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Nero Kalypso

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Beschreibung

Carmen befindet sich auf einer Suche - doch worauf sie dabei stößt, entspricht so gar nicht ihren Vorstellungen. Mareike und Felix suchen zwar nicht, freuen sich aber umso mehr über ihre Funde. Und Jonas ... ist in ganz eigener Mission unterwegs. Du bist herzlich dazu eingeladen, diese vier jungen Menschen auf ihren nun anstehenden Wegen zu begleiten. Der Teil Begegnungen bildet den Auftakt der Geschichte Anima. Wohin die eben besagten Wege führen? Finden wir es heraus! :)

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Nero Kalypso

Anima | Teil 1 - Begegnungen

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Kapitel 1

Carmen erinnerte sich noch daran, dass es hier keinen Aufzug gab.

Also dann. Sieben Stockwerke nach oben laufen. Die Stufen waren aus Stein und das Treppenhaus vermittelte einen kalten, abweisenden Eindruck. Auf dem Weg hoch sah sie niemanden. Erster Stock, zweiter Stock, dritter – egal, in welchen sie kam, alle boten sie ihr das gleiche, triste Bild. Niemand der Bewohner hatte irgendetwas vor die Tür gestellt, was dem Ganzen Leben einhauchen könnte. Keine Pflanze, kein nichts. Bloß die schmucklosen Türschilder. Und vor jeder Wohnung lag die gleiche, hellbraune Fußmatte.

Nicht, dass Carmen wirklich darauf achtete, wie es hier aussah und ob es hier wohnlich wirkte. Eigentlich war es ihr völlig gleichgültig. Sie war jetzt, soweit sie sich erinnern konnte, seit achtzehn Jahren nicht mehr hier gewesen. Und nun hatte sie eine Absicht und der würde sie nachgehen – das war’s. Sie fühlte sich nicht unwohl. Und an früher erinnert auch nicht. Vielleicht bloß noch nicht? Carmen hatte einfach zu wenige Erinnerungen an das Leben, das sie hier verlebt hatte. Wie auch? Zu der Zeit hatte sie ja noch nicht mal richtig reden, geschweige denn zielsicher geradeaus gehen können. Wie sollte sie da schon detaillierte Erinnerungen gewonnen haben?

 

Sie machte keine Pause. Auf der ganzen Treppe nicht, in keinem Stockwerk. Es war nicht ihre Art. Sie hatte etwas zu tun und würde das jetzt auch durchziehen. Es musste sein. Carmen hatte sich schon gefragt, warum es ausgerechnet jetzt sein musste und nicht schon viel früher hätte durchgezogen werden können. Aber zu lange darüber gegrübelt hatte sie nicht, denn schließlich war es müßig. Hätte, hätte. Na und? Sie schuldete niemandem etwas, schon gar nicht sich selbst. Und letztendlich auch nicht Ruth.

Das Stockwerk Sieben fiel etwas kleiner aus als die anderen. Hier gab es nur vier Türen, zwei zu ihrer Linken, zwei zu ihrer Rechten. Carmen musste zu der zweiten Tür links. Inzwischen hing da kein Namensschild mehr. Sie trat an ebendiese Tür heran, kniff das linke Auge zu und blickte mit dem rechten durch den Spion. Es war nichts zu erkennen, wie nicht anders zu erwarten; es war dunkel auf der anderen Seite. Vermutlich waren die Rollläden unten.

Sie wusste, dass hier niemand wohnte. Niemand hatte hier einziehen wollen, keiner hatte sich um die Wohnung gekümmert seit damals. Vermutlich noch nicht einmal der Vermieter höchstpersönlich. Eventuell verwunderlich, schließlich waren nun fast zwei Jahrzehnte vergangen, in denen jemand die Wohnung hätte nehmen können. Andererseits, wenn man nach Lehedorn zog, suchte man sich im Normalfall eine andere Gegend aus. Ja, im Idealfall tat man das. Der ganze Stadtteil hier war nicht wirklich ansehnlich. Und dieses Gebäude tat sein Möglichstes, um da auch ja nicht aus dem Konzept zu fallen.

 

Wie dem auch sei, dachte Carmen, es dürfte niemand auf sie da drin warten. Die Tür war abgeschlossen, klar, und sie hatte keinen Schlüssel. Soweit, so gut. Sie setzte ihren Rucksack ab und stellte ihn vor sich auf den Boden. Es herrschte nichts als Stille um sie herum. Man bekam den Eindruck, das ganze Haus sei verwaist. Heute war Sonntag, vielleicht versteckten sich alle in ihren Wohnungen vor der Welt da draußen. In ihrem Zuhause ließ sich auch so gut wie nie ein Hauch von Leben im Treppenhaus oder in den Fluren vorfinden. Die Leblosigkeit hier kam ihr also bekannt vor.

