasst diese Unklarheiten. Er weiß nicht einmal, ob er überhaupt fahren wird. Er weiß nur, dass er es nicht will. Aber zählt das überhaupt!?
Gerti, seine Frau, ist im Eventmanagement tätig. Sie hat heute ihren letzten Tag im Außendienst und wird am Montag eine neue Aufgabe im Innendienst beginnen. Es wäre schön, wenn er bei der kleinen Feier dabei wäre - meinte sie - wenn es denn eine gäbe - fügte sie noch hinzu. Er höre noch von ihr, sobald sie Genaueres wisse.
Das heißt, sie erwartet, dass er kommt, und andere erwarten es wohl auch.
Bis heute Nachmittag kann er, was er sich vorgenommen hat, eigentlich überhaupt nicht schaffen. Wie er die Masse der Leute, den Trubel der Feier und all das ertragen soll, steht noch in den Sternen. Menschenmassen sind beinahe so schlimm wie Sonne, und auch das wird schlimmer. Er weiß, dass er am Montag über seine Bedenken lachen kann, denn es wird alles klappen. Aber er wird nicht lachen – das werden vermutlich andere besorgen. Er wird sich ärgern, weil er wieder in die Falle gegangen ist. Und wenn er ganz ehrlich ist, weiß er sogar, dass er die Falle sich selbst stellt.
Auch wenn er das alles weiß, ändert das nichts an seiner Panik. Heute ist nicht Montag, sondern Freitag und auch wenn er alles schafft, bleibt die Frage, ob es auch richtig ist. Denn die Angst vor Fehlern und möglichen Versäumnissen macht alles noch schlimmer. Wie schnell kann das passieren, gerade in der Hektik. Und das auszubügeln, ist oft schwer und stellt ihn vor neue Aufgaben.
Meist sind die Fehler nicht schlimm und werden selten zum Problem. Das muss er zugeben. Aber dafür sorgt er ja auch. Trotzdem! Denn gerade wenn es andere betrifft, sind die Fehler kaum zu verzeihen. Sie vertrauen, dass er die Dinge – ob große oder kleine – korrekt erledigt. Richtige Fehler wären für sie zu Recht eine Enttäuschung und er will nicht enttäuschen. Er würde sogar noch weiter gehen: Es wäre ein Vertrauensbruch und für ihn unerträglich.
Mit einer weiteren Tasse Kaffee setzt sich Joop wieder in die Laube. Erschöpft reibt er sich über das Gesicht und massiert die Schläfen.
Die Kopfschmerzen kommen aus dem Nacken und ziehen bis in die Schläfen. Es sind noch nicht seine „richtigen“ Kopfschmerzen, sein Kopf kann das noch viel besser! Aber vielleicht sollte er sich etwas aus der Apotheke zum Einreiben besorgen. Er nimmt das Blatt zur Hand. Aber statt Einreibemittel notiert er Apotheke, Martha. Ihm ist eingefallen, dass er noch die Medikamente für Martha aus der Apotheke holen und ihr vorbei bringen muss. Jenny hat das Rezept Anfang der Woche vom Arzt geholt und die Arznei bestellt. Der Besuch im Altersheim ist auch längst überfällig. Auch das notiert er. Die Medikamente hätte er beinahe vergessen und den Besuch sowieso. Noch ein Argument für seine Listen und, gegen alle Unkenrufe, deswegen.
Martha ist so etwas wie eine Adoptiv-Oma, vor allem für Jenny, die im Augenblick mit ihrer Mutter Gerti die letzte Woche im Außendienst feiert (und er sitzt hier und grübelt; auch wenn er es selbst so wollte, hält er es kaum aus und er weiß nicht einmal, warum das so ist). Die Verantwortung für Martha ist eine weitere Aufgabe. Sie ist jetzt über neunzig und hat, wie er selbst, keine Verwandtschaft in der Gegend.
Wird ihm das auch bevorstehen?
Manchmal fühlt er sich von allen allein gelassen, manchmal will er einfach nur seine Ruhe und manchmal auch beides gleichzeitig (so wie jetzt).
Bevor Gerti und Jenny vor drei Tagen fuhren, machten sie noch lachend die Bemerkung, sie gingen in die „mächtig große Stadt“, und er bliebe allein in der Provinz. Gerti wagte einen letzten Versuch: Ob er nicht doch etwas neidisch sei und es sich noch anders überlegen wolle?
Nein! Neidisch bestimmt nicht - das zuallerletzt!