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Nero Kalypso

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Beschreibung

Jessica ist alles andere als glücklich. Sie findet weder Sinn noch Sicherheit in ihrem Leben, obwohl sie sich viele marternde Gedanken um sich und die Welt um sie herum macht. Eines Tages trifft sie auf die freundliche Charlotte, eine gläubige Christin, und kommt mit ihr ins Gespräch. Jessica fragt Charlotte Löcher in den Bauch und gemütlich beisammensitzend durchstreifen sie zusammen den christlichen Glauben.

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Nero Kalypso

Fürchte Dich Nicht

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kapitel 1

Was Jessica störte, also, so richtig störte, war, dass die Welt es einfach nicht hinbekam, ihr ein besseres Lebensgefühl zu geben. Manchmal empfand sie es beinahe als ungerecht. Eigentlich war die Welt doch schön. Manchmal.

Es war Freitag. Sie machte einen Spaziergang durch das Neubaugebiet. Im Vergleich zu der Gegend, in der sie vorher gewohnt hatten, war es hier angenehm ruhig. Gut, hier und da gab es noch Baustellen, aber wenn man sich vor Augen hielt, dass sie vorher unmittelbar an einer vierspurigen Straße gewohnt hatten, die eine der meistbefahrenen Verbindungen in Richtung Innenstadt darstellte, dann war das hier ganz sicher eine Verbesserung. Und es war nicht nur ruhiger hier, sondern auch objektiv betrachtet schöner. Es gab so etwas wie Grünflächen. Auf diesen Teilen, die man links und rechts auf die Straßen gepackt hatte, zur Verkehrsberuhigung. Oder um den Kinderspielplatz herum. Und auch um das Haus herum, in welchem ihre Familie nun wohnte, gab es ein wenig Grün: Sie hatten jetzt einen Garten, was ganz besonders Mama freute. Also nicht nur einen Balkon mit ein paar Gewächsen in Blumenkübeln, sondern einen echten Garten, in dem man auch mehr als drei Schritte in die gleiche Richtung gehen konnte, ohne irgendwo anzustoßen.

Und sie wohnten nicht mehr im siebten Stock.

Ja, objektiv war alles irgendwie besser. Objektiv. Und genau da lag auch schon das Problem. Es ärgerte Jessica, dass nicht auch subjektiv alles besser war – oder zumindest gut. Auf der einen Seite wusste sie, dass Dinge gut waren – dass sie umgezogen waren, zum Beispiel, oder dass die Sonne schien. Dass sie gesund war, dass es ihrer Familie gutging. Dass sie genug Geld hatten, um sich alles zu kaufen, was sie brauchten. Diese ganzen Sachen. Natürlich war das alles gut. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie ihr Leben aussähe, wenn die Umstände ganz andere wären. Letzten Endes konnte, ja, musste sie sich eingestehen, dass sie objektiv auf der Sonnenseite des Lebens aufwuchs. Es ging so vielen Menschen so viel schlechter als ihr.

 

Und dann kam dieser Ja-und-wenn-schon-Gedanke. Ja, und wenn schon, was nützte ihr das alles? Sollte sie sich jetzt glücklich fühlen? Wahrscheinlich war das die Erwartung an sie. Es war mit Sicherheit eine Hoffnung, und zwar die ihrer Eltern. Jessica war nie ein äußerst extrovertierter Mensch gewesen. Es hatte sich einfach nie ergeben. Sie war oft gedrückter Stimmung, fühlte sich mies und kraftlos. Sie wusste, dass ihre Eltern sich deswegen Sorgen um sie machen, und nichts wäre Jessica lieber, als dass sie es irgendwie zustande brächte, ihren Eltern diese Sorgen zu nehmen. Es gab da nur ein paar Hindernisse.

Zum Beispiel wusste sie eben nicht, was sie tun sollte, um ihrer gedrückten Stimmung entgegenzuwirken. Sie wusste sie ja nicht einmal richtig zu beschreiben, zu benennen, in Worte zu fassen. Was sollte sie ihrer Mutter sagen, wenn diese sie das nächste Mal darauf ansprach? Mama fragte oft so etwas wie ‚Wie geht es dir heute?‘ oder ‚Meinst du, du könntest etwas tun, was dir guttut? Damit du dich besser fühlst?‘

Jessica vertrat aber inzwischen die Ansicht, es ging ihr nicht mal gut und mal schlecht, sondern ihre Lebensstimmung, die Art und Weise, mit der sie dem Leben begegnete, war schlicht festgefahren. Sie konnte ihre Stimmung nicht wechseln wie ihre Kleidung. Sicher, auch sie lachte ab und zu. Ja, natürlich, das kam vor. Ihr kleiner Bruder Florian schaffte es doch tatsächlich hin und wieder, sie zum Lachen zu bringen, und allein dafür müsste man ihm schon ein Abzeichen verleihen. Denn das war gar nicht so einfach.

