Anima | Teil 3 - Unheilbar - Nero Kalypso - kostenlos E-Book

Anima | Teil 3 - Unheilbar E-Book

Nero Kalypso

0,0
0,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Teil 3 führt die Geschichte weiter und bringt einige Veränderungen in den Welten unserer Protagonisten. Ob es sich um positive oder unangenehme Veränderungen handelt? Das hängt vermutlich davon ab, wen genau man fragt...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nero Kalypso

Anima | Teil 3 - Unheilbar

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Kapitel 1

Einatmen. Ausatmen.

Herrje, sie würde sich doch nie trauen, jemals hier rauszukommen, oder?

Es war inzwischen dunkel. Das Industriegebiet wurde zwar durch die Straßenlaternen etwas erhellt, doch die standen in sehr großen Abständen da und man bekam nicht wirklich den Eindruck, dass man sich hier sicher fühlen durfte. Carmen hatte sich eine Stelle ausgesucht, die in völlig Dunkelheit lag. Neben einer der Straßen führte eine kleine Abzweigung des Bürgersteigs einige Meter ab, zwischen ein paar Büsche. Dort befand sich einer dieser weißen Kästen, die auch hier und da in der Stadt herumlungerten. Die Büsche schützten halbwegs gut vor allzu neugierigen Blicken. Allerdings war hier anscheinend sowieso niemand, der sie sehen könnte: Das Industriegebiet fand man nachts so gut wie ausgestorben vor. Aber das konnte ihr nur recht sein. Je weniger los, desto besser. Letztlich brauchte sie nur eine einzige Person. Irgendjemand würde hier sicher früher oder später vorbeikommen.

Sie atmete noch einmal tief durch. Ihr war etwas kalt, doch das stellte vermutlich ihr geringstes Problem dar. Sie trug eine schwarze Jeans und ihren weinroten Hoodie, dessen Kapuze sie sich weit ins Gesicht gezogen hatte. Außerdem verbarg eine schwarze Sturmmaske ihr Gesicht. Die stammte von Buddy. Er meinte, sie solle nur ja nicht erkannt werden – und natürlich lag das auch in ihrem Interesse. Der improvisierte Schutz mit dem Schal, ihr grandioser Einfall im Rahmen des Einbruchs neulich, der war doch ziemlich unprofessionell. Nicht, dass sie jetzt das Profilevel auch nur im Entferntesten erreichte; doch sie steigerte sich. Auch, was die Aktivität selbst anbelangte: Das hier war nicht bloß ein Einsteigen in irgendeine x-beliebige Wohnung. Das hier war schon etwas heftiger. Wenn es denn klappte. Wenn denn überhaupt mal jemand vorbeikam.

 

Schon daheim hatte sie ihr jetziges Outfit einmal probeweise angezogen. Jeans, Hoodie, Maske. So jemandem wollte man nachts wirklich nicht begegnen. Eigentlich zu keiner Uhrzeit. Sie selbst machte vielleicht keinen großen Eindruck, aber mit der schwarzen Maske und der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze wirkte sie doch etwas furchteinflößend. Zumindest sie selbst würde mit jemandem, der ihr so begegnete und der eine scheinbar echte Waffe auf sie richtete, nicht diskutieren. Und schon gar nicht, wenn man demjenigen alleine und mitten in der Nacht über den Weg lief.

Schon als sie vor dem Spiel stand, brodelte die Aufregung nur so los. Und sie gewann Gefallen an diesem Nervenkitzel. Ja, sie hasste sich dafür, geringfügig, doch bei Licht betrachtet – gerne auch hier, in der Nacht – tat sie niemandem weh. Sie plante ja auch nicht, mit der Beute großartige Dinge anzustellen, sie würde ja nicht das Konto des hoffentlich bald dahergelaufenen Typen leerräumen. Sie tat das letztendlich für ihre Mutter. Wenn auch über Umwege.

War auch egal jetzt. Es bereitete ihr jedenfalls Freude, darüber nachzudenken. Es war nicht richtig, nein, das stand außer Frage, doch sie war auch keine hauptberufliche Verbrecherin. Das hier endete bald wieder. Und so lange sie es machte, so lange konnte sie doch auch verdammt noch mal wenigstens ein bisschen Freude daran haben!