Trotz dieser Geräuschlosigkeit schaute sie sich noch einmal um. Man konnte nie wissen. Noch immer nichts. Wen wunderte es?

Dann bückte sie sich und kramte aus dem Rucksack eine kleine Plastikdose hervor, aus der sie einen Dietrich holte. Carmen lehnte den Rucksack neben die Tür, kniete sich vor das Schloss und begann vorsichtig und konzentriert, es zu öffnen. So was hatte sie noch nicht oft gemacht, aber hin und wieder konnte es nützlich sein und sie war immer wieder erstaunt darüber, wie einfach es sich doch gestaltete, wenn man sich nur konzentrierte und sich Zeit nahm. Vielleicht nach ein, zwei Minuten verharrte sie in der Bewegung und griff mit der linken Hand nach der Klinke, drückte sie herunter. Die Tür ließ sich öffnen.

Bingo.

Sie trat ein und zog die Tür leise hinter sich zu.

 

So, dachte sie. Das war schon mal der Anfang.

Hier drin war es, wie bereits von außen erkennbar, dunkel. So dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen sah. Alle Rollläden waren dicht und die Luft entsprechend stickig. Mann, was für ein Mief!

Sie würde es aushalten, aber ein wenig frische Luft reinzulassen, das wäre sicher nicht schädlich. So eine alte Luft gab es selbst bei ihr nicht – und das musste etwas heißen. Sie griff nach der Taschenlampe im Rucksack und schaltete diese ein. Mit deren Licht ging sie in die Küche, die erste Tür rechts, trat ans Fenster und öffnete es; zumindest klappte sie die Scheibe zur Seite, die Rollläden waren noch unten.

Komplett hochziehen wollte sie diese nicht. Es wäre höchstwahrscheinlich kein Problem, dennoch: Man könnte das von draußen erkennen und es könnte auffallen, dass jemand zu Besuch war. Sie zog die Rollläden also nur ein kleines Stück nach oben und öffnete das Fenster, sodass zwischen den Rillen etwas Licht und vor allem etwas Luft hindurchkommen konnte. Dann blickte Carmen zwischen zwei der Rillen hindurch. Der Ausblick war ganz okay, dachte sie. Auch an den konnte sie sich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern. Dafür war das alles zu lange her.

 

Auch im Wohnzimmer und im Schlafzimmer öffnete Carmen Fenster und schob die Rollläden ein Stück nach oben. Jetzt konnte sie die Taschenlampe ausschalten und der Muff war nicht mehr so unerträglich. Zumindest konnte man sich das jetzt einbilden, wo ein wenig Luft ging. Aber sie war ja nicht hier, um das Ambiente zu genießen.

Warum genau dann? Sie wollte etwas suchen und finden, das Ruth gehört hatte. Nichts Bestimmtes. Etwas Unbestimmtes, aber … Hinweisendes.

So lange hatte sie sich nur am Rande für dieses ferne Damals interessiert. Aber in letzter Zeit … in letzter Zeit ging es ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte keine konkrete Vorstellung von dem, was sie genau suchte, aber sie wünschte sich Antworten. Sie wollte wissen, was passiert war.

Und … wer hier gelebt hatte. Wer Ruth gewesen war. Also – im Sinne von: Wie sie gewesen war.

 

Carmen hatte nur noch selten mit jemandem über Ruth gesprochen, seit dem ganzen Tumult damals. Warum? Weil sie noch zu klein war, um darüber in ganzen Sätzen nachzudenken, jedenfalls ganz früher. Und später, weil sie nicht darüber nachdenken wollte – weder in ganzen Sätzen noch in Bruchstücken davon.

Doch jetzt wieder an Ruth zu denken, war wie ein Muss für sie. Carmen fühlte sich, als ob sie etwas suchte, was sie lange ignoriert hatte. Irgendwie seltsam.

Bei ihrem Aufbruch hierher, da hatte sie sich wie angetrieben gefühlt, als sei es das einzig Richtige, nicht mehr abzuwarten.

Und nun war sie hier.

 

Nichts in dieser Wohnung fühlte sich vertraut an. Ein paar Kindersachen von ihr lagen im Wohnzimmer auf dem Teppich, überwiegend Spielzeuge und Puppen. Alles hier war von Staub überzogen. Und das, obwohl die Wohnung hermetisch abgeriegelt wirkte. Die letzten, die diesen Ort betreten hatten, waren vermutlich die Polizisten gewesen.