 

Um die Frage beantworten zu können, was man denn gegen ihre gedrückte Stimmung tun konnte, wäre es gut zu wissen, was diese Stimmung denn überhaupt auslöste. Nur wusste sie das nicht. Es war irgendwie alles, die ganze Welt, überhaupt und sowieso. Wenn sie es kurz und knapp formulieren müsste, dann würde sie sagen:

Es erschien ihr einfach alles so unglaublich sinnlos.

Ja, sie waren umgezogen – na und? Sie hätten ihretwegen auch dort weiter wohnen können, wo sie bisher gelebt hatten. An ihrem Lebensgefühl hatte das nichts geändert.

Mama wollte schon länger endlich aus der Etagenwohnung raus. Jessica freute sich auch für sie, jedenfalls versuchte sie, dieses Gefühl wirklich zu empfinden. Aber wie sie das eben gewohnt war, wollte es nicht so recht. Gefühle waren schon vom Prinzip her scheiße. Was sollte man da auch erwarten?

 

Hier, inmitten des Neubaugebiets am Rand der Stadt, auf dieser breiten, verkehrsberuhigten Straße, war im Moment nicht nur der Verkehr beruhigt. Es war alles ruhig. Ein leichter Wind zog über den Asphalt und sorgte dafür, dass man erst am Abend bemerkte, dass es eigentlich Sonnenbrandwetter war. Hell und sommerlich schien das Zentrum ihres Sonnensystems auf Jessica hinunter. Ja, es war eine gute Idee, nicht das schwarze T-Shirt anzuziehen. Es war zwar erst Frühling, aber diesen Tag hätte man auch so nehmen und ausschneiden können, um ihn in den beginnenden Hochsommer einzufügen.

Sie hatte auf dem bisherigen Abschnitt ihres Spaziergangs kaum andere Menschen getroffen. So war es ihr auch am liebsten. Sie wusste manchmal selbst nicht recht, was in ihrem Kopf vorging. Manchmal bekam sie den Eindruck, andere Leute interessierten sich prinzipiell nicht für sie, übersahen sie, und sie meinte, sie sei einfach nicht wahrnehmbar. Als wäre sie nicht wirklich anwesend, als wäre sie nie hier entlanggelaufen. Und dann gab es wieder Tage, Zeiten, ja, manchmal auch nur Momente, in denen sie dachte, alle schauten sie an. Betrachteten sie. Und dachten sich: ‚Was ist denn mit der los?‘

Oder: ‚Was genau hat die eigentlich für ein Problem?‘

Aber Jessica wusste, dass diese Fragen nicht die Leute hatten, denen sie auf der Straße begegnete. Sondern sie selbst. Nur Antworten standen nicht in Aussicht.

 

Sie war zumindest nicht untätig gewesen. Natürlich fühlte sie sich oft danach, einfach alles sein zu lassen und gar nicht erst aufzustehen, aber sie wusste, das konnte nicht die Lösung für ihre Probleme sein. Es war eigentlich eine Lösung für gar nichts. Es war einfach nur ein Hinauszögern der Probleme. Und der Traurigkeit. Um beides erst dann zu erleben, wenn man es gar nicht mehr vor sich wegschieben konnte, weil sich einfach ein zu großer Berg an Kram angesammelt hatte.

Sie hatte sich schon einmal eine Liste geschrieben und darauf gesammelt, was sie denn nicht losließ, was sie herunterzog. Die Idee damals: einen Punkt nach dem anderen anzugehen und so nach und nach alles abzufrühstücken, was ihr auf der Seele lag. Wirklich gefruchtet hatte das nicht. Da hatten dann Punkte gestanden wie ‚Warum schaffe ich es nicht, mich wirklich über etwas zu freuen?‘, ‚Ich schaffe es nicht, in meinem Leben angekommen zu sein‘, ‚Ich weiß nicht, wer ich wirklich bin oder wer ich sein will‘. All das klang nicht nur ziemlich hochtrabend und als ob sie mit Diogenes, Sokrates und seinen Kumpels gerne mal zusammen abhing, sondern warf für sie, sobald sie sich damit ernsthaft befasste, bloß noch mehr Fragen auf.

 

Und all diese Fragen hatten etwas gemeinsam: Sie alle waren verbunden mit einem unsagbaren Gefühl von Angst und einer mindestens ebenso großen Portion Unsicherheit.

 

Und beides, Angst und Unsicherheit, waren für Jessica Dinge, mit denen sie einfach nicht umgehen konnte. Für sie waren die Dinge, die nicht geklärt wurden, Fragen, die sie nicht beantworten konnte, extrem anstrengend. Sie hatte nun wirklich keine Ambitionen, irgendwelche philosophischen Diskurse zu durchdenken oder sich in abenteuerliche Gedankenwelten vorzuwagen, nur um für sich Antworten auf Fragen zu finden, die sie im unbeantworteten Zustand herunterzogen. Wahrscheinlich war sie für diese Art von Überlegungen auch nicht hell genug in der Birne. Das kam noch erschwerend hinzu. Nein, sie wollte so ein belastendes Herumgedenke auf keinen Fall machen, wenn irgend möglich, tat es aber trotzdem viel zu oft, weil ihr Gehirn ihr keine Ruhe ließ.

