Anima | Teil 5 - Wie eine Soldatin - Nero Kalypso - kostenlos E-Book

Anima | Teil 5 - Wie eine Soldatin E-Book

Nero Kalypso

0,0
0,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Ereignisse spitzen sich zu, sowohl in Jonas' Fiktion als auch in der Realität. Ob das alles ein gutes Ende nimmt? Der fünfte und letzte Teil der Geschichte beantwortet diese Frage und verlangt unseren Hauptpersonen einiges ab...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nero Kalypso

Anima | Teil 5 - Wie eine Soldatin

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kapitel 1

Carmen hielt den Atem an, als fürchtete sie, von Mareike gehört werden zu können. Wenn überhaupt, dann würde Mareike sehen, dass da jemand im Auto auf dem Rücksitz kauerte. Doch: Glück gehabt, sie ging einfach weiter, nicht schnell und eilig, sondern eher gemächlich, als machte sie einen Spaziergang. Sobald Mareike am Wagen vorbei war, spähte Carmen ihr durch die Frontscheibe hinterher.

Das war die Chance! So eine kam nicht wieder. Es regnete in Strömen, was die Sicht trübte, und alles, was auch immer passieren sollte, blieb im Regenguss verborgen. Wasserprasseln und Windpeitschen boten akustischen Schutz. Und Mareike war allein.

Wenn sie diese Gelegenheit nutzen wollte, dann musste sie jetzt schnell machen. Carmen war aufgeregt, richtig aufgeregt, und mochte das auch, dennoch beruhigte sie sich mit einer Geste ihrer Hand und zwang sich, kurz innezuhalten. Gute Gelegenheit, klar, aber sie musste dennoch vorsichtig sein! Sie befand sich nicht mitten in der Wildnis. Im Gegenteil, eine Großstadt umgab sie und selbst, wenn Mareike gerade der einzige Mensch auf der Welt zu sein schien – es brauchte nur irgendwo jemand am Fenster zu stehen und dieser Person brauchte nur eine Kleinigkeit auffallen, schon steckte sie in echten Schwierigkeiten. Genauso, falls Mareike sie erkannte. Buddy war davon ausgegangen, dass sie und Mareike sich noch nie getroffen hatten. Carmen hatte ihm nicht das Gegenteil mitgeteilt.

Es war ja an sich auch kein Problem, Mareike durfte sie nur nicht sehen.

 

Sie musste jetzt schnell machen. Die Anspannung in ihren Gliedmaßen trieb sie an. Wenn sie dafür sorgen wollte, dass Mareike sie unter gar keinen Umständen erkannte – und das wollte sie definitiv – dann musste sie von Buddys Utensil Gebrauch machen. Im Idealfall ließ sie Mareike nicht allzu weit kommen. Oder sie fuhr ihr vorsichtig mit dem Auto nach … nein, das fiel auf! Nach einer Weile dürfte Mareike mitbekommen, dass da ständig ein Wagen war, selbst durch die dicke Kapuze hindurch.

Diese Kapuze stand dennoch auf Carmens Seite, sozusagen.

Carmen griff vor den Beifahrersitz und holte eine kleine, braune Flasche ohne Etikett hervor. Das Teil sah aus wie Medizin, vielleicht wie Hustensaft. Nur eben ohne, dass man sich die Mühe gemacht hätte, das draufzuschreiben. Das Zeug stammte von Buddy. Seine Worte dazu lauteten:

„Das Zeug ist nicht konzentriert, sondern schon verdünnt. Ziemlich gut verdünnt. Keine Angst, da passiert nichts Schlimmes. Aber es braucht ein bisschen mehr Zeit. Ein Atemzug reicht dafür nicht.“

Carmen nahm das Gebräu und griff nach dem Waschlappen auf dem Beifahrersitz. Sie war ja ausgestattet. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet dieses Teil noch mal für was anderes taugte als für seinen eigentlichen Zweck, dass man sich nicht die Finger verbrannte an den Tellern aus der Mikrowelle? Los jetzt, sie sollte dafür nicht ewig brauchen!

Sie kurbelte das Fenster ein Stück runter und hielt den Waschlappen nach draußen. Wenige Sekunden reichten schon und er war nass genug. Sie zog ihn wieder ins Auto und träufelte eine nicht allzu geringe Portion des Flaschengemisches auf den Lappen.

Carmen musste es jetzt riskieren, die Sturmmaske aufsetzen und darauf hoffen, dass sie dennoch niemand sah. Wenn sie bei dem Versuch, der blöden Kuh eins auszuwischen von jemandem erkannt wurde – und sei es nur von Mareike selbst – dann war die ganze Aktion mehr als für die Katz gewesen. Sie schaute durch das Fenster die Straße hoch und runter. Niemand zu sehen. Sie zog die Maske auf und setzte sich die Kapuzen des Hoodies und der Regenjacke auf.

 

Eine Mischung aus boshafter Vorfreude und anspornendem Hass trieb sie aus dem Wagen in das Regenwetter. Ihr gefiel die Szenerie. Die Untergangsstimmung des Regens, hin und wieder von Blitzen durchzogen. Es wirkte, als ginge die Welt unter. Und wenn das so war, dann spielte sie gerade die Vorbotin des Untergangs.

Ein bisschen gruselig vielleicht, aber sie fühlte sich wohl in der Rolle.

