Anne Hahn träumt Christian Beck - Anne Hahn - E-Book

Anne Hahn träumt Christian Beck E-Book

Anne Hahn

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Beschreibung

Was Mauritius, der Schutzheilige des Magdeburger Doms, mit Christian Beck, der Legende des des 1. FCM, zu tun hat und was den Magdeburgern ihr Fußballclub bedeutet, erzählen hier fünf Frauen zwischen vierzehn und Ende fünfzig. Es ist eine weibliche Geschichte der »Größten der Welt«, die sich bis in die Träume der Autorin, einer ehemaligen Krankenschwester aus Magdeburg, erstreckt. Alle eint (und in einer keimt) die Liebe zu den Blau-Weißen — einmal immer!

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Anne Hahn, 1966 in Magdeburg geboren und aufgewachsen, wo sie zunächst als Krankenschwester im Krankenhaus Altstadt gearbeitet hat. Danach organisierte sie Lesungen und Punk-Konzerte in Magdeburg, unternahm 1989 einen Fluchtversuch aus der aserbaidschanischen Republik in Richtung Iran und wurde verhaftet. Nach einem sechsmonatigen Gefängnisaufenthalt studierte sie in Berlin Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik. Seit 1999 publiziert sie Porträts, Rezensionen, Sachbücher und Romane.

© Verlag Voland & Quist GmbH

Berlin und Dresden 2023

Umschlaggestaltung und Satz:Guerillagrafik

Reihen-Hrsg. IKONEN:Frank Willmann

Druck und Bindung:BALTO print, Vilnius

ISBN 978-3-86391-353-3

eISBN 978-3-86391-396-0

voland-quist.de

ANNE HAHN

TRÄUMT CHRISTIANBECK

Inhalt

An diesem Buch sind nur die Träume wahr.

Mo

Red

Wanda

Edda

Jessie

Dank an

An diesem Buch sind nur die Träume wahr.

Der Balkon einer Villa. Ich bin ein Kind, stehe vor der Brüstung und reiche kaum hinauf, kann durch die steinernen Stützen schauen. Habe winzige Hände, die sich an ihnen festhalten. Trete näher. Tief unter mir steht jemand auf dem Rasen. Ein Mann im Trikot, er lächelt, er ist sehr groß. Es ist Christian Beck. Um ihn herum wird gefeiert, Menschen laufen mit Luftballons an langen Fäden über die Wiese und grüßen einander, er schaut nur zu mir und winkt, öffnet den Mund.

Ein Wind kommt auf, mein Kleid bauscht sich, als ich mich hinknie und zurückwinke, schon springe ich wieder auf, hüpfe auf der Stelle, mein Herz rast, ich schwenke meine Arme und bin einen Moment später eine erwachsene Frau, muss keuchen vom Schwung des Wachsens, beuge mich über die kühle Balustrade, um zu verstehen, was Christian Beck mir zuruft, Musik erklingt und ist lauter als seine Stimme. Als ich eine Hand hinter mein Ohr halte, um ihn besser zu verstehen, platzt ein entschlüpfter türkisfarbener Ballon, der mir entgegenschnurrt, und auch ich schrumpfe, werde wieder ein Kind mit Herzklopfen und noch kleiner und kleiner.

Mo

Das Dommuseum der Domstadt in der nahen Zukunft; ein Märtyrer, eine Großmutter, ein Kind und eine verschwundene Legende.

Mauritius steht im Fenster, Rücken zum Domplatz. Er kann nicht sehen, wenn auf dem Platz Buden auf- und abgebaut werden, wenn die Skulpturen der Lichterwelt erstrahlen, Demonstrationen sich formieren oder Wasserspiele glucksen. Wie die Jahreszeiten vergehen. Er steht da und hält Wacht, mit Schild und Lanze. Bunt ist er, der Kettenpanzer leuchtet, sein Kopfschutz und die Rüstung sind aus goldfarbenen Gliedern gefügt. Der dunkelrote Schild mit dem schwarzen Adler reicht ihm bis zum Bauchnabel, in der rechten Hand hält er eine Lanze mit weißer Fahne, darauf ein rotes Kreuz. Mauritius hat dunkle Haut, einen melancholischen Blick aus blauen Augen und eine Nase, die seinem steinernen Vorbild im Dom fehlt. Der ganze Krieger wirkt wie ein viel zu groß geratenes Schleich-Figürchen.

