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Beschreibung

Ein ganz schönes Auf und Ab erwartet unsere Hauptpersonen in Teil 4. Doch wen erwischt es mehr, wen weniger? Welche turbulenten Ereignisse stehen an? Finden wir es heraus!

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Nero Kalypso

Anima | Teil 4 - Die Regenblume

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kapitel 1

Langsam, wie in Zeitlupe, öffnete sie ihr rechtes Auge. Es war schon hell – vermutlich bereits seit Längerem. Ihr Augenlid bebte, so, als wolle es gleich wieder zufallen. Carmen hatte nicht den Eindruck, Erholung gefunden zu haben. Doch vielleicht spielte das gerade nicht die größte Rolle.

Sie schloss das mühsam geöffnete Auge wieder und legte zusätzlich noch ihre Hand auf ihr Gesicht, um die Sonne abzuschirmen. Ihr Rücken tat weh, als sie sich ein Stück bewegte. Sie konnte jeden Knochen spüren. Alles nur halb so wild, vermutlich. Aber trotzdem nicht gerade toll.

Wie spät war es? Die Sonne stand am Himmel, wohl mindestens mal sieben Uhr oder so – keine Ahnung. Dass sie überhaupt geschlafen hatte, war verwunderlich. Doch angesichts ihres schmerzenden Rückens und ihres Halses, dem der Untergrund auch nicht sonderlich zuzusagen schien, konnte sie nicht wirklich dankbar sein.

Carmen hatte nicht daheimbleiben wollen und nun war sie eben hier gelandet. Schämen musste man sich dafür nicht. Sie könnte theoretisch einfach eine von diesen hippen Studentinnen sein, die einen zu viel über den Durst getrunken und es nicht mehr nach Hause geschafft hatten. Oder eine Naturfanatikerin, die einfach den Morgen im Grünen genoss.

 

Ja – oder die Leute dachten, sie wäre eine Obdachlose. Na und? Dann sollten sie es doch denken. Seit wann interessierte sie sich denn bitte für die Eindrücke anderer?

Außerdem war hier um diese Zeit ohnehin niemand, der sie sehen konnte.

Oder?

Sie gähnte und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. Als sie ihren Arm sinken ließ, spürte sie das kitzelnde Gras an der Handinnenfläche und an ihrem Unterarm. Der Boden war trocken und selbst nachts nicht kalt.

Carmen spielte mit dem Gedanken, sich einmal umzusehen, einfach nur für einen groben Eindruck, wie viel inzwischen in der Nähe los war. In ihrer unmittelbaren Umgebung wohl nicht viel, soweit sie das erkennen konnte. Doch ihre Sicht wurde durch die Grashalme, ihre eigenen Haare und durch den Schleier der Müdigkeit deutlich eingeschränkt. Für eine Prüfung der Lage musste sie sich zumindest hinsetzen. Aber sie wollte nicht. Was sie eigentlich wollte, war hier liegenbleiben und gar nicht mehr aufstehen.

 

Heute war doch Wochenende, da konnte sie sowieso machen, was sie wollte. Und sie wollte gar nichts. Was auch?

Anders gefragt: Was wäre denn gut, anzugehen? Ganz praktisch gesehen wäre jetzt Folgendes hilfreich: Erstens, sich um ein neues Schloss kümmern. Es musste einen Schlüsseldienst geben, irgendwo in dieser Stadt, so klein war die ja nicht. Und die würden sicher am Samstag offenhaben. Das musste einfach so sein, man brauchte auch am Wochenende Schlüsseldienste.

Dann, wenn das erledigt war, würde sie – tja, was würde sie dann? Was wollte sie wirklich tun?

Keine Ahnung. Sie hatte auf gar nichts Lust. Neues Schloss, das war’s.

 

Dann konnte sie einfach weitermachen wie bisher.

Wirklich? War denn noch irgendetwas wie bisher?

Hier rumliegen wollte sie jedenfalls nicht mehr. Natürlich verlockend, nach dem Wachwerden erst noch eine Weile liegenzubleiben, aber hier war das völlig nutzlos. Der Boden spendete eh keine Erholung. So weich das Gras auch war, so hart war der Boden und so etwas wie ein Gefühl des Ausgeruht-Seins kam hier nicht auf.

Sie sollte vielleicht eine Uhr suchen, irgendwo würde schon eine hängen. Wenn sie kein Handy brauchte, wie sie immer betonte, dann musste sie sich eben auf andere Weise behelfen. Die nächste Uhr gab es vermutlich an der Bushaltestelle, beim Kartenautomaten.