Sie hatte einen Job. Einen neuen. Einen echten. Der machte ihr Spaß. Das hier brauchte sie nicht. Es war eher … mal eine andere Erfahrung. Gut für jetzt, aber irgendwann musste damit auch wieder Schluss sein.

Und letztendlich ging es doch um einen guten Zweck, oder etwa nicht? Sie sollte sich nicht so rummachen, auf ihrem Mist war das Ganze nicht gewachsen.

 

Carmen hielt durchgehend den Griff der Pistole in der Seitentasche ihres Hoodies fest. Sie umklammerte ihn, sodass die Plastikwaffe auch ja nicht herausfallen konnte – was sie genaugenommen ohnehin nicht tun würde. Ja, die Aufregung eben, nicht wahr? Diese spürte Carmen gerade und die Dunkelheit in diesem Industriegebiet, die auch die paar Straßenlaternen nicht wirklich durchbrechen konnten, löste in ihr ein mulmiges Gefühl aus. Sie hatte geplant, zu warten, bis jemand kam. Irgendjemand würde sicher irgendwann aufkreuzen. Eigentlich gab es für niemanden einen triftigen Grund, nachts durch das Industriegebiet zu flanieren. Aber es kam bestimmt irgendwer. Jemand, der seinen Hund spazieren führte, vielleicht. Okay, aber den sollte sie sich nicht aussuchen, das wäre wohl keine so gute Idee. Der Hund würde bellen oder, noch schlimmer, sein Herrchen verteidigen. Oder sein Frauchen. Wer wusste schon, auf wen sie traf?

Wie es schien, erst einmal auf gar keinen. Sie wartete schon über eine halbe Stunde und ihre Beine und ihr Rücken sogen die Umgebungskälte nur so auf. Zwar handelte es sich um eine Sommernacht und es war dementsprechend nicht fürchterlich eisig, aber dennoch: Es gab wärmere Stunden. Unter dem Hoodie trug sie bloß ein dünnes T-Shirt. Das ewige Warten hatte der geringen Kälte, die der Sommer nachts aufbringen konnte, genug Zeit gegeben, durch ihre Kleidung zu fließen. Sie musste sich bewegen, sonst würde sie nur noch mehr frieren. Aber … hier durch die Gegend laufen? Wäre das nicht verdächtig? Würde man sie nicht bemerken? Es gab hier sicher Überwachungskameras – aber doch bloß auf den Geländen der Firmen, nicht auf den Straßen, oder? Dennoch könnte sie von irgendwem beobachtet werden.

Andererseits, na und?

Sie trug doch kein Schild mit ihrem Namen und ihrer Anschrift auf dem Kopf. Und wer auch immer sie sah, konnte sie sicher nicht identifizieren. Sie würde sich trotz der sogenannten ‚warmen Jahreszeit‘ den Arsch abfrieren, wenn sie jetzt noch länger hier herumstand, also trat sie aus der kleinen Abzweigung zwischen den Büschen und ging den Bürgersteig entlang.

Durch die Kapuze ihres Hoodies hörte sie die leisen Geräusche ihrer Schritte auf dem Gehweg. Sonst ließ sich nichts vernehmen. Sie hielt ihren Kopf gesenkt, so dass man nicht gleich ihre Maske erkannte, wenn man sie aus der Ferne beobachtete.

Ob das mit dem Industriegebiet die beste Idee war? Ein überwiegend menschenleerer Ort schien ihr gut geeignet. Irgendwo in der Stadt wäre viel zu viel los, jemand würde sie sehen, Leute würden vielleicht die Polizei rufen.

Hier gab es so gut wie niemanden. Eine einzige Person genügte; wenn möglich ohne einen Vierbeiner als Begleitung.

Wer kam denn ansonsten noch in Frage? Vielleicht traf sie auf einen zwielichtigen Geschäftsmann, der im Schutze der Nacht nachschaute, wie seine dunklen Geschäfte liefen. Dann wäre es doch fast eine Heldentat, wenn sie dem einen Schreck einjagte, oder? Sich nachts in dieser Gegend aufzuhalten, das tat man doch eigentlich nur, wenn man eine zwielichtige Gestalt war.

