Annika - Ruf der Freiheit - Marion Marksmeisje - E-Book

Annika - Ruf der Freiheit E-Book

Marion Marksmeisje

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Beschreibung

Annika steht für einen neuen Typus junger Frauen: Töchter von Müttern, die selbst bereits im Zeitalter weiblicher Selbstbestimmung aufgewachsen sind. Die monogame Versorgungsbeziehung hat als Lebensentwurf ausgedient, sie stehen beruflich auf eigenen Beinen, halten wenig von überkommener Moral und nichts davon, ihren Töchtern Beschränkungen aufzuerlegen, die sie selbst als junge Frauen nicht akzeptiert hätten. Begleiten Sie Annika auf ihrer spannenden Reise von der schüchternen Studentin, die kaum Kontakt zu anderen hat, zu einer weltoffenen, selbstbestimmten jungen Frau. Lernen Sie ihre Wegbegleiterinnen kennen: ihre Mutter Gudrun, eine erfolgreiche Journalistin, ihre Halbschwester Petra und deren eigenwillige Vorstellung vom Leben, ihre Ärztin Susanne und ihre Freundin Claudia, die den Kopf immer oben behält, obwohl ihr das Leben nichts schenkt. Und natürlich auch die Männer, mit denen sie ihren Spaß haben. Alles flott aus der Perspektive der Frauen erzählt. Auch wenn Annika eine Romanfigur ist und vieles verdichtet und auf die Spitze getrieben ist: Vielleicht gefällt ihr Zugang zum Leben doch der ein oder anderen Frau als Role Model, zumindest ein Stück weit.

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Seitenzahl: 138

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über dieses Buch

Annika steht für einen neuen Typus junger Frauen: Töchter von Müttern, die selbst bereits im Zeitalter weiblicher Selbstbestimmung aufgewachsen sind. Die monogame Versorgungsbeziehung hat als Lebensentwurf ausgedient, sie stehen beruflich auf eigenen Beinen, halten wenig von überkommener Moral und nichts davon, ihren Töchtern Beschränkungen aufzuerlegen, die sie selbst als junge Frauen nicht akzeptiert hätten.

Begleiten Sie Annika auf ihrer spannenden Reise von der schüchternen Studentin, die kaum Kontakt zu anderen hat, zu einer weltoffenen, selbstbestimmten jungen Frau. Lernen Sie ihre Wegbegleiterinnen kennen: ihre Mutter Gudrun, eine erfolgreiche Journalistin, ihre Halbschwester Petra und deren eigenwillige Vorstellung vom Leben, ihre Ärztin Susanne und ihre Freundin Claudia, die den Kopf immer oben behält, obwohl ihr das Leben nichts schenkt. Und natürlich auch die Männer, mit denen sie ihren Spaß haben. Alles flott aus der Perspektive der Frauen erzählt.

Auch wenn Annika eine Romanfigur ist und vieles verdichtet und auf die Spitze getrieben ist: Vielleicht gefällt ihr Zugang zum Leben doch der ein oder anderen Frau als Role Model, zumindest ein Stück weit.

Marion Marksmeisje

Annika – Ruf der Freiheit

Ein sexpositiver Roman 

Inhalt

Vorfrühling

Im Morgengrauen

Claudia

Heimweg

Petra

Frühlings Erwachen

Früher Abend

Nach dem Theater

Am nächsten Morgen

Frühstück mit Claudia

Bei der Ärztin

Frühlings Blüte

Vorfreude

Zu dritt

Im Englischen Garten

Bei Paul

Der Ruf der Freiheit

Eine gute Gelegenheit

Familienrat

Entscheidung

Im Auto

Claudia

Liebe und andere Schwächen

Tarek

Annika und Petra

Gudrun und Tarek

Auf der Party

Aus dem Nest

In der Wohnung

Daheim

Aufbau

Einstand

Die Leichtigkeit des Seins

Besuch der Familie

Neue Erfahrungen

Bei Susanne

Rohr verlegen

Spätsommer

Gudruns Geschichte

Schwestern

Der Morgen danach

Abnabelung

Beim Notar

Bei Susanne

Claudias Entscheidung

Essen mit Mama

Im Leben ankommen

Impressum

Vorfrühling

Im Morgengrauen

Annika erwachte schweißüberströmt, sie keuchte heftig. Es dauerte eine Weile, bis sie realisierte, dass sie in Wirklichkeit allein in ihrem Zimmer im Bett lag. Sie starrte auf die Decke, die Fetzen eines Traumes verflüchtigten sich rasch aus ihrem Bewusstsein. Sie blickte auf die Uhr: 5:15. Das Fenster ihres Zimmers stand einen Spalt offen, durch die nachlässig zugezogenen Vorhänge drangen die ersten Vorboten des Tageslichtes.

