Angstblüte - Martin Walser - E-Book

Angstblüte E-Book

Martin Walser

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Beschreibung

«Eine Abrechnung mit dem Alter, das hemmungslos romantische Manifest einer aussichtslosen Liebe.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung) Karl von Kahn, Anfang 70, ist Anlageberater; das Geldvermehren ist sein Beruf, seine Kunst und Leidenschaft. Seine Energieformel lautet: "Bergauf beschleunigen". Unterzugehen kann er sich nicht leisten. Doch dann verliert er seinen besten Freund, seine zwei Frauen. «Angstblüte» erzählt eine Geschichte von Alter und Täuschung und vom Geld, von Liebe, Ehe, Freundschaft – und von einem Leben, das sich von keiner Moral hemmen lässt, nur von sich selbst. «Ein Formulierungsfest.» (Neue Zürcher Zeitung) «Ein großer, ein sehr, sehr lesenswerter Roman.» (3sat) «Ungemein anrührende Bilder des zwischen größtem späten Lebensglück und größtem Unglück schwankenden Mannes.» (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) «Ein geistreicher und dazu hocherotischer Roman.» (Aspekte) «Mein Gott, Walser! Welche Wucht. Welche Kraft. Und was für ein Kunststück.» (SWR) «‹Angstblüte› ein Alterswerk zu nennen hieße, die Vitalität und den Furor mit einer Milde und Abgeklärtheit zu betrachten, die sie weder fordern noch verdient haben … Ein brennend aktueller Roman.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Seitenzahl: 563

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Martin Walser

Angstblüte

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Karl von Kahn, Anfang 70, ist Anlageberater; das Geldvermehren ist sein Beruf, seine Kunst und Leidenschaft. Seine Energieformel lautet: «Bergauf beschleunigen». Unterzugehen kann er sich nicht leisten. Doch dann verliert er seinen besten Freund, seine zwei Frauen. «Angstblüte» erzählt eine Geschichte von Alter und Täuschung und vom Geld, von Liebe, Ehe, Freundschaft – und von einem Leben, das sich von keiner Moral hemmen lässt, nur von sich selbst.

 

«Eine Abrechnung mit dem Alter, das hemmungslos romantische Manifest einer aussichtslosen Liebe.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

«Ein Formulierungsfest.» (Neue Zürcher Zeitung)

«Ein großer, ein sehr, sehr lesenswerter Roman.» (3sat)

«Ungemein anrührende Bilder des zwischen größtem späten Lebensglück und größtem Unglück schwankenden Mannes.» (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)

«Ein geistreicher und dazu hocherotischer Roman.» (Aspekte)

«Mein Gott, Walser! Welche Wucht. Welche Kraft. Und was für ein Kunststück.» (SWR)

«‹Angstblüte› ein Alterswerk zu nennen hieße, die Vitalität und den Furor mit einer Milde und Abgeklärtheit zu betrachten, die sie weder fordern noch verdient haben … Ein brennend aktueller Roman.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Vita

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schrifststeller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen.

 

Weitere Veröffentlichungen

Die Verwaltung des Nichts. Aufsätze

Leben und Schreiben I. Tagebücher 1951 – 1962

Leben und Schreiben II. Tagebücher 1963 – 1973

Ein liebender Mann. Roman

Tod eines Kritikers. Roman

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2009

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Abbildung: Alissa Walser

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00241-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Eins

1.

Es war Gundi. Sie klang, als sei jemand in ihrer Nähe, der nicht hören dürfe, was sie sagt. Man sah förmlich, wie sie den Kopf senkte, um Mund und Hörer möglichst dicht zusammenzubringen. Und verfügte doch in ihrem Schlößchen in der Menterschwaige über soviel Ungestörtheit, wie sie nur wollte. Eigentlich war sie entspannt. Die Gelassenheit selbst, sagte Diego, sei sie. Gelegentlich sprach er ihr sogar eine göttliche Gelassenheit zu. Aber heute gab es einen Grund für diesen Dringlichkeitston. Diego liegt im Schwabinger Krankenhaus. Er konnte morgens nicht aufstehen, konnte keinen Arm, kein Bein mehr bewegen, ist darüber so erschrocken, daß er sofort gekotzt hat. Sie hat den Notarzt gerufen, der hat Diego ins Schwabinger Krankenhaus bringen lassen, da liegt er jetzt seit achtundvierzig Stunden, die Ärzte können sich für keine Ursache entscheiden. Also Schlaganfall ist schon mal ausgeschlossen worden. MS noch nicht.

Als Karl von Kahn hörte, daß das schon vorgestern passiert war, konnte er ein zu lautes, fast klagendes Nein nicht zurückhalten.

Gundi sagte: Ja. Sagte das ganz matt.

Karl, eher heftig: Sag Lambert, ich komme sofort.

Karl, rief sie, Karl!

Er verstand nicht gleich und erfuhr, er habe Diego Lambert genannt. Das tue ihr weh. Jetzt, da Diego so elend daliege, ganz besonders.

Karl rief: Gundi, liebe Gundi, das tut mir so leid, wie ich es nicht sagen kann. Wisch es weg, hab es nicht gehört, laß es bedeutungslos sein. Ich bitte dich darum.

Gewährt, sagte sie.

Ich danke dir, Gundi, sagte er.

Also um drei, sagte sie.

Und Karl notierte: Haus 4, Abteilung 4a, Zimmer 4023. Um drei.

Gundi hauchte ein Ja.

Karl legte nach ihr auf, holte Atem und sagte es Helen weiter.

Die saß schon an ihrem Schreibtisch, der der Schreibtisch ihres Vaters war. Öfter sagte sie, wenn sie es noch zu etwas bringe, verdanke sie das ihrem zweiten Mann, der ihr erster Mann, ihr Mann überhaupt sei. Damit wollte sie sein Frühaufstehen rühmen. Karl von Kahn hatte es zur Lebensbedingung schlechthin gemacht, vor seinen Kunden auf zu sein, die Börsenkurse zu studieren, bevor seine Kunden sie studierten. Er hatte ganz unauffällig aus jedem seiner Kunden die Aufstehzeit herausgefragt. Vor sieben saß keiner vor dem Schirm. Also saß er um sieben vor dem Schirm. Also saß Helen um sieben an ihrem Schreibtisch. Sie war durch Karl zur Frühaufsteherin geworden. Das hätte, sagte sie, ihrem Vater sehr gefallen. Womit sie Karl wissen ließ, daß viel mehr, als ihrem Vater zu gefallen, nicht erreichbar war.

Als sie hörte, was Lambert passiert war, stand sie auf, kam zu Karl, der an der Tür ihres Arbeitszimmers stehengeblieben war, lehnte ihren Kopf an seine Brust und sagte: Mein armer Karl.

Karl sagte: Sag lieber, der arme Lambert.

Das war eine Lieblingsstellung: Ihr Gesicht an seine Brust geschmiegt, sein Kinn in ihren blonden Haaren. Dazu gehörte, daß er seine Arme um sie legte und mit seinem Kinn in ihren Haaren hin- und herrieb. Das ging jetzt nicht.

Er sagte: Entschuldige, bitte.

Er richtete Helen vorsichtig auf, dann streichelte er sie. Dann ging er hinauf in sein Arbeitszimmer. Dort ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen, kippte den Stuhl und sah auf die Balken und Bretter seiner schrägen Zimmerdecke.

Der Freund hatte Lambert geheißen, als er vor Karl, der wieder einmal auf seinen von Schwermut geplagten Tennispartner hatte warten müssen, stehengeblieben war und gesagt hatte: Meine Partnerin kommt auch nicht, ich finde, jetzt spielen wir. Ich bin Lambert Trautmann. Das weiß ich doch, hatte Karl gesagt. Gedacht hatte er, das seh ich doch. Und Sie sind Herr von Kahn, der Bruder Ereweins, dem ich viel verdanke. Er Ihnen auch, sagte Karl. Das freut mich, sagte Lambert.

Dann hatten sie gespielt, Lambert hatte gewonnen, aber nur knapp, und Karl hatte nichts dagegen, gegen dieses Gebirge von Mann knapp zu verlieren. Der war nicht viel größer, aber massiver, schwerer, wuchtiger. Lambert und Karl hatten dann jahrelang gegeneinander gespielt. Lambert nahm immerzu Stunden. Zuerst in der Tennisakademie bei Niki Pilic, dann bei weniger berühmten Lehrern. Karl nahm nie Stunden. Daraus, daß er trotzdem so oft gewann und verlor wie Lambert, schloß er, er sei eigentlich der bessere Spieler. Aber es war unübersehbar, daß auch Lambert sich für den besseren Spieler hielt. Lambert überraschte immer wieder mit neuen Taktiken, die er sich von seinen Lehrern beibringen ließ. Geschnittene Aufschläge und dann sofort vor ans Netz. Karl freute sich über jeden Technikimport. Je mehr Lambert ihm abverlangte, desto fröhlicher wurde er. Das war doch das reine Glück, dieses ernsthafte Gegeneinanderspielen. Wenn es einmal zweifelhaft war, ob der Ball die Linie noch berührt habe, konnte durchaus Streit entstehen. Sie waren ja Freunde geworden, und Freunde, die nicht streiten, sind keine Freunde. Um so beglückender dann, wenn sie nach einem Streit zurückfanden ins Spiel. Karl wußte immer: Wenn Lambert einmal aufhören würde zu spielen, würde er auch aufhören. Lambert war fünf Jahre jünger als Karl. Nach jedem Spiel pflegten sie den nächsten Termin zu verabreden. Für Lambert wurde es immer schwieriger, noch einen Termin zu finden. Seit Lambert in zwei Etagen in der Brienner Straße residierte, war er praktisch unerreichbar. Karl las in der Zeitung, daß Lambert keine Messe mehr ausließ. In Basel, in Paris, in Maastricht, Hannover, Salzburg und natürlich in München und sonstwo zeigte Lambert seine Potenz als Meister des Kunst- und Antiquitätenhandels. Seine Stände waren immer die größten. Aber daß er inzwischen mehr Zeit mit Gundi in deren Haus auf Menorca verbrachte, verhinderte Tennis gründlicher als alle Geschäfte zusammen. Lambert hatte offenbar Gundis Haus und Anwesen dort ins Großartige gesteigert. Auch einen Tennisplatz hatte er anlegen lassen, obwohl Gundi Tennis eher verachtete. Es sei ein Sport für Marionetten, hatte sie formuliert. Und Lambert hatte den Satz stolz lachend Karl weitergesagt.