Alles schien unwirklich: Die Spielzeuge auf dem Boden, Legosteine – die großen. Außerdem Teddys. Auf dem Tisch stand ein Glas, daneben eine Wasserflasche. Als ob mit einem Mal einfach alle Menschen verschwunden waren, dachte sie. Und dann hatte man die Wohnung schlicht sich selbst überlassen.

Na los, komm, du bist zu einem Zweck hier, dachte sie. Nicht hin- und herüberlegen.

Sie würde sich umschauen, sehen, was sie fand. Vielleicht Notizen von Ruth. Konnte auch sein, dass die Polizei damals ein paar Sachen mitgenommen hatte, aber das glaubte sie nicht. Alles war recht eindeutig gewesen; da brauchte man nicht viel zu ermitteln und was auch immer die für Bemühungen anstellen, in jedem Fall musste man nichts Wesentliches zur Untersuchung mitgehen lassen.

 

Zuerst suchte Carmen im Schlafzimmer. Das Bett war ein Doppelbett, auch wenn es nicht wirklich danach aussah. Es handelte sich vermutlich um die kleinste Ausgabe eines Doppelbettes, die noch als solche durchging. Beide Nachttischschränke waren leer, bis auf ein bisschen Krimskrams. Stifte und leere Abreißzettel für Notizen. Eine kleine Glühbirne, vermutlich für die beiden Lampen auf den Nachttischen.

Dann kam das Bett selbst an die Reihe, was das Absuchen anbelangte; Carmen warf auch einen Blick unter die Kopfkissen. Sogar unter die Matratze, doch da war nichts. Sie ließ diese wieder ins Bettgestellt fallen, als sie nichts entdeckte. Das war im Nachhinein keine so gute Idee: Staub wirbele auf und noch bevor sie die Luft anhalten konnte, musste sie husten. Sie hatte auch was in die Augen bekommen und trat ein paar Schritte zurück.

Na super, dachte Carmen.

Nach einigen Augenblicken ging es wieder. Im Schlafzimmer befand sich ansonsten nicht viel. Ein Schrank mit alten Klamotten, doch auch dort war nichts von besonderem Interesse. Sie prüfte sogar den gesamten Boden und die Rückwand. Als ob sich da jetzt ein Geheimgang auftun würde, dachte sie spöttisch. Und natürlich Fehlanzeige. Nicht nur, was den Geheimgang anging.

 

Nach weiteren zehn Minuten war sie auch mit der Küche durch. Nichts. Absolut gar nichts. Es konnte auch sein, dass schlicht keine Dinge von Interesse zu finden waren und sie aus ebendiesem Grund nichts fand. Klar, sie sollte nicht erwarten, dass dieser Ort hier all ihre Fragen beantworten konnte. Aber sie wollte ihm zumindest eine Chance geben. Immerhin war er mal ihr Zuhause gewesen. Wo, wenn nicht zuhause, fand man die meisten Antworten?

Das Bad war klein. Hier brauchte sie gar nicht anzufangen, nach etwas zu suchen. Sie ließ ihren Blick einmal durch den winzigen Raum schweifen und lehnte dann die Tür wieder an.

 

Blieb noch das Wohnzimmer. Hier gab es einen Schrank, in dem kurzerhand ein paar Sachen geparkt wurden, für die sich sonst kein Platz gefunden hatte: Der Staubsauger, eine kleine Matratze, eine Decke. Außerdem war da noch mehr Lego drin. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, früher so auf das Zeug abgefahren zu sein. Sonst aber nichts von Belang.

An der gegenüberliegenden Wand stand ein Bücherregal. Es war gut gefüllt, einige Bücher kamen ihr vom Titel her bekannt vor, auch wenn sie noch keines davon gelesen hatte.

‚Die Unendliche Geschichte‘.

‚Momo‘.

Beide vom gleichen Typen geschrieben. Daneben ein Bücherhalter aus Holz, und nebendran…

 

Einen Moment mal.