Als sie die Decke zurückschlug, machte sie der kalte Schweiß auf ihrer Haut augenblicklich frösteln. Sie knipste also ihre Nachttischlampe an, stand auf und schloss das Fenster. Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild. Annika war nackt, sie hasste es, wenn sich im Schlaf Textilien an ihrem Körper verdrehten. Ihr langes blondes Haar war lose zusammengebunden, die Spange hatte sich gelockert, Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht. Sie mochte 1,65 groß sein, ihre Brüste waren klein und fest, ihr Becken schmal und knabenhaft. Sie war schlank an der Grenze zur Magerkeit, ihre Rippen traten deutlich hervor. Der kalte Schweiß auf ihrem Körper trocknete langsam.

Unwillig wandte sie sich ab und inspizierte ihr Bett. Sie würde wohl wieder ein frisches Leintuch brauchen, so wie öfter in den letzten beiden Monaten. Sie zog es also rasch ab und nahm es mit auf dem Weg in das Bad, das an ihr Schlafzimmer unmittelbar angrenzte, warf es achtlos unter das Waschbecken. Die Zugehfrau würde sich darum kümmern und frisch beziehen. Sie öffnete den Wasserhahn der Dusche und wartete die gefühlt endlosen Minuten, bis das heiße Wasser seinen Weg aus dem Boiler im Keller bis hierher gefunden haben würde.

Annika war jetzt zwanzig Jahre alt. Das Haus, in dem sie gemeinsam mit ihrer Mutter Gudrun und ihrer jüngeren Halbschwester Petra lebte, lag am Westufer des Starnberger Sees, nicht allzu weit von Schloss Possenhofen entfernt, in dem die letzte österreichische Kaiserin ihre Kindheit verbracht hatte. Genau genommen war es Annikas Haus, sie war Alleinerbin ihres Vaters, der kurz nach ihrer Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Ihre Mutter hatte ihr Vermögen bis zu ihrem 18. Geburtstag verwaltet und ein lebenslanges Wohnrecht im Haus.

Endlich lief das Wasser warm aus der Dusche, Annika stellte sich unter den weichen Strahl, der aus einer altmodischen Überkopfbrause kam, und nahm sich Zeit, die Spuren der Nacht gründlich von ihrem Körper abzuwaschen. Zeit, darüber nachzusinnen, warum sie in letzter Zeit öfter von derartigen feuchten Träumen geplagt war. Das alles lag doch nun schon Jahre zurück und spielte für ihr Leben keinerlei Rolle mehr, dachte sie. „Das alles“, das war eine kurze, aber heftige Affäre mit Tarek, dem Vater Petras gewesen. Nach vierzehn Tagen war ihre Mutter dahintergekommen, hatte Tarek aus dem Haus geworfen und Annika in ein Mädcheninternat gesteckt, um ihr Abitur abzuschließen. Sie sann nach, wie lange sie das Thema Sex jetzt aus ihrem Leben ausgeklammert hatte, es mochten bald vier Jahre sein. Sie fragte sich wieder einmal, warum sich ihr Unbewusstes gerade jetzt zu Wort meldete.

Egal, Annika schob den Gedanken beiseite, spülte das Shampoo aus ihrem Haar, drückte es gründlich aus, schloss den Wasserhahn und trocknete sich mit einem der bereitliegenden Badetücher ab. Sie seufzte, als sie den Föhn von der Wand nahm und begann, ihr langes blondes Haar in Form zu bringen. Sie hatte schon öfter den Impuls gehabt, sich eine flotte kürzere Frisur schneiden zu lassen, war den Argumenten ihrer Friseurin dagegen aber letztlich nie gewachsen gewesen. Zwanzig Minuten später war sie endlich fertig, die Strähnen waren trocken und zu einem festen Zopf geflochten.