Mareike war nicht mehr zu sehen, kein Wunder, ein paar Augenblicke hatte das Ganze ja schon gedauert. Aber sie konnte nicht weit gekommen sein.

Wie gesagt, Achtung! Sie durfte niemandem auffallen.

Den Waschlappen hielt sie fest in der rechten Hand, unter dem Ende des Ärmels ihrer dünnen Regenjacke versteckt. Sie folgte Mareike. Ihr fiel auf, dass sie den Wagen gar nicht abgeschlossen hatte. Sei’s drum. Den würde schon keiner klauen. So kriminell war die Stadt dann doch nicht.

 

Da war das Mädchen! Um eine Ecke gebogen und nun auf dem Weg in das Wohngebiet hinter dem Wohnheim. Was sie bräuchte, dachte Carmen, das war eine stille, dunkle Ecke, so wie in Banditenfilmen, in denen man jemanden hineinziehen konnte. Natürlich gab es so etwas im echten Leben nicht. Doch: Wenn sie beide erst einmal mitten im Wohngebiet ankämen, dann ergab sich vermutlich so schnell keine Gelegenheit mehr. Also entweder verfolgte sie Mareike, bis sie das Viertel wieder verließ, oder … Oder?

Was hatte Mareike bloß vor? Wollte sie einen Spaziergang machen? Bei diesem Wetter? Und wenn, dann wollte sie vielleicht nur eine kleine Runde gehen, was bedeutete, dass sie nach dem Wohngebietsexkurs direkt nach Hause zurücklustwandeln dürfte.

Sprich, dass sich überhaupt keine Chance mehr ergab.

Also wurde Carmen jetzt entweder risikofreudig oder sie hatte das Nachsehen.

Dort vorne stand eine Litfaßsäule auf dem breiten Gehsteig. Die Straßenlaternen hüllten den Weg in schwaches Licht. An der Säule war es dunkler, dort befand sich keine Lampe in der Nähe.

Und wie überwältigte sie Mareike? Carmen selbst war nicht gerade schwach, doch sie wusste nicht, welche Kräfte Mareike entwickelte, wenn sie sich bedroht fühlte. Konnte sie diesen Kräften genug entgegensetzen?

War doch jetzt egal. Probieren ging über Studieren und sie musste jetzt schnell handeln, wenn sie wollte, dass Mareike das kriegte, was sie verdiente.

 

Blöde, eingebildete Streberin, die sich als etwas Besseres fühlte! Sie war genau der Typ von Mensch, der nichts wusste, aber überall mitreden wollte. Inhaltlich kam nicht viel dabei rum, wie bei den meisten Leuten dieser Art. Aber einlullen konnte sie andere scheinbar, das hatte ja selbst bei Carmen geklappt. Doch jetzt sollte Mareike erleben, wie es war, wenn mal nicht alle nach ihrer Pfeife tanzten! Oh ja, sollte sie doch mal sehen, was es hieß, wenn es einem furchtbar ging!

 

Mareike trottete noch immer gemächlich in Richtung des Wohngebietes. Mit jedem Meter, den Carmen ihr näher kam, wurde sie aufgedrehter, energischer, es kribbelte in ihrem Inneren immer mehr. Sie wollte am liebsten rennen, und vielleicht wäre das sogar problemlos möglich gewesen, denn der Regen brachte eine schützende Lautstärke mit. Doch sie wollte das Risiko, gehört zu werden, dann doch nicht eingehen. Schließlich vernahm sie Wortfetzen, ganz leise und nur bruchstückhaft. Offenbar stammten sie von Mareike. Ob sie mit sich selbst sprach?

Es schien so. Carmen konnte nicht verstehen, worum sich Mareikes Selbstgespräch drehte. Aber es schien ihr wenig verwunderlich, dass sie mit sich selbst sprach. Wer sonst sollte noch einmal mit ihr reden wollen, wenn man sie bereits einmal über sich ergehen lassen musste? Da stellten Selbstgespräche sicher die beste Option dar.

 

Da vorne wartete die Litfaßsäule, beklebt mit Postern von Theateraufführungen, Konzerten und sonstigem Kulturkram. Das Ding hatte den Vorteil, dass es die Sicht in eine Richtung komplett abschirmte. Carmen blickte sich beim Gehen um. Niemand. Sie und Mareike und sonst keiner. Die Häuser am Straßenrand waren allesamt geschlossene Geschäfte, möglicherweise befanden sich Wohnungen darüber, das wusste sie nicht, sie erkannte bloß regelmäßig angeordnete Fenster, allesamt dunkel. Vielleicht gehörten die zu den Geschäften dazu.

Das war der Moment, in dem Carmen lossprinten sollte. Die beste Gelegenheit. Aber sie traute sich nicht. All die Energie, all die Aufregung, ihr kochendes Blut, all das weckte ihre Sinne und machte sie wach und lebendig – doch das letzte Bisschen, der letzte Schubs, der letzte Schwung, der kam nicht zustande.

Warum? Mach schon, los! Sie ärgerte sich über sich selbst, doch sie sah es bereits vor sich, Mareike würde einfach an der dämlichen Säule vorbeilaufen, ins Wohngebiet und dann würde Carmen in die Röhre schauen, weil sie es sich ab dann abschminken …

 

Carmen blieb schlagartig stehen, nachdem Mareike stehenblieb. Mareike betrachtete eins der Plakate. Ein recht buntes.