 

Was sie wollte: endlich von der Traurigkeit wegkommen, die sie empfand. Vom Öffnen der Augen am frühen Morgen bis zum Zubettgehen nahm sie die Rollen von mindestens hundert verschiedenen Personen ein, aber all diese Persönlichkeiten, all die Gefühle und Gedanken, die sich in ihr breitmachten und die ihr Lebensgefühl beeinflussten, hatten stets einen negativen Touch.

Warum stehst du überhaupt auf, Jessica? Was willst du heute erreichen? In der Hochschule – du verstehst doch eh nur die Hälfte von dem, was man dir da beibringen will.

Warum andere Menschen ansprechen? Was sollte das bringen? Ja, es war ein scheiß Gefühl, in der Mensa allein an einem Tisch für vier zu sitzen und speziell dann, wenn man sich noch über sich selbst ärgerte. Warum ging sie überhaupt zur Hochschule? Um was zu lernen, um einen guten Job zu bekommen? Sicher, sie brauchte irgendwann selber Geld, es störte sie jetzt schon, dass sie Mama und Papa auf der Tasche lag. Für die war das okay, sie studierte ja, aber irgendwann musste sie dann auf eigenen Beinen stehen. Ein eigenes Leben führen. Da brauchte sie halt Geld. Und dann würde sie jeden Tag aufstehen, arbeiten, Geld verdienen, nach Hause kommen, fernsehen, zu Bett gehen. Jeden Tag auf ein Neues. Eine tägliche Routine. Wieder ein Tag vorbei. Wieder einer, wieder einer, wie herabfallende Blätter eines Baumes. Und am Ende? War der Baum doch bloß kahl, mehr nicht.

 

Es war jetzt schon ätzend und jetzt lebte sie doch in der besten Zeit ihres Lebens, oder? So sagte man doch. In der Schule bekam man gesagt, man solle die Zeit genießen, später würde es bloß noch anstrengender. An der Hochschule bekam man den Eindruck vermittelt, jetzt habe man die allergrößte Freiheit und sollte diese nutzen, später müsse man sich dann festlegen, einschränken, zurücknehmen. Und dann arbeitete man, hoffentlich bei einer Firma, die einem nicht spontan einen Brechreiz bescherte.

Also effektiv befand sie sich jetzt in der allerbesten Zeit. Sie war Studentin. Sie bekam sogar, wenn ihre traurigen, dämpfenden Gedanken und Gefühle sie mal kurz machen ließen, das mit dem Studium halbwegs hin. Sie war jung. Vielleicht sogar einigermaßen ansehnlich, keine Ahnung, das mussten schon die Leute einstufen, die sie ansahen. Wenn es überhaupt welche gab. Sie takelte sich nicht auf und nahm sich stets das, was oben auf ihrem Wäschestapel lag. Es passte alles irgendwie zusammen, die Farben waren nicht sonderlich knallig, da konnte man ihres Erachtens einfach alles mit allem kombinieren. Nichts Mega-Umwerfendes. Normales Zeug eben.

Also, sie war jung, ansehnlich, bekam sogar das eine oder andere in ihrem Leben hin. Eigentlich müsste sie vor Glück überlaufen.

 

Jessica glaubte nicht, dass sie so was wie Depressionen hatte. Depressionen waren eine Krankheit. Etwas, das jemand einfach bekam und das die eigene Stimmung runterzog. Aber ihre Stimmung war ja nicht unten, weil eine Depression sie ihr vermieste, sondern weil sie das Leben sinnlos fand. Weil sie sich selbst nicht verstand, weil sie nicht wusste, warum sie überhaupt lebte, warum sie hier war. Weil sie kein Lebensziel hatte und sich immer und immer wieder davor ängstigte, ihr Leben falsch zu leben, nicht das Richtige zu tun, etwas zu übersehen oder einfach die Kurve nicht zu kriegen, was Glücklichsein anging. Um aus diesen Gründen unglücklich zu sein, brauchte es nun wirklich keine Depression, ihrer Meinung nach. Es war also nicht so, dass sie ein Opfer einer Stimmungsschwankung war, die einfach vergessen hatte, sie wieder in Ruhe zu lassen. Jessica blieb dabei: Alles, was sie runterzog, zog sie leider berechtigterweise herunter. Und das war noch viel schlimmer und ätzender, als wenn ihr Tief einer Krankheit geschuldet wäre, oder? Denn gegen Krankheiten konnte man wenigstens Medikamente nehmen.