Das Licht, das durch die Schlitze in den Rollläden fiel, sorgte zwar schon für eine gewisse Helligkeit, aber Carmen schaltete nun doch noch die Taschenlampe dazu. Neben dem Bücherhalter war noch ein wenig ungenutzter Platz bis zum Ende der Abstellfläche für … na ja … Bücher eben. Das an sich war nicht weiter verwunderlich. Es war ja kein Ding der Unmöglichkeit, dass man seine Bücherregale nicht voll bekam. Aber ihr war etwas aufgefallen und im Licht der Taschenlampe sah sie es nun noch deutlicher: Zwischen dem Bücherhalter und dem Ende der Abstellfläche lang kein Staub auf dem Regal. Alles andere war staubig, und zwar ziemlich; bloß dort hatte man ihn entweder weggewischt – oder da hatte noch etwas gestanden.

Vermutlich eher Letzteres.

Aber wenn sich da kein Staub befand, dann musste jemand vor kürzerer Zeit etwas mitgenommen haben.

War jemand anderes hier gewesen? Wer denn bitte?

Einbrecher bestimmt nicht, oder? Bestimmt wusste so ziemlich jeder, dass die Wohnung schon ewig leer stand und ebenso, dass es hier überhaupt nichts zu holen gab.

Und was war da gewesen? Einfach weitere Romane? Oder etwas anderes?

Scheiße, dachte sie. Was auch immer es gewesen war, hoffentlich nichts, was besser sie hätte finden sollen! Wehe, irgendein Idiot hatte genau das mitgehen lassen, was sie als erfolgreiches Ergebnis ihrer seltsamen Suchaktion angesehen hätte.

Carmen wusste nicht, was das sein sollte, noch immer nicht; aber sie würde es erst recht nicht herausfinden, wenn es sich jemand unter den Nagel gerissen hatte!

 

Ihr Blick fiel auf etwas am Boden, hinter dem Bücherregal. Etwas, das nur ein Stückweit dahinter hervorschaute; so, als habe es sich dort versteckt. Ein weiteres Buch, dachte sie zuerst, heruntergefallen vermutlich, doch es war größer, eine Art – Ordner. Sie kniete sich hin und griff danach. Es war kein Ordner, sondern ein Album. Ein Fotoalbum.

Ihr Herz begann, schneller zu schlagen.

War es nicht etwas in der Art, was sie sich erhofft hatte? Vielleicht. Möglicherweise fand sie da aber auch gar nichts heraus, sondern konnte sich jetzt fünfzig Seiten lang sich selbst anschauen, wie sie Brei löffelte oder erste Gehversuche unternahm. Das brauchte sie nun wirklich nicht. In jedem Fall zögerte sie einen Moment, bis sie das Ding öffnete. Als sie es aber dann doch tat, runzelte sie kurz darauf die Stirn und starrte irritiert in das Album.

Es war völlig leer. Sie blätterte die ersten Seiten durch.

Nichts.

Was sollte das denn? Wieso waren da keine Bilder drin?

 

Sie ließ die Seiten durch ihre Finger rauschen. Auf jeder gab es vier Möglichkeiten, ein Bild in eine durchsichtige Folie hineinzuschieben, und auf keiner Seite war auch nur eine einzige dieser Möglichkeiten genutzt worden. Gerade wollte sie das Ding zuklappen, als sie auf der letzten Seite etwas entdeckte: Eine der vier Folien war nicht leer. Ein zusammengefaltetes Stück Papier befand sich darin und wirkte irgendwie fehl am Platz.

Vorsichtig zog sie es aus der Folie. Und faltete es auf.

 

Auf dem Blatt stand:

Wir sehen uns sicher bald.

 

Und darunter eine Unterschrift. Ein Name, den sie niemandem zuordnen konnte:

 

Buddy

Kapitel 2

Diese Gabel war jetzt so was von an der Reihe. Da konnte sie sich aber drauf gefasst machen. Mareike zog sie unter dem Teller hervor, der halb auf sie gekippt war, und ließ noch ein wenig warmes Wasser ins Spülbecken laufen. Nicht zu heiß, sonst verbrannte sie sich bloß wieder die Finger. War ja nicht zum ersten Mal heute vorgekommen. Vielleicht sollte sie das nächste Mal Handschuhe tragen, wenn sie den Abwasch machte. Ja, super Idee, dachte sie, und am besten gleich noch ein Stirnband mit ‚Vollidiotin‘ drauf. Das würde dann auch inhaltlich harmonieren. Nein. Quatsch. Jeder hatte doch seine Macken.

Kaum zu glauben, was sich alles an Zeug ansammelte, wenn man es sich selbst überließ. Wenn auch nur für ein paar Tage. Aber wenn sie es sich recht überlegte – wenn man für jede Mahlzeit einen Teller und mindestens zwei Bestecke brauchte, und vielleicht noch ein Glas, dann musste das ja wohl oder übel schnell viel Geschirr werden.