Carmen brauchte einen kurzen Augenblick, um sich von dem Schreckmoment zu erholen.

Dennoch: Es musste sich um ein Zeichen oder so etwas handeln. Zieh das jetzt durch, dachte sie. Na warte, du wirst dich noch wundern, Mareike!

 

Und dann sprintete sie los.

Jetzt gab es wirklich kein Zurück mehr.

Als sie Mareike erreichte, stand diese immer noch von ihr abgewandt da. Alles ging schnell und das musste es auch, denn jeder Augenblick zählte. Carmen schnappte sich, ohne zu zögern, mit der linken Hand Mareikes Kapuze, dessen oberes Ende. Mit der rechten Hand griff sie um Mareike herum und drückte ihr den Waschlappen ins Gesicht. Das Mädchen erschreckte sich spürbar und schrie, doch ihr Schrei klang bloß dumpf durch den nassen Stoff des Lappens hindurch.

Na, wie schmeckt dir das, dachte Carmen und biss die Zähne zusammen. Sie durfte nicht zulassen, dass Mareike sich aus ihrem Griff löste. Das Zeug wirkte nicht direkt, es brauchte ein paar Augenblicke. Also zog sie ihre linke Hand, mit der sie fest Mareikes Kapuze umklammert hielt, heftig nach unten. Damit zwang sie Mareikes Kopf und gesamten Oberköper ebenfalls nach unten und zerrte das Mädchen damit schließlich auf die Knie. Mareike hatte ihr Einiges entgegenzusetzen, sie strampelte, versuchte mit beiden Armen, den Lappen von ihrem Mund wegzudrücken und bemühte sich unablässig, etwas zu rufen. Zu gern hätte Carmen jetzt Mareikes Gesicht gesehen, doch da klebte ein Waschlappen drin.

Mareike kniete inzwischen auf allen Vieren, noch immer zog Carmen die Kapuze nach unten in Richtung des Gehwegs, während sie ihr mit der rechten Hand gewaltsam und herzlos das benetzte Stoffstück ins Gesicht presste. Noch immer spürte sie, wie Mareike sich wehrte, wie sie ihren Kopf nach oben zog, wie sie etwas zu rufen versuchte. Doch alles, was sie tat, verlor langsam an Kraft.

Hm, wie fühlt sich das an? Na?

Und dann, schließlich, spürte Carmen keinen Druck mehr an ihrer Hand, Mareikes Kopf folgte widerstandslos ihrem Zug nach unten. Es kam ihr vor, als hätte diese Aktion eine Ewigkeit gedauert, aber es konnten nur wenige Augenblicke gewesen sein. Carmen legte den Waschlappen ab und stützte mit der nun freien rechten Hand Mareikes Kopf, der jetzt ungewöhnlich schwer wurde. Mareike war betäubt. Und zwar vollständig. Die kriegte nichts mehr mit.

Carmen verharrte ein paar Momente mit Mareike auf dem Gehweg. Ihr war völlig klar, dass sie hier nicht lange bleiben konnte, aber ein paar Sekunden brauchte sie, für sich selbst, um durchzuatmen. Sie hatte es wirklich geschafft. Sie hatte es wirklich gemacht. Es gewagt. Krass. Sie atmete heftig.

 

Los. Weiter. Nicht hierbleiben.

Als Nächstes galt es, Mareike irgendwie zum Auto zu bekommen. Und zwar unauffällig. Also wenn möglich vielleicht nicht an den Haaren dorthin schleifen – auch wenn ihr der Gedanke gefiel. Doch so sehr verabscheute sie Mareike nicht. Es war für Carmen schon eine Genugtuung, sie hier so kraftlos in Händen zu halten, allein das gab ihr ein Gefühl von Macht. Aber es war nicht so, dass sie Mareike wehtun wollte. Ja, sie hatte vorhin die eine oder andere Gewaltphantasie mit ihr durchgespielt. Doch sie wollte Mareike schon, wenn irgend möglich, unversehrt wieder gehenlassen, sobald die ganze Aktion endete.

 

Also … sie musste Mareike jetzt unauffällig zum Auto bringen. Oder das Auto hierher. Beides barg Risiken.

Sie schaute sich noch einmal um. Niemand. Zumindest sah sie niemanden. Mit aller Kraft lehnte sie das Mädchen an die Säule, so dass es aussah, als habe Mareike sich angelehnt.

 

Es war merkwürdig. Mareike saß aus, als würde sie gemütlich schlafen. Als stünde Carmen neben ihr am Bett, als sie gerade träumte. Nur trug sie eben keinen Schlafanzug, sondern ihr Gesicht war noch immer von der Kapuze umrahmt. Allein, um Mareike an diese Säule zu schieben, hatte Carmen viel Kraft gebraucht. Das Auto stand bloß um die Ecke, aber um das Mädchen da hinzuwuchten, musste sie echt alles aus sich rausholen.