So wie sie selbst?

Nein. Sie war hier nur zu Besuch. Wie bei Monopoly. Nur zu Besuch. Nur eben nicht im Gefängnis, sondern auf der Schiefen Bahn.

Carmen ging um eine Ecke. Dann blieb sie abrupt stehen.

Da war ein Geräusch gewesen. Eine Stimme. Ein Lachen.

Da, schon wieder!

Jemand hatte irgendwo etwas gesagt. Sie hörte noch eine andere Stimme. Zwei Leute unterhielten sich. Die eine Stimme klang weiblich. Woher kamen die Worte? Scheinbar von einer der abzweigenden Straßen. Zwei Leute. Ob sie hierherkamen? Sie musste sich verstecken! Carmen schaute sich um, dann ging sie schnell hinter einen am Straßenrand parkenden LKW. Die Geräusche wurden leiser. Sicher waren sie aus einer der Straßen gekommen, die auf der gegenüberliegenden Seite dieser Asphalttrasse abgingen. Vorsichtig spähte sie hinter dem Anhänger des LKW hervor und tatsächlich, da waren zwei Mädels, inzwischen nicht mehr in einer Nebengasse nebenan, sondern bereits auf der gegenüberliegenden Seite dieser Straße. Vielleicht etwas jünger als sie selbst. Die eine hatte schwarze, lange Haare, die andere blonde Locken. Die beiden quatschten miteinander. Carmen hielt den Atem an, so gut es ging, und konnte verstehen, was die zwei sagten. Die Mädchen hatten sie wiederum, wie es schien, nicht bemerkt.

„Ich weiß nicht“, sagte die mit den schwarzen Haaren, „So richtig cool find‘ ich es hier nicht.“

„Du hast bloß Schiss!“, erwiderte die Blonde, „Hier ist keine Sau. Voll der Fallout. Fehlen nur noch Zombies, die so rumtorkeln.“

„Also, mir fehlen die nicht.“

Die Blonde zuckte daraufhin mit den Schultern.

„Ist doch cool, so nachts hier zu sein, wenn man das Gefühl hat, man wäre der einzige Mensch auf der Welt.“

„Weiß ich nicht“, sagte die Schwarzhaarige, „Und außerdem sind wir zu zweit.“

„Ja, dann eben die letzten beiden Menschen auf der Welt. Du weißt doch, was ich meine. Das hat was Postapokalyptisches.“

„Wenn du meinst…“, sagte die Schwarzhaarige mit wenig Freude in der Stimme.

Die beiden gingen weiter und entfernten sich von Carmens Versteck. Carmen trat wieder komplett hinter dem Anhänger des LKW und musste erst einmal nachdenken.

 

Die beiden konnte sie vergessen, oder? Zwei Leute waren zu gefährlich. Klar, das waren bloß zwei Mädchen, die würden sie schon nicht verprügeln, aber … dennoch, sie wollte lieber nur eine Person vorfinden. Nicht mehrere.

Also nochmal ewig warten, bis sich eine weitere Gelegenheit ergab? Ja, dann sollte es halt so sein. Sie musste eben etwas Geduld mitbringen! Aber zumindest gingen hier Menschen entlang. Aus welchen Gründen auch immer. Und irgendwann würde auch jemand alleine vorbeikommen.

Sie spähte wieder an der Plane des LKW vorbei. Die beiden Mädchen waren schon weg. Also hieß es jetzt wieder warten, doch möglicherweise nicht hier hinter dem schweren Fahrzeug. Sie trat hinter dessen Anhänger hervor und überquerte die Straße. Irgendwo gab es vielleicht wieder eine Abzweigung mit Büschen, in der man nicht gesehen wurde. Sie beschloss, die Straße entlangzugehen, aus der die beiden Mädels gekommen waren.

Tatsächlich fand sie noch eine solche Abzweigung, wieder mit weißem Kasten, und wartete dort eine Weile.