Was aber sollte sie denn bitte machen? Sich selbst weniger Gedanken? Können vor Lachen. Schön wär’s. Nein, sie konnte ihrem Gehirn nicht vorschreiben, was es zu denken hatte und was nicht, leider – ihr wäre es lieber, wenn sie es könnte. Und sie hatte es sich auch nicht ausgesucht, mit ihrem Leben zu hadern. Es war einfach so. Sie war einfach so. Ihr wäre es lieber, sie wäre kein Problemkind. Es wäre ihr lieber, wenn sie normal wäre.

 

Normal – ja, das hätte schon was. Wenn sie einfach wie alle anderen herumlief, ohne sich immer in tiefgreifende Sinnfragen zu stürzen. Dann müsste sie nicht so viel nachdenken, was eine Entlastung wäre, und sie würde sich weniger Sorgen machen, was eine mindestens genau so große Last von ihr wegnähme. Es gäbe weniger, was sie bedrückte. Das wäre super. So jemand wäre sie lieber. Jemand, der sich eben nicht immer die großen Fragen des Lebens stellte, auf die es keine eindeutigen Antworten gab, jemand, der einfach draufloslebte.

Jessica teilte häufig ein in ‚normal‘ und ‚weniger normal‘. Sie fragte sich so etwas wie ‚Wie würde denn ein normaler Mensch mit dieser Situation umgehen?‘ oder ‚Was würde ich jetzt tun, wenn ich normal wäre?‘

Ihr Vater hatte dazu mal gesagt, wenn sie normal wäre, dann müsste sie sich davor in Acht nehmen, von jemandem mitgenommen und ausgestellt zu werden, da normale Menschen äußerst selten waren. Klar, Papa hatte Recht. Es gab keine normalen Menschen, jeder war auf seine Weise speziell. Jessica fielen eben nur auf Anhieb mehrere Händevoll Arten ein, auf die sie lieber speziell gewesen wäre als auf die, die sie nun an der Backe hatte.

Sie musste irgendwie mit sich selbst auskommen und das fiel ihr schwer. Es gab immer wieder Reiberein mit ihr selbst. Manchmal hasste sie das Mädchen im Spiegel, schon morgens, wenn sie sich noch mit halb verschlossenen Augen und müden Gesichtszügen im Bad selbst ansah. Ja, manchmal würde sie am liebsten den Spiegel einschlagen. Toll, dachte sie dann oft, warum muss gerade ich so eine ungesunde Mischung aus Zweifeln, Herumgrübeln und Sorgenmachen mit mir herumtragen? Warum hatte sie dieses Bündel mit sich herumzuschleppen? Konnte sie nicht einfach all das sein lassen, es ablegen, wie einen alten, vermotteten Mantel, und einfach so durch den Tag gehen, ja, vielleicht sogar tanzen?

Hatte das echte, normale, ganz bodenständige Leben nicht schon genug Schwierigkeiten? Gab es nicht schon genug Dinge, mit denen man sich beschäftigen und mit denen man erst mal klarkommen musste? So Sachen wie: die Hochschule, Freunde finden oder auch nicht finden, Regelschmerzen, die Trotzanfälle ihres kleinen Bruders, ihre Allergie gegen Edelmetalle, so Kram halt.

Diese Sammlung könnte Jessica beliebig fortsetzen und es war nicht leicht zu sagen, was davon am meisten nervte.

 

Und auch wenn es lieb gemeint war: Ja, es könnte immer deutlich schlimmer kommen. Aber es hatte ihres Wissens noch niemandem geholfen, das gesagt zu bekommen, auch wenn die Absicht eine gute war. Sicher hatte Jessica sich das schon das eine oder andere Mal klar gemacht. Ja, aber was hatte sie denn von diesem Wissen? Es befreite sie nicht, es half ihr nicht weiter, nicht einmal für einen kurzen Moment. Und manchmal fürchtete sie sich davor, dass es nur durch die Vorstellung, dass es ‚noch schlimmer‘ kommen könnte, dass es allein dadurch noch schlimmer wurde. Dass sie noch tiefer in ihre Gedanken abrutschte.

 

Manchmal überkam sie das Gefühl, in der Zeit des Herumdenkens gar nicht gelebt zu haben. Jessica schaute sich verwundert um und musste feststellen, dass sie die Straße deutlich weiter heruntergelaufen war, als eigentlich geplant. Sie hatte nur einen kleinen Spaziergang machen wollen, einmal frische Luft schnappen. Es hatte das eine oder andere Mal schon geholfen, den Kopf etwas freier zu bekommen und dem eigenen Tief zumindest ein bisschen Sonnenlicht entgegenzusetzen. Jessica hatte sich vorgenommen, einmal ihr typisches Straßenrechteck abzugehen, aber nun war sie an einer Seite dieses Rechtecks übers Ziel hinausgeschossen. Sie war in ihre Gedanken abgetaucht und jetzt erst am Beckenrand angekommen, um aus dem Wasser hinaus auf die Welt um sie herum zu schauen.