Carmen stöhnte, als sie Mareike nach oben wuchtete. Mit ein bisschen Fantasie sah es so aus, als ob Carmen sie nach Hause begleitete, nachdem Mareike zu tief ins Glas geschaut hatte. Vielleicht. Ob das wirklich so aussah, wusste sie nicht. Vermutlich, wenn überhaupt, nur auf den ersten Blick. Mareike war unglaublich schwer. Aber klar, wieviel wog sie selbst? Siebzig Kilo, so um den Dreh? Mareike war sicher nicht viel leichter. Mit bloßen Händen hätte sie siebzig Kilogramm nicht heben können. Durch das Stützen verteilte sich die Last auf ihre Arme, ihren Rücken und ihre ganze Statur, doch auch diesen Gewaltmarsch konnte sie nicht lange durchhalten. Glücklicherweise hing Mareikes Kapuze vor deren Gesicht, denn die geschlossenen Augen und die matte Mimik ihrer Begleiterin ließen sich an Auffälligkeit sicher nicht mehr überbieten.

Carmen setzte einen Schritt vor den anderen und kam schon nach wenigen Metern an die Grenzen ihrer Kondition. Dennoch erreichte sie die Straßenecke.

Bitte, dachte sie, lass jetzt niemanden dahinter stehen! Der Regen prasselte noch immer herab, es blitze allerdings nicht mehr. Scheinbar endete das Gewitter bald. Hoffentlich bekam trotzdem keiner ihrer Mitmenschen spontan Lust auf einen Spaziergang, wie ihre momentan recht schlappe Person von Interesse.

 

Tatsächlich war dort niemand. Carmen zwang sich, weiterzugehen, auch wenn sie wirklich kaum noch konnte. Kurz vor dem Auto musste sie Mareike langsam zu Boden sinken lassen und sie keuchte heftig. Na los, es war fast geschafft! Sie ging um Mareike herum, öffnete die hintere Tür auf der Fahrerseite und wuchtete unter Aufbringung ihrer letzten Kraftreserven den Körper des Mädchens auf den Rücksitz.

Carmen schloss die Wagentür, nur um sie direkt im Anschluss wieder zu öffnen und – einer Eingebung folgend – den Gurt zu nehmen und Mareike damit anzuschnallen. Warum auch immer sie das tat, es schien ihr eine gute Idee zu sein. Ja, vielleicht damit Mareike nicht von ihrem Platz wegsackte.

Buddy hatte Recht. Wenn sie wirklich in eine Situation geriet, in der sich jemand ihren Wagen genauer ansah, dann war es sowieso zu spät. Sie hatte keinen Führerschein, sie wollte lieber nicht wissen, woher Buddy dieses Auto hatte und auf dem Rücksitz befand sich ein mit Chloroform betäubtes Mädchen. Viel illegaler ging es eigentlich gar nicht mehr.

 

Carmen schloss Mareikes Tür und setzte sich hinter das Lenkrad, schloss die Fahrertür. Dann startete sie den Motor. Sie wusste, wohin die Fahrt gegen sollte, zumindest ungefähr. Und dahin würde sie sich jetzt auch begeben. In erster Linie ging es ihr darum, aus der Stadt rauszukommen. Irgendwie. Möglichst schnell und möglichst unauffällig. Sie zog die Maske ab und warf sie neben sich auf den Sitz.

Dann wollen wir mal, dachte sie.

Langsam fuhr sie los, setzte sogar den Blinker, auch wenn ohnehin niemand unterwegs war. Carmen biss sich auf die Unterlippe und grinste, als sie die nächste Kreuzung erreichte.

War doch gut gelaufen.

Sie blickte in den Rückspiegel. Mareikes Kapuze bedeckte die obere Hälfte des Gesichts ihrer unfreiwilligen Mitfahrerin.

Schlaf ruhig ein bisschen, dachte Carmen, war hektisch eben.

Kapitel 2

Auch Anima war einverstanden mit dem, was von ihr gefordert wurde.

Einige Tage und Nächte vergingen. Und schließlich, als die Sonne abermals emporstieg, wusste Hesternum, dass es nun geschehen würde. Es lag nun nicht mehr an ihm, wie es weiterging. Er hielt keinen der Fäden mehr in der Hand. Seine Aufgabe bestand lediglich in der Verkündung der Erfordernisse. Es oblag nun den beiden entschlossenen Kriegerinnen, das weitere Schicksal ihres Landes zu entscheiden.

 

In einem ehemaligen Wirtshaus mitten in Desiderum, von allen Seiten gut bewacht, befand sich Nocturna. In eines der Gästezimmer hatte sie sich zurückgezogen und fühlte sich elend, aber das war ihr von Anfang an bewusst gewesen. Ihr Wunsch forderte Opfer und jetzt, nachdem sie all diese Opfer erbracht hatte, fühlte sie sich verständlicherweise furchtbar. Aber es dürfte sich lohnen. Es würde alles viel einfacher machen.

Unruhig schritt sie durch das kleine Zimmer, trat ans Fenster und sah am Horizont die Sonne aufgehen. Lange Schatten versteckten sich vor ihr hinter allem, was sie finden konnten; doch sie wussten, dass sie unablässig kleiner werden würden. Das es gar keinen Sinn hatte, sich zu verkriechen. Es war unverkennbar. Es war nun soweit. Ihr Wunsch würde in Erfüllung gehen. Nachdenklich hob sie ihre Hand und blickte auf ihre Finger. Sie sah, wie ihre Haut, ihr gesamter Körper, langsam aber sicher weniger echt wirkte, weniger wirklich.

