Anhäufen, forschen, erhalten - Anna Joss - E-Book

Anhäufen, forschen, erhalten E-Book

Anna Joss

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Beschreibung

Das Schweizerische Nationalmuseum verfolgte seit seiner Eröffnung 1898 sehr unterschiedliche Sammlungstätigkeiten. Während sich die Geschichtsschreibung bisher vor allem für Fragen der Konstruktion von Nation und für die Prozesse der Identitätsbildung interessierte, untersucht Anna Joss erstmals die Sammlungspraxis und zeigt, dass für die Museumsangestellten in ihren alltäglichen Tätigkeiten auch ganz andere als repräsentative Aspekte leitend waren: nämlich Objekte anzuhäufen, zu erforschen und zu erhalten. Die vorliegende Sammlungsgeschichte rückt Protagonisten der Museumswelt in den Blick, die bisher wenig beachtet wurden: Kunsthändler, Donatorinnen, Schreiner, Vergolder, Restauratorinnen, Chemiker und andere mehr. Erzählt wird, welche Wege bekannte Sammlungsstücke wie die "Gotthardpost" und rätselhafte Dinge im Museumsbetrieb gingen und wie sich die Objekte selbst dabei nach und nach veränderten.

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«Man betrachte alle diese Dinge in dem Museum mit rechten Augen und bedenke dann die erstaunlichen Mengen gleichartiger Dinge, die notwendig in Gebrauch gewesen sind; man denke an die Millionen Teller, die während des hier vergegenwärtigten Zeitabschnittes hergestellt und in Gebrauch genommen werden mussten; danach erwäge man den Zugriff aller vorstellbaren zerstörenden Ursachen auf diese unermessliche Anzahl von Stücken; man denke an die Tonnen Scherben, an die Trümmerberge, die zu dem, was übriggeblieben ist, hinzuzurechnen sind; man denke an die Sterblichkeitsquote all dessen, was zerbrechlich ist; an die wahrscheinliche Lebensdauer einer Untertasse oder einer Gemüseschale… […]

Nichts gleicht dem bis zum heutigen Tage angehäuften Kapital unserer Kenntnisse, unserem Haben im Buche der Geschichte so, wie diese Sammlung von Dingen, die der Zufall uns erhalten hat. All unser Wissen ist wie sie ein Rückstand. Unsere Geschichtsurkunden sind Strandgut, das ein Zeitalter einem anderen überlässt, wie es der Zufall will, und in vollem Durcheinander.

Doch kundige und fromme Hände heben da und dort auf, was von diesen Überbleibseln übriggeblieben sein mag, ordnen sie nach bestem Wissen und Können und setzen sie, so gut sie es eben vermögen, zu einem Gesamtbild zusammen, das uns ans Denken bringt und Umrisse erkennen lässt. Wenn wir sagen: ‹Stil Louis XV›, geben wir in Wirklichkeit nur einer dieser Zusammenstellungen von Reliquien und immer wiederkehrenden Wiederholungen einen Namen – mit all der Willkür, die dazu gehört. […]

Wie viele Lücken! Sicherlich. … Doch lasst uns ein wenig weiterdenken: wir werden dann alsbald finden, dass, hätten wir das Ganze, wir damit ganz und gar nichts anzufangen vermöchten. Es gäbe nämlich dann für unseren Geist nichts zu tun.»

Paul Valéry: Variationen über die bebilderte Keramik, in: ders.: Über Kunst. Essays, Frankfurt a. M. 1959 [Fr. 1931], S. 158–165, hier 163f.

Inhalt

Einleitung

Anhäufen

Platzprobleme um 1910

Debatte über die Mengenbildung

Handhabung der Fülle

Blick auf spätere Mengenverhältnisse

Forschen

Die Einführung von Nachweisakten 1937

Auf der Suche nach der «inneren Geschichte» der Objekte

Durchsichtige Sammlungsstücke

Forschen in den 1930er- bis 1960er-Jahren

Erhalten

Jüngere Geschichte statt alternde Altertümer um 1970

Konservierung der stofflichen Seite der Dinge

Gegenwartsbezogene Vermittlung von historischem Wissen

Erhalten im neuen Jahrtausend

Schluss

Dank

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Bibliografie

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

Das erste Sammlungsstück, das die Besucherinnen und Besucher des Schweizerischen Nationalmuseum zu sehen bekommen, ist eine Postkutsche. Sie steht seit der Eröffnung des Museums 1898 am Eingang. Die Eidgenössische Postdirektion hatte das Gefährt damals dem Museum geschenkt, worauf die Museumsleitung es an diesem prominenten Platz aufstellte. Heute ist auf dem beigestellten Schild zu lesen, es sei die alte Gotthardpost, die 1842 bis 1882 am Gotthardpass im Einsatz war (Abb. 1 und Abb. 2).1

Ganz woanders befindet sich die «Weisse Masse in Glasbehälter», 2 ebenfalls ein Objekt aus der Sammlung des Schweizerischen Nationalmuseums. Es liegt im Sammlungsdepot des Museums in Affoltern am Albis. Vermutlich hatte eine Hilfskraft den Glasbehälter mit dem undefinierbaren Inhalt Anfang des neuen Jahrtausends gefunden und dann unter der Klassifikation «Objekt unbestimmt»3 inventarisiert. Damals wurden die über die Stadt Zürich verstreuten Depots des Nationalmuseums aufgehoben, die darin aufbewahrten Sammlungen wurden mit Strichcodes neu erfasst und in das ausgebaute Depot nach Affoltern am Albis verlegt (Abb. 3).4

Die zwei Objektbeispiele lassen erahnen, dass am Schweizerischen Nationalmuseum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Sammlungstätigkeiten ausgeübt wurden und auch ganz unterschiedliche Protagonisten daran beteiligt waren. Um diese vielfältige Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Nationalmuseums geht es in diesem Buch.

Mit dem Sammeln von «Altertümern»5 wurde in der Schweiz auf bundesstaatlicher Ebene 1886 begonnen. Bald darauf beschlossen die eidgenössischen Räte, für die wachsende Sammlung ein Museum in Zürich zu gründen.6 Die Museumseröffnung im Jahr 1898 fiel in eine Zeit, in der das nationalstaatliche Sammeln in Europa äusserst populär war. Die meisten Länder hatten während des 19. Jahrhunderts Nationalmuseen und historische Museen errichtet.7 Weder die Krisen noch die Kriege der folgenden Jahrzehnte setzten den Sammlungstätigkeiten ein Ende. Beim Schweizerischen Nationalmuseum ist der Objektbestand von den anfänglich 8227 Objekten der ersten angekauften, archäologischen Sammlung auf gegenwärtig über 840000 Objekte angewachsen.8

Weshalb bestehen diese Museen noch? Weshalb wurden Energie, Zeit und Geld in sie gesteckt? Wer engagierte sich für ihr Weiterbestehen? Und wie? Welche Tätigkeiten waren prägend? Und was für eine Rolle spielten die Sammlungsstücke dabei? Diesen Fragen will ich am Fall des Schweizerischen Nationalmuseums nachgehen und daraus allgemeine Schlüsse zur Geschichte der Nationalmuseen im 20. Jahrhundert ziehen, methodologisch verstanden als eine Verallgemeinerung innerhalb eines Falls.9 Ich werde die musealen Tätigkeiten während des 20. und 21. Jahrhunderts schildern sowie die Beweggründe für das stetige Weitersammeln und den Fortbestand des Schweizerischen Nationalmuseums aufzeigen.

Abb. 1: Eingang mit alter Gotthardpost, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Postkarte, 1900, SNM Dig. 19731.

Abb. 2: Gotthard-Postwagen beim Eingang des Schweizerischen Landesmuseums Zürich, 2012, Foto Anna Joss.

Abb. 3: Weisse Masse in Glasbehälter, LM-Nr. 108140, Sammlungszentrum, Affoltern am Albis, 2011, Foto Anna Joss.

Sammlungstätigkeit als historiografischer Gegenstand

Im Zentrum meiner Untersuchung steht die Geschichte der Sammlungspraxis des Schweizerischen Nationalmuseums und folglich die Geschichte jener Tätigkeiten, die eng verbunden sind mit der Objekte-Sammlung des Museums. Mit diesem praxeologischen Zugang will ich einen neuen Blick auf die Geschichte der Nationalmuseen werfen. Bisherige Untersuchungen zu diesem Museumstyp beschränkten sich zumeist auf die musealen Repräsentationsformen, speziell die Inszenierungen in den Ausstellungsräumen der Museen, und die damit verbundene Frage nach den Identitäts- und Nationalitätskonstruktionen.

Die Forschungsergebnisse zu den Museen, welche die «Nation» im Namen tragen, besagen, dass diese Museen in enger Verbindung zur Nationalstaatenbildung des 19. Jahrhunderts stehen. Diese Institutionen seien vom Bürgertum für die jungen Nationen geschaffen worden mit dem Ziel, als Orte der nationalstaatlichen Identitätsbildung zu fungieren, als Stätten der Repräsentation und nationale Gedächtnisräume.10 Dieses Narrativ prägt auch die Geschichtsschreibung über das Schweizerische Nationalmuseum.11 Mich interessiert dagegen, wie die Geschichte eines Nationalmuseums und seiner Sammlung aussehen könnte, welche nicht nur vom Geschehen in den Ausstellungsräumen handelt, sondern von allen Tätigkeiten rund um die Sammlung berichtet. Daher untersuche ich auch, was in den anderen Räumen des Museums geschah: in den Büros der Museumsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen, in den Objektdepots, in den Werkstätten und in den Forschungslabors des Museums.

Dass praxeologische Fragestellungen neue Ergebnisse hervorbringen und andere Facetten der Museumsgeschichte zeigen, haben die wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen zu den naturhistorischen Museen und Universitätssammlungen deutlich gemacht, die im Zuge der historischen Wissenschaftsgeschichte entstanden sind.12 Sie hatten ab den 1980er-Jahren damit begonnen, «über die Wissenschaft im Machen»13 zu forschen. Um zu verstehen, wie Theorien, Wissen und Erkenntnisse entstehen, analysierten sie die Praktiken der Forschung: Laboruntersuchungen etwa oder das Sammeln und Klassifizieren von Objekten.14

Die Wissenschaftsgeschichte und die Wissensgeschichte (ihre jüngere «Verwandte») benennen im Voraus den Inhalt der Praktiken, die sie untersuchen, als «Wissenschaft» oder «Wissen».15 Ich gehe demgegenüber von der These aus, dass sich der Inhalt, zusammen mit den Praktiken, stark veränderte und daher eine solche theoretische Fixierung die Untersuchung unproduktiv beschränkt. Ich stelle daher keine Behauptung an den Anfang meiner Arbeit über die Absichten der Akteure und die Inhalte ihrer Tätigkeiten am Schweizerischen Nationalmuseum und will nicht von der Annahme ausgehen, dass sie «Nation» oder «Wissen» herstellten. Stattdessen formuliere ich meine Fragestellung so offen wie möglich und frage: Welche Praktiken gab es, und was entstand dabei?