 

Jenseits des Beckenrands sah alles in etwa so aus wie in der unmittelbaren Nachbarschaft ihres neuen Zuhauses. Klar, war ja immer noch Neubaugebiet. Auch hier lagen noch ein paar Grundstücke brach und dienten bisher nur als Ablageplätze für Kies, Erde und was eben sonst noch so anfiel bei Baustellen. Ja, gut, dass sie umgezogen waren. Hier war es ruhiger und man fühlte sich nicht so sehr am Puls der Zeit, direkt an der Hauptschlagader der Stadt, der Schnellstraße, die weder tags noch nachts zur Ruhe kam. Hier gab es ein bisschen mehr Frieden.

Vermutlich war es das, was Jessica sich am meisten wünschte. Frieden.

Frieden vor den ewigen, schmerzenden und anstrengenden Gedankenkriegen in ihrem Kopf, in denen sie immer wieder mit der weißen Flagge zeigte, dass sie nicht mehr konnte. Wenn es Jessica möglich gewesen wäre, irgendwie, dann hätte sie ihren Kopf gerne davor verschont. Aber das war nicht so leicht. Wenn sie Angst bekam, sich die Sinnfrage des Lebens stellte – mal wieder, wohlgemerkt, das war ja nichts ultimativ Neues – oder wenn sie sich fragte, ob sie wirklich so leben wollte, wie sie es tat, wenn sie mit sich haderte, warum sie keine Lebensziele hatte, wenn sie sich fragte, wie viele Lebensjahre sie noch erwarteten, und das mit einer Art Absitzen von Haftjahren gleichsetzte, dann konnte ihr Kopf einfach keine Ruhe bekommen. Sie musste sich mit diesen Dingen beschäftigen, sie musste darüber nachdenken, Lösungen finden, für sich. Nicht unbedingt Antworten. Wer könnte ihr die schon geben? Aber Lösungen. Wege, wie sie mit diesen Dingen umgehen konnte, ohne verrückt zu werden und ohne den ganzen Tag in ihrem Zimmer zu sitzen und zu heulen.

Und dann begann der Kampf, dann begann das gnadenlose, unmenschliche Herumüberlegen in ihrem Kopf. Und wenn es vorbei war, gab es keinen Sieger, es gab wenig bis keine Erkenntnis, es gab nur eine Verliererin.

Sie selbst.

 

Dort drüben, in der rechts einmündenden Seitenstraße, war eine Bank aufgestellt. Es handelte sich um eines dieser nicht sonderlich bequemen Modelle mit einem Metallgitter als Rückenlehne. Egal, ob bequem oder nicht, mal kurz hinsetzen konnte nicht schaden. Einfach mal Pause, die Augen schließen und an gar nichts denken. Für sie nicht immer einfach. Aber wenn es klappte, konnte sie dabei vielleicht ein bisschen Ruhe finden.

Jessica überquerte die unbelebte Straße. Sie setzte sich auf die verwoben wirkenden Metallkaros und lehnte sich vorsichtig zurück, spürte ihre Wirbelsäule am Metall der Rückenlehne. Ein Zeichen dafür, dass sie zu dünn war? Oder bloß dafür, dass man die Bank vielleicht nicht so unbequem hätte gestalten sollen? Das mit dem ‚zu dünn‘ konnte eigentlich nicht sein, es war doch heutzutage gar nicht möglich, dass man zu wenig Gewicht aufwies. Jeder wollte doch schlank sein, zumindest normalen Menschen war das in der Regel wichtig. Erfahrungsgemäß. Sie achtete nicht auf ihre Figur, Jessica hatte einfach prinzipiell selten Lust, viel zu essen. Eine Mahlzeit war für sie einfach das, was man essen musste, um keinen Hunger zu bekommen oder um bestehenden Hunger wegzukriegen. Sobald sie also keinen Hunger mehr verspürte, aß sie auch nichts mehr.

Wie schüchtern und zurückhaltend wäre sie wohl erst, wenn ihr Körper nicht dünn wäre, sondern wenn sie deutlich mehr auf die Waage brächte? Hm. Sie verzog das Gesicht. Vermutlich genauso wie jetzt.