 

Carmen stützte sich mit der linken Hand vom Boden ab, setzte sich vorsichtig in den Schneidersitz und rieb sich die Augen. Ihre Haare hingen ihr ins Gesicht und sie strich diese beiseite, dann klopfte sie etwas Schmutz von ihrem T-Shirt ab. Ihr Hoodie lag neben ihr. Sie hatte ihn als eine Art Decke benutzt, aber nötig war er eigentlich nicht gewesen, mangels klirrender Kälte.

 

Hierher zu kommen, das war eher eine spontane Idee gewesen. Keine Ahnung, wohin mit ihrer Wenigkeit gestern Nacht – und schließlich fiel die Entscheidung, ebendiese Nacht draußen zu verbringen. So ganz ohne Unterkunft, zu der sie, erstens, Zugang hatte und in der sie sich, zweitens, wohlfühlte. Vielleicht konnte das jetzt wieder funktionieren, mit dem Wohlfühlen. Wenn sie erst ein neues Schloss anbringen ließ – andererseits, die Tür zu ihrer Schlafkammer, die hatte jemand trotz funktionierenden Schlosses aufbekommen. Im Ernst jetzt, was hatte Felix‘ Vater denn so Schlimmes gegen sie? Woher konnte der überhaupt wissen…?

Nein, eigentlich konnte er‘s nicht wissen. Unmöglich. Und selbst wenn: Er hätte noch in der Nacht, bevor sie wieder zuhause ankam, alles so hinterlassen müssen. Das konnte nicht sein. Hm, sie war schon am Donnerstag bei Felix vorbeigegangen. Ob er da…?

Ja, vielleicht. Trotzdem, warum das Ganze? Warum alles so hell erleuchtet hinterlassen, sodass es ihr direkt auffallen musste? Was hatte sie ihm denn getan, oder Felix? Oder überhaupt irgendwem? Gut, bei dem Punkt ‚überhaupt irgendwem‘ fiel ihr schon wer ein – aber damit hatte Felix‘ Vater ja nun wirklich gar nichts zu tun.

 

Jedenfalls fürchtete sie sich vor diesem Mann, auch wenn sie es sich ungern eingestand.

Wenn er irgendwie von Ypsilon den Schlüssel ergaunerte und extra in ihre Wohnung eindrang, um ihr einen Schrecken einzujagen, dann sollte sie das nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Andererseits – Felix‘ Vater? Dem das geschniegelte Haus gehörte? Der reiche Schönling, der hatte es doch gar nicht nötig, sich so gehen zu lassen! Vielleicht war er es gar nicht persönlich gewesen, sondern nur ein Handlanger. Leute mit so viel Geld beauftragten doch bestimmt Handlanger, oder? Die machten doch nichts mehr selbst.

Ihre Gedanken kreisten weiterhin um das, was sie gestern vorgefunden und gelesen hatte, während sie sich ein bisschen vor Ort umsah.

Carmen saß hinter ein paar Büschen, gut abgeschirmt vor eventuellen Parkbesuchern. Aber soweit sie das hören und durch ein paar Stellen im Gebüsch auch sehen konnte, war nicht viel los. Der Platz hier eignete sich gut, wenn man im großen Stadtpark übernachten wollte. Immer noch in der Nähe eines Eingangs, aber nicht direkt auffällig, sondern etwas abgeschieden.

Trotzdem: Der Boden war unbequem. Man lag alleine im Dunklen draußen. Die Erfahrung brauchte sie nicht nochmal zu machen. Und deswegen musste sie sich jetzt um einen Schlüsseldienst kümmern. Ganz einfach.

Wer auch immer im Namen von Felix‘ Vater bei ihr aufgekreuzt war, schien zwar kaum Hemmungen zu haben. Doch ihre Wohnungstür, die würde er doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts, aufbrechen, oder? Außerdem: Was auch immer der Typ gegen sie hatte, scheinbar wollte er sie bloß erschrecken. Das hatte funktioniert. Aber vielleicht beließ er es auch dabei. Wahrscheinlich ging es Felix‘ Vater lediglich um das Abstecken seines Machtbereiches; sein Sohn, dessen Leben er bestimmte und niemand sonst, konnte sich doch unmöglich mit jemandem wie Carmen abgeben. Wo sie doch noch nicht einmal einen Adelstitel oder einen sechsstelligen Kontobetrag vorweisen konnte! Wahrscheinlich handelte es sich bei ihm einfach um einen Daddy, der für seinen Sohn alles in die Wege leitete. Der bestimmte, was er lernte, was er studierte, was er mal wurde. Der alles organisierte, damit der Sohnemann auch ja in die Fußstapfen des Vaters trat. Vermutlich hatte er ihm sogar diese Mareike organisiert. Nett war sie ja, immerhin; aber wahrscheinlich in ihrem tiefsten Herzen auch so eine reiche Spießerin.