Annika schlüpfte rasch in Unterzeug, Jeans und ein Top, dazu einen flotten Blazer. Heute musste sie früh raus zur Uni nach München, wo sie im zweiten Semester Betriebswirtschaft studierte. Sie lief die Treppe hinunter in die Küche, um sich noch eine Tasse Kaffee zu nehmen. Zu ihrem Erstaunen saß ihre Mutter schon am Küchentisch. „Guten Morgen Gudrun, was machst denn du schon auf?“, fragte sie, während sie sich an der Espressomaschine zu schaffen machte. Gudrun seufzte, sie mochte es nicht, wenn Annika sie mit Vornamen ansprach, obwohl sie kein überzeugendes Argument dagegen hatte. „Redaktionskonferenz zu unchristlicher Stunde. Guten Morgen, Kind“, antwortete sie. Annika setzte sich mit ihrem Kaffee kurz zu ihr. „Und du?“ „Vorlesung um acht. Leider kein Skriptum, also heißt es hingehen und mitschreiben.“

„Soll ich dich mit dem Auto mit reinnehmen?“ Annika überlegte, doch bei Gudrun wusste man nie, wann sie wieder nach Hause fahren würde. „Danke nein, ist lieb, aber ich hab lieber das Mofa am Bahnhof stehen, als dann am Abend zwei Stunden auf dich zu warten.“ Gudrun zuckte mit den Schultern. „Wie du möchtest. Wetter ist ja gut. Könnte bei mir heute tatsächlich später werden.“ Im Grunde war es Gudrun ganz recht, sie hatte noch ein vage Verabredung für den Abend und musste so keine Rücksicht auf ihre Tochter nehmen.

„Tschüss Gudrun, und viel Spaß beim …“ Annika vollendete den Satz nicht, stellte ihre Tasse in die Spüle, winkte ihr noch einmal kurz und war dann schon unterwegs zur Garderobe. Kurz darauf war der unwillige Motor eines Mofas zu hören. Gudrun lauschte, bis das Motorengeräusch in der Ferne verklang. Sie war jetzt bald vierzig, doch es war ihr gelungen, ihre mädchenhafte Erscheinung fast unverändert zu erhalten, Annika war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Sah man von der feinen aristokratischen Note ab, die Annika von ihrem Vater mitbekommen hatte. Und seinen sturen Kopf, dachte sie wehmütig. Annika hatte heftig pubertiert, auch das strenge Pensionat, in dem sie die letzten drei Schuljahre verbracht hatte, hatte ihren unbändigen Willen nicht brechen können. Annika forderte schonungslose Offenheit und ein Verhältnis auf Augenhöhe mit einer Direktheit ein, die Gudrun oftmals an ihre Grenzen trieb.

Claudia

Annika brauchte keine zehn Minuten zum Bahnhof von Possenhofen. Da sie grundsätzlich keinen Helm trug, fuhr sie einen kleinen Umweg über Nebenstraßen und Feldwege, um den Polizeistreifen auszuweichen, die sich bereits um den Morgenverkehr und die Schulwegsicherung kümmerten. Sie stellte ihr Mofa ab und betrat das ziegelrote Bahnhofsgebäude, das aussah, als wäre es noch aus dem neunzehnten Jahrhundert übriggeblieben. Der Zug war pünktlich, vierzig Minuten später kämpfte sie sich bereits am Münchner Marienplatz durch das Gewühl der Pendler zur U-Bahn durch. Um viertel vor acht hatte sie es endlich in den bereits gut gefüllten Hörsaal der Ludwig-Maximilian-Universität geschafft.

Sie richtete sich auf ihrem Platz in einer der vorderen Reihen ein und war froh, dass sie vor Vorlesungsbeginn noch ein paar Minuten zum Verschnaufen hatte. Daher antwortete sie nur abwesend mit „ja, ja“, auf das „Guten Morgen, ist hier bei dir noch frei?“ Es war eine weibliche Stimme, und die sprach unbarmherzig weiter: „Ich bin übrigens Claudia, hallo.“ Annika wandte sich ohne besonderes Interesse um und blickte in ein paar freundliche graugrüne Augen, die von einer rötlich-braunen Mähne eingerahmt waren. „Annika“, antwortete sie mechanisch. „Aber sei bitte nicht böse, ich bin noch nicht kommunikationsfähig.“ „Okay“, sagte die junge Frau und tat Annika den Gefallen, nicht mehr weiter auf sie einzureden.

