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Nero Kalypso

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Beschreibung

Weiter geht es - und nicht nur mit Jonas' Fantasiehandlung. Auch Mareike und Felix machen keine halben Sachen bezüglich ihrer Überlegungen. Und bei Carmen stehen Änderungen an, mit denen sie so nicht gerechnet hat...

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Nero Kalypso

Anima | Teil 2 - Vereinzelte Schatten

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kapitel 1

„Wenn du willst, umfahren wir den Hügel“, schlug Mareike vor.

„Nein, schon okay. Diesmal lasse ich mich von dem nicht aufhalten. Ich wette, ich bin sogar eher oben als du.“

„Ach, ja?“

„Ja, klar. Ich meine, du hast vielleicht mehr Fahrraderfahrung als ich, aber wenn ich mich ins Zeug lege, übertrumpfe ich dich auch erfahrungslos.“

„Sagst du so“, kommentierte Mareike.

„Ist auch so“, hielt Felix dagegen, „Wollen wir’s testen?“

„Gern!“

Sie kamen an der Radleihstation direkt am Fuße der wiesenbegrünten Erhebung an.

„Und jetzt stell dir vor, wir hätten bis hierhin laufen müssen“, sagte Mareike und nickte in Richtung der herumstehenden Zweiräder.

„Tja“, sagte Felix, „Ein Glück, dass da in der Nähe noch eine von den Stationen war. Die gibt‘s ja scheinbar überall.“

„Eigentlich ja. Aber von der hatte ich auch nichts gewusst. Bis heute. Man lernt nie aus.“

Sie stoppten ihre Räder am unteren Ende des Kieswegs, der den Hügel hinaufführte. Es war inzwischen dunkel geworden; nicht stockfinster, aber die Sonne hatte bereits deutlich mit dem Untergehen begonnen. Auf dem Weg vor ihnen war niemand zu sehen.

 

„Also, bei drei starten wir und dann gilt, wer zuerst oben ist?“, fragte Felix.

„Im Prinzip ja. Wo genau ist ‚oben‘?“

Felix runzelte die Stirn.

„Was meinst du damit?“

„Na ja, ab wann gelte ich als ‚oben seiend‘?“

„Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Du wirst weit hinter mir strampeln, wenn ich oben ankomme. Egal, wo genau sich die fiktive Ziellinie befindet.“

Sie grinste.

„Hm … wollen wir ja mal sehen! Vielleicht verleihen dir die Nudeln von eben ja die entsprechende Energie.“

„Die waren echt gut. Ich finde, wir sollten dort öfter hingehen“, sagte Felix und schwelgte in kulinarischen Erinnerungen an den Hauptgang von vorhin.

„Auf jeden Fall! Aber nur, wenn ich das nächste Mal wirklich zahlen darf.“

„Na gut. Aber heute hättest du es ja prinzipiell auch tun können. Du warst nur nicht schnell genug.“

„Nicht schnell genug?“, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften, „Du hast dir die Rechnung kommen lassen und alles bezahlt, als ich kurz auf Toilette war!“

„Ja, vielleicht habe ich dir auch nicht wirklich eine Chance gelassen. Das kann schon sein.“

„Eigentlich hätte ich so was ahnen müssen, also, dass du versuchst, die Rechnung zu übernehmen, aber dass du so weit gehen würdest – das kam dann doch unerwartet.“

„Du lenkst ab“, erwiderte er, „Es gilt doch, wer zuerst oben ist. Willst du anzählen?“

„Hm. Na gut. Mach ich.“

Felix stellte seinen rechten Fuß schon einmal auf das Pedal, mit dem linken stützte er sich noch auf dem Kies ab. Er senkte den Kopf, richtete den Blick nach vorne.

„Ich sehe, du bist bereit“, hörte er Mareikes Stimme zu seiner Rechten, „Also dann: Eins, zwei, drei!“

 

Felix trat in die Pedale, als gäbe es kein Morgen. Noch ging es ein Stück in der Ebene geradeaus, ohne Steigung. Hier musste er so viel Geschwindigkeit wie nur irgend möglich gewinnen, denn sobald es steiler wurde, konnte er weiteres Beschleunigen vergessen. Dann musste er hoffen, dass er schon flott genug unterwegs war, um nicht auf den zweiten Platz zu fallen. Er schaltete in den kleinsten Gang, sobald der Berg seine Steigung spürbar werden ließ.