 

Aber es kam niemand. Und die ganze Zeit war es komplett still. Langsam ebbte der Nervenkitzel ab und hinterließ bloß Langeweile. Doch Carmen wusste: Jederzeit konnte es wieder soweit sein. Die beiden Mädchen vorhin waren auch mehr oder weniger plötzlich aufgetaucht. Dumm nur, dass man die nur im Doppelpack bekam. Warum waren die beiden hier gewesen? Die eine hatte so gewirkt, als sei sie mehr oder weniger mitgeschleift worden. Die mit den schwarzen Haaren. Die hatte sich hier nicht wohlgefühlt. Carmen konnte das nachvollziehen: Das hier war nachts kein Ort, um sich wirklich wohlzufühlen. Auch sie selbst tat das nicht. Und die andere hatte ein bisschen mutiger gewirkt. Doch wahrscheinlich wäre deren Herz dennoch in die Hose gerutscht, wenn…

 

Auf einmal hörte Carmen Schritte. Sie hielt den Atem an und festigte noch einmal den Griff um die Pistole in ihrer Hoodietasche. Jemand schritt die Straße entlang, aus der Richtung, aus der auch sie gekommen war. Sie spähte vorsichtig durch die Büsche auf den Gehweg. Da kam das schwarzhaarige Mädchen. Die Blonde war nicht mehr bei ihr. Ob sie sich irgendwo getrennt hatten und sich die Schwarzhaarige gerade auf dem Nachhauseweg befand? Carmen versuchte, das Gesicht des Mädels zu erkennen, was durch die Blätter des Buschwerks gar nicht so einfach war.

Gleich würde sie an Carmens Versteck vorbeigehen. Spätestens dann dürfte ihr sicher auffallen, dass da hinter den Büschen jemand stand. Von dem, was Carmen in dem Gesicht der Herannahenden erkennen konnte, deutete alles darauf hin, dass diese sich unwohl fühlte.

Vermutlich war es wirklich so, wie eben überlegt, dachte Carmen: Die beiden Mädchen waren Freundinnen und sie hatten sich eben voneinander verabschiedet, um nach Hause zu gehen. Und der Weg dieses Mädchens führte wohl zurück durch das Industriegebiet.

Das war die Gelegenheit. Oder?

Vom einen auf den anderen Augenblick schlug Carmens Herz wie wild. Sollte sie das wirklich tun?

Von hier aus konnte Carmen erkennen, dass die Schwarzhaarige noch jünger war als zunächst geschätzt. Vorhin hätte sie auf vielleicht Achtzehn oder Neunzehn getippt. Aber vermutlich befand sich das Mädchen noch jenseits der Volljährigkeitsgrenze. Jetzt schätzte Carmen sie auf sechzehn Jahre. Was würde die Schwarzhaarige tun, wie reagierte sie? Wahrscheinlich würde sie schreien, oder? Sich erschrecken. Sie durfte nicht wie wild herumkreischen, das wäre sehr auffällig! Und sie durfte nicht weglaufen, das machte alles bloß schwieriger.

Dann mal los! Carmens Herz hämmerte. Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber eine bessere Chance bekam sie nicht.

Jetzt!

 

Carmen trat hinter den Büschen hervor, richtete die Pistole auf das Mädchen und sagte deutlich:

„Stehen bleiben und keinen Ton!“

Das Mädchen erschreckte sich fast zu Tode.

Es schieß einen spitzen Schrei aus, unterdrückte diesen aber sofort, blieb wie angewurzelt stehen, in ihrem Gesicht stand blanke Angst. Sofort hatte Carmen Mitleid mit ihr, aber davon sollte sie sich jetzt nicht beirren lassen. Je schneller sie das Ganze über die Bühne brachte, desto besser für sie und die Erschrockene.

Sie trat einen Schritt auf das Mädchen zu. Dieses rührte sich nicht von der Stelle, nahm nur leicht die Hände hoch, ganz langsam, bloß ein Stück, fast wie im Reflex.

„B-bitte nicht schießen!“, stotterte es.

Bring es hinter dich, dachte Carmen.

Die Kleine zitterte vor Angst und tat Carmen wirklich leid. Aber jetzt konnte sie es sich nicht mehr anders überlegen. Und sie hatte ja nicht vor, ihr was zu tun.