Ein normaler Sommervormittag. Mo hat den Steinsarg der Kaiserin Editha begrüßt und ist die Gänge schneckenlangsam entlanggeschwebt. Schweben ist ihre bevorzugte Fortbewegungsart. Am liebsten erscheint sie lautlos hinter einer der türkisfarbenen Säulen und weidet sich am Erschrecken der Menschen. Türkis – die Farbe der Götter. Otto der Große, seine Editha und ihre Nachfahren wussten schon, was magisch wirkt. Es gibt einen hübschen Kontrast, wenn Mo in ihrer dunklen Uniform mit der tief in die Stirn gezogenen Mütze aus einem Säulenschatten tritt. Lautlos. Sie schwebt an der Animation der krabbelnden Käfer aus Edithas Sarg vorbei, die Wand mit dem Grabungsquerschnitt entlang und hinein in den nächsten dunklen Raum. Wartet vor dem Leuchtkasten, dass der mumifizierte Erzbischof Wichmann auftaucht. Bilder wechseln sich ab, erst wird das Gewand erklärt, dann ploppt die Mumie auf, und Mo genießt ihre Gänsehaut. Darauf ist Verlass. Den Fußknochen des Bischofs, der in der Vitrine gegenüber modert, meidet sie. Ihre Runde ist beendet, sie schlüpft aus dem Gruselkabinett in den Fenstergang zu ihrem Kunststoffliebling. Alles ist voller Licht, schwarze Podeste und Tafelwände geben das mittige Fenster zum Domplatz frei, vor dem nur eine Figur platziert ist. Der ganze Kerl leuchtet. Eine junge Frau steht still vor Mauritius. Versunken. Mo duckt sich unter ihren Mützenschirm und bremst, will sie nicht stören in ihrer Andacht. Dann erkennt Mo sie. Räuspert sich.

„Oma, krass, du kannst dich doch nicht so anschleichen!“

Als sie sich umdreht, sieht man, wie jung sie ist. Inzwischen so groß wie Mo, aber schmal und kantig. Das Mädchen grinst und hüpft sie an, Mo streichelt ihr ein wenig über die Schulter.

„Mensch, Oma, du musst dir mal WhatsApp anschaffen, echt eh, ich find dich nirgends, kein Insta, gar nichts. Du bist wahrscheinlich noch auf Facebook, oder?“

„Ich habe Telefon zu Hause“, sagt Mo langsam.

Wie rau die Stimme klingt, sie hat lange nicht gesprochen. Hier im Museum kennen sich alle, da muss nicht jeder gleich was sagen. Ein Nicken bei Arbeitsbeginn und -ende reicht aus. Ob Mo mitkommt, hierhin und dahin, fragt schon lange keiner mehr. Hätte sie sich ja sonst nicht ausgesucht, einen Job, bei dem man möglichst nicht gestört wird. Die Leute fragen meist nur nach Toiletten, in allen Sprachen der Welt. Da kann Mo dezent nach draußen weisen. Klara vom Empfang, der gleichzeitig Cafeteria ist, redet gern und zeigt allen, wo sich die Bedürfnisanstalt befindet. Ha, an das Wort hat sie lange nicht gedacht. Sagte nicht Harald, der Kellner in seinem weinroten Anzug im Weinstudio immer: „Zur Bedürfnisanstalt dort entlang, meine Damen und Herren.“? Das Weinstudio war schon was Feines mit seinen urigen Holztischen und -wänden, der Klaviermusik und …

Mo kehrt zurück ins Museum, hier ist jetzt und heute das Kind. Edda, ihr Enkelkind. Wieso eigentlich?

„Hat Mama dich nicht angerufen?“, fragt Edda, und Mos Kopfschütteln löst eine Sprachlawine aus, die sie in die Knie zwingt. Mo sinkt auf das Podest neben Mauritius und lauscht Edda.

Das Praktikum, sie müsse doch drei Wochen irgendwo ein Praktikum machen, und weil sie sich so spät darum gekümmert hat und alles schon weg war zu Hause, Mama so genervt war und ihr nicht helfen wollte, hat sie dem süßen Typen, den sie vom Weihnachtsmarkt kennt – als sie im letzten Dezember hier war, antwortet Edda auf ihr minimales Zucken der Augenbraue, den sie in der Festung Mark oder war es doch auf dem Alten Markt, na egal –, sie sind seitdem auf Insta befreundet, und der arbeitet in dieser Redaktion, jetzt hat sie schon wieder den Namen vergessen, so was wie Mitteldeutsche Volkspost oder so, da hat er sie jedenfalls untergebracht, das ist sooo süß, und seit gestern ist sie in der Stadt und hat ein WG-Zimmer, na klar, bei dem süßen Typen, der steht aber auf Jungs, wie sie erst jetzt gemerkt hat, und gestern mussten sie erst mal essen gehen am Hassel oder wie der Platz da heißt mit den ganzen Restaurants drumrum, mit Khoa, dem süßen Journalisten, sein Freund ist beim Offenen Kanal und grad verreist, und weil das nur drei Wochen sind und er da niemanden einziehen lassen kann für die volle Miete, nimmt er nur einen Hunni, „den krieg ich doch von dir, Oma, oder?“, und jetzt wollte sie sie überraschen, also direkt auf der Arbeit, „wir haben es ja noch nie hier reingeschafft, wenn wir da waren, aber Mama ist auch echt nicht so der Museumsmensch und … Wer ist eigentlich der Typ hier?“ Edda tippt den goldenen Arm der Figur mit einem langen lila Fingernagel an.