 

 

* * * *

 

Mareike gab alles, selbst wenn es ihr nicht so wichtig war, zu gewinnen. Aber das Duell sollte schon richtig geführt werden. Wenn sie es gewann, okay. Wenn sie nicht gewann, dann hatte er den Sieg jedenfalls verdient. Es klickte, als sie schaltete. Noch konnte sie etwa mit gleicher Intensität in die Pedale treten, aber es dürfte nicht mehr lange dauern, bis die Steigung merklicher anzog und ihr Schwung abbaute. Ihre Beine fühlten sich schwerer an, das Treten wurde immer anstrengender. Sie musste dennoch immer weitermachen, sonst konnte sie auch gleich aufgeben.

Ab etwa zwei Dritteln des Hügels stellte sie sich ab und zu auf die Pedale und drückte diese mit aller Kraft nach unten, um das Rad in Bewegung zu halten. Immerhin handelte es sich um ein ‚Fahrrad‘, also durfte es nicht zum Stehen kommen. Wurde es nun wieder leichter? Tatsächlich. Der Kurve flachte ab.

So, nun nahm sie einmal probehalber ihre Umgebung wahr, nach dem immensen Kraftakt. Felix fuhr nicht vor ihr. Sie hörte sein Rad, aber nicht in ihrer unmittelbaren Nähe. Jetzt musste sie also nur noch bis oben durchhalten. Lediglich ein paar Meter trennten sie vor der Stelle, ab der sie sich als ‚oben angekommen‘ einstufte.

 

Und schließlich passierte sie diese Stelle. Die unsichtbare Ziellinie. Sozusagen.

„Puh.“

Sie ließ das Rad ausrollen, ein paar Meter noch, dann stützte sie sich mit dem Fuß auf den Boden. Sie blickte zurück. Kurz darauf kam Felix bei ihr an und sein Gesicht war rot vor Anstrengung. Sicher ähnlich rot wie das ihre. Ihm stand Schweiß auf der Stirn. Mareike stellte das Rad neben dem Weg, auf dem Gras, ab, und wartete, bis Felix ebenfalls wieder auf beiden Beinen stand. Fast wirkte er, als müsse er sich auf dem Drahtesel abstützen.

 

„Nicht … schlecht“, keuchte er und stieg vom Rad, „Aber es … war knapp.“

„Allerdings. Nicht schlecht!“

Auch er stellte das Rad neben dem Weg ab. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

„Tja, jetzt gehen wir am besten direkt was essen, oder?“

„Schon wieder? Körperlich ausgezehrt durch das kleine Hügelchen?“

„‚Hügelchen‘“, wiederholte Felix mit rauer Stimme und kopfschüttelnd, was sie zum Lachen brachte.

Nach einigen Momenten ging sein Atem wieder normal. Und auch sie atmete wieder ruhig.

 

„Weiter?“, fragte sie schließlich.

„Okay.“

Sie setzten ihren Weg fort, bis sie die große Straße erreichten.

„Also, ab hier muss ich links“, sagte Mareike, „Ich denke, das ist der kürzeste Weg zu mir.“

„Denke ich auch. Rechts dürfte ein Umweg werden. Da muss ich aber lang. Und wo hattest du gesagt, ist die nächste Station? Für das Rad?“

„Wenn ich mich richtig erinnere, muss du die Straße jetzt runter“, sie deutete in die entsprechende Richtung, „Und dann eine Weile geradeaus. Über zwei Ampeln. Nach den zwei Ampeln die dritte Straße nach links rein. Da ist eine Station. Und da ist auch die Straßenbahnhaltestelle in der Nähe.“

„Klingt gut. Das sollte gut zu machen sein. Bergab kann ich.“

 

Mareike stieg von ihrem Rad, stellte es ab und trat zu ihm.

Felix schaute sie neugierig an.

„Was gibt’s?“

„Ähm … “, begann Mareike. Dann schwieg sie. Und wie jetzt weiter? Was sagte man in so einer Situation? Sie wusste es nicht. Klar gab es da keine stets richtige Antwort. Aber hatte sie denn nicht in genügend Filmen gesehen, wie man es gut anging? Offenbar nicht. Felix stieg ebenfalls von seinem Rad und stellte es neben sich ab. Er schien zu merken, dass ihr etwas auf dem Herzen lag.

„Ja, also … ähm.“

Komm schon, dachte sie, stell dich nicht an wie eine Schülerin, das vor der Klasse ein Gedicht aufsagen muss. Sie konnte doch nichts falsch machen.

Oder?

Vielleicht stotterte sie. Oder verdrehte Worte. Aber wäre das falsch? Würde es wirklich den Moment kaputtmachen?

Sie räusperte sich. Vielleicht beim dritten Anlauf.

„Tja, also … danke für den schönen Abend.“

Er lächelte.