Lambert hieß Lambert, bis er Gundi oder bis Gundi Lambert entdeckte. Sie nannte ihn von Anfang an Diego. Nach der Hochzeit erklärte sie, sie könne ihren Mann nicht mit einem Namen rufen, mit dem andere – und sie meinte die beiden Frauen, mit denen Lambert vor ihr verheiratet gewesen war – ihn gerufen hätten. Lambert war gerührt. Das war doch ein Liebessturm. Daß sie in der Villa in der Menterschwaige alle Schlösser ersetzen ließ, konnte eine praktische Maßnahme sein. Aber sie ließ alles ersetzen und erneuern, was durch eine ihrer beiden Vorgängerinnen ins Haus gekommen war. In ein paar Wochen hatte sie, ohne daß Lambert das jedesmal gleich begriff, herausgefragt, daß alle Keshans durch die erste Frau, und alles, was Biedermeier war, durch die zweite Frau ins Haus gekommen war. Hinaus damit. Lambert erlebte jede Säuberungswelle als Liebesbeweis der einundzwanzig Jahre jüngeren Gundi.

An dem, was Diego im ersten Stock der Villa präsentierte, konnte Gundi keinen Anstoß nehmen. Der Sängersaal, das war der erste Stock der Villa, die der Erfinder Ruckstuhl dem Schloß Neuschwanstein nachbauen ließ. Von Diego Bonsai-Neuschwanstein getauft. Mit dem Sängersaal hatte Diego die Bühne gefunden, die er für seine Selbstentfaltung brauchte. Seit er das Schlößchen hatte, spürte man förmlich seinen Ehrgeiz, jeden Abend für die Eingeladenen zum Ereignis werden zu lassen. Wie das dann ablief, wirkte kein bißchen vorbereitet. War es wahrscheinlich auch nicht. Er ließ immer erleben, was er gerade erlebt hatte. Wenn er in einem Buch Voltaires Satz entdeckt hatte Le superflu, chose très nécessaire, dann mußte er diesen Satz doch weitersagen und dazusagen, daß er in diesem Satz das Motto seiner Lebensarbeit und Lebensstimmung ausgedrückt sehe und daß seine Freunde, bitte, nicht über ihn lächeln mögen, wenn sie diesem Satz von jetzt an auf allen seinen geschäftlichen Papieren in bekenntnishafter Verwendung begegnen werden. Daß das Überflüssige das Notwendige sei, und das von Voltaire, seinem Hausheiligen, darauf trinken wir den Wein, den Voltaire zu schätzen wußte: Corton Charlemagne, zum Wohl.

Diego erfaßte, womit den jeweils Eingeladenen zu entsprechen, ja zu dienen war. Und er entsprach, er diente! Die Eingeladenen, das waren seine Freunde und solche, die es werden sollten. Das waren Damen und Herren, die auch als Kunden in Frage kamen.

Der Sängersaal hatte seine sechs säulengefaßten Rundbogenfenster zur Isar hin. Auf der sogenannten Galerieseite präsentierte Diego das, was er gerade am schönsten fand, also am heftigsten empfahl, seinen Kunden empfahl. Den Auserwählten. Es war ein Privileg, ins Bonsai-Schloß eingeladen und dort in den Sängersaal geführt zu werden. Auch jetzt noch, nachdem er sein Ladengeschäft aus der sanften Theresienstraße in die knallharte Brienner Straße verlegt hatte, um seinen Kunsthändlerrang unmißverständlich zu manifestieren, auch jetzt war das Bonsai-Neuschwanstein noch immer die Herzkammer seines Schönheitsimperiums, und der Sängersaal war die Herzkammer der Herzkammer. Vor den von drei Porphyrsäulen getragenen Rundbögen auf der Stirnseite des Saals hatte Diego seinen eigenen Geschmack entfaltet. Empire. Da saß man, nachdem man, von Diego geführt, auf der Galerieseite des Saals Diegos neueste Eroberungen beziehungsweise Offerten besichtigt hatte. Graphiken von Rembrandt ebenso wie Schafe am Bachlaufbei Bad Tölz im Vorfrühling. Fragonard-Blätter ebenso wie Hirtenjunge mit Kühen und Kälbern. Aber eben auch Schinkel-Stühle, versehen noch mit dem Etikett aus dem Stadtschloß in Berlin, oder eine Amatigeige mit diamantbesetzten Wirbeln aus dem Jahr 1646. Und er sagte immer freiheraus, daß er dieses Adolph-Menzel-Bild und diesen Corinth und diesen Schreibtisch Metternichs hier im engsten Kreis zeige, weil er solche Werke von keiner Laufkundschaft weggekauft sehen möchte. Er wollte immer wissen, wo, was er anbot, bleiben würde.

Denen, die er zum ersten Mal in den Sängersaal geladen hatte, erzählte er natürlich, wie er Besitzer dieses Bonsai-Neuschwansteins geworden war. Er hatte den Erfinder Ruckstuhl über fünfzehn Jahre hin zu einem bedeutenden Manierismussammler gemacht. Das war Diegos Leidenschaft: in jedem, der zu ihm kam, die Neigung zu entdecken, die in dem Betreffenden angelegt war, und diese Neigung dann zu entwickeln. Der Erfinder Ruckstuhl sei ein Verehrer Ludwigs II. gewesen und ein schwieriger Mensch, der sich mit manieristischer Kunst umgeben habe, mit Bildern, die man nicht verstehen, sondern nur anschauen konnte. Ihn habe nur das Unerklärliche interessiert. Bevor der Darmkrebs ihn zwang, sich zu vergiften, habe er seine Sammlung seiner Heimatstadt Rietberg im Ostwestfälischen geschenkt. Reich geworden sei Ruckstuhl mit revolutionären Erfindungen im Bereich der Abwasserbeseitigung. Zuletzt habe er noch mitgewirkt an der Entwicklung der Vakuumtechnik, mit deren Hilfe unsere Ausscheidungen ohne viel Wasserverbrauch aus den Zugaborten herausgesaugt werden.

Wenn Diego etwas erzählte, mußte er immer auch alles, was dazugehörte, erzählen. Also erlebte man eine gewisse Umständlichkeit. Die wollte er vor seinen Zuhörern nicht verbergen. Und daß, was er erzählte, erzählens-, also anhörenswert war, das mußte jeder, der ihm zuhörte, auch wenn er’s lieber knapper gehabt hätte, zugeben. Manche hielten Diego sicher für einen Angeber, bis sie merkten, daß er nur sagt, was er weiß. Diego macht den Eindruck, als wisse er immer noch mehr, als er sagt. Das eigentliche Risiko der Diego-Entfaltungen war, daß es unter seinen Gästen und Freunden Damen und Herren gab, die solche Abende und Nächte zur Selbstentfaltung brauchten. Amadeus Stengl etwa und Marcus Luzius Babenberg. Solche wie Stengl und Babenberg warteten darauf, sich einschalten und dann das Gespräch kurz einmal auf ihr Themengelände führen zu können. Sie waren doch auch Solisten. Als Diego, weil es wirklich dazugehörte, erzählte, daß der Erfinder Ruckstuhl nicht nur Ludwig II., sondern auch Pettenkofer verehrt habe, jenen Max von Pettenkofer, der geadelt worden war, weil er München durch ein Kanalsystem hygienisch, das heißt cholerafrei gemacht habe, da mußte er natürlich dazusagen, daß Ruckstuhl zeitlebens Pettenkofers Grab auf dem Alten Südlichen Friedhof gepflegt habe, ein Grab am Friedhofsrand, weil Pettenkofer eben auch ein Selbstmörder gewesen war. Selbstmord mit einundachtzig. Und viel unerklärlicher als Ruckstuhls Selbstmord.

Das war die Stelle, an der Marcus Luzius Babenberg sich einschaltete. Es leuchtete jedem Zuhörer ein, daß das, was Babenberg dann vorbrachte, nicht fehlen durfte. Der Selbstmord Pettenkofers sei keinesfalls unerklärlich gewesen, Pettenkofer habe sich umgebracht in einem Anfall von Schwermut und Verzweiflung, weil Robert Koch die Erreger der Seuchen, die Bakterien, entdeckt hatte, während er, nur ein Hygienefanatiker, ein Abwasser-Praktiker, versuchen mußte, die Bedeutung der Koch-Entdeckungen vielleicht wider besseres Wissen herunterzuspielen. Auch vor sich selbst. Wer kennt das nicht! Den überlegenen Konkurrenten nicht anerkennen können heißt, sich selber umbringen zu müssen. Der Goethe-Spruch, daß gegen unbestreitbare Vorzüge des Konkurrenten nur die Liebe helfe, war dem Naturwissenschaftler nicht mitgegeben worden. Dann entschuldigte sich Babenberg dafür, daß er Diego unterbrochen habe. Und, sagte er, er hätte es nicht getan, wenn er nicht der Cousin einer Urenkelin Pettenkofers wäre; dessen Selbstmordgeschichte werde in der Familie sorgfältig gepflegt, damit keiner glaube, Selbstmord sei in der Familie genetisch bedingt.