Sie sollte öfter zum Bäcker gehen und sich Sachen auf dem Weg zur Hochschule mitnehmen; das brachte weniger zum Spülen mit sich.

 

Aber es war ja auch alles nur halb so schlimm. Und sie wäre auch schon längst fertig, wenn sie nicht alle paar Minuten innehalten und darüber nachgrübeln würde, ob die zweite Staffel von „Yuyuko und das Abendrot“ wirklich so hatte enden müssen.

Darin ging es um einen jungen Mann – namens Yuyuko – der von seiner Gilde verstoßen wird, weil er seltsame Visionen bei Sonnenuntergang sieht. Später findet er heraus, dass es sich um Zukunftsvisionen handelt und versucht, die anderen zu warnen, sobald er einen Angriff auf die Gilde vorhersieht. Niemand glaubt ihm und das wird vielen zum Verhängnis. Nur dummerweise, und damit konnte sich Mareike nicht abfinden, hatte Yuyuko kaum mehr getan, als es bei einem Versuch zu belassen, den man ihm eben nicht abgekauft hatte. Wenn er wirklich zukünftige Visionen hatte, was ja offenbar der Fall war, dann hätte er die doch einem der Traumdeuter mitteilen können. Die hätten dann sein Potential erkannt und die anderen überzeugen können. Da war er aber nicht drauf gekommen. Wäre aber besser gewesen, denn nun hatten die Angreifer seine Schwester entführt.

Na ja, andererseits, irgendwas musste ja auch in Staffel drei passieren.

Zugegeben, ‚Yuyuko und das Abendrot‘ war eine dieser televisionären Erscheinungen, bei denen man nicht unbedingt nach viel Anspruch suchen sollte. Aber Mareike mochte Mangas und die entsprechenden Serien. Sie mochte die riesigen Augen der Protagonisten, ihre Köpfe, die zumeist verhältnismäßig etwas größer waren als bei normalen Menschen. Und sie konnte sich nicht helfen, aber irgendwann gefiel ihr jede Manga-Serie; sie musste sie nur lange genug schauen.

 

Die meisten dieser Serien, die sie auf unaussprechlichen Kanälen oft mehr oder weniger zufällig fand, hatten nicht mehr als eine Staffel und die auch selten auf Deutsch. Englisch war ja noch okay, auch wenn sie nicht jedes Wort verstand. Ihr Schulenglisch war mittelmäßig bis akzeptabel, sie würde damit keinen Blumentopf gewinnen, aber sie sollte auch nicht verhungern müssen, wenn man sie mitten auf dem Piccadilly Circus in London aussetzte. Der Piccadilly Circus befand sich doch in London, oder?

Sie wusste es nicht mehr genau, bisher war sie nur einmal dort gewesen. Also, in London. Mit ihren Eltern, die beide die Stadt ganz toll fanden. Sie war damals, mit neun, nicht vollends begeistert gewesen. Für sie hatte London einfach nur wie eine riesig große Stadt gewirkt, mit vielen langen Straßen, die man alle entlanglaufen musste, wenn man von dieser zu jener Sehenswürdigkeit kommen wollte. Und dann zu noch einer.

Aber es gab ‚Fish and Chips‘, die waren ganz gut. Okay, heute würde sie nur noch die Chips nehmen.

Moment, worüber wollte sie gerade nachdenken?

 

Yuyuko. Ja. Genau. Sie hätte das anders gemacht. Vielleicht sollte sie eine Alternative skizzieren und den Machern der Serie zukommen lassen? Aber erstens würde das richtig viel Arbeit machen und zweitens wäre denen ihre Mühe sicher völlig egal.

Wie war sie denn eigentlich von Yuyuko auf ‚Fish and Chips‘ gekommen?

 

Sie angelte sich den letzten Teller aus der Spüle und wusch mit dem Schwamm den Schaum von ihm ab. Dann noch abtrocknen. Mareike betrachtete ihr Werk: Fast zu schön, um davon zu essen. Zumal das Geschirr dann wieder dreckig wurde. Also besser schnell ab damit in den Schrank, bevor sie noch in Versuchung kam. Sie ließ das Wasser ab. Es gurgelte, verschwand und schließlich war die Spüle wieder leer.

 

Mareike griff nach ihrem Handy und entsperrte es. Viertel nach drei. Sie ging besser heute noch einkaufen. Und am besten jetzt, bevor ihr etwas Besseres einfiel. Ihre Sachen für die Hochschule hatte sie schon gemacht, das war nicht das Problem. Oder eben doch – denn gerade nun, wo sie sonst nichts zu tun hatte, bestand die akute Gefahr, dass sie sich auf das Bett fläzen und nichts Produktives mehr anstellen würde. Und das wäre doch schade, wo der Tag noch genutzt werden konnte. Für dies und das.