Andererseits, den Eindruck hatte Carmen bislang nicht bekommen…?

Aber was wusste sie schon? Wahrscheinlich war Mareike auch auf dem Mist von Felix‘ Daddy gewachsen, als die Geeignete für seinen Sohnemann. Klar, dass Carmen ihn nicht einmal besuchen durfte, war sie doch im Vergleich zu der perfekten Sonnenschein-Mareike nur eine…

Ja, eben so eine.

 

Aber sie ließ sich davon nicht beeindrucken – zumindest nicht mehr nach dem ersten Schock. Ja, sie war gestern scharf gewesen, ganz einfach. Aber sie hatte es so gewollt. Und sie würde sich, wenn sie an gestern zurückdachte, nicht von Felix‘ gemeingefährlichem Vater den Spaß an der Erinnerung verderben lassen.

Doch in ihrem Kopf stoben die Gedanken gleich weiter. Eben hatten sie sich um Felix und seinen Vater gedreht, um ihre helle Wohnung, um den nächtlichen Besuch bei ihm. Jetzt schon erreichten die Gedanken den Grund, warum sie hierher, und nicht in Ruths Wohnung geflüchtet war. Warum sie hier im Gras und mit einem schmerzenden Rücken lag, und nicht in der Wohnung ihrer Kindheit.

Weil sie ihrer Mutter nicht unter die Augen treten wollte.

 

Bloß, weil sie kein Kind mehr war? Bloß, weil sie langsam aber sicher damit aufhörte, jeden Tag nach demselben Schema F zu verleben? Sie war die gleiche Carmen wie vorher. Das gleiche große Kind. Nur hatte selbst sie inzwischen mitgekriegt, dass so ein Leben einfach mehr Freude machte, wenn man es nicht jeden Tag mit demselben Rhythmus durchschritt. Und entwickelte sich denn dadurch alles zum Schlechteren? Nein, überhaupt nicht! Ein cooler Job, nette Mädels, Nervenkitzel bei Buddys Aufgaben – könnte schlechter ausschauen, oder?

Ach ja, Buddy. Fast vergessen. Aber um den schien sie sich keine Gedanken machen zu müssen. Er kam ja normalerweise auf sie zu, irgendwann, meist schneller als gedacht.

 

Eigentlich sollte langsam der Augenblick kommen, um aufzustehen und irgendetwas anzugehen. Das mit dem Schlüsseldienst. Oder vielleicht die Tonaufnahme auf dem Handy etwas zurechtschneiden – bald käme es sie vermutlich in der Tat billiger, einfach das Internetcafé zu kaufen. Oder sich einen Computer. Generell halt Dinge, die normale Menschen besaßen.

Oder irgendwas anderes Sinnvolles tun. Einkaufen. Zumindest das Nötigste. Vielleicht auch etwas essen: Ihre letzte Mahlzeit gab es gestern Abend im Rainflower. Und diese umfasste lediglich einen der Müsliriegeln aus dem Gemeinschaftsraum. Nichts allzu Sättigendes. Etwas Essen kam also auch auf ihre Agenda.

Tja … bloß noch aufstehen.

 

Carmen fühlte sich leer. Irgendwie ausgelaugt. Antriebslos.

Das mit Ypsilon störte sie.

Grundsätzlich ließ sie ihn gerne zu sich. Er war in Ordnung. Wie aber konnte er ihren Schlüssel einfach weggeben? Oder hatte man ihm den weggenommen? Er genoss ihr Vertrauen, gar nicht mal so wenig davon!

Dass jemand anderes in ihre Wohnung ging, dem sie das nicht erlaubte, das fühlte sich unangenehm an. Es war gar nicht mal die Angst, dass etwas wegkäme. Es war einfach … es fühlte sich einfach so an, als sei jemand in ihre Privatsphäre eingedrungen. Und das war ein richtig beschissenes Gefühl.

 

Noch ätzender gestaltete sich bloß ihr schlechtes Gewissen, das jetzt natürlich die Gelegenheit beim Schopf packte und sie an ihren eigenen Einbruch erinnerte. Der Besuchte oder die Besuchten fanden das bestimmt auch nicht klasse.