Daß Babenberg nichts sagte, dem man widersprechen konnte, machte es für Diego schwer fortzufahren. Aber Diego fiel der rettende Satz ein. Er habe, sagte er, Herrn Ruckstuhl gelegentlich erzählt, daß er ein Verehrer Voltaires sei, und als sie sich zum letzten Mal getroffen hätten, habe Ruckstuhl gesagt, er sei froh, daß er sein Haus in den Händen eines Ampère-Verehrers wisse. Da konnte man lachen. Und in dieses Lachen hinein konnte Diego sagen: Immerhin hat Ruckstuhl dieses Schlößchen eine Oase des schönen Wahns genannt. Und, sein Niveau zeigend, hat er hinzugefügt, er, als Liebhaber des Unerwartbaren, hätte auch lieber den Palazzo Carignano des Guarino Guarini nachgebaut, aber eine Imitation sei leichter zu imitieren als ein Original.

Hier hätte sich Karl von Kahn auch einmal einmischen können. Als Turin-Kenner. Er war mit seiner Zuhörerrolle durchaus zufrieden. Hier zu reden war nicht sein Fach. Die Redenden könnten ohne Zuhörer gar nicht reden. Trotzdem tat es weh, als Freund Diego den Palazzo Carignano erwähnte, ohne dazuzusagen, daß er Ruckstuhls Bemerkung erst zu würdigen wußte, als Karl, der leidenschaftliche Turin-Besucher, ihn nachträglich informiert hatte.

Daß Gundi ihren Lambert Diego getauft hatte, war verständlich, beziehungsweise sie machte es verständlich. Gundi hatte aus Lambert einen anderen Menschen geschaffen, und den hatte sie Diego getauft. Beide betonten, sie habe nicht nur in Lambert den Diego entdeckt, sondern auch aus Lambert den Diego gemacht. Den schlanken Diego, einundzwanzig Kilo leichter. Einundzwanzig Jahre ist meine Dritte jünger, so fing seine Rühmung immer an, und einundzwanzig Kilo war ich zu schwer. Und als er einundzwanzig Kilo leichter war, sang Gundi weiter, war er der Diego, den ich vom ersten Augenblick an in ihm vermutete. Eine Zeit lang habe ich nur Diego gespielt, fuhr er fort. Er hat, sang sie, nicht an den Diego in sich geglaubt. Aber sie, sang er, hat an den Diego in mir geglaubt. Und sie: Lambert sei für einen männlichen Mann eine lächerliche Bezeichnung, für eine Käsesorte Richtung Weichkäse immer, aber nicht für den Mann, den sie liebe, der sei von Kopf bis Fuß Diego.

Karl mußte immer wieder einmal die Versuchung niederkämpfen, dem Freund endlich zu gestehen, was ihm eingefallen war, als er Gundi zum ersten Mal gesehen hatte, im Königshof. Da war die zweite Frau noch im Haus, also traf man sich im Königshof und dinierte fast feierlich, auf jeden Fall in vollem Zukunftsernst. Von der zweiten Frau hatte Lambert Gundi offenbar schon so viel erzählt, daß Gundi sie nur noch die Biedermeier-Zicke nannte. Als Karl im Königshof auf den Tisch zugegangen war, als Lambert aufgestanden war, als Karl die Hand genommen hatte, die ihm Gundi entgegenstreckte, da war in ihm, obwohl er diese Gundi natürlich vom Fernsehen kannte und obwohl sie auch jetzt wie in ihren Fernsehsendungen in Türkis auftrat, trotzdem war in ihm, als er sie zum ersten Mal persönlich sah, eine Art Schlagzeile entstanden: Die Schwarze Witwenspinne, die ihren Partner tötet, wenn sie sich mit ihm gepaart hat. Und das, obwohl sie vor ihm stand in einem seidenen Anzug in lichtestem Türkis. Und in den Jahren seit diesem Abend war Gundi immer in irgendeiner Türkisvariation erschienen. Er empfand es als eine Untreue Lambert-Diego gegenüber, daß er nie die Schwarze Witwenspinne gestehen konnte, die ihm zuerst eingefallen war. Inzwischen hätten sie doch alle miteinander lachen können über diesen disneyhaften Einfall.

Jetzt lag der also da, der Freund. Gelähmt.

Karl sagte vor sich hin: Siehst du, Lambert, gleich neun, so früh hat Gundi noch nie angerufen. Daß sie noch vor halb neun anrief, hieß, sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen, halbneun, das war für Gundis Lebensart kurz nach Mitternacht, und ich, lieber Lambert, hätte keine Minute länger mit ihr telefonieren können, weil ich immer am Montag um neun Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel anzurufen habe, so geht das dann, lieber Lambert, unsere Lebensarten haben sich auseinanderentwickelt, weil ich mich ab sieben um die Kurse kümmere, kümmern muß, lieber Lambert. Verzeih. Bitte.

Er wußte nicht, wie er es anfangen sollte, wegzudenken vom bewegungsunfähigen Freund. Durch dieses elende Daliegen war ihm der Freund plötzlich so nah, wie er schon lange nicht mehr gewesen war.

Er wählte Amei Varnbühler-Bülow-Wachtels Nummer. Die kannte er auswendig. Jede Zahl mußte gegen einen Widerstand gewählt werden.

Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel war schon vor fünfundzwanzig Jahren dreifache Witwe gewesen. Karl von Kahn hatte noch bei der Hypo gearbeitet, zuständig für das Privatkundengeschäft, und wäre vielleicht bis zur Pensionierung eine Hypo-Nummer geblieben, hätte nicht eines Tages der Baron Ratterer, auch ein Kunde, für den Karl zuständig gewesen war, zu ihm gesagt: Wenn Sie in einer solchen Hierarchie verdorren wollen, hätten Sie gleich Pfarrer werden können. Karl sagte dem Baron, sollte der sein Depot statt der Hypo ihm anvertrauen, werde er kündigen und selber eine Firma aufmachen. Schließlich folgten ihm sieben Kunden, die er jahrelang hingebungsvoll gepflegt und reicher gemacht hatte, als sie schon waren. Mit sieben Kunden, die zusammen für Anlagen von fünfzig bis siebzig Millionen sorgen, kann man eine Firma gründen. Aber wenn schon im zweiten Jahr drei von diesen sieben Kunden wegsterben und deren Angelegtes von ebenso hilflosen wie gierigen Erben vertan wird – und Baron Ratterer war einer dieser Gestorbenen – und wenn noch ein betrügerischer Bankrott das Depot des potentesten Kunden dem Staatsanwalt ausliefert, dann starrt man nachts zur Decke. Ohne die dreifache Witwe Amei, ohne den musikalischen Physiker Professor Schertenleib und ohne die dreimal geschiedene Magistra Leonie von Beulwitzen wäre er untergegangen. Wahrscheinlich. Vielleicht. Keinesfalls. Unterzugehen kann er sich nicht leisten. Er ist zum Nichtuntergehen verurteilt.

Der Neun-Uhr-Anruf am Montag war ein Ritual. Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel meldete sich mit allen drei Namen plus Vornamen, wie sie sich immer meldete, nämlich in einer mit jedem Namen aufwärtssteigenden Melodie, so daß die Schlußsilbe von Wachtel klang, als schreibe man das mit zwei -l-. Karl von Kahn antwortete mit seiner Namensmelodie, die so deutlich nach unten führte wie die der Kundin aufwärts.

Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel war seine älteste Kundin überhaupt. Da sie selber gegen den Alterszucker kämpfte, war sie interessiert an Anlagen im Pharmafeld. Sie wollte immer genau informiert werden über die Produkte der Firma, deren Aktien sie kaufen sollte. Karl hatte, auch wenn gewisse Formulierungen Pflicht waren, an jedem Montag Substanz zu bieten. Montag ist Spieltag. Sie will ihre Geschäftsentscheidungen verstanden wissen als Spielzüge. Ihr zuliebe hatte Karl in einer der letzten Nummern seiner Kunden-Post einen Artikel geschrieben über das, was in der Branche Nachhaltigkeit genannt wurde. Das war das Hauptwort der Branchen-Ethik. Immerhin hatten die sonst der anglo-amerikanischen Prägekraft eher willenlos ausgelieferten Jargonschöpfer diesmal zu einem konkurrenzfähigen deutschen Wort gefunden.

Karls Artikel war eine Hommage an Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel. Ein Kompliment für den die Folgen bedenkenden Anleger. Er hatte allerdings, da er auch ganz andere Kunden hatte, das Gegenteil genauso gelten lassen müssen. Aber Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel fand, er habe sie und ihre Politik und Ethik bevorzugt. Das hatte er nicht, aber er war froh, daß sie das so verstand.

Heute hat er der Gnädigen Frau einen Kauf zu empfehlen, der geschaffen ist für sie. Wir greifen, wenn Sie mir folgen möchten, jetzt zu. Paion, die Bio-Tech-Firma, die sich neulich so unbeholfen an die Börse gewagt hat. Er hat den stotternden Start für Sie beobachtet. Der Einstiegskurs wurde dreimal gesenkt, zuerst sollte die Aktie vierzehn kosten, dann zwölf, dann zehn, jetzt also acht. Jetzt wären wir, wenn Sie wollen, dabei. Entwickelt wird ein blutgerinnsellösendes Medikament, dessen Wirkstoff aus dem Speichel einer südamerikanischen Fledermaus stammt, das dann aber gentechnisch produziert wird und Schlaganfallpatienten dramatisch schnell rettet.

Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel ließ sich dazu bewegen, dabeizusein. Ist notiert, sagte sie, morgen hören Sie von mir, an wieviel denken Sie?

Fünfzigtausend, sagte Karl von Kahn und sprach die Zahl, wie es zum Ritual beziehungsweise Spiel gehörte, so leichthin, als sei das nichts.

Wenn ich einsteige, sagte sie und wiederholte rituell, wenn ich einsteige, schlage ich die Finanzierung vor.

Sie schlug immer die Finanzierung vor. Diesmal hieß das, sie wollte die Finanzierung aus ihrem Schering-Portfolio herübergeholt wissen, weil sie in der Süddeutschen gelesen hatte, Schering sei mit Yasmin und Mirena zum Weltmarktführer bei den Verhütungsmitteln aufgestiegen. Da wollte sie nicht mehr dabeisein. Das konnte ihr Karl nur mit einer Einschränkung zusagen. Er werde ihre Schering-Aktien erst verkaufen, wenn sich die gerade vom Schering-Chef verkündeten Rekordergebnisse und die dazu gelieferte Zukunftsvision, daß nämlich von jetzt an der Gewinn stärker wachsen solle als der Umsatz, in einer Kurssteigerung bemerkbar gemacht haben wird. Da es dann aber für den günstigen Einstiegskurs bei Paion zu spät sein könne, werde er den Einstieg für die Gnädige Frau mit deren Erlaubnis per Kredit finanzieren. Kredite lungerten ja zur Zeit auf dem Markt herum und bettelten förmlich darum, aufgenommen zu werden. Da er aber immer das ganze Portfolio der Gnädigen Frau im Blick habe, und er möchte es lieber ein Anlagen-Gewächshaus nennen als ein Portfolio, könnte er ihr auch vorschlagen, den Einstieg bei Paion mit dem Verkauf von Puma-Werten zu finanzieren. Zwei Gründe dafür: Heute morgen die Meldung, Puma kauft weiter eigene Aktien zurück, für weitere hundert Millionen Euro, das heißt, die Puma-Aktien werden steigen. Zweitens: Puma-Papiere wirken im Werte-Gewächshaus der Gnädigen Frau eher fremd.

Und genau deshalb bleiben sie drin, rief die Kundin.

Um Ihre Instinktsouveränität habe ich Sie immer beneidet, sagte Karl im Finalton. Er sei glücklich, die Gnädige Frau heute wieder so situationsbewußt und dazu noch jahreszeitgemäß, also nichts als frühlingshaft erlebt zu haben. Wir hören voneinander.

Sie von mir, mein Lieber, sagte sie. Adieu.

Adieu, sagte Karl, wie es zum Ritual gehörte, deutlich leiser als sie.

Das Ritual, das er sonst mit nicht nachlassen dürfender Lust bediente, kam ihm heute lächerlich vor. Lambert! Daß Lambert, als er sich, aufgewacht, gelähmt sah, sofort gekotzt hat! Gundi hat es ihm tatsachenhart hingesagt.

Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel, in seiner Jahreszählung: neunzig plus. Seine Kunden starben nicht mehr einfach so weg wie in den ersten drei Jahren. Sobald die achtzig waren, ging es aufwärts. Dafür sorgte er. Durch immer neue, immer spannende, oft dramatische Um- und Umschichtungen der Anlagen. Karl hatte inzwischen eine Kunst daraus gemacht, Kunden, die siebzig plus, achtzig plus und neunzig plus waren, für langfristige Anlagen zu begeistern. Er setzte seine Kunden nicht den Kunststoffwörtern aus, mit denen die Branche sich den Anschein gab, das Weltwettergeschehen der Märkte mit immer feineren Maschinen und Methoden durchschauen und berechnen und lenken zu können. Er blieb beim Natürlichen. Der Markt als Naturgeschehen. Das war seine Sprache. Jede Bewegung auf dem Markt hat eine Wirkung, und diese Wirkung wirkt zurück auf ihre Ursache. Und die dadurch veränderte Ursache produziert eine veränderte Wirkung, die wieder zur veränderten Ursache einer anderen Wirkung wird. Daß du nicht zweimal im selben Wasser baden kannst, wird nirgends so wahr wie im Anlegergeschäft. Und er ist der, der handelnd etwas für seinen Kunden bewirkt, aber dann weiterhandeln muß, weil das Hin und Her nie aufhört, es sei denn, man zöge seinen Einsatz zurück. Glattstellung hieße das dann. Aber das will er nicht, das wollen seine Kunden nicht. Das will das Lebendige nicht. Und Karl von Kahn und seine Kunden sind für das Lebendige. Zins und Zinseszins. Verbrauch ist banal. Das Leben will die Wieder- und Wieder und Wiederanlage des Erworbenen.

In seiner Kunden-Post pflegte er eine Kolumne Das Zitat der Woche. Das war, fand er, eine schöne Möglichkeit, seine Kunden aufzuklären, ihnen seine Geschäfts-Philosophie nahezubringen. In der letzten Woche stand da: Money makes money. And the money that money makes makes more money. Benjamin Franklin. Immerhin. Dieses Zitat hatten vierzehn Kunden mit herzlichen Zuschriften beantwortet. Die wird er in der nächsten Kunden-Post veröffentlichen. Seine Kunden sollten sich in einem ungegründeten, aber spürbaren Club befinden.

Karl von Kahn übersetzte in seiner immer freitags verschickten Kunden-Post alles Wirtschaftliche ins Menschliche, verwendete aber soviel Farben aus dem Branchenflor, daß seine Kunden an seiner Zuständigkeit nie zweifeln konnten. Das ganze soziologisch-statistische Alarmierungsgewäsch, also alles, worin Demographie vorkam, ließ er höchstens zu, um seine Sechzig- bis Neunzigjährigen zum Lachen zu bringen.

Im letzten Leitartikel in seiner Kunden-Post hatte er seiner Laune freien Lauf gelassen. Die wissen doch, stand da, wenn sie über uns phantasieren, nicht, wovon sie reden. Lebenszyklusfonds, A S-Fonds beziehungsweise Altersvorsorge-Sondervermögen, stellen Sie sich vor, mit dergleichen versicherungsmathematischem Müll wollen sie der Tatsache entsprechen, daß wir immer noch nicht gestorben sind. Sie schreiben über unser Alter wie über ein Gebirge, das sie nur vom Flugzeug aus kennen. Vom Drüberhinfliegen. Sie wissen nicht, wie das ist, in diesem Gebirge zu leben. Es ist ein Gebirge, das Alter. Ein Leben in großer Höhe. So die Sonntagsausdrucksweise für unser Alter. In Wirklichkeit gibt es unser Alter nicht. Es ist eine Mache der Alarmisten. Von meinem und deinem Alter wissen sie nichts. Für die Alarmisten sind wir Statistikfutter. Sie reden über uns, wie der Farbenblinde von der Farbe redet. Über mein Alter und dein Alter gibt es keine Auskunft. Die produzieren Horizonte aus nichts als Gefahren, um sich als Retter aufspielen zu können. Das dazu verwendete Expertenvokabular erinnert doch an die Sprache, die die Theologen aufbieten, wenn sie die Existenz Gottes beweisen wollen. Die Anleihen, auf die wir uns eingelassen haben, sind katastrophensicher. Damit es uns nicht langweilig wird, haben wir dazu noch ein Aktienpaket geschnürt, das das tägliche Börsen-Auf-und-Ab mittanzt. Und wir haben Verkaufsoptionen gekauft. Fallen die Kurse, gewinnen die Optionen an Wert. Wir verkaufen nicht die sinkenden Aktien, sondern die wegen der sinkenden Aktien teurer werdenden Verkaufsoptionen. So überstehen wir die Krise. Uns kann nichts Ernsthaftes geschehen. Fliegt er doch nach Berlin, Köln, Frankfurt, Zürich und Stuttgart, wenn sich dort die Garnitur derer versammelt, die selber an der Wertschöpfungskette tätig sind. Wertschöpfungskette, das ist ein Wort nach seinem Geschmack. Man kann es gar nicht oft genug sagen. Wertschöpfungskette. Und damit Sie nicht etwas glauben müssen, was Sie wissen können, werte Damen, werte Herren, sagt er Ihnen die einzigen Zahlen, die zählen: Steigt die Lebenserwartung um 10 Prozent, reicht zur gleichbleibenden Versorgung eine Renditesteigerung von 0,17 Prozent. Das ist doch eine Auskunft, mit der es sich leben läßt. Mit einer Einschränkung: So geht es nur uns, die wir selber für uns sorgen per Anleihen und Aktien, denen, die leben vom Zinseszinseffekt, von der Wiederanlage.

Karl von Kahn liebte es, wenn die Gesichter seiner Kunden vor Staunen blühten, wenn er ihnen die Melodie des reinen Gewinns vortrug. Er lenkte immer den Blick auf die Schlechtberatenen, die den Staat für sich machen ließen. Da wird die Banalität zum Schicksal. Immer weniger Beitragszahler müssen aufkommen für immer mehr Ältere. Und warum? Weil der Staat mit dem Geld, das man ihm überläßt, nichts anzufangen weiß, während wir den Zins säen und den Zinseszins ernten. Das hätte man im 20. Jahrhundert doch lernen können: Auf nichts ist so wenig Verlaß wie auf alles Staatliche. Der Staat schafft nichts. Er reguliert. Der Regulator ist er. Seien wir froh, daß wir diesem Zirkus der Verantwortungslosigkeit entronnen sind. Und bedauern wir jeden, der ihm noch ausgeliefert ist. Wer hat denn die Kriege vorbereitet, erklärt, geführt! Die Staaten. Es wird eine Zeit kommen, und zwar schon bald, da werden die Staaten abgestorben sein, leere Fensterhöhlen der Bürokratie. Kapitalmarktinformationshaftungsgesetz. Das ist ein echtes Staatsprodukt. Wir, die wir uns selber verwalten, sind die Wegbereiter der Zukunft.