Es hatte etwas Bizarres, doch bei Licht betrachtet erschien es nachvollziehbar. Sie verschwand nun von hier. Darin bestand ihr Wunsch – mit Anima an das Ende der Welt zu gelangen. Und dieser Wunsch erfüllte sich nun. Sie war nicht mehr wirklich hier. Ihr Körper verblasste, sie nahm die Farben und Geräusche um sie herum nur noch dumpf war.

Es war soweit. Endlich.

 

Viele Meilen im Norden lag Animas Stützpunkt. Genau genommen war es nicht mehr ihr Stützpunkt, denn sie hatte das Oberkommando an Comes übertragen und sich von ihm verabschiedet. Sie konnte sich nicht sicher sein, ob sie zurückkommen würde. Es war sicher besser, schon einmal Lebewohl zu sagen. Sie wusste nur zu gut, dass Nocturna falsch war, aber dieses eine Mal vertraute sie ihr und ließ wie sie die Waffen schweigen. Vor Tagen schon waren Reiter ausgeschickt worden, um überall temporäre Waffenruhe zu verkünden. Das tat ihren Mitstreitern gut. Im Idealfall endete diese Waffenruhe nicht mehr und auf jedem Fall verhinderte sie bis auf Weiteres unnötiges Blutvergießen.

Animas Stützpunkt war eine große Herberge, die größte der gesamten Stadt und diese Herberge verfügte über ein gewaltiges Kellergewölbe. In diesem hatte sie sich eingeschlossen und unter Aufbringung ihrer mentalen Kräfte dafür gesorgt, dass sie sich von all dem verabschiedete, was sie zurücklassen sollte. Sie fürchtete sich vor dem, was sie tat, sie fürchtete sich auch vor dem, was geschehen sollte.

Er war auszehrend, der Weg bis hier unten in die Einsamkeit mit sich selbst. Doch als auch sie die mitreißende Leichtigkeit umschloss, die Nocturna sicher ebenfalls spürte, war ihr klar, dass der Wunsch in Erfüllung ging.

Sie verließ diesen Ort. Und gleich würde sie dort sein.

Am Ende dieser Welt.

 

 

* * * *

 

Der Regen hatte so gut wie aufgehört, als Carmen von der Landstraße abfuhr. Sie war noch nicht weit außerhalb der Stadt, aber weit genug weg, damit die Aufregung abbröckelte. Es war so gut wie niemand unterwegs. Nur einer Handvoll Autos fuhren umher und keines von denen wollte in ihre Richtung. Wie erhofft – ein Sonntagabend, beziehungsweise inzwischen eine Sonntagnacht, und es hatte wie aus Eimern geschüttet. Wer würde da unterwegs sein? Kaum jemand. Glücklicherweise die Richtige, aber sonst keiner. Es gab ja auch keinen guten Grund dafür.

Inzwischen war es stockdunkel. Hier, außerhalb der Stadt, gab es nichts, aber auch gar nichts, was in irgendeiner Art und Weise Licht in die Dunkelheit brachte, sah man vom Mond und den Scheinwerfern ihres Wagens ab. Letztere schaltete sie nun auch noch aus. Sie befand sich nun auf einem einsamen Feldweg, einem reichlich unebenen Pfad aus einzelnen Steinplatten, durch die an allen nur erdenklichen Stellen Unkraut durchgebrochen war. Das Licht brauchte sie nicht zwingend. Sie konnte auch ohne genug sehen, dank des Mondes.

Sie kannte diese Gegend und das war der Grund, warum es sie ausgerechnet hierher verschlug. Der Feldweg dürfte noch eine gute Weile geradeaus führen und dann schloss sich ein Wald an. Keine Ahnung, wie der hieß, aber er war groß. Sie würde sich darin irgendwo einen guten Platz suchen, um das Auto abzustellen. Und das war’s dann erst einmal gewesen.

 

Sie brauchte einen Ort, an dem sie es einige Tage lang aushalten konnte. Und an dem sie unentdeckt blieb, sie und vor allem ihre noch immer schlafende Begleiterin.

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, aber es war zu dunkel im Auto, um etwas anderes zu erkennen als Mareikes Umrisse.

Und am besten wäre es, wenn man den Ort schnell wechseln könnte. Oder noch besser: Wenn man ihn so oder so das eine oder andere Mal wechselte, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

 

Sprich, es war am besten, einfach im Auto zu bleiben. Nur musste sie das irgendwo abstellen, wo es zumindest bis zum morgigen Tag niemand fand. Und in diesem Wald war sie früher als Kind mal gewesen. Sie versprach sich von dieser Tatsache keine umfassende Ortskenntnis – aber sie hatte eben noch in Erinnerung, dass man große Teile des Waldes durch Waldwege erschlossen hatte, auf denen man mit einem Auto wie dem ihren fahren konnte. Sie würde da drin eine möglichst entlegene Stelle suchen.

Carmen war inzwischen echt müde. Sie musste irgendwann schlafen, auch wenn es vermutlich weder ein langer noch ein guter Schlaf wurde.