 

Was ging noch in ihrem Kopf vor? Diese Buddy-Sache. Sie konnte sich noch so wie die Heldin vom Dienst fühlen, wenn sie die Sachen ihrer Mutter wiederbekam, eigentlich war es viel wichtiger, dass sie mit ihrer Mutter auf eine Wellenlänge kam. Und momentan fühlte es sich nicht danach an. Was konnte sie also machen?

Vermutlich viel mit ihrer Mutter sprechen. Und aufhören, sie in Gedanken nur ‚ihre Mutter‘ zu nennen, so wie man ‚mein Steuerberater‘ oder ‚unsere Lokalpolitiker‘ sagte.

Ja, vielleicht sollte sie damit mal aufhören.

 

Carmen legte sich vorsichtig auf den Rücken, der ihr das widerstrebend mit kurzen, stechenden Schmerzen quittierte. Sie winkelte ihre Beine an und legte die Arme neben sich im Gras ab, schaute nach oben, in den fast wolkenlosen Morgenhimmel.

Was würde ihre Mutter sagen, wenn sie jetzt hier wäre?

Carmen fühlte sich einsam.

Sie stand nicht vor unüberwindbaren Herausforderungen. Eigentlich hatte sie da Leben noch nie vor eine ernstzunehmende Herausforderung gestellt. Oder … sie war bislang immer schnell genug ausgewichen. Deswegen auch das Gefühl des immer wiederkehrenden alltäglichen Trotts.

Aber jetzt war Schluss mit Langeweile!

Und?

War sie nun dank ihres Jobs verrucht und verdorben?

Es machte ihr Spaß, Buddy Aufträge zu erfüllen. Verriet sie damit ihre Mutter? War das ernsthaft etwas, woran sie einen Gedanken verschwenden sollte? Es lief doch alles! Sie bekam doch alles hin! Dafür, dass sich ihre Frau Mama so schnell aus Carmens Leben davongemacht hatte, war doch jemand zumindest halbwegs Vernünftiges aus ihr geworden, oder etwa nicht?

 

Einmal mehr ging es ihr extrem auf die Nerven, sich ihrer Mutter gegenüber verpflichtet zu fühlen.

Ihre Mutter war tot!

Mama war seit etwa achtzehn Jahren tot! Carmen war ihr gegenüber zu gar nichts verpflichtet und schon gar nicht war sie ihr etwas schuldig! Dieses Gefühl sollte gefälligst weggehen, sonst trat und riss sie es sich gewaltsam aus der Seele!

Und dieses ganze Blabla in Carmens Kopf:

Ihre Mutter könne ihretwegen nur den Kopf schütteln. Ruth könne nicht stolz auf sie sein, auf gar keinen Fall, keine Chance. Carmen konnte gar nichts, absolut nichts, sie hatte nicht studiert, keine vernünftige Ausbildung gemacht, arbeitete als Pole-Dancerin, gewann Gefallen am Kriminell-Sein und war … ja: War eine Schlampe! Oh ja, eine verruchte, billige Schlampe! Und wenn Felix‘ Vater das so sah, dann musste es doch stimmen, oder?

Aber klar.

 

Hätte sich dieser Mischmasch aus schlechten Gefühlen nicht so in ihr breitgemacht, dann hätte sie die Nacht nicht hier, auf diesem dreckigen Boden mitten im Park, verbracht, sondern in Ruths Wohnung. Und Carmen wollte nicht den ganzen Spaß, den sie ihrem Leben im Moment entlocken konnte, nach Jahren des Vor-Sich-Hin-Vegetierens, an ihr schlechtes Gewissen abtreten müssen.

„Ach!“, sagte sie laut und ihrer Stimme klang im ersten Moment noch etwas kratzig, „Ganz ehrlich, Mama: Lass mich doch einfach in Ruhe!“

Aber das galt nicht nur für ihre Mutter, oder? Auch Felix‘ Vater konnte sie mal! Der sogar noch deutlich mehr. Er hatte jetzt den starken Mann markiert und würde das nun nicht mehr tun. Er wollte sich schließlich nicht die Finger schmutzig machen, auch nicht indirekt. Sie hatte wahrscheinlich heute Nacht in ihrer Wohnung etwas überreagiert. Wahrscheinlich brauchte sie vor dem Typen keine Angst zu haben. Aber die Angst fragte eben nicht nochmal nach, bevor sie loslegte.

Zusammenfassend: Ja, Felix‘ Vater konnte sie auch mal. Und Felix gleich mit.