Praxis «Sammeln»

Was ist unter «Sammlungspraktiken» und einem praxeologischen Forschungszugang zu verstehen, und wie unterscheidet er sich von den bisherigen historischen Forschungen zum Nationalmuseum und historischen Museum? Die beiden eingangs erwähnten Sammlungsstücke, die Postkutsche und die «Weisse Masse in Glasbehälter», dienen mir als Exempel, um die Eigenheiten und Differenzen zu zeigen. Die klassischen Fragen, die im Rahmen einer historischen Untersuchung zum Nationalmuseum gestellt werden könnten, wären etwa Folgende: Weshalb bildet eine Postkutsche aus dem 19. Jahrhundert, die über den grossen Alpenpass Gotthard fuhr, über so lange Zeit den Auftakt des Museumsbesuchs? Was repräsentiert sie? Welches Ausstellungsprogramm stand und steht dahinter? Welche Rolle hat die Gotthardpostkutsche im Prozess der symbolischen Hervorbringung der Nation gespielt? Wandelte sich diese im Lauf der Zeit? Über welches identitätsstiftende Potenzial verfügt die Kutsche? Was trägt sie zur nationalen Selbstfindung bei?16 Die Untersuchung der Sammlungspraktiken bringt andere Fragen mit sich, beispielsweise: Wie kamen die Postkutsche und weitere Objekte in die Sammlung des Nationalmuseums? Wie wurde über ihre Erwerbung beschlossen? Was geschah danach mit den Objekten im Sammlungsalltag? Welche Stationen durchliefen sie im Museumsbetrieb? Wie kümmerten sich die Museumsmitarbeitenden während der mehr als 100 Jahre um sie? Steht die Kutsche seit ihrer Erwerbung draussen, oder war sie zwischenzeitlich auch anderswo aufgestellt? Wer hat wann die Tafel mit den Erklärungen zur Kutsche geschrieben und die Kette um die Kutsche gespannt? Gibt es weitere Dokumente, und wo sind diese aufbewahrt? Weshalb leuchtet die gelbe Farbe der alten Kutsche so? Wurde sie kürzlich restauriert? Gibt es weitere Kutschen? Wo sind diese, und wie ist der Umgang mit ihnen? Diese Fragen führen in alle Hallen, Zimmer, Kammern und Keller des Museums, wo sich einem eine wenig bekannte, aber äusserst spannende Museumswelt auftut. Hier stiess ich auch auf die «Weisse Masse in Glasbehälter». In einem «Objektbüro» genannten Zimmer mit Computerarbeitsplätzen und einem Tresor voller wertvoller Inventarbücher habe ich den ersten Hinweis auf sie gefunden. Auf das Sammlungsstück bin ich in der internen Objektdatenbank des Landesmuseums gestossen, als ich herauszufinden versucht habe, wie am Landesmuseum die Objekte inventarisiert und klassifiziert wurden. Ich habe mir die «Weisse Masse in Glasbehälter» dann auch noch von Nahem angesehen im Sammlungsdepot in Affoltern am Albis. Was dieses Ding genau ist, konnte ich nicht herausfinden. Doch erfuhr ich mehr über die Geschichte des Erwerbens, Inventarisierens und Klassifizierens am Landesmuseum, wie ich noch berichten werde.

In dieser Arbeit erzähle ich aber nicht die Sammlungsgeschichte von Einzelobjekten, sondern die Geschichte der Sammlungspraktiken. Im Fokus stehen damit die Tätigkeiten der Museumsmitarbeitenden hinsichtlich verschiedener Sammlungsstücke sowie die Bewegungen der Objekte und die Stationen, die sie am Schweizerischen Nationalmuseum durchlaufen haben.17 Diese Praktiken subsumiere ich unter dem Begriff «Sammeln», um zu betonen, dass es bei diesen Tätigkeiten um den direkten Umgang der Museumsmitarbeitenden mit der Sammlung geht. «Sammeln» meint nicht das Zusammentragen von Dingen im engen Sinn, sondern ganz verschiedene Tätigkeiten, die beim Anlegen und Betreuen einer Sammlung ausgeübt werden: Objekte kaufen, schenken, aufbewahren, ausleihen, weggeben, wegwerfen, ordnen, inventarisieren, dokumentieren, erforschen, restaurieren, ausstellen, einlagern und so weiter. Diesen Tätigkeiten ist gemeinsam, dass sie im institutionellen Rahmen des Schweizerischen Nationalmuseums ausgeübt wurden.

Zum Schweizerischen Nationalmuseum gehören verschiedene Häuser an unterschiedlichen Standorten in der Schweiz. Die Gesamtbezeichnung für sie war bis 2009 im deutschen Sprachgebrauch «Schweizerisches Landesmuseum».18 Ab dann wurde mit «Landesmuseum» nur noch der Sitz in Zürich bezeichnet und für die Bezeichnung aller Häuser der Begriff «Schweizerisches Nationalmuseum» verwendet. Zürich ist der Standort des ersten Museumsbaus für die staatliche Sammlung, dient bis heute als Ausstellungsort sowie Ort der Verwaltung und war für viele Sammlungstätigkeiten stets der hauptsächliche Schauplatz. Dementsprechend wird sich meine Sammlungsgeschichte auch besonders auf diesen Ort konzentrieren. Zwischendurch wird aber immer wieder auch von den anderen Standorten berichtet, die während des 20. Jahrhunderts zum Museum in Zürich hinzukamen und teilweise wieder abgestossen wurden.19 Ich werde jeweils die zeitspezifische Bezeichnung verwenden, die in den Quellen vorkommt, und deshalb meist vom Schweizerischen Landesmuseum sprechen (Abb. 4).

Meine Sammlungsgeschichte ist keine Institutionsgeschichte. Der Schwerpunkt wird nur auf einen gewissen Bereich der institutionellen Tätigkeiten gelegt: auf die unmittelbaren Sammlungspraktiken. Die personelle und finanzielle Verwaltung und die administrativen Arbeiten im Austausch mit der Bundesverwaltung werden nur am Rand behandelt. Viel Gewicht erhalten hingegen die Praktiken, die sich an den Grenzen des institutionellen Handlungsraums, im Austausch mit externen Personen und Institutionen, abspielten, wie etwa die Objektauswahl, die für das Verständnis der Konstitution der Sammlung wichtig ist.20

Die Protagonisten: Menschen und Dinge

Das Museum versammelt Menschen genauso wie Dinge.21 Der Geschichte der Sammlungspraxis gehören demnach zwei Gruppen von Protagonisten an: die Sammler/Sammlerinnen und die Sammlungsstücke. Ich will ihre beiden Rollen in der Praxis vorstellen.

Ganz unterschiedliche Sammlerinnen und Sammler waren an der Sammlungspraxis beteiligt: Museumsdirektoren, Donatorinnen, Antiquitätenhändler, Mitglieder der Bundesbehörden, Handwerker, Restauratoren, Konservatoren und so weiter. Die Konservatoren (bis 1961 waren es ausschliesslich Männer) waren diejenigen, die den Museumsdirektor bei der Objekterwerbung unterstützten, die Sammlungstücke inventarisierten, ordneten und halfen, sie auszustellen. Üblicherweise verfügten sie über eine akademische Ausbildung in Kunstgeschichte oder Ur- und Frühgeschichte, später auch über andere geschichtswissenschaftliche Ausbildungen.22 Die Konservatoren wurden auch einfach nur «wissenschaftliche Beamte»23 genannt und an anderen Museen Kustoden.24 Ab den 2000er-Jahren wurden sie dann als Kuratoren bezeichnet. Die Restauratoren wurden zuerst «technische Beamte»25 und dann später «Konservatoren/Restauratoren»26 genannt. Sie hatten anfänglich eine künstlerische oder handwerkliche Ausbildung, zu der sie autodidaktisch die nötigen Verfahren und Handgriffe für den Museumsbetrieb dazulernten; später gab es die Möglichkeit einer professionellen Ausbildung als Restaurator, als Restauratorin.27 Mich interessiert ihr spezifisches Handeln als Zuständige für die staatliche Sammlungstätigkeit. Ich werde mich nicht speziell mit den Einzelbiografien der Sammlerinnen und Sammler auseinandersetzen. Ihr Handeln hat persönliche biografische sowie gemeinschaftliche und gesellschaftliche Anteile: Der persönliche Anteil betrifft die individuell beschränkte Wahrnehmung und das limitierte Wissen der einzelnen Sammlerinnen und Sammler. Gemeinschaftlich war ihre Tätigkeit, weil sich ihre Handlungen in der Interaktion, in Aushandlungsprozessen mit der sozialen Umgebung, in gemeinsamen Praxiszusammenhängen und in Handlungsgefügen abspielten. Gesellschaftlichen Charakter hatten ihre Aktivitäten, weil ihren Handlungen ein staatlicher Auftrag zugrunde lag, der einer regelmässigen politischen Legitimierung bedurfte.28

Abb. 4: Schweizerisches Landesmuseum in Zürich, in: Hans Lehmann: Offizieller Führer durch das Schweiz. Landesmuseum, Zürich um 1898, SNM Scan.

Im Anschluss an bestehende Theoreme stellt sich dabei die Frage, mit welchen praktischen Fähigkeiten, stillen Fertigkeiten (tacit skills)29 und fachlichen Kompetenzen die am Sammeln Beteiligten ausgestattet waren, wie auch die Frage, über welches Handlungswissen (Wissen-wie) und über welchen Habitus (Bourdieu) diese Personen verfügten.30

Die Praxis besteht aus Handlungsgepflogenheiten, Ritualen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Wissen.31 Aber im Handeln vollzieht sich nicht einfach nur das, was die Sammlerinnen und Sammler vorab gedacht und entschieden haben, wie es etwa die Soziologen Karl Hörning und Julia Reuter beschreiben.32 Vielmehr ist hervorzuheben, dass der Gebrauch von Dingen sowie von Wörtern, Bedeutungen, Sinn, Ordnungen, Ideen, Wissen und Strukturen auch Praktiken legitimieren, verändern oder neu schaffen kann. Diese sind in die Tätigkeiten eingebunden und befinden sich nicht ausserhalb von ihnen. Das ist die Erkenntnis der Vertreterinnen und Vertreter der wissenschaftshistorischen Forschungen sowie ein Ergebnis aus den Bereichen der jüngeren mikrogeschichtlichen Forschung und der historischen Anthropologie.33

Jakob Tanner schlägt ein praxeologisches Geschichtsverständnis vor, das Wiederholung und Wandel zusammen denkt unter dem Gesichtspunkt der beiden Konzepte «Ereignis» und «Aneignung». Die Wiederholung bildet erstens die Möglichkeitsbedingung für das singuläre Erlebnis. Zweitens entsteht aus ihr die Veränderung, weil alltägliche Routinen immer wieder angeeignet und gefestigt werden müssen, die Aneignung aber keine identische Wiederholung oder exakte Kopie sein kann, sondern immer auch Neues mit sich bringt.34 Eine praxeologisch orientierte geschichtswissenschaftliche Arbeit muss folglich Kontinuität und Wandel berücksichtigen: die Veränderungen und ungewöhnlichen Handhabungen der Protagonisten wie auch die Wiederholungen, die routinierten Aktivitäten im Sammlungsalltag. Denn Praxis ist zugleich wiederholend und erneuernd, zugleich regelmässig und regelwidrig, zugleich strategisch und zufällig.35