Mo schüttelt mahnend den Kopf. Blinzelt auf den Krieger. „Mauritius, Schutzpatron des Magdeburger Doms. Also eine 3-D-Kopie.“

Edda nickt.

Das Original aus dem dreizehnten Jahrhundert steht drüben im Dom. Ist aber nicht so bunt und vollständig, ergänzt Mo lautlos.

„Er ist so … lebendig.“

Edda beugt sich über seine Hände, tastet mit den Blicken seinen Körper ab, das Gesicht. Verdreht sich dabei wie eine Schlange, die sich um einen Totempfahl windet. Inspiziert aus zwei Zentimetern Entfernung den Rock, der aus dem goldenen Gewand herab Falten schlägt, und zieht eine Augenbraue hoch. Ist eigentlich ihre Geste.

Soll Mo ihr erzählen, dass das ihr Lieblingsheiliger ist? Sie hat alles über ihn gelesen. Auch Kaiser Otto liebte Mauritius, holte seine Lanze, Waffensplitter und ein Stück von seinem Schädel in den neuen Dom, wann war das, neunhundert-noch-was? Mauritius war eine Weile sogar Reichsheiliger, seine Lanze führte Heere an, und bis heute feiern die Magdeburger jeden Herbst seinen Namenstag als Volksfest, die „Herrenmesse“. In Stein gehauen wurde er erst lange nach den Ottonen, im Dom steht eine ganze Armada von Mauritiusfiguren, aber diese hier ist die schönste, denkt Mo.

Aus der illustren Gedankenkette leuchtet der Name Amara auf, sie grübelt ein wenig und tippt sich erleichtert an den Mützenschirm. Genau, so hieß doch dieser edle schwarze Fußballer, der auch mal Kapitän beim 1. Fußballclub Magdeburg war. Die gleiche Anmut! Wie war nur sein Nachname …

„Er ist schön“, murmelt Edda, und beide zucken zusammen.

Es piept. Schnell öffnet Edda ihre Bauchtasche, nimmt ihr Handy heraus und dreht den Bildschirm achselzuckend zu Mo, eine Nachricht ist aufgeploppt. Mo hält Eddas Hand auf Abstand und liest die zwei Zeilen mit schmalen Augen – Moment, steht dort wirklich …?

Komm sofort in die Redaktion

Christian Beck wurde entführt

Bevor Edda etwas sagen kann, erhebt sich Mo. Etwas zu schnell, wie ihre Knie signalisieren. Sie ignoriert den Schmerz, strafft sich, streicht das Uniform-Jäckchen gerade und weist zum Ausgang: „Ich komme mit.“

Edda stopft ihr Telefon in die Tasche, nickt Mo zu, ihr kleiner Po in lilafarbenen Leggings wackelt vor Mos gleitendem Gang zur Glastür, schwupps, sind sie durch. Im Foyer tuscheln zwei Omas über leeren Kaffeetassen, Klara döst am Tresen.

Mo tippt an ihre Mütze, Klara winkt: „Wir haben uns schon begrüßt, deine Enkelin … schöne Mittagspause!“

Die Tür rauscht automatisch zu, sie stehen vor dem Ottonianum genannten Dommuseum, früher Staatsbank der DDR, davor Reichsbank.

„Wo lang?“, fragt Mo laut und schickt kaum hörbar hinterher: „Die Zeitungsredaktion am Bahnhof oder das Landesfunkhaus im Stadtpark?“

„Ähm, am Bahnhof in dem weißen Haus …“

Sie schreitet forsch am Museum vorbei, Edda hinterher. Wie lange arbeitet Mo nun schon im Ottonianum? Mehr als fünf Jahre auf jeden Fall. Es ist der angenehmste Job, den sie je hatte.

Sie überqueren an der Ampel den Breiten Weg, den sie für sich noch Karl-Marx-Straße nennt und den in Richtung Stadt Prag