„Soweit ich dazu beigetragen habe, gern geschehen. Ich habe zu danken.“

 

Ach, komm schon, Mareike, dachte sie, jetzt sag’s doch einfach! Es musste doch nicht perfekt sein. Ja, genau, es musste nicht perfekt sein. Sie waren doch gut dabei, auf einem guten Weg, es war doch alles top. Es gab kein ‚perfekt‘ und das musste es auch nicht geben. Ganz im Gegenteil, ‚perfekt‘ wäre nicht richtig. Es wäre – zu viel des Guten.

Ja.

Mareike trat einen Schritt auf ihn zu und legte ihre Hände auf seine Schultern. Sie blickte ihm in die Augen.

„Ich … ich würde dich gerne küssen“, sagte sie dann.

„Okay“, antwortete er ruhig und nickte, „Ich denke, das ließe sich einrichten.“

„Aber weiß du, ich, ähm … ach, ich bin nervig, ich weiß.“

Sie ließ ihre Hände von seinen Schultern sinken.

„Wieso solltest du nervig sein?“, fragte Felix. In seinen Augen stand jetzt nicht mehr die Ruhe von eben, sondern er blickte ein wenig besorgt. Vielleicht fragte er sich, ob er etwas falsch gemacht hatte?

„Alles okay, es ist nichts. Ich…“, begann sie, „Ach, ich hatte nur gerade gedacht, wenn das ja wirklich unser erster Kuss ist, dass der irgendwie perfekt sein muss oder so. Und ich hatte Angst, dass er das nicht wird, weil ich … weil … weiß auch nicht warum.“

 

Felix blickte sie nachdenklich an.

„Wir müssen nichts überstürzen“, sagte er, „Wenn du denkst, es ist nicht der richtige Moment…“

„Doch, ist es ja! Wann könnte denn ein Moment richtiger sein? Wir waren gut essen, ich bin satt, du … hoffentlich auch?“

Er nickte.

„Und jetzt trennen sich unsere Wege, weil ich hier lang muss und du da lang.“

Sie nickte beim Sprechen in die beiden Richtungen.

„Eine bessere Gelegenheit gibt es gar nicht“, fügte sie hinzu, „Also … ja, ich weiß, ich bin doof.“

„Ohne das bestätigen zu können mit dem Doof-Sein“, entgegnete Felix, „Selbst, wenn es so wäre: Das ändert nichts daran, dass ich dich liebhabe.“

Sie spürte regelrecht seine Aufregung bei diesen Worten.

„Und wenn du denkst, dass es jetzt vielleicht nicht so gut … funktioniert … dann ist das für mich wirklich okay.“

 

„Doch, schon. Ich … pass auf!“

Sie legte ihre Hände abermals auf seine Schultern.

„Frag du mich mal. Also quasi, was ich eben gefragt habe. Vielleicht klappt das besser.“

„Du bist seltsam“, sagte Felix, „Okay. Ich kann’s ja mal versuchen.“

Sie nickte.

„Nur zu deiner Warnung: In den Nudeln, also, in der Soße der Nudeln, war Knoblauch, soweit ich das erschmecken konnte. Du sagst, du bist aufgeregt, aber – dann frag mich mal!“

Mareike grinste.

„Ich glaube, das halte ich aus.“

„Also, gut“, sagte Felix. Ihr Herz pochte und machte beim Blutpumpen zurzeit keine halben Sachen.

„Mareike?“, fragt er.

„Ja?“

„Fühlst du dich gut?“, erkundigte er sich und blickte ihr direkt in die Augen.

„Ja. Sehr“, antwortete sie.

„Du hast Interesse daran, dass wir bei Gelegenheit im Wald nördlich der Stadt Joggen gehen?“

„Ja“, antwortete sie.

Er lächelte, als er sagte:

„Du versuchst, mich wenigstens bei dem Sport, den ich normalerweise betreibe, nicht wie einen Schlaffi aussehen zu lassen?“

Sie grinste.

„Ich versuch’s. Ja.“

„Dann hätte ich bloß noch eine Frage.“

 

Doch bevor er die aussprechen konnte, berührten sich ihre Lippen bereits.

Und alles um sie herum hielt einen Moment lang an. Ein Moment, der gar nicht zu Ende gehen sollte.

Es handelte sich nur um eine kleine Geste. Eigentlich. Nicht viel dabei, von außen. Aber innen – innen war es wundervoll. Sie legte ihre rechte Hand um seinen Hinterkopf, die linke an seinen Nacken. Mareike spürte seine Rechte an ihrer Schulter. Es kribbelte. Nicht nur dort, sondern auch in ihrem gesamten restlichen Körper.