„Gib mir deinen Geldbeutel!“, forderte Carmen klar und deutlich und hielt weiterhin die Pistole auf die Brust des Mädchens gerichtet.

„Bitte nicht schießen!“, wiederholte die Überfallene noch einmal mit weinerlicher Stimme. Sie senkte ihre rechte Hand und griff ganz langsam, fast wie in Zeitlupe, in ihre Hosentasche. Dann zog sie, ebenso langsam, einen dünnen Geldbeutel hervor, einen blauen, aus Plastik. Sie hielt ihn Carmen hin. Diese nahm das Teil entgegen.

Okay, das war’s also.

„In Ordnung“, sagte sie zu dem Mädchen, welches aussah, als würde es gleich anfangen zu heulen, „Du kannst gehen.“

Carmen trat auf die Straße und eröffnete damit den Bürgersteig als Abgangsfläche. Das Mädchen bewegte sich erst nicht vom Fleck, dann setzte es vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ihr Blick war auf Carmen gerichtet und es lag nichts als blanke Furcht in ihren Augen.

„Du kannst gehen!“, wiederholte Carmen noch einmal und fühlte sich in diesem Moment unglaublich schlecht.

Das Mädchen machte schnellere Schritte, irgendwann wandte es seinen Blick von ihr ab und ging einfach nur noch geradeaus, recht zügig, ohne zurückzuschauen. Carmen blickte ihr nach, wie sie die Straße entlangschritt und dann bei der ersten Möglichkeit nach rechts abbog. Nun war sie aus ihrem Sichtfeld verschwunden.

 

Und langsam beruhigte sich Carmen wieder. Sie ging in die andere Richtung und steckte den Geldbeutel in ihre Jeanstasche. Es hatte funktioniert. Eigentlich sollte sie sich freuen, aber sie hatte sich eben gerade viel zu schlecht gefühlt, um das mit der Freude jetzt hinzubekommen. Das Mädchen hatte sicher Todesangst verspürt. Das hätte sie selbst bestimmt auch, verdammt!

Das arme Ding.

Im nächsten Moment dachte sie allerdings: Ja, und? Das hätte sich die Kleine eben vorher überlegen müssen. Vielleicht sollte man nicht nachts und alleine durch ein verwaistes Industriegebiet laufen, da musste man ja fast damit rechnen, überfallen zu werden. Das Mädchen konnte doch eigentlich froh sein, dass es nur Carmen und niemand Schlimmerem begegnet war! Bei ihr handelte es sich noch um jemand Harmlosen, im Gegensatz zu vielen anderen Leuten, die nachts ihr Unwesen trieben.

Und trotzdem. Trotzdem fühlte sie sich mies.

Richtig mies.

 

 

* * * *

 

Ein Klingeln ertönte und kurz darauf klopfte jemand wie wild an die Haustür. Wenn das eine gewisse junge Lady war, dachte Frau Jakob, dann würde diese gewisse junge Lady mal was zu hören bekommen. Und ganz besonders warm anziehen konnte sich diese gewisse Lady, wenn sie es nicht war – und entsprechend noch später heimkam.

Sie öffnete die Tür und funkelte ihre Tochter aufgebracht an.

„Cassandra, was bitte hast du…?“, begann Frau Jakob, doch sie verstummte, als sie in das Gesicht ihres Kindes sah. Cassandras Augen waren gerötet, ihre Wangen nass. Sie zitterte, ging ohne ein weiteres Wort an ihrer Mutter vorbei und stellte sich in den Flur.

„Was ist los, Cassandra?“, fragte Frau Jakob besorgt.

„Mach bitte die Tür zu!“, drängte ihre Tochter und sie tat es.

„Was hast du denn?“, fragte Frau Jakob bestürzt und ihr Zorn war wie weggeblasen.

„Da … da draußen …“, setzte Cassandra unruhig an, doch sie brachte kein weiteres Wort heraus.

„Was ist passiert? Ist irgendwas Schlimmes vorgefallen?“, versuchte Frau Jakob es noch einmal.