Der war zwar nett, aber offensichtlich nicht mehr ganz dicht, was seine ganzen Überlegungen bezüglich Mareike anging. Aber so waren die wohl, die Reichen und Schönen, die sahen sich halt nicht genügend normalen Probleme gegenüber und mussten sich daher tagein, tagaus mit solchem abgehobenen Kram beschäftigt halten. Mareike war bestimmt genauso. Aber Hauptsache freundlich tun und jeden um den Finger wickeln!

Die beiden konnten ihr gestohlen bleiben.

 

Meine Fresse, dachte sie, war doch wurscht, ob sie zum Schlüsseldienst ging oder nicht! Sie konnte auch gleich dem Heimweg antreten, es dürfte keinen Unterschied machen, bloß war der direkte Weg nach Hause billiger. Es würde doch alles wieder seinen gewohnten Gang gehen.

Sie könnte auch einfach liegenbleiben: Es war Samstag, heute musste sie nicht arbeiten und sie hatte sowieso nichts zu tun. Das mit der Tonaufnahme, hm, na ja … völlig egal, wenn man es genau nahm, sie konnte das machen oder sie konnte es bleibenlassen, es kümmerte nur Buddy und der war nicht wichtig. Gar nichts war wichtig. Sie konnte hier den ganzen Tag liegen und den Wolken dabei zuschauen, wie sie da oben entlangzogen, bis es Carmen zu langweilig wurde, sie aufs Klo musste oder ihr Magen ihr mitteilte, dass es langsam aber sicher Zeit wurde, das mit der Nahrungsaufnahme nicht länger schleifen zu lassen.

Ja, sie konnte hier den ganzen Tag faul rumliegen. Sollte man sich nicht eigentlich freuen, angesichts solcher Aussichten? Sie tat es im Moment jedenfalls nicht. Sie hatte schlechte Laune.

Vielleicht, weil einfach alles im Moment nicht so verlief, wie sie es kannte?

Anscheinend waren Menschen einfach so, dass sie darauf erst einmal allergisch reagierten. Obwohl das in ihrem Fall ein Grund zur Freude sein sollte. Sie sollte sich freuen, dass sich etwas veränderte, zumindest um sie herum. Und vielleicht würde sie selbst sich irgendwann mitverändern. Weil sie es wollte. So, wie sie es wollte. Ohne, dass ihre Mutter da irgendein Mitspracherecht hätte, oder auch nur das Recht, sie zu kritisieren.

Dieses Recht hatte Ruth vor gut achtzehn Jahren schlagartig verloren.

Vielleicht hätte Ruth diesen Schritt damals nicht gehen sollen, dann wäre sie jetzt nicht nur in der Position, Carmen zu schimpfen, sondern auch in der Lage dazu. Und wenn Ruth könnte, dann würde sie Carmen wahrscheinlich nach Strich und Faden ausschimpfen, oder? Sie würde Carmen fragen, ob sie denn noch alle Tassen im Schrank hätte!

 

Carmen ballte die Fäuste. Es konnte ihr egal sein, was Mama von ihr dachte. Es war ihr Leben und sie musste entscheiden, was richtig war und was falsch, was sie machen wollte und was nicht. Niemand redete ihr da rein! Und das schlechte Gefühl ihrer Mutter gegenüber war unnötig und falsch. Sie hatte Ruth nichts getan. Wenn überhaupt, dann müsste Mama ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber haben und nicht andersherum.

Geh endlich raus aus meinem Kopf, dachte Carmen. Hör endlich auf, mich zu nerven! „Ich komme schon zurecht!“, zischte sie und schüttelte den Kopf, als ob sie ein Insekt zu verscheuchen versuchte. Sie wollte sich nicht Mama gegenüber schlecht fühlen, doch dieses Gefühl hatte sich in ihren Kopf eingefressen und krallte sich an sie.

„Hau ab!“, zischte sie wütend und gab sich eine Ohrfeige, wie um das Gefühl aus ihrem Kopf zu vertrieben.

Wie willst du dein Leben in geordnete Bahnen bringen, wenn du’s noch nicht einmal mit deinen Gedanken hinbekommst?

Sie gab sich noch eine Ohrfeige.

Sie hatte doch einen Knall, oder? Und keinen subtilen.

 

„Entschuldigung“, hörte sie plötzliche eine Stimme neben sich. Carmen zuckte zusammen und setzte sich schnell auf. Sie blickte in die Richtung desjenigen, der sie eben angesprochen hatte.