Ihretwegen mochte es auf der Welt ein wirkliches ‚perfekt‘ nicht geben. Doch zumindest den Begriff konnte man in diesem Fall definitiv nutzen.

Kapitel 2

 

Jonas war immer noch verwundert über … eigentlich keine große Sache. Konnte man sagen. Aber dennoch.

Er saß in seinem Zimmer, am Schreibtisch, vor ihm die Zettel mit seiner angefangenen Geschichte. Die über Hesternum. Und ein weiteres Mal dachte er über seine gesammelten Eindrücke nach. Als er dem alten, für ihn noch immer namenlosen Mann, gefolgt war. Im Schutz des Regals, zuhörend, abwartend. Dass der Mann Selbstgespräche führte, stellte keine Neuigkeit dar, das hatte Jonas schon im Park mitbekommen. Das Zuhören im Supermarkt war nützlich gewesen, lieferte es doch für die bereits mitbekommenen Gesprächsbruchstücke eine Fortsetzung. Man konnte es genaugenommen nicht so richtig als ein Selbstgespräch bezeichnen: Die gesprochenen Worte waren nie an ihn selbst gerichtet. Sondern an eine Frau namens Sara. Und von dem, was der alte Mann gesagt, von der Art her, wie er mit ihr gesprochen hatte, musste man unweigerlich den Eindruck bekommen, dass sie ihm viel bedeutete. Die große Bedeutung durchzog noch immer die Gegenwart, die Frau allerdings schien der Vergangenheit anzugehören. Jonas war zu der Überzeugung gekommen, dass sie inzwischen nicht mehr lebte.

Was ihn aufwühlte: Nur aufbauend auf den initialen, aufgeschnappten Gesprächsfetzen im Park, berichtete er nicht auch in seiner Geschichte davon, dass Hesternum seine Frau verloren hatte? Und dass er noch immer an ihr hing? Natürlich nicht in solch expliziter Formulierung, der Leser sollte es sich ja nach und nach erschließen können. Doch seine Fiktion stimmte bestens mit der Realität überein, wie er jetzt bestätigt bekommen hatte! Es stellte schon einen interessanten Zufall dar, dass sowohl der alte Mann als auch seine literarische Entsprechung ihrer Liebe nachtrauerten.

 

Bemerkenswert. Aber mehr nicht. Er verfügte nicht über Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, in die Leute hineinzuschauen und seine Geschichten auf ihre Gedanken anzupassen. Aber er fragte sich, welche Parallelen es vielleicht noch gab. Was noch alles sowohl auf den alten Mann zutraf als auch auf seine Entsprechung. Eigentlich ging es ihm darum, sich einen Menschen anzuschauen und ihm eine neue Rolle in seiner Fantasie zu geben, um die Eigenheiten der Person, soweit er diese denn mitbekommen konnte, in eine Geschichte zu gießen.

Aber jetzt fand er Gefallen an einer anderen Idee: Nämlich vorauszusagen, was eine Person tat, um dann zu schauen, ob das auch ungefähr in der Wirklichkeit passierte.

 

Er würde also Dinge schreiben, die Geschichte weiterführen und dann schauen, was davon auch tatsächlich zutraf? Klang doch interessant. Natürlich musste der alte Mann nicht wirklich vor dem herannahenden Krieg flüchten, aber so eine Interpretation wäre auch nicht wirklich passend, oder? Nein, man musste Dinge übertragen sehen. Es ging beim Schreiben viel um gedankliche Übertragungen, und darum, dass man dem Leser dabei half, sich Dinge selbst zu erschließen. Literarische Interpretation. Sprich, er interpretierte kräftig und prüfte dann nach, inwiefern er Recht behielt?

Im Prinzip: ja. Aber das gestaltete sich vermutlich nicht so einfach, wie es klang. Es gab da ein paar Probleme.

Zum einen hatte er keine Ahnung, wo der alte Mann wohnte. Er kannte ja noch nicht einmal seinen Namen! Und selbst wenn er seine Adresse wusste, dann half ihm das auch nur begrenzt weiter, konnte er doch schlecht in seine Wohnung einbrechen. Quatsch. Es ging lediglich darum, Neuigkeiten mitzubekommen, dazu musste er ihn bloß in einer gewissen Regelmäßigkeit sehen. Er wusste doch zum Beispiel, dass der Mann manchmal Parkspaziergänge absolvierte. Na also. Ein guter erster Anhaltspunkt.