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ihr Vehikel endlich das Ende der Stolperpiste und die Ausläufer des Waldes. Auch wenn sie es ungern tat, sie musste nun zumindest das Standlicht einschalten, denn sonst sah sie effektiv nichts mehr, da die Baumkronen auch noch das Mondlicht abschirmten. Langsam fuhr sie den Waldweg entlang. Natürlich befand sie sich in einem schützenden Auto und es gab da draußen höchstens ein paar Wildschweine, die nichts Besseres zu tun hatten, als Ärger zu suchen, mehr nicht. Aber es hatte schon etwas Unheimliches, nachts durch den Wald zu fahren. Es gab keinen rationalen Grund dafür, sich zu fürchten, und sie hatte auch nicht wirklich Angst, aber gegen ein gewisses mulmiges Gefühl konnte sie doch nichts tun. Aber das war Unsinn. Was sollte hier passieren? Sollte hier ein Verbrecher rumlaufen, oder was? Der hatte auch nichts Vernünftigeres zu tun, als sich hier im Gebüsch zu verstecken und darauf zu warten, dass in der Nacht jemand wie sie alleine in einem kleinen Wägelchen durch die Pampa fuhr, oder wie?

Unsinn.

Sie erreichte eine Kreuzung und fuhr geradeaus weiter. Die Wege nach links und rechts verloren sich in der Dunkelheit, genauso wie der Weg nach vorne.

Dieser Wald lag etwas abseits der Stadt. Hier sollte kaum jemand herkommen, um morgens seinen Hund Gassi zu führen oder einen Waldspaziergang zu machen. Und wenn, dann sollte zumindest niemand an die Stelle kommen, die sie noch finden musste. Etwas gut Entlegenes.

 

Eine Struktur erschien auf einmal im Licht der Standlichtscheinwerfer. Carmen erschreckte sich und drückte die Bremse dabei komplett durch, obwohl sie ohnehin kaum Geschwindigkeit draufhatte. Bei der Aktion gelang es ihr, den Wagen abzuwürgen.

Einige Meter vor ihr stand ein Reh, mitten auf dem Weg. Es bewegte sich kaum, blickte nur in ihre Richtung, als wolle es sich erst einmal genau ansehen, wer da des Weges kam. Carmen atmete immer noch heftig, als sie vom Standlicht auf das normale Licht schaltete, um das Vieh dazu zu bewegen, doch wenn irgend möglich woanders rumzustehen. Der Schock von eben steckte ihr in den Knochen. Es war bloß ein Reh, meine Güte, dachte sie, aber es hätte ja auch ein Mensch sein können. Keine Ahnung, der Förster vielleicht, der sich wunderte, dass mitten in der Nacht jemand durch den Wald fuhr.

Das Reh wirkte verängstigt, auch wenn es bei seinen großen, schwarzen Augen schwierig war, überhaupt einen Gemütszustand auszumachen. Das Anschalten des Lichts hatte es jedenfalls nicht nachhaltig beeindruckt.

„Hau ab!“, rief Carmen zornig und fuchtelte mit ihrer rechten Hand herum. Die linke hielt sie weiterhin am Steuer. Keine Reaktion. In Ordnung, dann eben die harte Tour.

Sie gab wieder langsam Gas. Wie erhofft sprang das Tier nun schnell vom Waldweg und verschwand zwischen den Bäumen. Sie ärgerte sich ein bisschen, dass sie sich so vor dem blöden Vieh erschreckt hatte. So etwas gab es halt im Wald! Da lebten eben Tiere!

Weiter ging das Voranschleichen.

 

Bei der nächsten Gelegenheit bog sie rechts ab. Es ging ein wenig nach oben, eine sehr leichte, kaum wahrnehmbare Steigung. Wenn sie sich nicht täuschte, sollte es hier tiefer in den Wald hinein gehen. Dieser Waldweg war schlammiger, nicht mehr so gut befestigt. Auf der einen Seite bedeutete das weniger Leute, was gut war, auf der anderen Seite hatte sie tatsächlich das eine oder andere Mal Angst, im Matsch stecken zu bleiben. Das wäre jetzt wirklich der Super-Gau.

 

Glücklicherweise blieb der aus, selbst wenn die Kiste bisweilen Geräusche von sich gab, als wäre es das jetzt mit dem Vorankommen gewesen. Irgendwann hatte Carmen den Matsch hinter sich und es ging wieder normal voran, dann kam die nächste Kreuzung. Sie würde sich niemals merken können, woher sie gekommen war. Aber im Zweifelsfall würde sie einfach so lange in eine Richtung fahren, bis sie den Waldrand erreichte – oder bis es in ebendiese Richtung nicht mehr weiterging. Raus kam sie hier immer, nur sollte man nicht so gut zu ihr finden können. Das war das Entscheidende.

Buddy hatte ihr, im Nachhinein betrachtet, zwar tatsächlich ein paar nützliche Dinge und Worte mit auf den Weg gegeben. Doch Vieles blieb unerwähnt, was sie als erwähnenswert einstufte. Was eignete sich zum Beispiel als gute Bleibe? Dieser Wald schien ihr eine ganz vernünftige Option zu sein – aber sie hatte doch keine Ahnung! Sie wusste nicht, ob das ziemlich clever oder ziemlich dumm war. Hm, solange sie niemandem verdächtig vorkam, konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Sie konnte auch unter Menschen gehen, wenn das nötig sein sollte. Nur eben ohne ihre Begleiterin.