Also schön. Dann eben jetzt. Musste sie noch Geld holen?

Sie schnappte sich das Portemonnaie, das neben ihrem Wohnungsschlüssel auf dem Schränkchen lag. Sie sah drei Scheine und zählte achtzig Euro, das sollte für das Nötigste reichen; es musste ja nicht das kuschelige, fünflagige Klopapier sein. Wobei, von achtzig Euro konnte sie sich das schon gönnen. Oder etwas anderes. Besser irgendwas anderes – wie sah das denn aus, wenn sie mit ihrer Einkaufstasche in der einen und einer Riesenpackung samtig weichem Toilettenpapier in der anderen Hand durch die Straßen ging? Hm. Andererseits … fünflagig!

 

Draußen hörte sie ein Bellen und trat ans Fenster. Sie konnte keinen Hund ausmachen, der zu dem Bellen gehörte. Schade, dachte Mareike. Der Hausmeister hatte manchmal seinen Hund Ballermann dabei und spielte mit ihm vor dem Haus.

‚Ballermann‘ war ein ziemlich heftiger Name für einen ziemlich unheftigen Hund. Es handelte sich um einen Chihuahua, den der Hausmeister aus einem Tierheim mitgenommen hatte. Wenn Mareike mehr Platz hätte, dann würde sie auch ein Tier aus dem Tierheim retten. Sie hatte schon ein paar Mal gefragt, ob sie mit Ballermann spazieren gehen könnte. Ballermann war echt ein Lieber. Sie würde unten mal nachsehen, ob der Wauwau heute zu haben war. Der Weg zum Supermarkt wäre eine gute Spazierroute. Und so würde sie sich auch nicht lange im Markt aufhalten, auf der Suche nach dem fünflagigen Papier; nicht, dass der Hund ewig warten musste.

 

Bevor sie ging, stellte sie sich noch einmal vor den Spiegel. Ihre Haare waren ein Stück zu lang für ihren Geschmack. Sie musste bei Gelegenheit wieder zum Frisör. Aber abgesehen von ihren Haaren – joa, das Mädchen im Spiegel war schon ganz ansehnlich. Zumindest ihrer Meinung nach. Gut, sie war parteiisch; aber nur ein bisschen.

Mareike schnappte sich den Haustürschlüssel, ihren Rucksack und den Geldbeutel. Das sollte es gewesen sein. Es klackte, als sie die Tür ins Schloss fallen ließ. Im Gang war es stickig. Die Fenster an den Enden des langen Flurs waren beide verschlossen, obwohl sommerliche Temperaturen herrschten. Sie ging bis zu einem der Flurenden, bei dem die Tür zur Treppe nach unten lag, und klappte das Fenster auf.

So funktionierte ‚atmungsaktiv‘! Da konnte die Werbung ihr sonst was erzählen.

Sie ging die Treppe hinunter, hielt sich am Geländer fest und nahm ab und zu zwei Stufen auf einmal.

 

Im Erdgeschoss angekommen trat sie an das Zimmer des Hausmeisters heran. Die Tür war angelehnt und sie hörte ihn sprechen. Offenbar telefonierte er. Durch den Türspalt konnte sie erkennen, wie er hin- und herlief, während er mit jemandem am anderen Ende der Leitung über irgendetwas diskutierte.

„Ich habe es dir schon hundertmal… Nein. Nein, ich habe es dir wie gesagt, schon hundertmal erklärt, so kann das nicht weitergehen. Wir haben… Nein… Nein, das habe ich dir auch schon mal gesagt.“

Vor der Tür, in gebührlichem Abstand zu dieser, lag Ballermann und schlief den Schlaf der Gerechten. Na gut, dachte Mareike, das hatte wohl keinen Sinn. Der Hund schlief und das Herrchen war beschäftigt – dann eben ein andermal.

 

Draußen war es hell und schön. Noch viel schöner, als es von drinnen ausgesehen hatte. Es war diese Art von Sommertag, an denen zwar die Sonne schien und kein Wölkchen am Himmel zu finden war, aber man dennoch nicht das Gefühl hatte, jederzeit aufgrund der Hitze zu schmelzen. Ein wenig Wind pustete, so dass man nicht ins Schwitzen kam und sich erst am Abend über einen leichten Sonnenbrand wunderte.