 

Da schlug aber Problem Nummer zwei zu. Der Mann kannte inzwischen Jonas‘ Erscheinung. Zwar mochte dieser Herr einige Jahre auf dem Buckel haben, vielleicht erinnerte er sich nicht mehr so gut an Jonas. Denkbar. Aber es bestand das Risiko, wiedererkannt zu werden. Vor allem, wenn Jonas plante, regelmäßige Stippvisiten durchzuführen.

 

Und Problem Nummer drei wies noch einen etwas allumfassenderen Charakter auf: Es erschwerte sein Vorhaben nicht, sondern gönnte sich ein komplettes Hinterfragen desselben. Die Idee mit diesen Voraussagen und dem Nachprüfen gefiel ihm zwar, aber – war der alte Mann wirklich der Richtige dafür?

Antwortlose Gespräche hin oder her: Was konnte man bei diesem Mann schon groß voraussagen? Denn im Gegensatz zu Hesternum hatte dieser kein Abenteuer mehr vor sich. Lohnte sich da der Aufwand?

Dennoch. Er würde die Geschichte weiterschreiben und nachsehen, ob er diese Person noch einmal traf. Er war Feuer und Flamme für die Idee, Voraussagen zu machen. Das dürfte interessant werden, ganz sicher.

Am liebsten hätte er direkt weitergeschrieben. Aber er musste noch Hausaufgaben für morgen machen. Bevor die Zeit knapp wurde, fing er jetzt am besten damit an. Die Freude darüber hielt sich in Grenzen. Aber es musste halt sein.

 

Jonas nahm den Stapel Blätter auf seinem Tisch und klopfte an den Rändern dagegen, damit alle schön aneinander lagen. Die meisten davon waren noch unbeschrieben, aber einige erfreuten sich bereits an seinen Wörtern. Die der neusten Geschichte.

Er besaß auch einen Laptop; ein Geschenk aus der Zeit, ab der sie im Unterricht am PC arbeiten sollten. Er könnte auch darauf schreiben, das wollte er aber nicht. Beschleunigen dürfte es das Ganze. Doch ein Bündel eigens handschriftlich gefüllter Blätter, das war doch viel mehr wert als bloß hingeworfene digitale Seiten, in einer unpersönlichen, einheitlichen Schriftart. Etwas auf dem Computer zu schreiben dürfte ihm das Leben vereinfachen, sollte er seine Geschichten veröffentlichen wollen. Hm. Das stand allerdings nicht auf seiner Agenda. So überhaupt nicht. Er nahm sich Personen zur Hand und machte aus ihnen das, was er wollte. Und ebenso wenig wie er sich wünschte, dass andere ihm ins Handwerk pfuschten, verspürte er den Wunsch, andere an seinen Texten teilhaben zu lassen. Es ging ihm um das Erlebnis des Verfassens. Nicht etwa darum, Anerkennung zu bekommen.

 

Nachher also einen kleinen Ausflug in den Park? Das erschien nur konsequent. Vielleicht traf er seine Zielperson wieder.

 

 

* * * *

 

So – Schluss für heute mit Lernen!

Mareike legte ihren Block auf die kleine Kommode, ihr Mäppchen verstaute sie im Ranzen. Als sie zurück zum Schreibtisch ging, fiel ihr auf, dass sie einen Stift vergessen hatte. Das ging ja wohl gar nicht! Der musste doch zu seinen Freunden! Also holte sie das Mäppchen noch einmal und verstaute auch den besagten Stift darin.

Soweit, so gut.

Es gab noch etwas abseits der Hochschule zu tun: Ihre Idee war es doch gewesen, aus dem wenig ansehnlichen Online-Dokument etwas Besseres zu machen. Sie musste Felix mal fragen, ob er wusste, wie man so eine eigene Webseite ins Internet stellte, auf die nur sie beide Zugriff hatten. Bei diesen Dokumenten ging das über die Adresse, die man in das Suchfeld oben eingab. Nur wer über die verfügte, konnte es sich ansehen, und wenn man die nicht wusste, bestand keine Chance, sie richtig zu raten. Funktionierte das so ähnlich auch bei eigenen Webseiten?

Darum konnte sie sich immer noch kümmern. Es stand jetzt nicht im Fokus. Erst einmal brauchte sie nämlich Grafiken.

 

Von der hinteren, linken Tischecke schnappte sie sich ein Tablet. Es war nicht ihr eigenes, sie hatte es von der Hochschule aus gestellt bekommen. Für eines ihrer Fächer.