Jeder Mensch ist bereit, sich die Welt schönreden zu lassen. Nicht nur bereit. Er ist dessen bedürftig. Man muß nur sich selber als ersten davon überzeugen, daß diese Welt die beste sei von allen, die möglich gewesen wären. Der Weltprozeß entscheidet sich immer für das Bessere. Das Schlechtere unterbleibt. Jeder wird Zeuge, wieviel Schlechteres andauernd scheitert. Die Schlacht wird vom Besseren gewonnen. Das ist das tautologische Axiom. Das ist die Formel, nach der jeder irdische Prozeß verläuft. Wenn du nicht gewinnst, bist du der Schlechtere. Du kannst aber gewinnen. Denn jeder ist der Bessere. Das ist so paradox wie wahr. Absolut wahr.

Das hatten Diego und Karl einander jahrelang vorgesagt, eingeredet. Diego gab diesen Ton an. Karl machte mit. Auch durch Widerspruch. So zwang er Diego und sich selber zu einer Art Bodenhaftung. Diego sammelte unermüdlich Sätze aus Büchern, die man für unsterblich hielt, weil sie drei- oder vierhundert Jahre überdauert hatten. Am liebsten stattete er sich mit Voltaire-Sätzen aus. Die eigneten sich dazu, eingerahmt und aufgehängt zu werden. Gundi belächelte Diegos Eifer. Mein Zitatenpflücker, sagte sie und nahm seine beiden Hände und küßte ihm die Fingerspitzen.

Karl benutzte Zitate nur in der Kunden-Post. In den Kundengesprächen gab er sich erfahrungsreich, hell und zukunftsfroh. Das war er auch. Zumindest, wenn er nicht allein war. Seine Kunden belebten ihn. Seine Vorschläge waren ganz und gar das Resultat dessen, was die Kunden ihm erzählten. Sobald er allein war, wußte er sich oft nicht mehr zu helfen. Mutlosigkeit breitete sich aus in ihm. Die Welt war anders. Sie rächte sich dafür, daß er sie gepriesen hatte, obwohl er wußte, daß sie anders war. Wenn die Kunden ihn so erlebten, so mutlos, sie müßten ihn für einen Betrüger halten. Jeder Mensch muß jedem anderen Menschen gegenüber die Welt preisen. Sonst hört sich alles auf. Verzweifeln darf jeder für sich.

Kein Mensch darf merken, wie mutlos du bist. Nicht einmal du selbst. Und Helen schon gar nicht. Deren prinzipielle, wenn auch zarte Unentwegtheit schloß die Fähigkeit aus, einen Menschen für mutlos zu halten. Andererseits genügte es, wenn er auf dem Weg zu Professor Schertenleib in Gräfelfing um die Mittagszeit auf dem Bahnsteig stand und die Schienen gleißten in der Sonne. Da war er sofort wieder bereit für jede Einbildung.

2.

Er mußte sich durchfragen durch dieses edle Labyrinth aus Gängen und Innenhöfen und fand schließlich hin. Ein Zimmer im Parterre. Raumhöhe, schätzte er, sechs Meter. Gundi, die sein Staunen bemerkte, sagte: 1904, denen war der Patient noch etwas wert.

Diego lag mit geschlossenen Augen, hing an mehreren Schläuchen und Leitungen, seine Lippen bewegten sich, er schlief nicht. Karl setzte sich auf den Stuhl am Bett und legte eine Hand so neben Diegos Linke, daß er sie berührte. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden. Er wollte nicht, daß Gundi das bemerke. Sie sagte, Diego könne seit heute morgen so gut wie nicht mehr sprechen. Gestern habe er noch sprechen können. Aber er verstehe alles. Nicht wahr, Liebster. Diego bejahte durch Lippenbewegungen.

Karl legte seine Hand jetzt auf die Hand des Freundes und sagte: Ach, Lambert.

Gundi, die einen halben Meter vom Bett entfernt saß, sagte leise, aber scharf: Karl!

Entschuldige, sagte er und deutete auf den Kranken, als sei dessen elendes Daliegen schuld an seinem Versehen. Karl nahm jetzt die linke Hand des Freundes, umschloß sie mit beiden Händen. Er war im Augenblick nicht imstande, seinen Freund mit Diego anzusprechen, und Lambert durfte nicht sein. Das verstand er ja. Also verlangte er von sich das Unmögliche. Diego, sagte er und wußte, ohne hinzuschauen, daß Gundi ihm jetzt ermunternd zunickte. Noch einmal: Diego. Er spürte Gundis Zustimmung als eine Kräftigung. Aber er konnte nicht weiterreden. Wie der jetzt dalag, der Freund!

Gundi gab Karl das verabredete Zeichen. Der Besuch sollte kurz sein. Diego lag doch da, wie zu Tode erschöpft.

Karl verabschiedete sich mit einem langen Händedruck. Dazu sagte er, Diegos Gesichtsfarbe verrate ihm, daß Diego bald wieder gesund sein werde. Diegos Lippen kräuselten sich ein bißchen. Und das Frühjahr tue ein übriges, sagte Karl. Ist doch wunderbar, daß du ein Zimmer hast, in dem du die Vögel singen hörst. Tatsächlich hallten die Vogelstimmen, die von draußen hereindrangen, in dem hohen Zimmer wie in einer Kirche. Am liebsten hätte Karl gesagt, das sei wahnsinnig, diese geradezu tobenden Vogelstimmen in diesem kirchenhohen Krankenzimmer. Er spürte, daß alles, was er sagen konnte, unangebracht war. Aber er mußte so daherreden, um nicht merken zu lassen, wie ihm das weh tat, seinen Freund so daliegen zu sehen.

Gundi bat ihn, draußen auf sie zu warten, sie komme gleich.

Bis bald, lieber Diego. Krankheiten, die keinen Namen haben, halten sich nicht lang. Also, Diego, bis bald.

Er sollte mit Gundi hinausfahren in die Villa.

Gundi stieß die Sätze, die sie sagen mußte, mehr heraus, als daß sie sie sagte. Im Katastrophen-Telegrammstil. Die Mitteilung, die sie zu machen hatte, ließ nichts anderes zu. Diego will Trautmann Titan verkaufen. An Puma. Verhandelt wird seit Wochen. Und erst jetzt ist ein Ergebnis in Sicht gekommen. Diego hätte natürlich Karl jetzt zugezogen. Ohne Karls Zustimmung kein Verkauf. Dann der Zusammenbruch. Wenn sich das in der Branche herumspricht, ist die Firma nur noch halb soviel wert. Leider hat heute schon Amadeus Stengl angerufen, der tat, als wisse er Bescheid. Sie hat ihm das Weitersagen verboten. Aber genausogut kannst du den Gänsen das Schnattern verbieten. Auf jeden Fall muß jetzt schnell gehandelt werden. Diego will sechs Millionen, darunter geht nichts. Diego hat vor dem Zusammenbruch noch alles unterschriftsfertig hingekriegt. Die Konkurrenz im Racket-Business sei strangulierend. Das sagt er seit Jahren. Und betet immer die gleichen Namen her: Dunlop, Kneissl, Pro-Kennex. Und jetzt diese Gelegenheit! Artikel zu produzieren, um sie dann zu verkaufen, habe ohnehin nie zu Diego gepaßt. Er sei damals nur Karl zuliebe eingestiegen, vielleicht auch ein bißchen geblendet vom deutschen Tenniswunder. Das ist aus und vorbei. Jetzt mit sechs Millionen davonzukommen, das wär’s doch. Und ließ, was sie gerade gesagt hatte, von ihrem Porsche bestätigen.

Da Karl Gundi noch nie am Steuer erlebt hatte, staunte er. So unbeeindruckt von Geschwindigkeitsbeschränkungen und anderen Verkehrsgeboten hatte er noch nie jemanden am Steuer erlebt. Und sie lenkte immer nur mit der Linken. Karl mußte sich vorstellen, daß ihre Rechte dann mit Diego beschäftigt war. Dieses irrsinnige Fahren nur mit der Linken und diese beschäftigungslose Rechte! Wartete er darauf, daß sie sich auf sein Knie lege? Niemals! Überhaupt nicht! Daß einem so etwas einfällt, ist ärgerlich. Wenn Gundi die Sätze nicht in Fahrtrichtung hinausstieße, sondern zu dir herüber, was ja bei diesem Tempo tödlich wäre, aber einmal angenommen, auf der langen, geraden Grünwalder Straße täte sie das, spräche herüber zu dir, und dann hätte sie einen Mundgeruch, das wäre der Hammer.

Damit war er von Gundi weg. Zu sagen, etwas sei der Hammer, das war reiner Amadeus Stengl. Amadeus war zwar nur ein bißchen jünger als Karl, na ja, fünf Jahre oder vielleicht sogar sieben Jahre konnten es sein, aber er ging offenbar intensiv mit den nachfolgenden Generationen um und übernahm, wahrscheinlich ohne es zu merken, deren Wortgewohnheiten. Daß etwas der Hammer sei oder echt geil sei oder durchgeknallt sei oder der Wahnsinn sei, dergleichen blühte dem andauernd aus dem ohnehin immer noch fast kindlich formlosen Mund. Das Älterwerden hat diesen Mund, der offenbar nie eine bleibenkönnende Fassung gefunden hat, vollends entgleiten lassen. Ein Lippendurcheinander von Mund. Er merkte, daß er abwertend über Amadeus Stengl dachte. Das wollte er aber nicht. Wer bin ich, daß ich abwertend über Amadeus Stengl denke! Daß ein Mund sich weigert, eine Fassung zu finden, kann ein Zeichen von Lebendigkeit sein.