Zuletzt ist zu den Sammlerinnen und Sammlern als Protagonisten noch zu bemerken, dass die wenigsten Forschungsarbeiten sich eingehender mit der Gruppe der Museumskonservatoren und -restauratoren befassten, die im musealen Sammlungsalltag eigentlich am meisten mit der Sammlung zu tun haben. In der umfangreichen Forschung zu Sammlerpersönlichkeiten geht es häufig um Privatsammlerinnen und -sammler oder um die Donatoren und Donatorinnen und deren individuellen Einsatz für die öffentlichen Museen. Wenn einmal von den Museumsangestellten die Rede ist, dann wird entweder eine Direktorenbiografie erzählt oder das Kollektiv betont und beschrieben, wie mehrere Personen zusammen eine Sammlung aufgebaut haben, für eine Gemeinschaft und in ihrem Namen.36 Die Museumsangestellten des 20. und 21. Jahrhunderts passen aber weder zum Bild der Privatsammler als Besitz ergreifende und Objekte hortende Spezies, 37 noch entsprechen sie dem Typus des Donators oder der Donatorin, die sich für die öffentlichen Museen mit Objekt- und Geldschenkungen und Freiwilligenarbeit engagieren und deren in der Logik des Hortens rätselhafter Einsatz gemeinhin damit erklärt wird, dass sie sich davon als Gegenwert «symbolisches Kapital» (Bourdieu) erhoffen.38 Mit meiner Arbeit will ich ein differenziertes Bild der Museumsangestellten und ihrer Tätigkeiten aufzeigen.

Die Sammlungspraxis wurde aber nicht nur von Menschen geprägt, sondern auch von den gesammelten Dingen. In den soziologischen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Studien zur Museums- und Sammlungsgeschichte wurde den gesammelten Dingen lange bloss eine passive Rolle zugebilligt als Zeichenträger, welchen von den Sammlerinnen und Sammlern oder den Museumsbesuchenden Bedeutungen zugeschrieben oder abgesprochen wurden.39 Die wissenschaftsgeschichtlichen Ansätze, auf die ich mich beziehe, machen im Gegensatz dazu auch auf den unabdingbaren Anteil der Dinge, Materialien, Techniken und Medien beim Generieren von Erkenntnissen, Bedeutungen und Wissen aufmerksam. Diese müssen verkörpert und vervielfältigt werden, um einer Gesellschaft verfügbar zu sein. Sie formieren sich, indem sie zwischen verschiedenen Bedeutungsund Wissensgebieten und gesellschaftlichen Sphären zirkulieren, an verschiedenen Orten aufgegriffen sowie um- und neugestaltet werden. Die Dinge, Materialien, Techniken und Medien sind dabei nicht nur Träger von Bedeutungen, die ihnen zugedacht oder aberkannt werden. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass Bedeutungen, Wissen und Erkenntnisse sich formieren und zirkulieren können.40 Für die Sammlungspraxis heisst dies, dass die Gegenständlichkeit der Dinge, also ihr Volumen, ihre Form, ihre Grösse und ihre Materialität, die Möglichkeiten der Sammelpraxis mitbestimmen. Ihr entsprechend werden etwa Aufbewahrungs- und Ausstellungsräume konzipiert, Transporte organisiert und Klassifikationen vorgenommen. Weiter haben die Dinge ihre eigene Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, welche die Praxis prägen. Die Materialität der Sammlungsstücke verändert sich, sie kann zerfallen und vergehen.

Zur Untersuchung des Anteils der Dinge an Praktiken eignet sich als Denkfigur nach wie vor besonders Bruno Latours Konzept der «anthropologie symétrique», 41 auf dem seine Studien beruhten, die er in den 1980er- und 1990er-Jahren verfasste. Der Wissenschaftsforscher zeigte auf, wie Dinge, Instrumente, Werkzeuge und Apparate innerhalb der wissenschaftlichen Praxis wichtige «Akteure»42 werden bei Erkenntnisprozessen. Ja, Bruno Latour ging damals so weit, zu sagen, dass die Dinge den Menschen gleichwertige Handlungspartner seien. Mit dem Konzept der «symmetrischen Anthropologie» versuchte er eine Alternative zum von ihm kritisierten modernistischen Fortschrittsparadigma zu entwickeln.43 Latour fragte nach der Möglichkeit einer Anthropologie, die nicht nur das Wissen über die Dinge (das ist das Moderne), sondern auch die in den Objekten verborgenen Informationen über den Menschen berücksichtigen kann. Eine solche Anthropologie wäre nach ihm symmetrisch, und nur die Betrachtung beider Informationsrichtungen würde eine Objektivität ermöglichen, die dem Selbstanspruch der Moderne gerecht wird.44 Latour wollte damit die herkömmliche Trennung von forschendem Subjekt und erforschtem Objekt aufheben zugunsten einer Sichtweise, die das Forschungsgeschehen als «ganzheitlichen» Prozess versteht.45 Entscheidend seien seiner Meinung nach die Relationen, Austauschprozesse und Vermischungen, die stattfinden zwischen den Menschen und den «nicht-menschlichen Wesen», wie er die Dinge nennt.46

Sein Konzept der «symmetrischen Anthropologie» ist aus den folgenden Gründen immer noch interessant für die geschichtswissenschaftliche Untersuchung einer Sammlungspraxis: Erstens ist es offener als andere Ding-Konzepte. Das Konzept von Latour beschränkt sich nicht auf bestimmte Praxisfelder oder Arten von Dingen, wie es museums- und sammlungstheoretische Ansätze vorschlagen. Diese qualifizieren Sammlungsstücke in der Regel als statische Objekte innerhalb eines Sammlungsverbandes, ohne zu berücksichtigen, dass die Sammlungsstücke verschiedene Stationen im Sammlungsalltag durchlaufen und sich dabei in Interaktion mit den Sammlerinnen und Sammlern auch verändern. Vertreterinnen eines solchen Ansatzes sind beispielsweise Anke te Heesen und Petra Lutz. Sie definieren «museale Dinge» als Objekte, die in das Museum kommen, «wenn sie abgeschlossen und ‹fertig› sind, mögen sie noch so bruchstückhaft oder zerstört aussehen».47 Dinge würden im Museum nicht generiert, sondern zueinander (und zum Betrachter) in Position gebracht. Im Museum habe man es mit einem materiellen Gegenüber zu tun, «das man in seiner Substanz nicht verändert (lediglich weiter konserviert), aber in seiner Wirkung und Bedeutung in eine bestimmte Richtung lesen und lenken kann».48 In ihrer Definition geht es te Heesen und Lutz vor allem darum, die «musealen Dinge» vom Konzept der «epistemischen Dinge», 49 das der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger vorgeschlagen hat, abzugrenzen.50 Im Museum seien «Anschaulichkeit, Zugänglichkeit und Haltbarkeit»51 die bevorzugten Kriterien, schreiben sie, nicht aber bei den epistemischen Dingen. Die epistemischen Dinge sind nicht unbedingt eine abgrenzbare, dreidimensionale, materiell und visuell zu identifizierende Entität wie die musealen Dinge, sondern können ein Konglomerat von Entwicklungen und Konjunkturen, von Institutionen und Instrumenten sein, bei denen das Objekt das Zusammenspiel von Erkenntnis suchenden Menschen und den materialen Bedingungen einer wissenschaftlichen Praxis bezeichnet. Diese Dinge seien in erster Linie im Forschungsprozess epistemisch, im Nachhinein nicht mehr.52

Ganz klar, die Dinge im Museum sind nicht die Gleichen wie die in biowissenschaftlichen Laborarbeiten involvierten Objekte. Doch die Sammlungsstücke sind nicht «abgeschlossenen». Am augenfälligsten ist es bei der materiellen Substanz der Objekte. Die Materialien altern. Gerade bei den verschiedenen Praktiken, die sich um den materiellen Erhalt der Dinge kümmern, den Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten, geht es nicht ohne Eingriffe in die Materialität der Dinge und damit auch nicht ohne Substanzveränderungen.53 Deshalb ist es sinnvoll, ein Dingkonzept wie dasjenige von Bruno Latour zu wählen, das den Dingen nicht von vornherein bestimmte Eigenschaften wie Anschaulichkeit, Zugänglichkeit und Haltbarkeit zuschreibt.54 Der zweite Grund, der Latours Konzept für das Verfassen einer Sammlungsgeschichte interessant macht, ist der Perspektivenwechsel, den er mit der symmetrischen Anthropologie vorschlägt: Wenn man die Sammlungsstücke statt (nur) als Objekte auch als Subjekte betrachtet und die Praxis von den Sammlungsstücken her zu beleuchten versucht, so fällt der Kurzschluss weg, dass sie immer auch der Gegenstand, das Ziel und der Sinn der Sammlungspraxis seien. Der Perspektivenwechsel bietet die Grundlage für die offen formulierten Fragen danach, welche Praktiken es gab und was dabei entstand. Der Blick wird auf das Dazwischen gelenkt, zwischen den Menschen und den Dingen, Menschen und Menschen, Dinge und Dinge, «in the blind spot», 55 wie es Latour nennt. Eine Sammlungsgeschichte zu schreiben, heisst demzufolge, die Vorgänge, Verbindungen und Beziehungen in diesem Dazwischen zu betrachten.56 Anders als in der praxeologisch orientierten Forschung der letzten Jahre stehen folglich in dieser Arbeit nicht die Dinge im Fokus, sondern die Praxis selbst.57

Eine Sammlungsgeschichte zu schreiben, heisst demzufolge, die Verbindungen und die Konstellationen zwischen den Menschen und den Dingen zu betrachten. Der Perspektivenwechsel ist aber immer nur als Denkfigur möglich. Im Gegensatz zu Latour will ich nicht von den Dingen als Akteuren sprechen.58 Die Dinge tun nichts, als da zu sein, und je nach materieller Substanz verändern sie sich, zersetzen sie sich oder zerfallen sie schneller oder langsamer. Das alles ist nicht wenig, wenn man sich die beträchtliche Überzahl der Dinge gegenüber den Menschen vor Augen hält, die in die Sammlungspraktiken am Nationalmuseum involviert sind. Sie sind Teil der Praxis, und ihre Gegenständlichkeit schafft bestimmte Handlungsmöglichkeiten.59 Die begriffliche Konsequenz davon ist, dass ich mich auf keinen fixen Terminus beschränken werde, um das Sammlungsgut des Nationalmuseums in toto zu benennen. Stattdessen wähle ich je nach Konstellation die Bezeichnung: Wenn es um unspezifische Beschreibungen geht, spreche ich von Dingen; will ich den Aspekt des Sammelns betonen, von Sammlungsstücken; und beschreibe ich eine Objekt-Subjekt-Konstellation, wähle ich den Begriff Objekt. Weiter werde ich besonders auf die Unterscheidung zwischen Ding und Materialität achten, um nicht dem seltsamen «Materialismus» zu verfallen, der teilweise in der jüngeren Forschung zu beobachten ist. Hier werden die Dinge oftmals mit ihrer Materialität, ihren stofflichen, materialen Eigenschaften gleichgesetzt, als ob sie «materieller» als Menschen wären. In den theoretischen Konzeptionen fällt eine Unschärfe auf zwischen den Begriffsfeldern Material/Materialität/Stoff und Ding/Gegenstand/Objekt.60 Materialität erscheint dann als der Gegenpol des Semantischen. Aber genauso wenig wie beim menschlichen Körper kann bei den Dingkörpern gesagt werden, dass ihre materielle Substanz allein eine absolute physikalische oder biologische Grösse sei.61 Es gilt darauf zu achten, dass die Materialität der Dinge hergestellt und kulturell geformt ist; sie ist in Praktiken eingebunden und mit anderen Materialitäten, Dingen oder Körpern verbunden.62

Stand der Forschung: Museums- und Sammlungsgeschichte

Meine Arbeit zur Geschichte des Schweizerischen Nationalmuseums und seiner Sammlung will ich zunächst in der bestehenden Literatur zur Sammlungs- und Museumsgeschichte verorten. Dabei gehe ich besonders auf den Forschungsstand zur Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Nationalmuseums ein.