„Verzeihung, wenn ich dich erschreckt habe. Kann ich kurz mit dir reden?“

 

Kapitel 2

Carmen brauchte einen Augenblick, um zu antworten. „Ähm … von mir aus.“

Vor ihr stand ein alter Mann, vielleicht sechzig, vielleicht siebzig Jahre alt – im Alter-Schätzen gewann sie keinen Blumentopf. Höchstwahrscheinlich Rentner. Seine Haare waren silbergrau und er könnte bereist volljährige Enkelkinder haben. Sie kannte ihn nicht.

Es erschien Carmen unhöflich, nicht aufzustehen, doch andererseits regte sich in ihrem Inneren kein starkes Interesse, ein längeres Gespräch mit dem Mann zu beginnen. Sie blieb sitzen und schaute nach oben.

Der alte Mann fragte sie:

„Geht es dir gut?“

Carmen zuckte mit den Schultern.

„Denke schon.“

„Ich hoffe, ich komme dir nicht unhöflich vor“, sagte er, „Aber … du siehst nicht so aus, als sei alles gut. Ich wollte dich nicht stören…“

„Dann tun Sie’s doch einfach nicht!“, blaffte sie. Der Alte brauchte ihr jetzt nicht auch noch auf die Nerven zu gehen.

„Ich dachte lediglich …“, begann der Mann, schien es sich aber dann anders zu überlegen.

„In Ordnung, dann ziehe ich weiter. Verzeihung.“

Er nickte ihr zu, zum Abschied, und trat den Weg über den Rasen an, zum Fußweg zurück.

 

Das war vielleicht etwas direkt gewesen.

„Hey!“, rief sie ihm nach. Schließlich erhob sie sich doch, wodurch ihr gefühltes Alter, dank des nachtgeschundenen Rückens, ihr tatsächliches Alter um Einiges überschritt.

„Hey, war nicht so gemeint!“

Carmen lief dem Mann nach und überholte ihn. Er blieb stehen und sie ebenfalls.

„Ich war nur gerade in Gedanken. Was ich sagen wollte: Ja, eigentlich geht es mir gut. Denke ich. Kann mich jedenfalls nicht beschweren. Aber danke der Nachfrage.“

Der Mann nickte langsam.

„Ja, weißt du … ich habe dich dort gesehen und bekam das Gefühl, es sei etwas nicht in Ordnung. Wie … wie ist dein Name?“

Vielleicht sollte sie, nach ihrer Frau Mama und Felix‘ Vater, aus diesem freundlichen Rentner nicht den nächsten Menschen machen, der sie nicht ausstehen konnte.

„Ich bin Carmen.“

Sie reichte ihm die Hand. Er ergriff sie vorsichtig. Das Zittern seiner Finger tat der Ernsthaftigkeit seines Händedrucks keinen Abbruch.

„Freut mich. Emil.“

 

Der Mann deutete auf den Pfad neben dieser abgeschiedenen Grünfläche.

„Es ist so, Carmen. Ich gehe hier oft vorbei, mir die Beine vertreten. Oft morgens. Manchmal abends. Und ich habe dich schon öfter hier gesehen. Du gingst immer den gleichen Weg, dorthin…“

Er deutete in Richtung der Bushaltestelle, die sie stets zum Nach-Hause-Kommen nach ihren Kneipenschichten aufsuchte.

„Und ich denke mir immer: Wahrscheinlich kommst du von der Arbeit oder von der Universität. Und deswegen hat es mich umso mehr gewundert, dass du dort auf der Wiese gelegen und geschlafen hast. Hast du hier draußen übernachtet, … äh …“, er musste kurz nachdenken, „Carmen?“

Sie nickte.

„Ja. Carmen. Ich habe hier übernachtet, richtig.“

„Warum musstest du denn hier draußen schlafen? Das habe ich mich gefragt. Das macht man doch normalerweise nicht. Es gibt schon so viele Obdachlose hier, leider viel zu viele. Diese armen Menschen. Und als ich dich sah und erkannte, nun, da fragte ich mich, ob bei dir alles in Ordnung ist. Weil du eben alleine hier draußen warst.“

„Ich denke, es ist alles okay“, antwortete sie, „Ich war nicht daheim, weil … ist eine längere Geschichte. Ich fühle mich da gerade nicht so wohl. Oder: ‚fühlte‘. Jetzt wieder. Ich weiß es nicht so genau.“

„Wohnst du bei deinen Eltern?“, fragte der Mann, „Die machen sich vielleicht Sorgen um dich.“

„Nein, nein“, antwortete sie, „Ganz bestimmt nicht.“

„Das heimatliche Nest verlassen, so schnell es ging?“, fragte er freundlich.