Zeichnen auf Papier mit Bleistift bekam sie einigermaßen hin – behauptete sie einfach mal. Aber es ergab sich noch einmal eine ganz andere Herausforderung, wenn man auf so einem Tablet zu zeichnen begann. Man konnte eine ganze Menge damit anstellen, nur musste man wissen, wie. Kolorieren ging viel einfacher und schneller. Man konnte noch ein paar Effekte einfügen. Doch alle Farben und Spezialeffekte würden ihr nichts helfen, wenn die Grundskizze schon nichts wurde. Deshalb musste sie sich bei dieser besondere Mühe geben. Mareike überlegte, ob sie das zu Malende vielleicht erst einmal ganz klassisch auf Papier zeichnen sollte. Einfach um eine Vorlage zu haben, wenn es ernst wurde. Aber sie entschied sich dagegen: Sonst würde sie sich nur hinterher ärgern, wenn es auf Papier schöner ausschaute.

Ja, sie war manchmal seltsam.

 

Also gut. Sie nahm den Zeichenstift in die Hand und öffnete ein neues Blatt. Weiße Leere füllte das rechteckige Gerät beinahe vollständig aus, wenn man von den Menüleisten links und rechts absah. Dann mal los. Sie begann oben links, ihr Plan war es, sich langsam nach oben rechts vorzuarbeiten. Notfalls konnte man die Dinge ja später noch anders arrangieren.

Oft hörte sie beim Zeichnen Musik, diesmal aber nicht, weil sie sich wirklich konzentrieren wollte. Es sollte eine gute Zeichnung werden. Natürlich konnte sie, dem Tablet sei Dank, auch beliebige Linien und Teile des Bildes wieder wegradieren, ohne eine Spur auf dem nicht vorhandenen Papier zu hinterlassen, aber dennoch: Besser, man musste nicht radieren. Gerade sie mit ihrem Talent dafür, mit dem virtuellen Radiergummi Unheil anzurichten, indem sie alle Linien, nur nicht die gewünschten, entfernte – gerade sie sollte es darauf anlegen, ohne dieses nachträgliche Entfernen auszukommen.

 

Der Kuss hatte immer noch Nachwirkungen. Wie ein Nachbeben, allerdings ein wohliges, schüttelte es sie innerlich, wenn sie sich daran erinnerte. Und sie dachte oft daran. Dabei hoffte sie stets, dass dieses positive, kribbelnde Gefühl nicht nachließ, wenn sie sich zu oft daran erinnerte. Doch bisher war das nicht der Fall gewesen. Sehr gut!

 

Den Rest des Tages würde sie ruhig und gemächlich angehen und darauf freute sie sich. Felix musste heute leider Unikram erledigen. Wie sie auch, nur vermutlich in seinem Fall den ganzen Tag lang; sie hatte ihre Arbeit bereits hinter sich.

Jedenfalls gab es entsprechend heute kein Treffen mit ihm. Aber das war okay. Er hatte eben nicht immer Zeit. Stand doch auch so in ihren Regeln, dass sie diesbezüglich aufeinander Rücksicht nehmen wollten, oder nicht?

Ja, tat es. Aber ‚Regeln‘ war kein gutes Wort für ihre aufgeschriebenen Ideen. Das sollte sie sich wieder abgewöhnen.

 

Sie legte den Stift neben das Tablet. Dann klappte sie ihren Laptop auf und startete den Browser. Dort klickte sie auf das Lesezeichen des Dokuments. Momentan standen dort nur die vier Punkte, die sie aufgeschrieben hatte, und zwei, drei erläuternde Begleittexte. Das Dokument sah echt richtig unspektakulär aus, dachte sie. Na ja, aber das sollte sich hoffentlich bald ändern.

Sie machte sich wieder an die Zeichnung. Sie mochte es, zu zeichnen. Tatsächlich mochte sie viele Arten, sich künstlerisch auszudrücken und sich Kunst anzuschauen. Früher hatte sie gerne gelesen, heute machte sie das nicht mehr so oft. Mangas las sie ganz gern, das waren zwar auch irgendwie Bücher, aber von wirklichem ‚Lesen‘ konnte man nicht sprechen – eher von ‚Betrachten‘. Mangas kamen zwar in Bücherform daher, aber einen Manga durchzugehen wies für ihren Geschmack mehr Parallelen mit dem Schauen eines Filmes als mit dem Lesen eines Buches auf.

Und Musik hörte sie gerne. Und Filme schaute sie ebenfalls … halt, Moment, apropos ‚Filme‘, kam heute nicht wieder ‚Yuyuko und das Abendrot?‘

Es war doch Sonntag – ja, das hieß, heute kam die erste Folge der nächsten Staffel!

Hatte sie sich das nicht sogar aufgeschrieben?