Über die Geschichte des Schweizerischen Nationalmuseums und die in diesem Rahmen praktizierten Sammlungstätigkeiten wurde bisher nur vereinzelt geschrieben, und dann mit dem Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Zeit der Institutionsgründung. Hanspeter Draeyers Arbeit zur Bau- und Entwicklungsgeschichte des Nationalmuseums (1889–1998) ist die einzige Studie, die sich ausführlicher mit dem 20. Jahrhundert befasst, der Zeitspanne, die mich interessiert. Draeyer untersucht den Bau und Umbau des Museums sowie die Veränderungen der Ausstellungspräsentationen; andere museale Tätigkeiten kommen nur am Rand zur Sprache.63

Die bisherigen Publikationen zur Geschichte des Schweizerischen Nationalmuseums entstanden hauptsächlich im Rahmen von Jubiläen, ähnlich wie bei anderen National- und Landesmuseen.64 Je nach Zeit waren die thematischen Gewichtungen der Geschichtsschreibung andere: Zum 50-Jahr-Jubiläum des Schweizerischen Landesmuseums hatte man sich 1948 mit einer einzigen Festschrift «begnügt», 65 wie es darin hiess. Man wollte sich, passend zu den Tätigkeiten des Museums, mit dem «stillen, der Vergangenheit zugewandten Wirken» vom «laute[n] Geburtstagsfest»66 des Schweizerischen Bundesstaates abheben, der gleichzeitig seine 100-Jahr-Feier hatte. Im Jubiläumsband erläuterten die Museumsmitarbeiter hauptsächlich die Bestände der einzelnen Sammlungen und präsentierten in einem umfassenden Bildteil herausragende Sammlungsstücke. Ganz anders 1998 zum 100-Jahr-Jubiläum des Museums: Da wurde die Doppelfeier zum Programm gemacht. Im Landesmuseum wurde, in Zusammenarbeit mit externen Historikerinnen und Historikern, eine Sonderausstellung gezeigt mit dem Titel «Die Erfindung der Schweiz 1848–1998. Bildentwürfe einer Nation», begleitet von einem umfangreichen Ausstellungskatalog. Finanziert wurden die Ausstellung teilweise aus dem Jubiläumsbudget «150 Jahre Bundesstaat».67 Zudem erschienen zur Geschichte des Museums gleich mehrere Darstellungen von Mitarbeitenden des Museums.68 Den rund um das 100-Jahr-Jubiläum entstandenen Forschungsarbeiten ist gemeinsam, dass sie die Geschichte des Schweizerischen Landesmuseums in enger Verbindung zum Prozess der Identitätsbildung der Nation Schweiz thematisieren. Sie sehen das Museum als einen Schauplatz unter anderen, wo eine imagologische Bastelei nationaler Identität stattfand, entsprechend der jeweiligen Zeitströmung.69

Dass der Museumsgeburtstag als Doppeljubiläum (Nationalmuseum/Nationalstaat) begangen wurde, ist Ausdruck des damaligen Bedürfnisses nach einer kritischen Hinterfragung des nationalen Selbstbildes wie auch der thematischen Schwerpunktsetzung in der europäischen Forschungslandschaft der 1990er-Jahre, als historische Museen und Nationalmuseen in der Geschichtswissenschaft zum neuen Untersuchungsgegenstand wurden.70 Um 1990 begannen Historikerinnen und Historiker, die damals neu auch zur Mitarbeit in Museen beigezogen wurden, über die Entstehungsbedingungen von Museen zu forschen.71 Dabei interessierten sie sich vornehmlich für die historischen Museen und Nationalmuseen (ohne abschliessenden Konsens über die Definition, was denn ein historisches Museum oder ein Nationalmuseum sei72). Das entsprach der vorangehenden Museumsgeschichtsschreibung, bei der jede Fachrichtung sich jeweils für «ihre» Museen als zuständig erachtete: Kunsthistorikerinnen und -historiker beschäftigten sich bereits seit Ende der 1970er-Jahre mit der historischen Entwicklung von Kunstmuseen, wohingegen Ethnologen anthropologische oder ethnologische Museen untersuchten.73 Die disziplintreue Museumsgeschichte hatte zur Folge, dass für bestimmte Museen auch nur gewisse Forschungsfragen gestellt wurden, mit einheitlichem Ergebnis: Als Hauptnarrativ für die Entstehungsgeschichte der Nationalmuseen und historischen Museen wurde die Erzählung von der Öffnung der kaiserlichen, königlichen und fürstlichen Gemäldegalerien und Wunderkammern für eine sich allmählich konstituierende bürgerliche Öffentlichkeit entwickelt. Die herrschaftlichen Sammlungen, ostentative Repräsentationen von Macht, leisteten nun, umgewidmet und demokratisiert, in den modernen historischen Museen des 19. Jahrhunderts Konstruktionshilfe bei der nationalen Identitätsbildung und der Formierung einer eigenen Nationalgeschichte, so die Geschichtsschreibung.74 Die Präferenz der Geschichtswissenschaften für Nationalmuseen um 1990 verdeutlicht darüber hinaus auch, dass noch Ende des 20. Jahrhunderts der «Nationalstaat» ein grundsätzlicher Bezugsrahmen ihrer Historiografien blieb, trotz den zahlreichen Versuchen, «Nation» zu dekonstruieren und/oder als Kategorie zu verabschieden.75 Ich gehe mit den jüngeren Studien über historische Museen und Nationalmuseen einig, die besagen, dass die Priorisierung der Denkkategorie des «Nationalen» dafür gesorgt hat, dass andere, ebenso wichtige Referenzräume vernachlässigt wurden.76

Dass der Begriff der «Nation» beziehungsweise die Inszenierung einer «Nationalgeschichte» nur ein Bezugsrahmen unter anderen war, der bei den Museumsgründungen des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielte, wurde jüngst auch bezüglich des Schweizerischen Nationalmuseums dargestellt, bezeichnenderweise durch eine Kunsthistorikerin. Ausgehend von der Figur des ersten Museumsdirektors, Heinrich Angst, legt Chantal Lafontant Vallotton in ihrer Dissertation von 2007 dar, welche personellen und institutionellen Verflechtungen zwischen dem Museum und dem Kunstmarkt in den Jahren 1883 bis 1902 bestanden hatten. Lafontant kommt zu der Erkenntnis, dass die öffentlich finanzierte Sammlungstätigkeit des Bundes inhaltlich entscheidend von den persönlichen Vorlieben des Gründerdirektors und dessen Agitationen auf dem internationalen Kunstmarkt bestimmt war.77 Der Begriff der «Nation» war dabei nicht zuletzt insofern präsent, als xenophobe und antisemitische Äusserungen zu den gängigen Voten gehörten, um das eidgenössische Parlament von einem Ankauf eines Kunstguts aus dem Gebiet der Schweiz zu überzeugen, das den ästhetischen Präferenzen der Museumsbehörden entsprach.78

Ein weiterer Forschungszweig der 1990er-Jahre, der teilweise an das dargelegte Narrativ einer Museumsgeschichte als Nationalstaatsgeschichte anknüpfte, waren die unter dem cultural turn zu verortenden Untersuchungen von Erinnerungskulturen, wobei das (historische) Museum als Installation spezifischer Erinnerungsformationen, als «lieux de mémoire», 79 verstanden wurde.80 Beeinflusst von der wandelnden Konzeption des menschlichen Gedächtnisses veränderten sich Anfang der 2000er-Jahre auch die kulturwissenschaftlichen Vorstellungen über die Funktion des Museums. Verstanden als externes Speichermedium einer Gesellschaft, rückten andere Bereiche des Museums in den Blick: Untersucht wurde das Verhältnis zwischen den verschiedenen «Zonen der Erinnerungen», den Depots, den Magazinen und dem Ausstellungsraum.81

Abschliessend ist zur geschichtswissenschaftlichen Forschung über die historischen Museen und Nationalmuseen zu sagen, dass sie sich – abgesehen von ihrer Präferenz für die Kategorie «Nation» – generell für ähnliche Themen und Untersuchungsräume wie die Museumsforschungen anderer Disziplinen interessierte: Im Vordergrund stand das Thema Ausstellung, als Untersuchungszeiträume interessierten die Spätrenaissance und der Barock mit ihren Wunderkammern sowie das 19. Jahrhundert. Aktuell ist eine Hinwendung zur Museumsgeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre zu beobachten.82 Andere Praktiken wie die Objektrestaurierung oder die Inventarisierung, die mich interessieren, waren dagegen bei den Nationalmuseen und historischen Museen bisher fast gar nicht Thema, 83 ebenso wenig die Zeitspanne von den 1920er- bis zu den 1960er-Jahren, als diese Praktiken zum Kerngeschäft der Museumsarbeit gehörten. Um die Geschichte dieser Praktiken zu erschliessen, müssen die Ergebnisse aus anderen Forschungsbereichen beigezogen werden.