Cassandra schien etwas sagen zu wollen, aber sie begann lediglich zu schluchzen.

„Komm!“, sagte Frau Jakob und nahm ihre Tochter mit ins Wohnzimmer. Sie schaltete das Licht an und sagte:

„Komm, setzt dich erstmal. Ich hol dir was zu trinken, ja? Dann kannst du mir erzählen, was passiert ist, okay?“

Cassandra setzte sich und Frau Jakob ging in die Küche, um eine Flasche Apfelsaft und ein Glas zu holen. Sie verdünnte den Apfelsaft mit ein bisschen Wasser und brachte das Glas dann zu ihrer Tochter ins Wohnzimmer. Sie setzte sie sich neben Cassandra auf die Couch.

„Was ist denn passiert, Schatz?“

Cassandra schien sich schon wieder ein wenig beruhigt zu haben, doch noch immer zitterte sie am ganzen Körper.

„Wir … wir … es tut mir leid, dass wir noch so spät unterwegs waren …“, sagte sie und Tränen flossen über ihre Wangen.

„Du warst mit Marie unterwegs, ja?“

„Ja“, schniefte Cassandra, „Ich weiß, wir sollten längst wieder da sein, aber wir haben die Zeit vergessen und dann dachten wir, wir gehen noch mal raus…“

„Was ist denn passiert? Hat Marie was Blödes gesagt?“

„Nein, nein…“, brachte Cassandra hervor, „Aber wir sind noch mal nachts umhergezogen, einfach so, und dann haben wir uns verabschiedet, weil Marie nicht noch mal den ganzen Weg zurück durch das …“, sie schniefte, „… durch das Industriegebiet laufen wollte. Wir waren ja fast wieder bei ihr zuhause. Und ich sagte, dann gehe ich alleine nach Hause, ist ja kein Problem.“

Frau Jakob hatte ihrer Tochter freilich mitgeteilt, dass diese so spät nicht mehr draußen durch die Gegend spazieren sollte. Aber was konnte man da schon ausrichten? Cassandra war ein Teenager, ihr konnte man nichts vorschreiben. Jetzt war auch definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um eine Moralpredigt zu halten.

„Und was ist dann passiert? Trink doch mal was!“

Ihre Tochter nahm das Glas mit noch immer leicht zitternden Händen und trank einen winzigen Schluck, bevor sie es wieder abstellte.

„Und dann?“, fragte Frau Jakob.

„Dann … dann bin ich eben alleine zurückgegangen, ich dachte, das wäre okay, es ist ja niemand da. Es passiert ja nichts. Und dann … dann stand da plötzlich jemand vor mir, so jemand Vermummtes…“, ihre Stimme wurde lauter, „…und der hat gesagt, ich soll ihm meinen Geldbeutel geben. Der hatte eine Pistole!“

Sie weinte.

„Und die hat er auf mich gerichtet. Ich dachte, der will mich erschießen!“

„Oh, Cassandra“, sagte Frau Jakob und nahm ihre Tochter in den Arm, welche daraufhin begann, sich an ihrer Schulter haltlos auszuweinen.

„Ich dachte …“, brachte Cassandra zwischen den Tränen hervor, „… ich dachte, wenn ich ihm das Geld nicht gebe, dann … dann wird er mich erschießen!“

„Das heißt, du hast ihm deinen Geldbeutel überlassen?“

„Ja.“

„Und dann durftest du gehen?“

„Ja. Er hat gesagt … ich soll einfach gehen. Und ich … ich bin einfach weitergegangen. Ich habe mich … mich nicht mal mehr umgedreht. Glaube ich. Und irgendwann, als ich weit genug weg war, bin ich dann gelaufen.“

„Direkt hierher“, sagte Frau Jakob.

„Ja“, brachte ihre Tochter hervor.