 

Einige Zeit später erreichte sie eine Stelle, an der rechts ein Weg abzweigte – ein unscheinbarer Trampelpfad. Sie bog langsam ab. Ein bisschen ärgerte Carmen sich immer noch darüber, dass sie sich wegen des Rehs so erschreckt hatte. Es war nicht schlimm, aber so was musste nicht sein. Andererseits, was hatte dieses Reh auch mitten auf ihrem Weg zu suchen? Das brauchte sich doch nicht wundern, wenn da plötzlich…

Links erschien eine Schneise und dahinter so etwas wie eine Wiese. Diese lag etwas höher als der Weg, auf dem sie im Moment fuhr. Carmen blickte durch den Rückspiegel, dann nach vorne und versuchte, die gesamte Gegend einzuschätzen. Ihr schien es, als würde hier so gut wie nie jemand herfinden. Und diese Wiese … es war nicht wirklich eine Wiese, auf der man gemütlich seine Picknickdecke auswerfen konnte, sondern eine mit Wildwuchs, das Gras ragte an manchen Stellen hoch empor. Sie gab ein wenig mehr Gas und fuhr nach links, die kleine Anhöhe nach oben, bis der Wagen auf der Wildwuchswiese zum Stehen kam.

 

Die Grasfläche wurde von Bäumen dicht umschlossen, doch es wurde nicht wirklich eine Lichtung draus, denn die Baumkronen schlossen den Raum über dem wilden Gras fast vollständig ab. Auch inmitten des wilden Grases wuchsen Bäume und trugen ihren Teil zur Abschirmung des Mondlichts bei. Die Wiese war nicht sehr groß. Im Scheinwerferlicht erkannte sie keine Reifenspuren und auch keine anderen Zeichen früherer Besuche durch Menschen.

Klar, vermutlich kam irgendwann auch jemand hierher, und seien es nur Spaziergänger. Aber sie suchte für den Moment nur einen Ort, an dem sie es bis morgen aushalten konnte. Und hier würde hoffentlich so schnell niemand herfinden.

Carmen fuhr noch ein Stück weiter in die unechte Lichtung hinein und legte dann den Rückwärtsgang ein. Sie drehte das Auto so, dass sie im Bedarfsfall geradeaus wieder auf den Waldweg fahren konnte. Dennoch stand der Wagen etwas abseits des Wegabschnitts, der wie eine Einfahrt anmutete, sodass sie nicht direkt gesehen wurde.

 

Carmen drehte den Schlüssel um und alle Lichter verloschen, alle Geräusche des Wagens endeten schlagartig. Sie brauchte ein paar Minuten, um mit der Dunkelheit und Stille klarzukommen. Dadurch, dass das Blätterdach über ihr nicht einmal das Mondlicht zu ihr durchließ, konnte sie kaum etwas erkennen.

Mit der Zeit wurde sie viel ruhiger. Sie war jetzt nicht mehr angespannt und aufgeregt, nicht mehr von Energie durchzogen.

Jetzt war es also tatsächlich so gekommen, wie – ja, wie sie es sich überlegt hatte. Es war gut gelaufen. Sie hatte tatsächlich einen Menschen bei sich auf dem Rücksitz. Noch einmal warf sie einen Blick in den Rückspiegel. Mareikes betäubter Körper ließ sich kaum ausmachen.

Jetzt steckte sie echt in der Sache drin. Jetzt hatte sie es gemacht.

Vorhin noch hatte sie starken Hass auf Mareike gespürt und der war auch bei Weitem nicht verschwunden, doch im Moment dominierte er nicht. Stattdessen fühlte sie sich leer, erschöpft. Sie musste schlafen.

Heute gab es ohnehin nichts mehr zu tun.

 

Obwohl, Halt, das stimmte so nicht! Es gab durchaus noch etwas zu machen und das durfte sie nicht vergessen! Carmen griff unter den Sitz neben sich und musste einige Augenblicke suchen, bis sie einen der beiden Rucksackträger in den Griff bekam. Das ganze Teil war weit unter den Sitz gerutscht. Sie schnappte sich den Rucksack und öffnete ganz langsam die Wagentür. Es war nicht kalt, sie konnte die Regenjacke inzwischen auch ausziehen. Nur noch ein paar Tropfen fielen aus den Baumkronen, wenn diese vom leichten Wind sanft heruntergepustet wurden. Sie wusste, dass hier draußen eigentlich keine Gefahr bestand, aber sie wollte doch gerne wieder zurück ins Auto. Einfach, weil sie sich da sicherer fühlte. Sie ging vorne um die Motorhaube herum und stieg hinten wieder ein, auf der rechten Seite, sodass sie nun, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, neben Mareike saß.

 

Sie hatte wirklich einen Menschen entführt, ging es ihr durch den Kopf. Sie hatte das wirklich durchgezogen!

Mach mal halblang, dachte sie daraufhin energisch, sie schläft einfach nur ein bisschen! Andere bezahlten dafür, einschlafen zu können! Und sie hatte ihr nicht wirklich was getan.

Ging jetzt wieder das Schönreden los? So, wie sie sich schon ihren Überfall oder den Einbruch schöngeredet hatte? Und wenn schon! Das hier lohnte sich genauso wie die anderen Sachen, diesmal sogar noch mehr. Hierbei sprang nämlich noch ein bisschen Kohle raus. Auch wenn sie die nicht dringend brauchte, warum sollte sie dazu ‚nein‘ sagen?