Hauptsache, er war von Gundi weggekommen.

Aber da sagte sie schon: Denk nicht so weit weg! Als er den Erstaunten spielte, ergänzte sie: Von mir! Das mir zweisilbig. Ihre beschäftigungslose Rechte ließ sie dabei auf sich selber zeigen, zentral.

Er hätte jetzt sagen können, daß er selber nicht mit dem, was ihm durch den Kopf gehe, einverstanden sei. Er hätte sagen sollen, daß er oft das denken müsse, was er am wenigsten denken wolle. Aber, hätte er noch dazusagen müssen, das Schlimmste sei, daß er nichts dagegen habe, das denken zu müssen, was er am wenigsten denken wolle. Da das alles unsagbar war, schaute er auf Gundis beschäftigungslose Rechte hin, produzierte, obwohl Gundi das ja nicht wahrnehmen konnte, einen Gesichtsausdruck reiner Bewunderung, um dann sagen zu können: Aus deinen Interviews weiß ich, daß du in Berlin das Geld für das Studium als Taxifahrerin verdient hast.

Hab ich, sagte sie. Bevor ich bei Max Staub Assistentin war. Der blieb aber nur ein Jahr in Berlin. Daß ich nicht mit ihm nach New York gegangen bin, sagt Diego, das sei, weil er und ich dann nicht zusammengefunden hätten, eine Entscheidung von prophetischer Genialität gewesen. Max war ja total lieb, aber er wollte mich heiraten.

Karl sagte, als erkläre das alles: Ethnologie.

Ethno-Psychoanalyse, sagte sie.

Karl dachte an die Szene im Schlößchen. Im Sängersaal. Gundi litt wieder einmal darunter, daß sie die Wissenschaft verlassen hatte. Sie hätte die Ethno-Psychoanalyse, diese gerade entstehende Wissenschaft, nicht verlassen dürfen, sagte sie. Sie wirkte wie ein Soldat, der von einer achtenswerten Armee desertiert ist. Mitten im Satz hatte sie zu sprechen aufgehört, saß da mit geschlossenen Augen und sog an ihrer bulgarischen Zigarette, als könne sie sich so aus der Welt hinaussaugen. Sie rauchte, solange sie noch rauchte, nur bulgarische Zigaretten. Wenn man sie fragte, warum, rief sie: Muß man denn immer wissen, warum man etwas tut! Nach diesem unendlich tiefen Zug aus der bulgarischen Zigarette ließ sie die Augen aufgehen wie ein Gestirn und sagte vollkommen sanft, sie habe mit ihrem Bedauern, die Ethno-Psychoanalyse verlassen zu haben, nichts gegen das Fernsehen sagen wollen.

Das war ihre Natur, das war sie selber ganz und gar, diese nichts übersehende Ausgeglichenheit. Zu ahnen war, welche Kräfte in ihr gegeneinander kämpften. Auf dem Bildschirm demonstriert sie, wie sehr man mit sich im reinen sein kann, aber das Pathos, das ihr unwillkürlich eigen ist, verrät, daß sie nichts geschenkt bekommen hat. Und eben das macht ihr grenzenloses Einverstandensein mit sich selbst schön. Dazu gehört, daß das immer nur für diesen Augenblick gilt. Gerade jetzt schwimmen die schwarzen Augen im weißen Gesicht wie ruhige Feuer. Der Mund, eine Fülle der Gelassenheit. Bis auf die dann doch noch jäh abfallenden Mundwinkel. In jedem Interview sagt sie: Was sie bei Max Staub gelernt habe, könne nirgends so fruchtbar werden wie im Fernsehen. Als müsse sie sich selbst immer wieder beweisen, wie richtig es gewesen sei, die Ethno-Psychoanalyse zugunsten des Fernsehens im Stich zu lassen. Wie richtig das war, bestätigen ihr die Zuschauer seit mehr als zehn Jahren, eben seit es Zu Gast bei Gundi gibt.

Karl war jetzt voller Bewunderung für die Frau, die viel zu schnell fuhr, alles mit der Linken erledigte und die Rechte demonstrativ beschäftigungslos ließ. Obwohl das nichts mit ihm zu tun hatte, dachte er, daß Gundi ihm demonstriere, was diese Rechte alles tun könnte. Natürlich dachte Gundi nichts dergleichen. Und er auch nicht. Aber er konnte nicht verhindern, daß er doch daran dachte. Gewissermaßen um sich gegen Gundis Gegenwart zu wehren, sagte er sich: Wenn es taghell ist, sieht sie verblüht aus. Abends, ob bei Diego oder auf dem Schirm, ist sie schön. Tageslicht ist nichts für sie. Sobald die Sonne weg ist, ist sie schön. Dabei konnte er bleiben.

Das schwere, von zwei Türmchen umstandene Tor wich vor ihnen zurück, ebenso hob sich schon das Garagentor, Gundi fuhr bis zur Garagenstirnwand.

Komm, sagte sie und öffnete weitere Tore und Türen per Fernbefehl.

Gundis Reich war das Parterre. Lichtarm, aber farbig, das war ihr Lebensbühnenbild. Sie hätte am liebsten nur Bilder von Tamara de Lempicka um sich gehabt. Aber die konnte man nirgends mehr kaufen. Immerhin, das Selbstportrait mit Bentley hatte Diego dem internationalen Markt entreißen können. Aber Giorgio de Chirico und Georges Braque und Jan Mahulka lieferten auch Stimmungen, in denen sie sich daheim fühlte.

Gundi führte Karl hinaus in den Wintergarten. Der Wintergarten war taghell und so voller Pflanzen und Blumen, daß man in einem Gewächshaus war. Auch Orchideen fehlten nicht. Hier wurde auf einem Tisch, dessen Platte aus alten Kacheln bestand, der Tee serviert. Gundi hatte ihn während der Fahrt per Autotelefon bestellt. Zwei hauchleicht auftretende Thaimädchen servierten. Zum Tee gab es Häppchen, die genau so überraschend schmeckten, wie sie aussahen.

Die Thaimädchen, die man unwillkürlich für Zwillinge halten mußte, traten immer nur zusammen auf und auch da enger nebeneinander, als es nötig oder auch nur praktisch war. Varieté, dachte Karl. Er war schon länger nicht mehr Gast gewesen im Bonsai-Schloß. Das letzte Mal hatten zwei südamerikanische Indios serviert. Auch zwillingshaft. Das war wohl Gundis Vorliebe. Vielleicht weil sie keine Kinder hatte. Oder aus ethno-psychoanalytischem Interesse. Gundi lächelte den Thaimädchen zu, als sei dieses Lächeln für die eine Information. Aber auch Applaus.

Ach, Karl, sagte sie. Er nickte. Sie tranken darauf, daß Diego noch einmal davonkomme. Aber Gundi ließ spüren, daß sie an kein Davonkommen mehr glaube. Und fing an: Sie müsse Karl jetzt doch noch sagen, daß Diego in der ersten Nacht alle Leitungen heruntergerissen und die Schläuche durchgeschnitten habe. Er habe das Gefühl gehabt, fliehen zu müssen. Die Zimmerdecke senkte sich auf ihn herab. Zum Glück kam die Nachtschwester. Er schrie sie an: Strecken Sie Ihren Arm nach oben! Tatsächlich, er sah, die Hand der Nachtschwester steckte bis zum Ellbogen in der Decke. Erst als der Nachtarzt kam und ihm eine Spritze geben wollte, die er ablehnte, wurde er ruhiger. Als Gundi dann eintraf, mittags, habe er ihr, was er getan hatte, gestanden, verzweifelt gestanden, in einer grellen Depression gestanden, weil er sich jetzt nicht mehr auf sich verlassen könne. Dabei habe er sich so an den Kopf gegriffen, als wolle er sagen, er fürchte um seinen Verstand.

Karl sagte: Das ist so furchtbar. Mehr konnte er nicht sagen.

Gundi sagte: Genau das ist es. Und eben deshalb müsse man noch froh sein, daß Diego den Vertrag unterschriftsfertig gemacht und selber noch unterschrieben habe.

In ihrem Arbeitszimmer hatte Gundi alles zur Unterschrift vorbereitet. Karl tat, was sie mit winzigen Handbewegungen empfahl, nahm vor ihrem Schreibtisch Platz, sie schob ihm die Papiere auf der dunkelblauen Glasplatte hin, kam herüber, stand neben ihm, stützte sich mit einer Hand auf seine linke Schulter und zeigte überallhin, wo er unterschreiben sollte. Dazu reichte sie ihm einen Füllhalter. Er war vor fünfzehn Jahren, als Lambert und Gundi geheiratet hatten, Trauzeuge gewesen, der Standesbeamte hatte ihm einen Füller gereicht, mit dem er dann die Urkunde unterschrieb. Seitdem hatte er kein so feierliches Schreibgerät mehr in der Hand gehabt. Er bemühte sich, Gundi zu zeigen, daß er nicht durchlese, was er unterschrieb. Diego war ihm so nahe wie er sich selber. Besonders in diesem Augenblick. Ohne es zu wollen, nahm er noch wahr, daß das, was er unterschrieb, ein Auflösungsvertrag und eine Vollmacht war. Für den Notar, sagte er, stehe er zur Verfügung.

Gundi überreichte ihm ein Kuvert. Der Scheck, sagte sie. Eins Komma zwei Millionen. Da Diego sechs Millionen verlangt und kriegt, beläuft sich der Zwanzigprozentanteil von Karl auf eins Komma zwei Millionen.

Sie sah Karl so an, daß er jetzt sagen mußte, ja, zweihunderttausend habe er eingebracht.