 

Cassandra löste ihre Umarmung und sagte:

„Ich hatte voll Angst. Ich dachte, der erschießt mich!“

„Es ist ja zum Glück alles gutgegangen“, sagte ihre Mutter, „Das hast du richtig gemacht. Dass du dem Typen deinen Geldbeutel gegeben hast. In so einer Situation ist es das Beste, wenn man genau das tut, was von einem gefordert wird. Auf gar keinen Fall sollte man versuchen, sich dem zu widersetzen oder Widerworte zu geben. Du hast alles richtig gemacht.“

„Ich hätte aber gar nicht erst so spät draußen sein sollen. Du hast gesagt, dass ich das nicht machen soll.“

„Halb so wild, Schatz. Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist!“

Frau Jakob seufzte und wartete einige Augenblicke der Stille ab.

„Was hattest du in dem Geldbeutel dabei, weißt du das noch?“

„Na ja, ein paar Scheine. Ein paar Münzen. Sonst nichts, glaube ich.“

„Deinen Personalausweis? Oder so etwas?“

„Nein, ich glaube … glaube nicht. Nur ein Zettel mit den Telefonnummern.“

„Okay“, sagte Frau Jakob, „Damit kann der Typ nicht so viel anfangen, oder? Hat sich für ihn gar nicht gelohnt.“

„Nein“, sagte Cassandra und schniefte.

„Ich werde das gleich morgen mal aufrollen“, sagte Frau Jakob, „Vielleicht kriegen wir den Typen ja.“

Sonderlich zuversichtlich war sie allerdings nicht.

„Woran erinnerst du dich denn noch, Schatz?“, fragte Frau Jakob, „Ist dir irgendwas aufgefallen? Irgendwas Besonderes? Wir werden auf jeden Fall versuchen, herauszufinden, wer das war. Es ist wichtig, dass du versuchst, dich an alles zu erinnern, was dir aufgefallen ist, in Ordnung?“

Cassandra nickte und schwieg einen Moment.

„Ich … ich weiß nicht. Es ging ziemlich schnell. Ich habe nicht drauf geachtet, wie der Typ aussah.“

„Das kann ich verstehen. Wer würde darauf schon achten? Überleg noch mal! Vielleicht fällt dir doch noch was ein.“

„Er … hatte irgendwas Rotes an. Glaube ich. Vielleicht.“

„War derjenige klein? Groß? Sein Gesicht war verhüllt?“

„Ja. Mit so einer schwarzen Maske. Der Typ war nicht so groß. Bisschen größer als ich. Und seine Stimme…“

Cassandra schwieg einen Augenblick.

„Seine Stimme?“, fragte Frau Jakob.

„Die klang … irgendwie wie eine Frau.“

„Würdest du sagen, es war eine weibliche Stimme?“

„Ich bin mir nicht sicher, er … oder sie … hat nicht viel gesagt. Aber ich glaube, es war vielleicht wirklich eine Frau. Oder ich habe mich verhört, ich weiß es nicht.“

Cassandra schüttelte den Kopf. In ihren Augen sammelten sich wieder Tränen.

„Okay, Schatz. Wir reden morgen darüber weiter, okay? Du hast wahrscheinlich jetzt genug davon? Meinst du, du kannst jetzt schlafen?“

„Nein“, sagte Cassandra und schüttelte den Kopf.

„Wenn das so ist“, sagte ihre Mutter, „Willst du noch ein bisschen was lesen? Ich glaube, es ist wichtig, dass du dich jetzt ein bisschen ablenkst. Wer auch immer das war, kann dir jetzt nichts mehr tun.“

Sie nahm Cassandras Hand in ihre.

„Und du hast alles richtig gemacht. Wirklich. Es ist doch gutgegangen. Das Geld ist doch egal, wichtig ist, dass es dir gutgeht! Ich werde morgen den Kollegen alles berichten. Morgen früh kannst du mir das erzählen, woran du dich noch erinnerst, okay?“

Cassandra nickte.

 

Frau Jakob atmete einmal tief durch. Dann lächelte sie ihre Tochter vorsichtig an.

„Also, worauf hast du jetzt Lust? Du solltest schon irgendwann schlafen, junge Dame, aber wenn du es jetzt noch nicht kannst, dann sag mir, was du im Moment noch tun willst.“

„Ich … ich lese noch ein bisschen, denke ich“, sagte Cassandra.

„Gut. In Ordnung.“

„Kann ich … kann ich heute bei dir schlafen?“

Frau Jakob war einen Moment lang verdutzt. Das hatte ihre Tochter schon seit Jahren nicht mehr gemacht, weil es angeblich viel zu uncool sei.