Abermals setzte sie den Stift ab, legte ihn neben das Tablet und streckte ihre Hand zur Kommode aus, sodass sie den Kalender greifen konnte, ohne den Schreibtischstuhl verschieben zu müssen. Sie legte den Kalender vor das Tablet und blätterte darin bis zum heutigen Tag.

Ja. Da stand es. ‚Yuyuko, 17:30 Uhr‘, direkt unterhalb des Wortes ‚Sonntag‘. Na also. Am besten stellte sie sich jetzt schon den Wecker für nachher.

Dafür musste sie ihren Stuhl allerdings doch ein bisschen verschieben. Ihr Wecker lag auf der kleinen Abstellfläche am Kopfende ihres Bettes. Er war umgefallen – vermutlich eine Folge des morgendlichen, halbschlafbenebelten Ausschaltvorgangs. Morgens, so für die ersten vier, fünf Minuten des Tages, konnte man nicht viel mit ihr anfangen. Vielleicht würde ihr Kaffee guttun, aber erstens mochte sie dessen Geschmack nicht so sehr, zweitens hatte sie keine Kaffeemaschine da und drittens nahm sie die Versprechungen der Maschine unten im Gemeinschaftsraum nicht wahr, denn um das zu tun, sollte sie sich morgens im Idealfall zumindest schon die Haare gekämmt und sich angezogen haben, und dann müsste sie ja noch nach unten schlurfen und ewig warten, bis die alte Maschine das ausspuckte, dass sie auf dem Schild als Kaffee bezeichnete – und spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre sie ohnehin schon wach.

 

Kaffee dürfte also nicht fruchten – sozusagen. Es sollte ja angeblich, erzählte man sich, Menschen geben, die gar kein Problem darin sahen, vor sieben Uhr aufzustehen. Zu ihrer Schulzeit musste sie immer mit dem Bus fahren und der Unterricht begann in der Regel früh; damals hatte sie auch vor sieben Uhr aufstehen müssen, nämlich um zwanzig nach sechs – spätestens! Es war ihr inzwischen schleierhaft, wie sie das damals fertiggebracht hatte. Oft war sie von ihrer Mutter geweckt worden; doch es blieb ein Rätsel, wie diese sie wach oder gar jenseits des Bettes bekommen hatte. Sollte heutzutage jemand versuchen, sie – ohne triftigen Grund, wobei ein solcher mindestens ein oder zwei weitreichende Naturkatastrophen erforderte – vor sieben Uhr aus dem Bett zu kriegen, dann dürfte dieser jemand zwangsläufig scheitern. Aber vielleicht war sie inzwischen einfach zu sehr von den vergleichsweise späten Vorlesungsstarts verwöhnt.

 

Also, jedenfalls, Yuyuko um halb sechs. Bis dahin sollte sie auch mit der Zeichnung fertig werden. Sie nahm den Stift wieder in die Hand und setzte ihr Werk fort. Nach Abschluss der Rohzeichnung – bis dahin dauerte es noch ein Weilchen – käme als nächstes das Kolorieren. Dann Schatten und weitere Effekte. Da musste man immer ein bisschen aufpassen, dass es natürlich wirkte. Man konnte mit Schatten auch Einiges falsch machen. Vor allem zu viele durften es nicht werden, sonst wirkte das Bild unruhig.

Oder eher, die Bilder. Es waren mehrere kleine Dinge, die sie zeichnete. Gut so, denn der Text musste ja auch noch irgendwohin, und so konnte er in der Mitte Platz finden, eingerahmt von den kleinen Bildchen. Und nach diesen ganzen Effekten musste sie ein bisschen mit HTML herumspielen. Wie man grundlegend eine Webseite erstellte, wusste sie, aber wie sie es hinbekam, dass die Bilder sich hübsch ordentlich reihten und nicht wild durcheinanderflogen, da musste sie noch einmal schauen. Doch das würde sie hinbekommen. Mit einem unbegrenzten Zeitpolster konnte man sich ein bisschen Rumprobieren erlauben.

Und was würde sie dann tun, nach Yuyuko? Vielleicht bei dem Let’s Play weiterschauen? Sie fragte sich, wie weit Felix mit ihren Liedvorschlägen war.

Sie dürfte jedenfalls mit seinen Spielvorschlägen nicht so schnell durchkommen, aber das lag eben in der Natur der Sache. Kurze Let’s Plays brachten es, wenn man alle Folgen zusammennahm, auf vielleicht zwei Stunden. Aufgeteilt in vier, fünf Folgen. Schon die schaute man nicht einfach im Vorübergehen. Doch Mareike verstand inzwischen, was Felix meinte, wenn er Let’s Plays mit Serien verglich. Es war schon interessant, wie es weiterging; und zwar nicht nur, wie das Spiel selbst voranschritt, sondern auch, was der Let’s Player daraus machte.