Anthropologen, Philosophen und Psychologen interessierten sich (ebenfalls im Rahmen des cultural turn) für das Sammeln als eine spezifische Umgangsweise des Menschen mit der Objektwelt, verstanden als eine zentrale Praxis der Identitätsbildung.84 Zur wichtigen Referenz im deutschen Sprachraum wurde Krzysztof Pomians schmales Bändchen Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln (fr. 1987), das 1988 auf Deutsch erschien. Sein semiotisch geprägter Ansatz fand weit über die 1980er-Jahre hinaus grossen Nachhall in den kulturwissenschaftlichen Forschungen.85 In seinem Theorieentwurf über das Sammeln im musealen Zusammenhang sucht der französische Philosoph nach einem verbindenden Strukturmerkmal des Sammelns in unterschiedlichsten Kulturen und Epochen (von antiken Grab- oder Tempelbeigaben über Reliquien bis zur Vasensammlung der Medici). Seine Antwort lautet, dass die Sammlungsstücke im Museum einzig zum Zweck ihrer Betrachtung vereint sind, um das Unsichtbare (die Vergangenheit oder das Göttliche) zu repräsentieren.86 Sie funktionieren nach Pomian als Vermittler zwischen den Lebenden dieser Welt und den Toten, zwischen Göttern und Menschen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.87

Pomians Untersuchung kann nicht erklären, weshalb die Repräsentations- und Vermittlungsweisen sich über die Zeit radikal verändert haben. Zudem ist sie eine weitere Studie, welche die Intention des Sammelns auf das Ausstellen und die Museen auf ihre Ausstellungspraxis beschränkt. Gegen diese Reduktion werde ich in meiner Arbeit argumentieren.

Mit anderen Praktiken als dem Ausstellen befassten sich die Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaftsgeschichte. Entsprechend wichtig sind ihre Untersuchungen für meine Arbeit.88 Programmatisch für die Forschung in diesem Bereich ist weiterhin die Einleitung «Sammeln als Wissen»89 von Anke te Heesen und Emma C.Spary im gleichnamigen Band von 2002. Sie untersuchten die konkrete Praxis des Sammelns als Teil der wissenschaftlichen Tätigkeit (des Systematisierens, Speicherns und Katalogisierens) zur Erkenntnisgewinnung. Ein besonderes Augenmerk legen sie dabei auf den Anteil der Dinge an der Praxis.90 Im Sammelband von te Heesen und Spary konzentrieren sich alle Aufsätze auf die naturwissenschaftlichen Sammlungspraktiken, entsprechend den generellen Forschungspräferenzen in der Wissenschaftsgeschichte, die sich zuerst den Naturwissenschaften, der Medizin und der Ingenieurtechnik und nicht den geistes- und sozialwissenschaftlichen Gebieten zuwandten.91 In den darauf folgenden wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen zum Sammeln blieb der Fokus auf den Naturwissenschaften, oder sie konzentrierten sich auf die frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern.92 Auch wenn die Tätigkeiten im Fall des Schweizerischen Nationalmuseums und anderer historischer Museen und Nationalmuseen nur partiell und temporär als (natur)wissenschaftlich bezeichnet werden können, ist es in der Geschichtsschreibung über sie fruchtbar, auf das wissenschaftsgeschichtliche Vorgehen methodisch Bezug zu nehmen.

Quellen: unabgeschlossen, hermetisch

Die geschichtswissenschaftliche Untersuchung von Sammlungspraktiken an einem Museum bringt einige quellentechnische Besonderheiten mit sich: Das Museum ist kein Ort, wo Schriftlichkeit gepflegt wurde. Der mündliche Austausch war wichtiger. Um die Archivierung der verhältnismässig wenigen schriftlichen Quellen kümmerten sich die Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nicht speziell, sodass diese unsystematisch erhalten wurden. Offenbar erachteten die Mitarbeitenden sich für die Dokumentation der Geschichte ihrer Institution nicht als zuständig. Überspitzt gesagt: Die Museumsmitarbeitenden bewahrten die Sammlungsstücke auf und warfen die Textdokumente über sie weg.

Die fehlenden Dokumentationsbemühungen sind ein verbreitetes Phänomen, wie ein Blick auf andere Museen bestätigt.93 Sie machen eine geschichtswissenschaftliche Bearbeitung schwierig, sind aber auch interessant, weil sie bereits als ein erstes Stück Sammlungsgeschichte verstanden werden können. Für die Dokumentationsformen am Schweizerischen Nationalmuseum sind die Unabgeschlossenheit, die wechselnden, hermetischen Ordnungslogiken sowie die dezentrale Ablage charakteristisch. Das Sammeln und damit auch seine Dokumentation kennen keinen Abschluss. Ältere Quellenbestände waren immer Teil der aktuellen Sammlungspraxis. Sie wurden nicht als historische Akten behandelt, sondern immer wieder abgeändert. Bei Bedarf griff man auf sie zurück und überarbeitete sie den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend oder warf sie weg, wenn sie unbrauchbar geworden waren. Angaben wurden durchgestrichen, ausradiert, hinzugefügt, ergänzt oder gelöscht. Die Quellen widerspiegeln die historische Gewachsenheit der Sammlung wie auch den alltäglichen Umgang mit ihr.

Nur in einem Bereich wurde am Schweizerischen Nationalmuseum über den ganzen Zeitraum seines Bestehens hinweg Wert auf die Dokumentation gelegt, und zwar bei der Erfassung der Objekteingänge. Fortlaufend wurden die in die Sammlung eingegangenen Stücke in Inventarbücher eingetragen, unter einer Inventarnummer samt Angaben über ihr Aussehen, ihre Herkunft, ihren Kaufpreis und so weiter.94 1989 begannen dann die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums, die Neueingänge in einer elektronischen Datenbank zu erfassen und die bestehenden Inventare in die neue Systematik zu übertragen.95 Die Inventarbücher und die Datenbank sind auch deshalb etwas Besonderes, weil sie die einzige sammlungsübergreifende Dokumentationsform sind. Sonst verwalteten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Sammlungsstücke nach (wechselnden) Sach- und Materialgruppen (Waffen und Militaria, Keramik, Edelmetall und so weiter) und publizierten zu ihren Fachgebieten. Daher ist auch oft von «Sammlungen» des Landesmuseums und nicht von einer «Sammlung» die Rede.96

Spätestens ab 1961, als die Ressortstruktur eingeführt worden war und damit den Konservatoren einzelne Sammlungsgebiete fest zugeteilt wurden, lag es im Ermessen der einzelnen Mitarbeitenden, welche Dokumentationen sie für ihre Arbeit für relevant hielten und in ihren Büroräumlichkeiten aufbewahren wollten. Sie erstellten teilweise eigene Karteien und Sachkataloge und führten eine gesonderte Dokumentation zu einzelnen Sammlungsobjekten.97 Manche Akten blieben aufgehoben, einige wurden auf den Fluren der Museumsverwaltung deponiert und andere der hausinternen Bibliothek übergeben. Das Museum verfügte zu keiner Zeit über ein zentrales, systematisch geführtes Institutionsarchiv.98 Viel wichtiger für die Museumsangestellten waren ihre Fachkataloge zu einzelnen Sammlungsstücken und Objektgruppen sowie ab Ende der 1970er-Jahre Ausstellungskataloge, die zu den Ausstellungen erschienen.99

Die Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter berichten, dass viel Aktenmaterial in den 1970er- und 1980er-Jahren weggeworfen wurde, als die damalige Direktion anordnete, vorhandene Akten der Museumsarbeit zu sichten, zu sortieren und gegebenenfalls zu vernichten.100 Ich kann belegen, dass noch 1962 rund 80 Laufmeter ungeordnete Akten vorhanden waren. Die Rede ist von Protokollen, Urkunden, Verträgen, Gutachten, Gerichtsurteilen, Jahresrechnungen und Korrespondenz, die sich über Jahrzehnte wortwörtlich angesammelt hatten und die wegen der fehlenden Ordnung grossenteils als unbenutzbar galten.101 Es ist auch gegenwärtig sehr schwierig, sich in den Ordnungssystematiken und Notationssystemen der vorhandenen Dokumentationen und Akten zurechtzufinden. Kein Handbuch oder Ähnliches existiert, das Hilfestellung bieten könnte. Die Mitarbeitenden des Museums haben ihre je eigenen Such- und Orientierungsstrategien entwickelt.

Institutionsinterne Belange, die gegenüber dem Bund speziell ausgewiesen werden mussten, wurden dokumentiert und 1880 bis 1940 an das Bundesarchiv in Bern abgegeben. Anschliessend erfolgte eine ungeordnete Aktenabgabe. Im Bundesarchiv befinden sich hauptsächlich Personalakten der Museumsangestellten sowie Unterlagen zu einzelnen wichtigeren Entscheiden und Veränderungen, an denen die Departemente des Bundes und die Landesmuseumsbehörden beteiligt waren.102 Die Museumsdirektion und die Kommission des Landesmuseums hatten gegenüber der Exekutive die Pflicht, in Form von Jahresberichten über ihre Tätigkeiten Rechenschaft abzulegen. Zuhanden des eidgenössischen Departements des Innern wurde im Namen der Museumsdirektion und der Kommission des Landesmuseums Bericht erstattet.103 Die jährlichen Berichte informieren über personelle und administrative Veränderungen, publizieren die Jahresrechnung und, besonders interessant, berichten über die Arbeit der Kommission, der Direktion wie auch über die Tätigkeiten der Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Abgedruckte Fotografien geben zudem vereinzelt Einblick in die Arbeitsräume des Landesmuseums.104 Die Jahresberichte dienen als wichtige Quellen, um mehr über die Tätigkeiten im Museum und ihren jeweiligen Stellenwert zu erfahren. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Berichterstattung fast ausschliesslich die Perspektive der Direktion wiedergibt. Sie verfasste jeweils den grössten Teil eines Jahresberichts.105

Es gibt noch einen zweiten wichtigen gedruckten Quellentyp, der im Gegensatz zu den Jahresberichten aber unveröffentlicht blieb: die Protokolle der Sitzung der Landesmuseumskommission.106 Die Kommission des Landesmuseums funktionierte als Bindeglied zwischen der Landesregierung und der Museumsdirektion. Sie traf sich mehrmals im Jahr, um über Objektankäufe und Finanzfragen sowie Zielsetzungen in der Sammlungs- und Museumspolitik zu beschliessen, welche die Kompetenz der Museumsdirektion überschritten. Die Protokolle der Sitzungen geben Einblick, welche Themen aus der Museumsarbeit jeweils politisch relevant waren. Doch sie sind keine «Handlungsprotokolle», 107 aus denen Tätigkeiten und Meinungsbildungsprozesse genau nachvollzogen werden könnten. Die referierten Themen und Beschlüsse werden mehrheitlich zusammengefasst wiedergegeben.

Der beschränkten textlichen Basis und der unabgeschlossenen, in die Gegenwart hineinreichenden Quellenbestände werde ich mithilfe eines breiten Quellenbegriffs methodisch Rechnung tragen. Ich orientiere mich dafür an geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit schriftlichen Quellen unterschiedlichster Gestalt und mit Themen befassten, welche nur indirekt über die traditionelle Schriftkultur erschliessbar sind.108 Ich orte und interpretiere die vielfältigen Zeichen(systeme) jenseits des Fliesstextes (Listen, Räume, Dinge), wobei die quellenkritischen Fragen nach dem Materialzustand, den Erhaltungsbemühungen, den Aufbewahrungsorten und der Zugänglichkeit der Quellen besonders gewichtet werden. Die Suche gilt den absichtslos(er)en Spuren und den Überresten. Der Quellenkontext «Museum» ist dafür besonders vielversprechend, weil hier der Archivierungsprozess und damit die Trennung von abgeschlossenen Dokumentationen der Vergangenheit und der gegenwärtigen Praxis fehlt.109 Demzufolge suchte ich die Spuren der Sammlungspraxis nicht nur in den Jahresberichten und den Protokollen der Museumskommission, sondern beispielsweise eben auch in den Objektinventaren. Weiter führte ich drei Leitfadeninterviews mit langjährigen Mitarbeitern wie auch weitere informelle Gespräche mit Mitarbeitenden.110 Zudem arbeitete ich phasenweise in verschiedenen Räumen der Museumsverwaltung, um den aktuellen Umgang mit den (historischen) Museumsakten kennenzulernen (Abb. 5).