„Klar“, antwortete Frau Jakob, „Na komm. Dann hol schon mal dein Buch. Ich lese auch noch ein bisschen.“

Kapitel 2

„Ich wusste, dass fünfzig Cent auch funktionieren!“, sagte Mareike und präsentierte Felix triumphierend den Einkaufswagen.

„Nun, man lernt nie aus“, antwortete Felix, „Ich dachte, die nehmen hier nur Ein-Euro-Stücke. Und du hättest auch mal in meinem Geldbeutel schauen können, ob ich nicht…“

„Kommt nicht in die Tüte! Oder genauer gesagt: in den Wagen. Dein Geldbeutel hat heute Schonfrist. Darauf hatten wir uns geeinigt.“

Sie schob das Wägelchen durch den Supermarkteingang und dann in die Obst- und Gemüseabteilung.

„Klar hatten wir uns darauf geeinigt. Aber wir würden diesen einen Euro ja nicht ausgeben, sondern wir bekommen ihn wieder zurück. Weißt du, wenn man den Einkaufswagen wieder zurückbringt, dann bekommt man auch sein Geld wieder.“

„Ach, so ist das“, überlegte Mareike laut und fixierte nachdenklich einen Punkt inmitten der Auberginen, „Und ich habe mich schon gefragt: Wohin mit diesen ganzen Wagen? Die nehmen langsam echt Platz weg.“

„Wie ich schon sagte“, merkte Felix schmunzelnd an, „Man lernt nie aus! Und das heißt: Es gilt nicht als Ausgabe, wenn ich einen Einkaufswagen mit Bargeld füttere.“

„Ich möchte dich nur noch mal ganz kurz daran erinnern“, sagte Mareike und deutete mit dem Zeigefinger auf Felix‘ Nasenspitze, „dass du es warst, der sein letztes Hemd für zwei Karten Coldplay weggeben hat. Und wenn ich sage, dass dein Geldbeutel jetzt Schonfrist hat, dann hat er das auch. Da kommt jetzt so schnell nichts mehr raus, was mich auch nur im Mindesten betrifft.“

 „Aber was hättest du gemacht, wenn die hier keine Fünfzig-Cent Stücke für die Einkaufswagen genommen hätten?“

„Dann … ähm … na ja, dann müssten wir so lange warten, bis jemand wechseln kann.“

„Okay. Klingt vernünftig. Aber dann lass mich doch wenigstens den Wagen schieben, oder? So habe ich auch eine Aufgabe hier drin.“

Mareike dachte einen kurzen Moment nach, dann schubste sie den Einkaufswagen zu ihm hinüber.

„Das können wir machen. Ich habe sogar noch etwas für dich zu tun. Wenn du es übernehmen möchtest.“

„Und zwar?“

„Warte…“

Sie kramte den Einkaufszettel aus ihrer Jeanstasche, faltete ihn auseinander und sah sich dann um.

„Also, wir brauchen Brötchen, Marmelade, Nuss-Nougat, Orangensaft, Birnensaft. Das ist erst einmal deine Aufgabe. Wir treffen uns dann wieder hier.“

„Und was machst du so lange?“, fragte Felix und schob den Wagen schon einmal los in Richtung der Säfte.

„Ich arbeite die Liste weiter durch. Ich sage nur: Gurken.“

„Codewort ‚Gurken‘ also“, erwiderte Felix, „Bin gleich wieder da.“

 

Die Säfte waren schnell entdeckt. Beim Birnensaft gab es nur eine Sorte, bei der Auswahl des Orangensafts konnte man sich dagegen schon leicht überfordert fühlen. Felix nahm einfach irgendeinen. Einen ohne Fruchtstückchen. Und dann noch Brötchen. Zu guter Letzt Marmelade und Nuss-Nougat-Creme. Bei der Marmelade gab es auch alle möglichen Geschmacksrichtungen; er blieb bei den Basics und wählte ‚Waldfrucht‘ und ‚Erdbeere‘. Damit sollte man nicht so viel falsch machen können.