Diego viermal soviel, sagte sie.

Ja, sagte Karl, Diego wollte immer viermal so hoch drin sein wie ich.

Darum, sagte sie, jetzt vier Komma acht von sechs für ihn.

Karl sagte: Es gibt schwächere Renditen.

Komm, sagte sie und ging voraus. In die Bar.

Ihr Parterre schwamm im blauen Dämmer, die Bar in Orange. Karl trank sofort mehrere Schnäpse hintereinander. Quitten. Das war Diegos Entdeckung. Flaschen, die so bucklig und unsymmetrisch waren, als kämen sie aus dem abgelegensten Schottland. Gundi trank nicht einmal das erste Gläschen ganz aus.

Karl sagte, er kenne immer noch keinen Schnaps, der sich mit diesem Quittenschnaps messen könne. Jedesmal, wenn er hier davon getrunken habe, habe er sich aufschreiben wollen, wo’s den gebe.

Gundi sagte, sie werde ihm den Lieferanten nennen.

Karl merkte, daß es ihm nicht gelang, diesen Quittenschnaps gebührend zu rühmen. Er wollte nichts mehr von Geschäften wissen. Er habe sich angewöhnt, neben sich her zu leben. Das war doch ein Satz, der von einem Gast in Gundis Fernsehsalon hätte gesagt werden können, und dann hätte Gundi zu dem Gast gleichzeitig lieb und ernst hingeschaut und hätte gefragt: Fühlen Sie sich wohl dabei? Auf jeden Fall wäre ein solcher Satz ein Einfallstor gewesen für sie. Nichts davon jetzt. Das ärgerte Karl. Ein bißchen Interesse für ihn, Gundula Powolny! Er interessierte sich für Gundi. Das spürte er. Ihre Haare waren durch die Jahre hindurch gleich dunkel geblieben. Kastanienbraun mit einem Hauch Rot. Am Telefon sprach Gundi ihren Namen immer so aus, daß das -i- gleichzeitig betont und verkürzt wurde. Es schnellte förmlich weg vom -d-. Schwarze Witwe. Wahrscheinlich war sie das bald. O Diego. Seit er ihn da liegen gesehen hatte, fühlte er sich ihm wieder so nah wie vor fünfzehn Jahren. Diego und er waren jetzt nicht mehr so befreundet, wie sie es gewesen waren. Immer seltener telefonierten sie. Karl fand, daß Diego anrufen müßte. Es war Diego, der ihn nicht mehr so brauchte. Allenfalls noch für Trautmann Titan. Diego hatte viel mehr Freunde, als Karl je gehabt hatte. Er hielt es für möglich, daß Gundi auch die Freunde bestimmte, wie sie die Möbel und die Urlaubsorte und die Automarken und Diegos Kleider bestimmte. Sie hatte Diego die Krawatten abgewöhnt. Fast verboten. Im Theater traf man Diego ohne Krawatte. Es sah grotesk aus, fand Karl. Aber Diego fand das offenbar nicht. In die Oper durfte Karl nicht mehr, weil es die ebenso zarte wie eigensinnige Helen nervös machte, wenn sie die gesungenen Texte nicht verstand. Und in Konzerte ging Diego nicht mehr, weil Gundi fand, das Konzertpublikum heuchle. Das machte sie nervös. Karl ging nie ohne Krawatte aus dem Haus. Wenn Diego dann auch noch den obersten, manchmal sogar auch noch den zweitobersten Knopf offenließ, kommentierte Karl: Oben ohne, was! Bei Karl hatte sich ein Schrank voller Krawatten angesammelt, weil er eine Krawatte, nur weil er sie nicht mehr trug, nicht wegwerfen konnte. Er kaufte immer mehr Krawatten, als er tragen konnte. Die Häuser Lavin, Versace, Leonardo, Monsieur Élysée, Armani, Missoni und andere, auf die er geschmacklich abonniert war, hielten ihn mit immer noch prächtigeren Kreationen in Atem. Also mehrten sich im Krawattenschrank auch die ungetragenen Krawatten. Nur auf die Tennisplätze war er ohne Krawatte gegangen. Das war vorbei.

Karl und Gundi saßen nebeneinander an der Bar, die zwei Thaimädchen standen wie zusammengewachsen hinter der Bar, so freundlich wie ernst. Gundi bestellte einen Tomatensaft.

Und du, sagte sie.

Ich, sagte Karl, lebe neben mir her.

Ein Glas Dom Pérignon für meinen Freund, sagte Gundi.

Als Karl das Glas in der Hand hatte, sagte sie: Ach, Karl.

Ich weiß, sagte der.

Und sie: Manchmal muß man sich Mühe geben, nicht zu sehr verstanden zu werden.

Ich weiß, sagte Karl.

Und sie: Manchmal merkt man, man wäre ruiniert, wenn einen der andere verstünde.

Genau, sagte Karl.

Alles hat immer mehr Gründe, als man sagen kann, sagte sie.

Sogar als man weiß, sagte er.

Woher weißt du das, sagte sie fast heftig.

Von dir, sagte er.

Sie sah ihn an, als müsse sie sich jetzt zusammennehmen. Dann löste sie sich und sagte: Diego hat im vergangenen Jahr und im Jahr davor scheußlich wenig verkauft.

Karls Gesicht verzerrte sich, als tue ihm plötzlich etwas weh.

Und dann die Brienner Straße, sagte sie, was die kostet.

Karl nickte.

Daß er Trautmann Titan verkaufen will, ist keine Laune, sagte sie. Sammler, die er zu Persönlichkeiten entwickelt hat, zu Sammlerpersönlichkeiten von internationalem Ruf, die stellen sich jetzt taub. Stücke, für die sie vor zwei Jahren hätten das Doppelte bezahlen müssen, nehmen sie jetzt nicht für die Hälfte. Bitte, typisch, du kennst sie auch, die Leonie von Beulwitzen, die diesen Tick hat: nur Landschaften großer Meister, aber es darf kein Mensch drauf sein. Menschen stören mich, sagt die dreimal Geschiedene, die unser Freund und Formulierer Amadeus Stengl die Scheidungsgewinnlerin nennt. Diego hat sie in die Schweiz gelenkt. Jedes Jahr für eine knappe Million. Segantini oder Hodler oder Anker. Und jetzt, Diego bietet ihr einen Segantini für neunhunderttausend. Sie winkt ab. Sie will jetzt mehrere Jahre Geld nur noch für Precious Woods ausgeben. Edelholz-Aktien, ökologisch einwandfreie Renditen. Falls du so was hast, biete es ihr an. Ich werde nächsten Donnerstag noch einmal reden mit ihr. Läßt sich zehn Jahre bedienen, schwelgt in den menschenlosen Bächen und Bergen von Hodler und Segantini, und jetzt Edelhölzer. Diego fürchtet allmählich um sein Charisma, sein spell, schlicht seine Potenz. Das ist der Horror überhaupt. Wenn er nicht mehr an sich glaubt, glaubt kein Mensch mehr an ihn. Das ist der Ruin.

Zuerst muß er jetzt gesund werden, sagte Karl.

Ich finde, du hast fabelhaft reagiert, sagte sie.

Er fragte, wie sie das meine.

Daß du den Verkauf sofort bejaht hast, sagte sie.

Es ist Diegos Firma, sagte Karl.

Aber du hast sie gegründet, sagte sie.

Und Diego hat sie groß gemacht, sagte er. Einhunderttausend TOP FIT an Tchibo! Das war sein Einstieg. Ein echter Diego-Coup. Ich wäre nie über die Sportgeschäfte hinausgekommen.

Auf Diego, sagte sie, den größten Liebling aller Zeiten.

Auf ihn, sagte Karl.

Sie tranken, saßen stumm, aber einander zugewandt, dann glitt sie von ihrem Barhocker, kam zu Karl hin, nahm seine beiden Hände und sah ihn so an, daß er wegschauen mußte. Sie griff an sein Kinn, holte sein Gesicht zurück und sah ihn weiterhin so an, daß es nicht auszuhalten war. Ihre ohnehin dunklen Augen schimmerten wie eine Flüssigkeit. Offenbar weinte sie. In diesem Licht war sie wieder schön. Nichts als schön. Dann zog sie ihn vom Hocker, zog ihn zu sich hin und flüsterte: Solche Freunde zu haben ist eine Auszeichnung. So ungeschützt pathetisch konnte nur Gundi daherreden.

Karl mußte sagen: Bitte, nicht übertreiben.

Feigling, sagte sie.

Das ist weniger übertrieben, sagte er.

Sie ließ sich auch einen Dom Pérignon geben, Karl kriegte auch noch einen, Cheerio, sagte sie, und Karl, der lieber Prosit gesagt hätte, sagte auch Cheerio.

Besser, als du es gesagt hast, kann man es nicht sagen, sagte sie, es ist so furchtbar.