 

Jessica schüttelte den Kopf, nur ein bisschen, um sich von den Gedanken, die noch in ihrem Kopf herumstoben, zu befreien. Dann schloss sie die Augen und versuchte, dafür zu sorgen, dass nichts in die Schwärze vor ihr trat. Dass es einfach nur still und dunkel war. Da gab es Wind, jenseits ihres Körpers, auf ihrer Haut, an ihren Armen. Innerhalb ihres Körpers gab es ihr schlagendes Herz, dass sie kaum spürte, selbst wenn sie es darauf anlegte. Sie würde es spüren, wenn sie ihre Hand auf die Brust legte, aber das brauchte sie nicht. Sie wusste, dass es schlug. Ihr Herz hatte sie bisher noch nie im Stich gelassen, ganz anders ihr Kopf. Auf das Schlagen ihres Herzens war bisher Verlass gewesen, aber es half leider auch nicht bei allem. Was es ganz gut konnte, war, sie am Leben zu halten. Bei allem, was darauf aufbaute, fühlte sie sich eher von ihm alleingelassen.

 

Immer wenn ihr unmenschliches Umherdenken sie mal in Ruhe ließ, bleib nichts als Erschöpfung. Ausgezehrtheit. Eine Leere, die dann zu dem Lebensgefühl wurde, das sie tagein, tagaus spürte und mit dem sie sich inzwischen abgefunden hatte: Eine Mischung aus Traurigkeit, Resignation und Trübsal.

Und ja, das war scheiße.

Und ja, den Kopf hängenlassen half nicht.

Wenn ihr irgendjemand die Kraft geben könnte, den Kopf wieder nach oben zu kriegen, dann hätte sie nicht ‚nein‘ gesagt. Es war nicht so, dass ihr jemand Vorwürfe machte. Ihre Eltern verstanden zwar nicht, was mit ihr los war – und eigentlich war das doch gut, dachte Jessica, dann wurden sie nämlich wenigstens nicht von ihrer Traurigkeit angesteckt – aber sie verstanden, dass es Jessica nicht gut ging, dass sie sich dennoch redlich bemühte, am Leben teilzunehmen, und dass sie eben manchmal einen Gang zurückschalten musste. Dass es kein Weltuntergang war und dass ihre Eltern nichts falsch gemacht hatten, wenn Jessica sich beim Abendessen mit knappen Worten entschuldigte, hoch auf ihr Zimmer ging und erst am nächsten Tag wieder zur Verfügung stand. Sie erwarteten nicht von ihr, dass sie alles immer in voller Gänze und mit vollem Elan tat.

Und sie selbst erwartete das inzwischen auch nicht mehr von sich, auch wenn es bis zu dieser Mentalität ein langer Prozess gewesen war. Sie war halt so, wie sie war. Es ärgerte sie, es störte sie, sie würde manchmal am liebsten alles kurz und klein schlagen.

Einmal hatte sie ein Spielzeugauto von früher, das sie in ihrem Schrank gefunden hatte, in einem Anfall von verzweifeltem Zorn kaputtgeschlagen. Und zwar ohne halbe Sachen zu machen. Mama hatte ihr später berichtet, man konnte den Krach noch bis in den Keller hören. Am Ende hatte sie dagesessen, auf dem Fußboden ihres Zimmers, vor sich ein zerstörtes Teil aus Metall und Kunststoff, inzwischen ohne einen einzigen Reifen. Sie hatte davorgesessen, es betrachtet und dann einfach bloß geheult, als wäre sie drei Jahre alt.

Und eigentlich war sie zweiundzwanzig! Eigentlich war sie erwachsen, ein volljähriger, reifer Mensch, eine vollwertige Mahlzeit, ein großgewordener Teilnehmer an dem, was alle ‚Leben‘ nannten.

 

Warum also musste ausgerechnet sie so jemand sein? Warum war sie so grüblerisch, melancholisch, so wenig belastbar? Was war kaputt bei ihr? Warum fand sie keine Sicherheit, die sie doch so sehr brauchte? Warum bürdete sie sich immer wieder auf ein Neues Gedanken auf, die sie nicht bewältigen konnte und unter denen sie zusammenbrach? Und warum rollte sie diese schweren Gedanken immer wieder wie ein schlechter Sisyphus-Abklatsch irgendeinen Berg hoch, auf dem sie nie ankam?

Oder in kurz: Warum musste sie so sein, wie sie nun einmal war?

Tränen halfen ihr. Ganz klar. Das hatte Jessica gelernt. Weinen schenkte ihr Ruhe vor den Gedanken und Ängsten. Wenn sie weinte, dann hatte alles andere Pause. Ihre Eltern machten sich dann immer Sorgen um sie – und wer könnte es ihnen verdenken? Manchmal wünschte sich Jessica, ihre Eltern hätten ein anderes Kind bekommen, jedes, nur nicht sie.

Mama und Papa liebten sie. Das wusste Jessica. Ihr kleiner Bruder konnte bisweilen nervig und anstrengend sein, aber auch er hatte sie lieb. Und Jessica liebte auch ihre Familie.