„Äh … ja. Kann man so sagen.“ „Das war bei mir nicht anders. Ich wollte damals auch so schnell wie möglich von Zuhause weggehen. Und als ich dann die Möglichkeit bekam, bin ich zu Freunden in eine Wohngemeinschaft gezogen. Damals wollte ich nicht alleine wohnen. Und das hätte ich mir auch nicht leisten können.“

Carmen schwieg.

„Aber ich langweile dich bestimmt. Ich wollte dich bloß fragen, ob es dir gutgeht, ob du Hunger hast. Du sahst aus, als hättest du vielleicht Einiges durchgemacht. Aber möglicherweise hattest du auch einfach eine lange Nacht, das kann natürlich auch sein. Das gab es früher auch schon, nur sind die Nächte vielleicht heute etwas anders als früher.“

Er nickte nachdenklich.

 

„Warum haben … oder hätten Sie mich das gefragt?“, erkundigte sie sich.

„Was genau meinst du?“

„Na ja, ob es mir gut geht, ob ich Hunger habe … es gibt doch, wie sie schon meinten, viele obdachlose Menschen, die irgendwie über die Runden kommen. Sie sprechen doch nicht jeden an und fragen, ob alles okay ist, oder?“

„Nein. Da hast du Recht. Leider gibt es viel zu viele Menschen, denen es nicht gut geht. Aber ich habe dich angesprochen, weil du scheinbar mitten im Leben standest und jetzt war ich eben in Sorge, es sei etwas passiert. Es ist mir bewusst, dass es viel zu viele arme Menschen hier draußen gibt und ich hatte gefürchtet …“

„… dass ich jetzt auch abgerutscht bin?“, schlug Carmen als mögliches Satzende vor.

„Wenn du es so formulieren möchtest. Aber wenn du sagst, es ist alles in Ordnung, dann will ich dir das glauben.“

Carmen nickte, ebenfalls leicht nachdenklich, und musste an Ypsilon denken.

„Aber wenn du möchtest“, begann der Mann, „dann steht das Angebot immer noch. Wenn du etwas essen möchtest, nach deiner Nacht hier draußen – du bist eingeladen.“

 

Sie hatte in der Tat Hunger.

„Das ist nett von Ihnen, aber … ich kann das nicht machen. Ich finde es toll, dass Sie mir das Angebot – wie sagt man? – unterbreiten, aber ich bin wahrscheinlich die Allerletzte, die es verdient hat.“

„Wieso?“, erkundigte sich der alte Mann.

„Ach“, seufzte sie, „Wenn Sie es genau wissen wollen, ich breche bei unschuldigen Menschen ein, überfalle kleine Mädchen und lasse mich von jemandem durchrammeln, der eigentlich eine glückliche Beziehung führt. Ich bin das Allerletzte. Fragen Sie besser jemanden, der es mehr verdient hat, so nett behandelt zu werden.“

„Du gehst aber sehr hart mit dir ins Gericht, Carmen.“

„Aber zurecht. Ganz einfach.“

„Ist das der Grund, warum du dich eben selbst geohrfeigt hast?“

„Ich kann mich ohrfeigen, so oft ich will“, sagte sie leicht verärgert.

„Ich verurteile dich nicht dafür. Ich kann nichts dazu sagen. Es hat mich nur gewundert. Und ich wollte daher auch nachfragen, wie es dir geht. Ohne Wissen über das Geschehene zu haben: Ich bekomme den Eindruck, dass nicht alles in Ordnung ist. Aber du musst mit mir nicht darüber sprechen, wenn du das nicht willst. Es war nur ein Angebot meinerseits.“

 

Er wirkte nicht verstimmt und teilte ihr nur mit, was er dachte. Sie zögerte einen Moment. Carmen kannte den Mann nicht, aber er schien alles in allem nicht nur in Ordnung, sondern sogar ziemlich freundlich zu sein. Und er machte sich offenbar ernsthafte Sorgen um sie. Vielleicht tat es ihr gut, mal zu reden. Und wenn es bloß dazu beitrug, endlich in die Gänge zu kommen.

 

„Ich …“

Sie seufzte. „Tut mir leid. Ich war einfach ein bisschen … ich war einfach schlecht drauf. Aber ich fühle mich nicht gut dabei, Ihr Angebot anzunehmen.“

„Warum?“

„Es ist nichts gegen Sie, ich …“

„Du meinst wegen der unrühmlichen Beschreibungen deiner selbst? Mein Gedächtnis ist nicht mehr sonderlich gut: Möglicherweise habe ich diese schon längst vergessen. Ich werde dich also damit nicht nerven. Und ich freue mich, Gäste zu haben. Es kommt ohnehin so selten jemand.“

Ach, was sollte es, dachte sie.