Diese «Feldforschungen»111 im Museumsbetrieb ermöglichten den Zugang zu nicht aufgezeichneten Aspekten der Sammlungspraxis der letzten 30 Jahre. Auch manche Sammlungsstücke dienten als Quellen. Nicht anders als die anderen Quellentypen befragte ich sie quellenkritisch und setzte sie in Beziehung zu anderen (schriftlichen) Quellen.112 Das gilt es in Anbetracht des anhaltenden hype um die Dinge zu betonen, bei dem manchmal vergessen geht, dass die Dinge genauso wie Texte stumm sind.113

Sammlungspraxis: anhäufen, forschen, erhalten

Um das heterogene Quellenmaterial, die Protokolle, Berichte, Inventare, Räume, Dinge und so weiter, in Text zu verwandeln und damit zu einer Geschichte zu machen, bietet sich eine qualitative Analyse an. Der grosse Untersuchungszeitraum – mehr als ein Jahrhundert Sammlungstätigkeit – verlangt nach punktuellen statt flächendeckenden Detailstudien.114 Sie bilden die Basis für eine Erzählung, welche die grossen Linien der Sammlungsgeschichte herausarbeitet. In einem induktiven Verfahren, ausgehend von der analytisch-deskriptiven Erschliessung der Quellen, habe ich drei Leitbegriffe entwickelt, welche die Geschichte thematisch und chronologisch strukturieren: Entlang der drei Begriffe anhäufen, forschen, erhalten gliedere ich die Arbeit in drei Kapitel. Als Klammerbegriffe der Kapitel zeigen die drei verschiedenen Verben, dass die Schwerpunkte in der Sammlungspraxis des Schweizerischen Nationalmuseums sich während des 20. Jahrhunderts wesentlich veränderten und dass aus der Untersuchung der Praktiken nicht eine übergreifende Erzählung resultiert. Anhäufen steht für die 1900er- bis 1920er-Jahre, forschen umfasst die anschliessende Zeitspanne bis in die 1960er-Jahre, während erhalten die 1970er- bis 2000er-Jahre betrifft. Die Begriffe funktionieren als thematische Rahmen, wobei bisweilen die Erzählbogen auch in andere Jahrzehnte gespannt werden. Sie markieren die jeweils wichtigsten Sammlungspraktiken eines bestimmten Zeitraums, was nicht bedeutet, dass damals nicht auch andere Praktiken ausgeübt wurden. Nur standen sie nicht derart im Zentrum.

Abb. 5: Katalogbüro nach dem Umbau mit K. Jaggi und A. Siegrist-Ronzani, Schweizerisches Landesmuseum, Raum 421, 1995, SNM Dig. 28836. Der Raum sah praktisch gleich aus zur Zeit der Recherche.

Susan M.Pearce unterteilt die europäische Sammlungsgeschichte in zwei Phasen. Sie spricht von zwei aufeinander folgenden Wissenspraktiken: das «Classic Modernist Collecting» als die Zeit der Ordnung des Wissens und das «Collecting in a post-modernist world» als die Zeit der Kritik am Wahrheitsanspruch dieser Ordnungen und der Beschäftigung mit ihrer sozialen Konstruktion und ihren Wertungen.115 Für die Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Landesmuseums trifft diese Periodisierung nicht zu, hier muss von drei Phasen gesprochen werden. Wie ich zeigen werde, gab es innerhalb der Zeitspanne «Moderne» eine weitere wesentliche Praxisänderung.116

Jeder Zeitraum (1900er- bis 1920er-Jahre, 1930er- bis 1960er-Jahre, 1970er- bis 2000er-Jahre) war geprägt von verschiedenartigen Tätigkeiten, die nebeneinander oder alternierend stattfanden und mehr oder weniger eng miteinander verbunden waren. Es gab innerhalb der Zeitspannen «robuste»117 Konstellationen und Beständigkeiten wie auch temporäre Problematisierungen, Brüche und Umbrüche in der Sammlungsgeschichte.118 Insgesamt lassen sich aber die verschiedenen Tätigkeiten in einen jeweils eigenen grösseren Praxiszusammenhang einordnen. Das wollen die drei Leitbegriffe markieren. Als Eckpunkte des gesamten Untersuchungszeitraums sind die Jahre 1899 und 2007 gesetzt. Die Zahlen sind jedoch als Richtdaten zu lesen; sie markieren weder einen zeitgenauen Beginn noch ein präzises Ende der Sammlungstätigkeit.119 1899 steht stellvertretend für den Zeitraum «nach der Eröffnung» (im Sommer 1898) des Schweizerischen Nationalmuseums. 2007 steht für die Zeit der letzten grundlegenden Umstrukturierungen und Neugewichtungen in der Sammlungstätigkeit am Schweizerischen Nationalmuseum. Damals wurde das Sammlungszentrum des Museums in Affoltern am Albis eröffnet und damit erstmals ein gemeinsamer Ort für die Lagerung, Restaurierung, Konservierung und Konservierungsforschung der Sammlung geschaffen.

Die drei Kapitel beginnen jeweils mit der Erzählung über ein Ereignis, ein Dokument oder ein Sammlungsstück, das für die jeweilige Praxis exemplarisch ist. Ausgehend davon werden dann die verschiedenen Aspekte der Tätigkeiten ausgelotet und zueinander in Beziehung gesetzt.

Im Kapitel «Anhäufen» wird es um die Bedeutung der Objektmenge und den Umgang mit ihr in der Sammlungspraxis gehen. Die Erzählung setzt in den 1910er-Jahren ein, als die wachsende Sammlung im Schweizerischen Landesmuseum zum drängenden Problem wurde. Es war augenfällig zu wenig Platz für die Sammlung vorhanden. Daran entzündete sich unter den Vertretern der Politik und des Landesmuseums zum ersten Mal seit der Gründung des Museums eine heftige Debatte über Sinn und Zweck des Museums, und die Praktiken und Ziele des Sammelns am Nationalmuseum wurden grundsätzlich überdacht. Sollte das wichtigste Bestreben sein, möglichst viele Objekte zu erwerben? Noch während darüber diskutiert wurde, veränderte sich parallel dazu unter dem Druck der Menge die alltägliche Sammlungsarbeit; Sammlungsstücke wurden verkauft und weggegeben. Schliesslich wurde Ende der 1920er-Jahre entschieden, die Objekteingänge durch ein neues Auswahlverfahren zu drosseln. Die Entscheidung blieb in den folgenden Jahrzehnten verbindlich, und die Zeit des Anhäufens war vorbei.

Das darauffolgende Kapitel trägt den Titel «Forschen». Ende der 1930er-Jahre setzten am Schweizerischen Landesmuseum verschiedene Forschungstätigkeiten ein. Das neue Wissensbedürfnis war Ausdruck einer Unsicherheit und einer notwendigen Neuorientierung, die mit dem kulturellen und wirtschaftlichen Umbruch zu tun hatte, der das Museumswesen betraf. Der Kunstmarkt professionalisierte sich; neue Akteure traten auf, was das Bedürfnis bei der Museumsdirektion weckte, mehr über die Herkunft der Dinge zu erfahren, die in die Objektsammlung kamen, und dieses Wissen zu dokumentieren. Die Museumsangestellten zweifelten daran, dass ihre Forschungsbemühungen und kunstwissenschaftlichen Expertisen im neuen Marktumfeld genügen würden, um qualitativ wertvolle Objekte zu erkennen und zu erwerben. Hilfe versprachen sie sich von chemischen und physikalischen Verfahren, die eine neue Art der Materialanalyse möglich machten. Zu den kunsthistorischen Forschungsaktivitäten am Landesmuseum kamen nach dem Zweiten Weltkrieg naturwissenschaftliche hinzu, entsprechende Werkstätten, Ateliers und Labors wurden eingerichtet. Die neuen Forschungspraktiken am Schweizerischen Landesmuseum waren aber auch der Versuch, eine neue Legitimation für den staatlichen Museumsbetrieb zu finden. Das Landesmuseum erhielt Konkurrenz im Kulturgütererhalt durch die zahlreichen Gründungen von Regionalmuseen und die lokalen Bestrebungen des Heimatschutzes und der Denkmalpflege, und es stellte sich die Frage, ob ein staatliches Museum noch nötig war. Die Vertreter des Landesmuseums versuchten deswegen, in einem anderen Bereich national unentbehrlich zu werden und ihr Haus als führendes Forschungszentrum für Konservierungs- und Restaurierungsfragen zu etablieren.

«Erhalten» ist der Leitbegriff des anschliessenden Kapitels. Es geht darin sowohl um das Erhalten der Materialität der Sammlungsstücke in den 1960er-Jahren und in den 2000er-Jahren als auch um das dynamische Erhalten von historischem Wissen über die Objekte, das in den Jahrzehnten dazwischen, in den 1970er- bis 1990er-Jahren wichtig wurde.120 In den 1960er-Jahren hatten sich die Mitarbeitenden des Museums hauptsächlich um den Erhalt der Materialität der Objekte gekümmert. Sie versuchten, die klimatischen Bedingungen in den Ausstellungs- und Aufbewahrungsräumen für die Sammlungsstücke zu optimieren und die Objekte mit Konservierungsmitteln so zu behandeln, dass ihr Alterungsprozess verlangsamt wurde. Ab den 1970er-Jahren kam es zu einer grundlegenden Neuausrichtung der Erhaltungspraxis: Nicht mehr die Materialität eines Objekts sollte erhalten werden, sondern historisches Wissen. Der Erhalt von Wissen bedeutete, es zu vermitteln, weiterzugeben und zu teilen. Statt der Konservierungsmittel wurde die Wissensvermittlung relevant. Als wichtigstes Vermittlungsformat des Museums wurden die Ausstellungen angesehen. In den folgenden Jahrzehnten galten alle Anstrengungen der Ausstellungstätigkeit, während die übrigen Praktiken (Erwerben, Inventarisieren und Konservieren), die jahrzehntelang derart wichtig waren, zweitrangig wurden. Erst Anfang der 2000er-Jahre wurde der Materialitätserhalt wieder bedeutsamer, jedoch nicht in gleicher Art und Weise wie in den 1960er-Jahren.

Zum Schluss fasse ich meine Arbeit zusammen anhand der Sammlungspraktiken rund um die Postkutsche, und auch die «Weisse Masse in Glasbehälter» wird nochmals in Erscheinung treten.