Tränen bahnten sich ihren Weg, vorbei an Jessicas geschlossenen Augenlidern, und rollten ihre Wangen hinab. Ja, sie liebte ihren Bruder. Und Mama. Und Papa. Und eigentlich liebte sie auch das Leben, das sie umgab. Aber manchmal bekam sie das Gefühl, das Leben meinte es einfach nicht gut mit ihr. Sie wollte doch gar nicht viel. Einfach nur leben. Frieden finden. Mit sich selbst, mit dem seltsamen Mädchen da im Spiegel morgens.

Jessica schluchzte und hielt die Augen weiterhin geschlossen. War ihr doch egal, ob sie jemand sah. Es würde sich eh niemand für sie interessieren.

Sie mochte das Leben doch! Sie wollte doch leben! Sie wollte doch lachen, tanzen, singen, egal, wie blöd sie dabei aussah oder klang. Sie wollte doch ihre Eltern in die Arme nehmen und ihnen sagen, dass sie sich verdammt noch mal nicht so viele Sorgen um sie machen sollten, weil sie das schon alles hinbekam.

Aber dazu müsste sie erst einmal selbst die Zuversicht aufbringen, die sie dafür brauchte. Und woher sollte die denn bitte kommen?

 

Jessica machte die Augen wieder auf und atmete tief durch. Sie lehnte sich ein Stück vor und ihr Blick ruhte einen Moment lang ohne jede Bemühung, etwas zu fixieren, auf den Steinplatten vor ihren Turnschuhen. Sie rieb sich die Tränen aus dem Gesicht. Es störte sie nicht, wenn jemand Fremdes sie weinen sah, aber bis daheim sollten die Spuren davon wieder weg sein. Jessica wollte, so oft es ihr nur möglich war, dafür Sorge tragen, dass sie vor ihren Eltern einen halbwegs positiven Eindruck machte. Das war sie ihnen schuldig, für all die Sorgen, die sie mit ihr hatten.

Mit ihr, dem Problemkind.

Allzu lange konnte sie hier nicht mehr sitzenbleiben. Sie sollte wieder nach Hause gehen. Ihren Eltern hatte sie gesagt, dass sie nur kurz rausginge, vielleicht eine Viertelstunde. Das Zeitkontingent hatte sie schon ausgereizt. Mama und Papa wussten, dass es wieder einer ‚ihrer‘ Spiergänge war, einer, auf dem sie mit sich selbst und der Welt klarkommen wollte. Ob sie sich Sorgen machten, wenn sie länger wegblieb?

Sie war zweiundzwanzig und ihre Eltern waren möglicherweise besorgt, wenn sie länger spazieren ging? Mitten am Tag? Das bekam auch nur sie hin.

 

Jessica hob ihren Blick wieder an. Es war immer noch Frühling, es war immer noch warm, es war immer noch schön, objektiv gesehen.

Auf der anderen Straßenseite stand jemand. Ein Mädchen, vielleicht so alt wie sie. Vielleicht auch ein, zwei Jahre älter. Jessica kannte ihren Namen nicht, hatte sie aber schon ein paarmal hier gesehen. Vermutlich wohnte sie auch in einem der Bauten hier, mit ihrer Familie. Das Mädchen hatte lockiges, braunes Haar, trug ein hellblaues T-Shirt und eine kurze, tiefdunkelblaue Jeans und stand einfach bloß da.

Als Jessica sie anblickte, hob die Fremde vorsichtig die Hand und deutete ein Winken an. Auch Jessica hob die Hand, einfach, um nicht bloß stumm dazusitzen. Das Mädchen kam über die Straße zu ihr und blieb dann vor Jessica stehen.

„Hey“, sagte die Unbekannte und lächelte Jessica freundlich an, „Ich will dich nicht stören, ich wollte nur fragen – möchtest du vielleicht über das reden, was dich so sehr mitnimmt?“

Kapitel 2

„Ich … das ist … ähm …“

Jessica wusste nicht recht, was sie antworten sollte. Meinte das Mädchen das ernst?

„Sorry, ich wollte dich nicht verschrecken“, sagte die vor ihr Stehende, „Aber du wirkst ziemlich mitgenommen und ich dachte, vielleicht brauchst du jemanden zum Reden.“

„Ich … ich weiß nicht, ob ich das brauche“, brachte Jessica hervor. Ihre Stimme zitterte, aber sie bemühte sich, einigermaßen gefasst zu klingen. Ihr war die Situation ein wenig peinlich. Bis eben war es ihr noch egal gewesen, ob jemand sie hier traurig sitzen sah, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass jemand sie ansprach. Und schon gar nicht mit einem solchen Angebot.

„Wenn ich dich lieber alleine lassen soll, dann kannst du’s ruhig sagen, ich dachte nur …“, das Mädchen machte eine Pause, „Ich dachte nur, ich frage mal nach.“

„Ist schon okay“, sagte Jessica freundlich und nickte zur Bestätigung.

Warum denn das Angebot nicht annehmen? Neinsagen war immer das einfachste, aber nicht immer das Beste.