Bisher hatte sie nur zwei dieser ‚Serien‘ angeschaut, oder vielmehr: Eineinhalb. Einmal die mit Barbie, für welche sie Felix bereits einen Statusbericht geschickt hatte. Und eine etwas andere, bei der man auf einer einsamen Insel strandete und überleben musste. Eigentlich eine ernste Geschichte. Zu dem Zeitpunkt, als Gronkh das Ganze anging, befand sich das Spiel anscheinend noch in einer sehr frühen Version, in der Einiges nur so halb funktionierte. Entsprechend hielt sich die Ernsthaftigkeit bisweilen zurück.

Aber nicht immer. Manchmal stieg Gronkh in die Atmosphäre der Geschichte richtig ein, setzte sich ans Lagerfeuer und kochte gefundene Krabben darüber. Dann erzählte er Geschichten, wie man sie sich eben am Lagerfeuer erzählte, und sprach die Zuschauer direkt an. Der Charakter im Spiel war alleine auf der Insel, aber Gronkh sprach dennoch immer den Zuschauer an. In diesem Fall also sie. Mareike würde so ein Spiel vermutlich nicht spielen; ihr Charakter wäre vermutlich schon vor dem ersten Sonnenaufgang verhungert und komplett dehydriert. Weil sie vergaß, die Statuswerte im Auge zu behalten.

Dieses Let’s Play schaute sie gerade, es standen noch ein paar Folgen an.

 

Ja, sie würde nach Yuyuko noch das Einsame-Insel-Let’s-Play weitergucken. Vielleicht ein oder zwei Folgen. Okay. Aber jetzt hieß es erst mal, dieses Werk hier fertigbekommen. Vielleicht sollte sie danach doch selbst einmal schauen, ob sie nicht herausfand, wie man eine solche Webseite einrichtete, auf die nur sie beide Zugriff hatten. Bestimmt gab es da auch eine angemessene Option für Laien. Und wenn sie es hinbekam, dann konnte sie ihm unmittelbar ihr Machtwerk zeigen, sobald sie es beendete. Wenn es fertig war.

Wobei, was hieß schon ‚fertig‘? Sie würde es vielleicht noch einmal überarbeiten. Später. Sie musste auch mal schauen, wie man das mit dem Text anging. Das Ganze musste immerhin jetzt gut aussehen – aber auch, wenn noch ein paar weitere Punkte hinzukamen. Denn: Tatsächlich waren ihr zwei Dinge in den Sinn gekommen, die man noch hinzufügen könnte. Aber natürlich trug sie die nicht einfach so ein. Die Liste sollte nur Punkte beinhalten, auf die sie beide sich geeinigt hatten.

Beide Punkte waren überwiegend an sie selbst adressiert. Ernsthaft, sie könnte beide auf je eine Postkarte schreiben und diese an sich selbst schicken. Einfach als tägliche Portion Lebensweisheit aus dem Briefkasten. Und natürlich, um sich ihren eigenen Nachholbedarf ein bisschen vor Augen zu führen. Denn hin und wieder wurde der überdeutlich.

Nicht wahr, Mareike?

Sie lächelte, blickte aus dem Fenster und nickte gedankenverloren.

Kapitel 3

 

Felix saß an seinem Schreibtisch und schrieb an einer Hausübung, als plötzlich sein Handy vibrierte. Es steckte wohl noch im Rucksack; jedenfalls klang es entsprechend dumpf. Er stand auf und durchforstete diesen. Tatsächlich, da verbarg es sich. Er hatte es noch nicht herausgenommen und vom Zustand der Klingeltonlosigkeit befreit. Was gab es an Neuigkeiten? Eine E-Mail. Eigentlich hatte er für SMS, E-Mails und Chat-Benachrichtigungen eigene Geräusche festgelegt, aber im Vibrationsmodus machte das letztendlich keinen Unterschied. Trotz der Idee, zuhause den Ton wieder einzuschalten, erfolgte selten eine Umsetzung und das Gerät verblieb stumm. Die Sekunde Zeit, die er brauchte, um selbst nachzuschauen, welche Art von Neuigkeit anstand, dürfte auch nicht mehr ins Gewicht fallen. Und man konnte so ein Handyvibrieren auch viel einfacher ignorieren als einen dieser grässlichen Piepstöne, die standardmäßig beim Benachrichtigungseintrudeln loslegten.