Mareike ging zu den Briefkästen, schloss ihren eigenen auf und stellte mit einem schnellen Blick fest, dass nichts darin war. Dann eben nicht. Man musste ja auch nicht immer Post bekommen. Wenn sie denn welche bekam, war es meistens Werbung.

Sie machte sich auf den Weg die Straße hinunter, am Wohnheim vorbei. Sie würde nun vier Straßen mit zusammengenommen zwei Ampeln entlanggehen und insgesamt um drei Ecken biegen, dann wäre sie beim Supermarkt. Es dauerte vielleicht fünfzehn Minuten, um dorthin zu kommen; etwas länger, wenn beide Ampeln gegen sie arbeiteten.

Wenn sie jetzt doch etwas Musik dabeihätte – Moment, hatte sie das nicht? Mit ein bisschen Glück…

Sie zog den Rucksack ab und suchte beim Gehen darin herum. Der eigentliche Rucksack war komplett leer, so wie sie es erwartet hatte, immerhin mussten da ihre Einkäufe reinpassen. Nur das Fach ganz vorne, mit einem separaten Reisverschluss, das war nicht leer, da war etwas drin. Etwas Lilanes.

Na bitte!

Ihr MP3-Player samt Kabel. Für das Auseinanderpfriemeln des Kabels blieb sie dann aber doch stehen. Es war ihr ein Rätsel, wie so ein Kabel das hinbekommen konnte. Sie hatte den Rucksack, seitdem sie den Player da reingetan hatte, vielleicht zwei-, dreimal irgendwohin mitgenommen, und das waren allesamt keine wirklichen Abenteuer gewesen – und dennoch schaffte es dieses Kabel, sich zu verknäulen wie nichts Gutes. Da musste Magie dahinterstecken. Oder die Sterne hatten einen negativen Einfluss darauf. Oder beides. Vermutlich beides. Sehr wahrscheinlich beides.

Ja, natürlich, man hätte sich auch die Mühe machen können, das Kabel innerhalb von zehn Sekunden zusammenzuwickeln, bevor man es in den Rucksack legte; aber wo blieb denn da bitte der Spaß beim Auseinanderknoten?

 

Als sie es geschafft hatte, schaltete sie das Gerät an, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und setzte ihren Weg fort. Das erste Lied, das kam, war ihr etwas zu laut. Sie sprang zum nächsten. Per Zufallswiedergabe. Owl City. War okay. Aber momentan stand ihr der Sinn eher nach etwas anderem. Sie ging zum Ordner, der sämtliche Musikstücke beinhaltete und suchte dann gezielt nach einem speziellen Lied.

Coldplay. Myolo Xyloto. Charlie Brown.

Sie mochte alles an diesem Stück. Es fing langsam an, wurde dann laut, wild und bunt – so kannte und mochte sie Coldplay ohnehin – und es hatte einen Text, bei dem man einiges hineininterpretieren konnte. So musste ein Lied sein und so war dieses Lied auch. Und am Ende würde es noch einmal leise werden, einfach ein paar finale Töne, ohne gesangliche Begleitung. Da merkte man ihres Erachtens, dass die Band Spaß daran hatte, Musik zu machen; ja, als ob sie gar nicht genug kriegen könnte und noch ein paar Noten drauflegte. So nach dem Motto ‚Ich muss verrückt sein, und obendrauf packe ich hier und heute noch diese Wassermelone‘.

Nur halt eben ohne die Wassermelone. Sondern mit Noten.

Sie steckte den Player in ihre Hosentasche und bewegte ihre Lippen zum Gesang von Chris Martin.

 

 

* * * *

 

„So ein Schwachsinn!“, rief Felix und starrte seine Mutter böse an. Langsam reichte es ihm mit der schon fast krankhaften Hartnäckigkeit seiner Eltern.

„Ich habe mich jetzt schon über zwei Jahre da durchgequält! Ein Jahr habe ich noch und das wird sicher nicht viel besser. Ich brauche das nicht noch zwei weitere!“

„Was soll das denn heißen?“, fragte seine Mutter, die spürbar versuchte, nicht unfreundlich zu klingen, aber einen ungesunden Unterton in ihre Worte legte, „Willst du mir jetzt sagen, dass dir dein Studium zwei Jahre lang überhaupt keinen Spaß gemacht hat, oder was meinst du damit? Ich dachte, du fändest es interessant!“

„Ja, es ist ja auch interessant, irgendwo“, gab Felix zu, „Ich meine, wenn es mir gar keinen Spaß machen würde, dann hätte ich es ja wohl kaum zwei Jahre lang durchgehalten. Aber ich kann doch selbst entscheiden, was ich machen will und was nicht. Und ich brauche keinen Master. Mir reicht der Bachelor und der ist schon schlimm genug.“

Sein Vater saß am Esszimmertisch und hatte noch kein Wort zu der ganzen Angelegenheit von sich gegeben – zumindest nicht am heutigen Tag. Jetzt aber stand er auf, langsam, in seiner auf eine seltsame Weise würdevollen Art. Der Mann war wirklich von ganzem Herzen ein reicher Schnösel, dachte Felix, noch bevor sein Vater den Mund aufmachen konnte.