Anhäufen

Platzprobleme um 1910

1908, zehn Jahre nach der Eröffnung des Schweizerischen Landesmuseums, befanden sich schätzungsweise 40000 Objekte in seiner Sammlung.1 Was war in den ersten Jahrzehnten gesammelt worden? Einen repräsentativen Eindruck davon gibt der Auszug aus einer Liste der Geschenke und Ankäufe von 1909. Solche Listen wurden in den Jahresberichten des Museums publiziert (Abb. 6).2

Die Listen beginnen üblicherweise mit den Schenkungen, gefolgt von den Ankäufen und den «[a]nderweitige[n] Vermehrungen der Sammlungen».3 Die erworbenen Objekte stammen aus dem Zeitraum der Ur- und Frühgeschichte bis zum 19. Jahrhundert. Die Sammlungsstücke wurden im Handel, auf Auktionen und direkt von Privatpersonen erworben. Mehrheitlich stammten sie aus den Haushalten der städtischen und ländlichen Oberschicht des Kantons Zürich.4 Auch die zahlreichen Gegenständen, die dem Museum ab dem Eröffnungsdatum geschenkt oder in Form von Legaten vermacht wurden, stammten viele aus Zürich.5 Zur Erwerbung von ur- und frühgeschichtlichen Objekten wurden auch museumseigene Ausgrabungen durchgeführt.6

Die Objekteingänge entsprachen nicht vollumfänglich den Wunschvorstellungen der Museumsbehörden. Manche begehrte Stücke waren auf dem Markt nur schwer erhältlich (etwa gotische Möbel).7 Andere wurden dem Museum ungewollt zum Geschenk gemacht. Sie abzulehnen, fiel dem Museumsdirektor, Heinrich Angst, schwer. Er nehme auch «unbedeutende Geschenke» an, meinte Angst, weil er die Sympathien der Leute für die Institution nicht schmälern wolle.8 Grundstock der Sammlung waren die seit 1884 staatlich erworbenen Stücke und die Sammlungsbestände der Stadt Zürich. Als künftiger Sitz des neuen Museums hatte die Stadt Zürich sich verpflichtet, diesem ihre Sammlungen zu überlassen.9 Mit Baubeginn (1892) begannen die neu ernannte Landesmuseumskommission und der Museumsdirektor mit der Erwerbung weiterer Objekte.10 Erstaunlicherweise existierte aber überhaupt kein präzises Sammlungsprogramm, das Auskunft darüber gegeben hätte, welche Objektarten die Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums enthalten sollte. Lediglich eine allgemeine Formel im Bundesbeschluss von 1890 bot Orientierung:

«GESCHENKE: Herr Dr. Hans Frey, Seminarlehrer in Küsnacht: Spiritusapparat für ein chemisches Laboratorium, um 1860. Herr H. Furrer-Fleckenstein in Zürich: Blechsschachtel [sic!] und zwei Tabakspfeifen mit Wappen Orelli, um 1850. […] Herr Robert Gast in Zürich III: Messingener Fingerring, ausgegraben. Frau Stadtrat Landolt-Mousson in Zürich: Drei Paar Seidenstrümpfe, Anfangs des 19. Jahrhunderts. […]11

Ankäufe: Vorgeschichtliche, römische und frühmittelalterliche Gegenstände[:] Drei Steinbeile, Lanzenspitze von Feuerstein, zwei Messer, Spachtel und Plättchen von Hirschhorn, Rest eines Holzgerätes, Gefässcherben [sic!] mit Verzierungen, Gefässhenkel, eine Dolchklinge von stark kupferhaltiger Bronze und eine solche von fast reinem Kupfer; Ergebnis der Ausgrabungen der Pfahlbaues Obermeilen. […] MITTELALTER (BIS ZUM JAHRE 1500)[:] Holzfiguren: Christus am Kreuz in langärmeligem Gewande 13. Jahrhundert, aus der Umgebung von Uznach. – Christus am Kreuz, mit langem Lendentuch, 14. Jahrhundert, aus dem Gasterland. – Johannes Evangelist, Ende des 15. Jahrhunderts, von Büttikon, Kt. Aargau. […] 16. JAHRHUNDERT[:] Truhe von Arvenholz mit flachgeschnitztem Rankenwerk, 1589; Graubunden [sic!]. – Bemaltes Kästchen von Buchenholz mit Darstellung der zwei Botschafter aus Kanaan, Mitte des 16. Jahrhunderts, Kanton Luzern. Glasgemälde, Allianzscheibe des Jost Schmid (von Uri) und Vemia von Erlach 1545. […] Schweizerdolch in kupfervergoldeter Scheide mit Darstellungen aus der Geschichte Simsons. […] 17. JAHRHUNDERT[:] Tisch von Nussbaumholz mit drehbaren Seitenträgern; aus Bremgarten. – Geschnitzte Truhe von Nussbaumholz, datiert 1630; italienische Arbeit aus dem Kanton Uri. – Geschnitzter Lehnstuhl mit gestickten Polsterüberzügen und Blumen- und Früchtemuster. […] 18. JAHRHUNDERT[:] Silberne Schildfigur vom Landvogteistabe Neunkirch, 1764, Kt. Schaffhausen. – 16 Garnituren und Teile solcher von Silberfiligran von Freiämter Midern – 13 Bügeleisen mit durchbrochenen und gravierten Messingmänteln, Kt. Neuchâtel. – Zwei Messingpetschafte und ein bronzener Siegelring aus dem Kanton Zürich – Bauernfingerring. […] 19. JAHRHUNDERT[:] Ölgemälde, Brustbild des Hauptmanns Joh. Müller im Ersten französischen Schweizergarde-Regiment um 1817, und sieben Aktenstücke und Militärzeugnisse für den genannten Offizier, 1810–1826. – Bonbonnière von Schildkrot mit Miniaturbild einer Dame in Empirekostüm, angeblich ein Fräulein Escher von Luchs. […]»12

Abb. 6: Jahresbericht zuhanden des Departements des Innern der Schweizerischen Eidgenossenschaft, erstattet im Namen der Eidgenössischen Kommission für das Landesmuseum und der Direktion, 1909, Abschrift verschiedener Auszüge aus S. 28–39, Retro.Seals.

«[Das Landesmuseum] ist bestimmt, bedeutsame vaterländische Alterthümer geschichtlicher und kunstgewerblicher Natur aufzunehmen und planmässig geordnet aufzubewahren.»13

Unter den Sammlungsverantwortlichen herrschte Konsens darüber, was unter «vaterländisch» zu verstehen war. Sie qualifizierten damit alle Objekte, die innerhalb des staatlichen Grenzverlaufs der Schweiz (Ende des 19. Jahrhunderts) hergestellt worden waren, wie auch Objektgruppen, die in engerem Bezug zu den Landesbewohnerinnen und -bewohnern standen, beispielsweise die Uniformen von schweizerischen Söldnern oder ausländische Porzellan- und Fayencenstücke, die in zahlreichen Haushaltungen in der Schweiz in Gebrauch waren.14 – Was ein «bedeutsames» Objekt sei, darüber sollte es Anfang des 20. Jahrhunderts noch zum Streit kommen.

Die Botschaft des Bundesrats von 1889 enthielt zusätzlich noch die Angabe zum Zeitraum, aus dem die Objekte stammen sollten, und zwar «von vorgeschichtlicher Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts».15 Auf diese Zeitspanne rekurrierten die Sammlungsverantwortlichen später immer wieder. Gleichzeitig unterliefen sie sie aber auch ständig. Bereits 1892 wurde beschlossen, «schweizerisch[e] Uniformen des In- und Auslandes […], ausnahmsweise auch des 19. Jahrhunderts»16 zu sammeln, mit der Begründung, es sei sehr schwierig, gut erhaltene Stücke aus früheren Jahrhunderten zu bekommen.17 Unter den Geschenken befanden sich ebenfalls zahlreiche Objekte des 19. Jahrhunderts, wie die obige Liste illustriert.

Die Museumsbehörden bauten den Grundstock der Sammlung aus und erwarben, was ihrer Meinung nach in «künstlerischer, historischer oder dekorativer Hinsicht begehrenswert»18 war. Zusätzlich sammelten sie in den ersten Jahren auch Objekte, denen sie keinen künstlerischen oder geschichtlichen Wert zusprachen, die sie aber als wertvolle Zeugen der Alltagskultur (insbesondere der ländlich-bäuerlichen) beurteilten: sogenannter Bauernschmuck, Haushaltgeräte, Militäruniformen und so weiter. Diese Objekte figurierten unter dem Begriff «kulturhistorische Altertümer».19 In Zusammenhang mit der räumlichen Ausgestaltung des Museumsgebäudes kamen als weitere besondere Objektgruppe die «dekorative[n] Einrichtungsgegenstände»20 und «bauliche[n] Altertümer»21 hinzu: Kamine, Flachschnitzereien, geschnitzte Balken, Türen und so weiter.22 Sie waren als verbindendes Element zwischen Sammlungsstücken und Museumsarchitektur gedacht. Gemäss dem ersten Museumsdirektor, Heinrich Angst, sollten sie nicht nur als «malerische und lehrreiche Sammlungsobjekte»23 dienen, sondern auch einen «unendlich bessern Rahmen und Hintergrund für die Altertümer selbst» abgeben, als es «moderne architektonische Gebilde»24 seiner Meinung nach konnten. Insgesamt gab es in der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums am meisten ur- und frühgeschichtliche Objekte sowie Kunsthandwerk und Waffen aus der Zeit des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit.25

Der gesetzliche Auftrag des Landesmuseums lautete, Altertümer «planmässig geordnet aufzubewahren».26 Das war alles andere als einfach. Konnte der Direktor 1895 noch verkünden, es habe im Museumsbau genügend Platz, um auch weniger wertvolle Geschenke auszustellen, 27 so war die Situation drei Jahre später eine ganz andere. Es gab nicht ausreichend Platz, um die stetig wachsende Objektmenge ausstellen zu können.28 Daher wurden vor der Eröffnung kurzfristig für die Museumsverwaltung vorgesehene Räume in Ausstellungsräume umfunktioniert, vor allem im zweiten Stock des Museums, der gar nicht dafür vorgesehen war. Zusätzlich wurden in den Korridoren Sammlungsstücke aufgestellt.29 Obwohl die Direktion sich nach eigenen Angaben bemühte, «jede Ecke in dem Gebäude auszunützen», 30 mussten grössere Bestände unausgestellt bleiben und in den Dachräumen und im Keller eingelagert werden.31