Sie kniete sich auf die Sitzfläche und versuchte, keinen Mucks zu machen. Leise hörte sie das Mädchen neben sich atmen. Carmen griff vorsichtig an die Ausläufer von Mareikes Kapuze und zog diese nach hinten, sodass Mareikes Kopf nicht mehr dadurch bedeckt wurde. Sie schob Mareikes Kopf vorsichtig an die Kopfstütze des Rücksitzes.

Dann öffnete sie Mareikes Jackentaschen und suchte darin nach einem Handy. Fast alle Taschen waren leer, nur eine nicht, da fand sie einen Schlüssel. Den konnte das Mädchen gerne behalten. Carmen tastete auch Mareikes Jeanstaschen ab, wobei sie sich merkwürdig vorkam, doch auch dort war kein Handy zu finden. Offenbar hatte Mareike keins mitgenommen auf ihrem Spaziergang durch das Gewitter. Sehr gut.

 

Es kam ihr vor, als stünde Carmen neben Mareikes Bett und als sähe sie ihr beim Schlafen zu. Nur die Regenjacke machte den Eindruck ein bisschen zunichte.

Hm. Auf der einen Seite fühlte sie sich mächtig. Ja, sie war auch mächtig, denn sie hatte nun die Macht, mit Mareike zu tun, was sie wollte. Sie hatte sie jetzt in ihrer Gewalt. Aber andererseits wollte sie überhaupt nichts mit ihr machen. Und sie fand auch kein Gefühl des Hasses mehr vor. Klar, Mareike war immer noch verlogen und hinterhältig, aber … sie hatte nicht wirklich verdient, dass man sie entführte.

Oder?

Jetzt war es aber schon zu spät. Und alles halb so wild. Mareike geschah ja nichts. Im Idealfall schlief das Mädchen einfach die ganze Zeit durch und tat sonst nichts. Von dem Chloroform hatte Carmen noch was über. Aber sie wollte es nicht übertreiben. Ja, das Zeug war verdünnt, aber wer konnte schon sagen, wieviel die kleine Mareike vertrug?

 

‚Die kleine Mareike‘ – ja, irgendwie sah sie schon niedlich aus, wie sie so neben ihr lag und schlummerte. Vermutlich hatte Carmen ihr vorhin den Schock ihres Lebens eingejagt. Es sei ihr gegönnt, dass sie sich erst einmal von dem Schrecken erholte.

Carmen ertappte sich dabei, wie sie eine Weile lang nachdenklich Mareike beobachtete. Es war kaum zu erkennen, erst recht nicht bei der Dunkelheit hier im Wagen, aber ganz sachte hob und senkte sich die Jacke, wenn sie ein- und ausatmete. Ihr Gesicht schien entspannt, als träumte sie gerade etwas Angenehmes. War das möglich? Träumte man, wenn man durch dieses Chloroform zum Schlafen gezwungen wurde? Carmen wusste es nicht. Sie machte das hier nicht hauptberuflich.

Mareike war echt knuffig, wie sie so neben ihr lag. Carmen konnte nicht anders, als ihr über den Kopf zu streicheln, einfach, weil sie so niedlich und unschuldig aussah. Dann strich sie ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Carmen war echt müde. Sie musste schlafen, denn morgen würde vermutlich – na ja, man konnte schon sagen, dass morgen mit Sicherheit ein anstrengender Tag wurde. Wenn es gut lief, war es der letzte Tag, der mit dieser Aktion etwas zu tun hatte. Wenn es dumm lief, dann … dann war es einer von mehreren.

 

Jedenfalls sollte sie jetzt schlafen. Sie würde aber nicht hier schlafen, neben Mareike. Sie war bloß hier hinten, um noch ein, zwei notwendige Dinge zu tun. So, dann schaltete sie mal den Routine-Modus wieder ein, dachte sie spöttisch, als sie in den Rucksack griff.

Gut. Es war wichtig, dass sie von Mareike, wenn diese aufwachte, nicht erkannt wurde. Aus dem Rucksack nahm sie eine Augenbinde. Diese sah aus wie eines der Teile, die man sich selbst beim Schlafengehen aufsetzte, um morgens nicht von der Sonne geweckt zu werden. Sie setzte Mareike die Augenbinde vorsichtig auf. Das Teil war möglicherweise blickdicht, aber konnte ganz leicht abgestreift werden. Mareike tat ihr fast leid, als sie von einer Rolle starken Klebebands einen großzügigen Streifen abzog und damit die Augenbinde an Mareikes linker und rechter Schläfe befestigte. Es dürfte wehtun, wenn man das abzog, aber da konnte sie jetzt nichts dran ändern. Mit zwei weiteren Steifen des Klebebands befestigte sie nochmals die Augenbinde, mit einem dritten sorgte sie dafür, dass Mareike erstens nicht gehört werden konnte und zweitens ab jetzt besser durch die Nase atmete.

Soweit, so gut. Sie hatte keine Ahnung, wie lang das Chloroform anhielt, aber für den Fall, dass Mareike vor ihr aufwachte, musste sie noch ihre Bewegungsfreiheit ein wenig einschränken.