„Ähm … wenn du das ernst meinst, dann…“

Sie nickte zur leeren Sitzfläche neben sich.

 

„Klar mein ich das ernst!“, sagte das Mädchen und nahm neben Jessica Platz. Ihr Lächeln war wirklich ansteckend, aber im Moment konnte sich Jessica nicht dafür erwärmen, es zu erwidern. Ihre Stimmung war gerade nicht gut genug. Außerdem war sie noch immer nicht sicher, ob sie wirklich reden wollte, noch dazu mit jemandem, den sie gar nicht kannte.

Jessica wandte ihren Blick nach links zu dem Mädchen, das sich im Schneidersitz auf die Bank gesetzt hatte und sie freundlich ansah.

„Ich bin Charlotte“, sagte die neu Angekommene und reichte Jessica die Hand. Jessica ergriff diese. Charlottes Händedruck war ernst gemeint und nicht so lasch wie ihr eigener.

„Ich heiße Jessica. Ich … ähm … habe dich schon zwei, drei Mal gesehen. Du wohnst hier in der Nähe, oder?“

„Ja, in der Nähe. In grober Nähe“, antwortete Charlotte und nickte leicht, „Nicht hier, bei den ganzen neuen Häusern, aber so weit ist es nicht von hier weg. Und du?“

„Wir sind hierhergezogen“, antwortete Jessica, „Meine Familie und ich. Wir wohnen ein paar Straßen weiter.“

Inzwischen klang Jessicas Stimme wieder einigermaßen normal.

 

„Wegen eben“, begann Charlotte vorsichtig, „Ich hab das ernst gemeint. Also, wenn du über etwas reden willst, dann … würde ich dir zuhören. Also, nur, wenn du überhaupt mit mir reden möchtest.“

Jessica war Charlotte nicht allein dafür dankbar, dass sie das offenbar wirklich ernst meinte, sondern auch deshalb, weil sie selbst bereits durch dieses kurze Gespräch aus dem Fokus verlor, worüber sie eben nachgedacht hatte. Was der vielen Dinge, die sie runterzogen, es diesmal gewesen war. Klar, nachher daheim oder bloß auf dem Weg dorthin dürfte es ihr wieder einfallen – oder ein gleichwertiges oder noch anstrengenderes Thema würde sich in ihrem Kopf breitmachen, aber für jetzt hatte sie mal Ruhe. Das war etwas durch und durch Positives. Allein dafür hatte Charlotte ihren Dank verdient. Und ihre Aufmerksamkeit.

„Ich … also …“, begann Jessica unsicher. Dann verstummte sie. Erst Denken, dann Reden. Hatte ja gut geklappt mit dem Fortführen der Konversation.

Schließlich wurde doch noch ein Satz daraus:

„Ich finde es irgendwie … cool, dass du mich angesprochen hast. Ich meine – die meisten Leute hätten mich wahrscheinlich … na ja, halt … nicht angesprochen.“

„Ja, das stimmt wohl“, sagte Charlotte nachdenklich, „Aber ich dachte mir: Warum nicht? Du kannst doch nichts verlieren. Und vielleicht helfen.“

„So denken nicht viele“, kommentierte Jessica und fügte hinzu, „Ich wäre vermutlich auch einfach weitergegangen.“

„Noch weißt du ja gar nicht, ob es was genutzt hat, oder?“, fragte Charlotte und schmunzelte, „Vielleicht wünschst du dir ja im Nachhinein, ich wäre auch einfach weitergegangen.“

„Nein, du hast schon was erreicht.“

„Ich hab dich aus deinen Gedanken gerissen.“

„Ja“, bestätigte Jessica, „Genau. Das kann dir schon mal keiner mehr nehmen. Das war definitiv gut.“

 

„Was bedrückt dich denn so sehr, dass du weinen musst?“, fragte Charlotte und Jessica wunderte sich, dass die Art, auf die Charlotte die Frage formulierte, sie innerlich berührte. So hätte auch ihre Mutter die Frage formulieren können, ziemlich persönlich, ziemlich – nah. Viel näher, direkter, als Jessica sie formuliert hätte, aber es kam ihr nicht unangenehm vor. Zu Charlotte passte es irgendwie, sie hatte eine aus dem tiefsten Inneren kommende Fröhlichkeit, vor der sich vermutlich jeder normale Mensch anspornen ließe. Hoffentlich gab Charlotte nicht nach ein paar frustrierenden Minuten auf, wenn ihre Energie Jessica so überhaupt nicht befeuern konnte – das läge dann wohl in der Natur der Sache.

„Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen soll“, begann Jessica und fügte direkt hinzu, nur um Missverständnisse zu vermeiden:

„Das heißt nicht, dass ich es dir nicht erzählen will, weil ich dir … keine Ahnung, nicht traue, oder so, nein, aber …“

„Du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst. Egal, aus welchem Grund du das nicht willst“, sagte Charlotte.