Karl spürte, daß Diego für Gundi jetzt tot war. Er mußte jetzt von Diego reden. Er fing an: Daß wir nach so vielen Freundschaftsjahren auch noch in einer Firma zusammengefunden haben, war eher ein Zufall. Aber Zufälle gibt’s eben nicht. Schon komisch, daß ich die ganze Tennis-Chose dem Amadeus Stengl verdanke. Der ruft mich eines Tages an und sagt: Du, jetzt hab ich was für dich, so was, wie für mich noch keiner gehabt hat. Du kennst ja seine Sprüche. Dann schickt er mir den Ingenieur Ignaz Gruber, gerade ungut bei Kneissl ausgeschieden, aber dort beteiligt an der Entwicklung von White Star, Red Star und Blue Star. Mit White Star hat sich Ivan Lendl in einer Saison von Platz 78 unter die ersten zehn gespielt. Beim Magic Allround gab’s dann Zwist. Und dieser Ignaz hat einen Schläger in petto gehabt, hundert Prozent Graphit, vor allem aber die neue Form. Das hatte er noch bei Kneissl am Schlag-Simulator erkannt, daß achtzig Prozent aller Bälle auf dem unteren Teil der Schlagfläche landen, also macht er diesen Teil breiter. Und eine Bespannung, zusammen mit Kuebler entwickelt, wie überhaupt Kueblers Plus 40 Grubers Vorbild war. Fastest Racket in the World, so der Slogan. Gruber hatte sein Racket zuerst in den USA angeboten, bei Kent, der klassischen Firma in Pawtucket, Rhode Island, die waren zum Glück taub. Und ich hatte gerade Helen, geborene Wieland, geheiratet, und ihr Vater, der sich viel hatte einfallen lassen, das Vermögen, das er seinem einzigen Kind hinterließ, vor unsoliden Schwiegersöhnen zu schützen, war gerade gestorben. Aber ich hätte Ignaz Gruber auch ohne Helens Vermögen finanzieren können. Dann der Tennis-Boom der neunziger Jahre. Wir waren jedes Jahr mit einem neuen Schläger auf dem Markt. Auch wenn Steffi Graf und Boris Becker schon vergeben waren, Diego entwickelte Strategien, als habe er sein Leben lang Rackets verkauft. Produziert wurde in Kuala Lumpur. Selbst für Diegos Verhältnisse wurde gut verdient. Wir saßen in der vordersten Reihe in Wimbledon und jubelten, wenn Boris den Ball cross an Edberg vorbeijagte, und der Atem stockte uns, wenn Steffi Graf die Rückhand der Sabatini umlief, ihre rechte Ecke freigab und die Sabatini mit einem Longline-Schlag den Punkt machte. Wir waren überall. November 89 im Madison Square Garden, Steffis zweiter Sieg im Master’s Turnier, und Martina Navratilova, die zum dritten Mal von Steffi Geschlagene, sagt: Steffi hat mir die Freude am Tennis zurückgegeben. Das ist Humanität! Wir haben natürlich gehofft, wir könnten Steffi vielleicht doch noch den Dunlops abspenstig machen. Ging nicht. Egal. Wir blieben dran. Wir waren dabei, anno 92, als sich Boris in Paris zum ersten Mal mit Zweitagebart präsentierte. Und wir haben uns Hoffnungen gemacht, als Goran Ivanisevic den Ball, bevor er ihn zum Aufschlag hochwarf, an unserer Bespannung schnuppern ließ. Überhaupt Ivanisevic! Er schlug immer nur mit dem Ball auf, mit dem er einen Punkt gemacht hatte, die anderen Bälle steckte er in die Tasche. Dann Pete Sampras, Ballgeschwindigkeit 194 Kilometer. Boris brachte da nur noch 184. Weißt du, das Tennisgeschäft paßte in meine Biographie so wenig wie in die von Diego. Ich wollte nie Geld gegenständlich verdienen. Und Diego wollte Geld nur mit den schönsten und größten Stücken der Vergangenheit verdienen. Wir haben uns hinreißen lassen. Aber so hätte es nicht enden dürfen. Das ist so furchtbar.

Und in die Pause hinein wieder: Gundi.

Ihre Augen waren immer noch diese Flüssigkeit. Hätte er etwas gegen Diego sagen sollen? Das war unvorstellbar. Aber in ihm fand eine Vorstellung zusammen, in der Gundi nackt war. Er hätte doch viel zu sagen gegen Diego beziehungsweise Lambert. Der hatte ihn doch seit Jahren nur noch behandelt wie Dreck. Und es war ganz unmißverständlich, daß sich Lambert der kulturellen Fraktion angeschlossen hatte. Das waren Leute, die den Geldhandel, das Investitionswesen und die Spekulation verachteten. Karl hätte diese Selbsttäuscher auch verachten können. Er verachtete sie nicht. Die waren einfach befangen, kulturell befangen. Die glaubten sich, daß sie Kunst um der Kunst und Politik und Wissenschaft um der Politik und um der Wissenschaft willen betrieben. Natürlich alles immer zum Wohl der Menschen oder gar der Menschheit. Daß sie alles nur um des Geldes willen betrieben und das Geld nur das Mittel war, um Frauen zu bekommen, daß also alles, was überhaupt stattfand, wegen der Frau stattfand, das wurde nicht mehr erlebt und schon gar nicht gestanden. So raste es in ihm. Und immer wieder: Gundi nackt. Gundula Powolny. So mußte sie heißen, der Name war wie ein Körperteil, ein weiblicher Körperteil. Rundweichfließend. Gundipowolny.

Er mußte jetzt noch einmal über Diego reden. Egal, was dabei herauskam. Selbst die Wahrheit durfte es sein. Weißt du, Gundi, du weißt es natürlich nicht, und für dich ist es, ich weiß nicht, was es für dich ist, aber Diego und ich, wir haben von Anfang an auseinandertendiert. Ich, angefüllt von Flausen, Diego mit einer genialen Nase für das Mögliche. Nicht beneidenswert zu sein, mehr kann man nicht erreichen. Das war mein Spruch, wenn wir nachts betrunken durch den Englischen Garten taumelten und einer den anderen in die Isar stieß und sofort nachsprang und ihn wieder herauszog. Diego wollte beneidenswert sein. Beinahe hätte ich jetzt gesagt, sonst hätte er ja dich nicht geheiratet. Als wir uns kennenlernten, sagte er, bevor er wissen konnte, wie das auf mich wirken würde, er halte es mit Oscar Wilde: Die Anzahl meiner Neider bestätigt meine Fähigkeiten. Diego hatte eine Menge Sprüche im Kopf, die alle nur hießen: Es lohnt sich nicht, der Zweite zu sein. Ich wollte lieber lächerlich als beneidenswert sein. Willst du es wirklich besser haben als andere, habe ich ihn gefragt. Er hat mich ausgelacht. Du spekulierst immer noch auf den christlichen Mehrwert, sagte er. Diego war von Anfang an beneidenswert. Ihm machte es nichts aus, Theaterwissenschaft zu studieren, ohne je etwas mit Theater zu tun haben zu wollen. Kunstwissenschaft genauso. Die erste Firma, die er noch als Student drüben in Haidhausen gründete, war ein Versandhaus für aussterbende oder ausgestorbene Artikel. Alles, was sonst nicht mehr ging, ging, wenn Diego es anbot. Er kaufte bei bankrotten Firmen die Artikel, an denen diese Firmen bankrott gegangen waren, und ließ sie in seinen Katalogen auferstehen. Der Katalog der Dinge. Wurde Kult. Diego war leidenschaftlich nostalgisch. Kein kalter Kalkulator, sondern ein aller Vergänglichkeit widerstehender Mensch. Mich hat er eingeladen, an diesem Kampf gegen das Vergehen mitzumachen. Meinen Bruder Erewein hatte er schon vorher entdeckt. Haidhauser Nachbarschaft. Ob Feuerzeug oder Auto, Diego machte das aus der Mode Gekommene zum Wert, zum Schönheitswert. In seinen Katalogen wurde alles, was unansehnlich geworden war, wieder schön. Schöner, als es gewesen war, als es noch in Mode war. Ich schrieb eine Zeit lang die Texte zu den Bildern, die mein Bruder Erewein unter dem Pseudonym YX fotografierte. Seine Fotos waren magischer Realismus. Jede Damenhandtasche hatte Aura, jeder Liegestuhl eine Gloriole aus Licht und Einsamkeit. Nach ein paar Jahren veranstalteten Galerien Ausstellungen mit Ereweins Bildern. Niemand, stand dann in der Zeitung, könne Gegenstände feiern wie Lambert Trautmann und YX. Als dann auch noch Beuys für den Katalog der Dinge ein Vorwort schrieb, war Diego angekommen. Er wechselte ganz allmählich zum luxe subtil und dann zum Nichtsalsschönen, zum unanzweifelbar Schönen. Und weißt du, was ich an Diego am meisten bewundere? Seine Geradlinigkeit. Er sagt immer, was er will. Als er dich wollte, hat er zu dir gesagt: Ich will Sie. Ich habe immer versucht, von ihm zu lernen. Im Geschäft. Keine Tricks. Egal, ob Gegner oder Klient, den anderen verblüffen durch Geradlinigkeit. Ich will Sie übervorteilen, wehren Sie sich. Das kann er sagen. Nichts ist ihm so fremd wie Betrug. Ich hab’s gelegentlich versucht, bei mir wird’s immer zur Groteske.

Es ist so furchtbar, sagte Gundi. Sie müsse sich vorbereiten. Morgen hat sie Sendung. Und in der letzten Nacht habe sie geträumt, daß Stalin ihr die Fußnägel schneide. Das könne sie morgen brauchen, sie hat nämlich morgen einen Gast, der die Welt verachtet, weil die Welt ihn enttäuscht hat. Zwar Milliardär, finanziert aber nur noch, was die Nächstenliebe in der Welt steigert. Den will sie nach seinen Träumen fragen. Seit Stalin ihr im Traum die Fußnägel geschnitten hat, weiß sie, daß von jetzt an in jeder Sendung nach den Träumen gefragt wird. Mach’s gut, lieber Karl. Ich beherrsche mich, sonst würde ich sagen: Liebster Karl.

Karl dachte sofort: Liebster, das ist doch belegt für heute, gerade im Krankenhaus gebraucht von ihr, als sie gesagt hatte, Diego verstehe noch alles, und geschlossen hatte: Nicht wahr, Liebster. In einem Schulaufsatz würde man das als Wiederholung ankreuzen.