Wie die räumliche Situation in den Ausstellungsräumen um 1898 ausgesehen hatte und wie die ersten Sammlungspräsentation, damit haben sich François de Capitani und Chantal Lafontant Vallotton ausführlich beschäftigt.32 François de Capitani beschreibt die Sammlungspräsentation als einen chronologisch strukturierten Rundgang, verteilt auf zwei Stockwerke. Als Ausgangspunkt hätten die sogenannten Pfahlbau-Sammlungen gedient, die für ein über die Sprachregionen und Konfessionen verbindendes Geschichtsbild gestanden seien, während als historischer Höhepunkt Waffen zur Darstellung der Heldentaten des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts (ohne innerschweizerische Gründungsmythen) entsprechend der neuen vorreformatorischen Geschichtsschreibung ausgestellt worden seien. Als kultureller Höhepunkt sei die kunstgewerbliche Produktion der frühen Neuzeit, verstanden als utopischer Gegenraum zur Industriegesellschaft der Gegenwart mit ihren sozialen Konflikten, präsentiert worden. De Capitani sieht die Ausstellung im Landesmuseum als räumliche Verwirklichung eines kulturgeschichtlichen Programms, das ganz der Geschichtsschreibung am Ausgang des 19. Jahrhunderts entsprochen habe, oszillierend zwischen nationaler Heldengeschichte und Kunstgeschichte.33

Gemäss den vorliegenden Plänen gelangten die ersten Museumsbesucherinnen und -besucher vom Eingang aus über einen langen Korridor zuerst in den Saal mit der prähistorischen Sammlung (Abb. 7 und 8). Der zweite, viel kleinere Saal war mit römischen Objekten ausgestattet, es folgte die «Zeit der Völkerwanderung», 34 und im vierten Saal begann die Präsentation der mittelalterlichen Objekte. Von hier aus folgten sich vom Parterre in den ersten Stock abwechslungsweise die zwei Raumtypen «Ausstellungsraum»35 (vgl. Abb. 9) und «Zimmer»36 des 15. bis 17. Jahrhunderts (vgl. Abb. 11). Die Ausstellungsräume enthielten einzelne «Gattungen von Altertümern», 37 also Sachgruppen wie Holzskulpturen, Zürcher Porzellan, Keramik oder Schlitten. Die Zimmer setzten sich aus originalen, kopierten, restaurierten und rekonstruierten Architekturfragmenten zusammen, die in den Museumsbau eingepasst worden waren. Sie waren bestückt mit Möbeln aus derselben Zeit, aber unterschiedlichen Gegenden der Schweiz. Auch die Ausstellungsräume waren mit zeitlich passenden Täfern und Tapeten sowie Glasgemälden und Möbeln ausgestattet und sollten so «den Reiz ansprechender Interieurs» bekommen und nicht den «Eindruck langweiliger toter Sammlungssäle»38 erwecken, wie argumentiert wurde.

Auf ihrem Rundgang gelangten die Besucherinnen und Besucher schliesslich im Obergeschoss in den 50. Saal, die 700 Quadratmeter grosse Waffenhalle, auch Ruhmeshalle genannt, wo die zürcherischen Zeughausbestände präsentiert wurden (Abb. 10). Zum Museumsausgang/-eingang kehrte man durch die Uniformenausstellung, einen Korridor mit Glasmalereien entlang und die Treppe hinunter zurück in das Erdgeschoss.

Ganz so streng chronologisch war die Raumabfolge nicht: Auf die historischen Zimmer und Sammlungsräume aus dem 17. und 18. Jahrhundert (Raum 43–48) kamen die «Volks- und Bürgertrachten» des 17. bis 19. Jahrhundert, gefolgt von der Waffenhalle mit Objekten aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert.39 Zudem gab es Objektgruppen, die sich nicht in die von de Capitani beschriebenen drei Themenfelder (Pfahlbauer, Kunst und Krieg im Spätmittelalter und der Frühneuzeit) und in die Chronologie einfügen liessen. Erwerbungen mussten kurzfristig in improvisierten Ausstellungsräumen untergebracht werden. Beispielsweise wurde die «überraschend schnell angewachsene Uniformen-Sammlung»40 in dem zum Ausstellungssaal umfunktionierten Sitzungszimmer der Landesmuseumskommission aufgestellt.41

Nach der Eröffnung des Museums wurden auch noch im dritten Stock Räume für die Ausstellung ausgebaut und hier die ländlichen Trachten präsentiert sowie im zugehörigen Treppenhaus und Vorraum Möbel und Gegenstände aus dem 18. Jahrhundert.42 Um Raum für mehr Objekte zu gewinnen, wurden die Skulpturen dichter aufgestellt.43 Und weil in den Sammlungssälen kein Platz mehr vorhanden war, wurden auch in die historischen Zimmer weitere Sammlungsstücke und Vitrinen mit Objekten hineingezwängt, obwohl es laut der Direktion «dem Charakter und der einheitlichen Stimmung eines alten Wohnraumes»44 widersprochen hat. Ein Beispiel dafür war die Ratsstube aus Mellingen, wo die Direktion 1906 als ungeliebtes Provisorium «voluminös[e] und sperrig[e]»45 Stücke wie gotische Schränke und Truhen hineinstellte (Abb. 12).

Mit der Sammlung des Bundes war es anders gekommen, als man sich vorgestellt hatte: Die Menge der Objekte, die in die Sammlung Eingang fanden, war grösser als angenommen. Manifest wurde dies in den Räumen des Museumsgebäudes, das zur Aufbewahrung der Sammlung errichtet worden war. Bereits im ersten Jahrzehnt waren Objekte auch in den Kellerräumen des Museums provisorisch eingelagert worden und ab 1903 mehr und mehr auch im Dachgeschoss. Ja sie wurden regelrecht aufgestapelt: In die Türme des Landesmuseums, die bisher nur als Architekturschmuck funktioniert hatten und innen hohl waren, wurden Böden und Treppen eingezogen und im Hauptturm beispielsweise die unausgestellten Trachten und Uniformen eingelagert.46 Zehn Jahre nach der Eröffnung des Museums waren zwei Drittel der Sammlung nicht ausgestellt.47 Das war für die Verantwortlichen ein unhaltbarer Zustand. Der Nachfolger von Heinrich Angst, Hans Lehmann, rechnete 1906 vor, dass gegenwärtig 4624 Quadratmeter Ausstellungsfläche zur Verfügung stünden. Rund 3200 Quadratmeter mehr wären nötig. Daher sei ein Erweiterungsbau unabdingbar.48

Auch Bundesbern blieb der Zustand nicht verborgen: Die Bundesorgane kamen in erster Linie bei der Finanzkontrolle mit dem Betrieb des Schweizerischen Landesmuseums in Kontakt. Eine Sektion der Finanzdelegation der Eidgenössischen Räte suchte das Museum jeweils auf, um die Kassenrevisionen vorzunehmen und die Buchhaltung zu kontrollieren. 1910 blieb es nicht beim üblichen Protokoll. Der Präsident der Finanzdelegation der eidgenössischen Räte, Arthur Eugster, verfasste einen Brief an das Departement des Innern (EDI), der über die gewöhnliche Finanzanalyse hinausging.49 Arthur Eugster schrieb:

Abb. 7: Plan Erdgeschoss, in: Hans Lehmann: Offizieller Führer durch das Schweiz. Landesmuseum, 2. vermehrte Auflage, Zürich 1900, SNM Scan.

Abb. 8: Plan erste Etage, in: Hans Lehmann: Offizieller Führer durch das Schweiz. Landesmuseum, 2. vermehrte Auflage, Zürich 1900, SNM Scan.

Abb. 9: Winterthurer Keramik, Eckraum Nr. 48, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, ohne Jahr, SNM, Dig. 28842.

Abb. 10: Ruhmeshalle, Raum 50, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Fotograf: E.Link, Aufnahme vor 1918, SNM Dig. 28851.

Abb. 11: Ratsaal aus Mellingen, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Postkarte, um 1898, Nr. 2848, in Besitz von Anna Joss, Scan.

Abb. 12: Rathaussaal von Mellingen (1467), Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Raum 14, in: Führer durch das Schweizerische Landesmuseum in Zürich, hg. v.d. Direktion, Zürich 1929, SNM Scan.

«Es herrscht ein empfindlicher Platzmangel, so dass Kellerräume und Estrich zur Aufbewahrung von Altertümern benutzt werden müssen.»50

Deshalb seien baldmöglichst Massnahmen zu ergreifen bei der «Unterbringung & Beschaffung der Inventargegenstände».51 Der empfundene Raummangel mündete in eine Grundsatzdebatte über die Sammlungspraxis und die Ziele des Landesmuseums während der 1910er- und 1920er-Jahre und war der Auslöser für bleibende Veränderungen in der Sammlungstätigkeit des Museums.

Die Diskussionen und Handlungen rund um die Sammlungsmenge sind Gegenstand dieses Kapitels. Der Titel «anhäufen» bezieht sich auf drei Merkmale, die für die damalige Sammlungspraxis charakteristisch sind: Erstens drehten sich die damaligen Museumspraktiken weniger um Einzelstücke, die Eigenheiten einzelner und einzigartiger Objekte. Vielmehr ging es um den Umgang mit einem Haufen von Dingen und die Handhabung einer Menge Dinge: Die Sammlungstätigkeit wurde von der Quantität der Dinge dominiert und der Wirkung der Sammlungsstücke in ihrem «Vielsein».52 Der zweite Aspekt, welcher der Begriff «anhäufen» betont, ist das Zusammentragen der Dinge an einem Ort, die Zentriertheit der Handlungen. Die vom Bund erworbenen Objekte wurden vereinigt und zu einer Sammlung formiert, in einem eigens dafür gebauten Museumsgebäude in der Stadt Zürich. Gegen diese zentralisierte staatliche Sammlung traten die Anhänger des Föderalismus immer wieder an. Weiter war es die vorhandene Objektmenge, die in den 1910er- und 1920er-Jahren unter den Verantwortlichen zu einer ersten genealogischen Reflexion über das Sammeln führte und sie danach fragen liess, wie es denn zu dieser Quantität kommen konnte. Das prozessuale Moment des Sammelns, das Grösserwerden und Wachsen der Sammlung durch das Zusammentragen von Dingen, ist denn auch der dritte Aspekt, der interessiert.53

Die Quantität der Dinge ist beim Sammeln ein essenzieller Faktor. Das zeigt sich bereits in der Tatsache, dass ein Ding noch keine Sammlung ausmacht. Erst ab zwei, besser ab drei oder mehr Dingen kann man von einer Sammlung sprechen.54 Die Quantität der Sammlungsstücke war in der Sammlungspraxis am Schweizerischen Landesmuseum ein wesentliches Qualitätsmerkmal. Wie wichtig die Darstellung der Menge für die Museumsleitung war, lässt sich bereits an den Listen in den Jahresberichten erkennen, die oft mehr als die Hälfte des gesamten Umfangs der Publikation bildeten.55 Erstaunlicherweise waren bisher in der Forschung zu öffentlich-staatlichen Sammlungen quantitative Aspekte kein eigener Untersuchungsgegenstand.56 Marginal thematisiert sind sie in Untersuchungen, die sich mit dem Strukturieren, Ordnen und Klassifizieren des Sammelns befassen, wo die Quantität als Problem erscheint.57 Anders ist es bei den Untersuchungen zur Sammeltätigkeit von Einzelpersonen: Hier ist der quantitative Aspekt beim Sammeln Thema. Das Streben nach einer grossen Sammlung wird mit besonderen emotionalen Dispositionen, nicht selten mit Persönlichkeitsstörungen in Verbindung gebracht.58