„Gut.“

Sie lächelte.

„Dann nehme ich Ihr Angebot an. Aber ich möchte Ihnen nicht alles leer essen.“

„Darum mach dir mal keine Sorgen. Du bist herzlich eingeladen … ähm …“

„Carmen“, sagte sie und schmunzelte.

„Namen sind nicht so meins. Meine Tochter sagt immer, ich kann froh sein, dass ich meinen eigenen nicht vergesse.“

Er machte eine ruhige Geste mit seiner rechten Hand, um ihr den Vortritt zurück auf den Parkweg zu gewähren. Er war wohl in der Tat ein Kavalier der alten Schule. Der sehr alten Schule.

Sie lächelte und deutete einen Knicks an. Dann machten sie sich zusammen auf den Weg.

 

 

* * * *

 

Felix saß auf seinem Bett, die Beine angewinkelt und die Augen geschlossen. Seine Arme waren um seine Knie geschlungen. Das tickende Geräusch der kleinen Uhr an der Wand war alles, was er hörte – und er nahm es lauter und eindringlicher denn je wahr, fast so, als würde der Uhrzeiger auf ihn einhämmern.

Was war nur in ihn gefahren?

Alternativfrage: War ihm denn nicht klar gewesen, was das für Folgen mit sich brachte? Gestern hatte er sich anscheinend wenig Gedanken gemacht – genaugenommen gar keine. Dennoch, ganz zweifelsohne, es war ein Fehler gewesen.

Jetzt war es viertel vor zwölf. Um halb zwei musste er langsam los, um Mareike abzuholen.

Er hatte vorhin geduscht, deutlich länger als sonst. Und dann, später, noch einmal. Seine Eltern hatte das nicht gewundert. Sie hatten es vermutlich noch nicht einmal bemerkt. Felix konnte selbst nicht genau sagen, warum, doch vielleicht hatte er damit die Hoffnung verbunden, sich besser zu fühlen, nachher. Wie reingewaschen.

So fühlte er sich aber nicht. Sondern eher wie ein dreckiger Idiot.

Das Beste, was er jetzt tun konnte: Vernünftig und ruhig mit dem Geschehen umgehen.

 

Also. Erst einmal. Was war passiert?

Er konnte nicht erklären, warum sie das gemacht hatte, aber Carmens Verhalten, ihrer Art, ihr … ja, ihr forderndes Auftreten schien bei ihm funktioniert zu haben. Er hatte das alles gewollt: Sie berühren. Sie … ja, alles andere auch.

Aber warum dieses Um-den-Finger-Wickeln? Hatte sie das geplant, von Anfang an? Und falls ja: Warum? Und weshalb hatte er überhaupt keinen Widerstand geleistet? Erst erzählte er ihr hundert Jahre etwas darüber, was er sich zusammen mit Mareike …

Hach, Mareike.

„Felix, reiß dich zusammen!“, ermahnte er sich.

Carmen und er, sie hatten es also getan, und …

Ach, war es nicht eigentlich egal, was sie gemacht hatten? Welche Rolle spielten die Details? Wollte er Mareike denn stolz jede Kleinigkeit schildern, bevor sie ihm eine Ohrfeige verpasste und wortlos davonging?

 

Er war nicht stolz auf seine Tat. In das Vertrauensverhältnis zwischen Mareike und ihm sollte und durfte niemand einbrechen.

Andererseits, dachte er … na ja … vielleicht war es auch nur ein dummer Gedanke, um sich besser zu fühlen, konnte seinetwegen schon sein, aber ganz im Ernst: Es war vielleicht nicht toll, was gelaufen war, aber … war es wirklich so schlimm? Ein Stückweit musste er Carmen Recht geben: Wie konnte er Mareike damit zum Beispiel ‚betrügen‘? Wie konnte man jemanden betrügen, mit dem man noch nicht einmal ins Bett ging? Nicht, dass er das wollte! Er vertrat nach wie vor der Ansicht, dass Liebe platonisch sein konnte und vielleicht sogar sollte. Aber offenbar … hatte das sein Körper gestern nicht verstanden.

Es war seine Schuld. Er hatte nicht ‚Nein‘ gesagt, als Carmens Vorhaben offensichtlich wurde. Er hatte ihr einfach nichts entgegengesetzt.