Felix schämte sich auch nicht für diesen Gedanken, denn es war letztlich so. Und es konnte nichts Gutes heißen, wenn sein Vater sich nun auch noch einmischte.

„Du weißt ganz genau“, begann Karl Hadernberg, „dass dieser Bachelor in Politikwissenschaften kaum etwas bedeutet. Früher gab es wenigstens ein Diplom und da waren alle Fragen geklärt. Heute, mit diesem Bachelor- und Mastersystem, brauchst du eben den Master, sonst hättest du es auch gleich lassen können mit dem Studieren. Ein Bachelor allein zählt nichts.“

 

„Ja“, erwiderte Felix schroff, „Vielleicht hätte ich das besser gleich lassen sollen, mit dem Studieren. Immerhin war es euer Wunsch; ich hätte es besser wissen sollen.“

„Es war und ist unser Wunsch, weil du etwas Anständiges lernen sollst“, sagte sein Vater und blickte seinen Sohn eindringlich an.

„Geht es euch überhaupt um mich?“, fragte Felix und schaute zuerst seine Mutter an und dann hinüber zu seinem Vater, „Oder ist das einfach so ein unumstößliches Prinzip, dass euer Kind um jeden Preis irgendeine wichtige Position in der ach so wichtigen Gesellschaft einnehmen soll? Ich hätte doch gar nichts anderes machen dürfen, oder? Ich musste doch studieren! Wie sollte ich denn mit einer Ausbildung zum, keine Ahnung, Milchmann, der sagenumwobenen Familie Hadernberg nur gerecht werden?“

„Wie redest du denn mit uns?“, rief seine Mutter und es tat Felix augenblicklich leid, aber er wollte sich jetzt nicht entschuldigen. Er hatte doch Recht, oder etwa nicht?

 

„Du wirst jedenfalls, wenn es soweit ist, weiterstudieren, bis du deinen Master in der Tasche hast“, sagte Karl Hadernberg, ganz langsam und unmissverständlich, „Das fällt dir nicht schwer, du bist nicht auf den Kopf gefallen und wenn du es dir einmal genau überlegst, ist das eine große Chance für dich.“

„Es kann noch so eine große Chance sein, aber ich habe keine Lust darauf! Und wieso bestimmt ihr überhaupt, was ich machen soll? Ist das nicht mein Leben? Ich bin doch seit vier Jahren volljährig, dann behandelt mich doch auch so und steht mal zu meinen Entscheidungen!“

„Felix!“, rief seine Mutter und funkelte ihn an.

„Es gibt keine Diskussionen“, stellte sein Vater klar, „Du wirst weiterstudieren. Jetzt und dann im Master. Und wehe dir, du tust das nicht! Es ist gut für deine Zukunft. Denk einfach noch mal darüber nach, vielleicht siehst du es dann selbst ein. Bliebe zu hoffen.“

„Ich…“, begann Felix, doch sein Vater schnitt ihm das Wort ab.

„Ich will dazu jetzt nichts mehr hören. Entschuldige dich bei deiner Mutter und dann denk einmal in Ruhe darüber nach. Wenn du dich wieder eingekriegt hast, reden wir weiter.“

„Ach, lasst mich doch alle in Ruhe!“, rief Felix, drehte sich um und warf die Wohnzimmertür hinter sich zu. Es tat einen lauten Knall, als diese zuschlug, und er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er so ruppig gegangen war. Nicht wegen seines Vaters; eher wegen seiner Mutter. Aber sie könnte ihm auch ruhig mal beistehen!

Es war so unglaublich ätzend! Er hatte doch seinen eigenen Kopf, seine eigenen Wünsche und er war doch ein eigenständiger Mensch, aber andauernd schrieben ihm seine Eltern, insbesondere sein Vater, vor, was er zu tun und zu lassen hatte.

Doch am meisten ärgerte er sich über sich selbst.