Gegen zehn war die Vorlesung endlich zu Ende. Annika hatte den Vorfall schon längst wieder vergessen, doch ein freundliches „Geht’s jetzt schon?“ erinnerte sie daran, dass diese Claudia immer noch neben ihr saß. Sie drehte sich also nach links. Die junge Frau wirkte auch auf den zweiten Blick nicht unsympathisch. Annika, die von sich aus kaum Kontakt zu ihren Kommilitonen suchte, hatte auf der Uni noch kaum Bekanntschaften geschlossen, doch in diesem Augenblick schien ihr nichts dagegen zu sprechen, ihr Proseminar war erst am frühen Nachmittag. „Ja, gern, wenn ich dich mit meinem unmöglichen Benehmen nicht abgeschreckt habe“, antwortete sie. „So leicht geht das bei mir nicht“, antwortete die gut gelaunt. „Zeit für einen Kaffee?“

Die beiden machten sich also auf den Weg ins nahegelegene Kneipenviertel, bald hatten sie in einem Café eine gemütliche Ecke gefunden. „Ich hoffe, es ist okay, dass ich dich einfach so angesprochen habe“, eröffnete Claudia mit unbekümmerter Direktheit das Gespräch. „Ich bin ganz neu hier in München, erst im Sommersemester eingestiegen, und da möchte ich natürlich ein paar nette Menschen kennenlernen.“ Claudias Akzent war schwer einzuordnen, aber jedenfalls von deutlich weiter nördlich. „Wo bist du denn her?“, fragte Annika einfach. „Saarland. Ich hab dort im Herbst begonnen, aber ich hab mein ganzes Leben in Saarbrücken gelebt und wollte einfach mal raus. Ich hatte Glück und habe einen Tauschpartner gefunden, der sich genau ins Saarland verliebt hat.“ „Ins Saarland oder in eine Saarländerin?“, fragte Annika schmunzelnd zurück. Claudia kicherte. „Doch wohl zweiteres, denk ich. Und mir war München sehr recht, obwohl ich auch Berlin genommen hätte, Aber ich wollte in eine richtige Großstadt.“

„Gar nicht so einfach, hier Fuß zu fassen. Ich bin von hier aus dem Umland und kann daheim wohnen, aber ich stelle mir das schwierig vor, hier von null weg beginnen zu müssen. Wohnung, Freunde und alles.“ „Tja, Mut kann man sich nicht kaufen, und so leicht lasse ich mich nicht unterkriegen.“ Bald waren die beiden in ein intensives Geplauder vertieft, nahmen auch noch einen kleinen Mittagsimbiss, und Annika hätte beinahe ihr Proseminar übersehen. Sie wusste jetzt, dass Claudia Single war, in einem Studentenheim wohnte und ganz begierig darauf, ganz in die Großstadt und ihr pulsierendes Leben einzutauchen. Zum Abschied tauschten die beiden ihre Mobilnummern aus und versprachen einander, sich bald wiederzusehen. Annika wünschte Claudia noch viel Glück und kam gerade noch zum Proseminar zurecht. Volkswirtschaftslehre, eine Disziplin, bei der sie sich schon seit Tag eins fragte, was die mit dem wirklichen Leben zu tun hatte.

Heimweg

Annika ärgerte sich, dass sie nicht besser auf ihre Umgebung geachtet hatte, als der Polizist sie mit der Kelle an den Straßenrand winkte. Sie wusste, das Bußgeld für Fahren ohne Helm war nicht allzu hoch, aber sie hatte einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, dabei nicht erwischt zu werden. Doch sie folgte dem Haltesignal, das Mofa hatte nicht nur ein Versicherungskennzeichen, sie war hier in der Kleinstadt auch zu bekannt, als dass sie unerkannt hätte davonkommen können.

„Guten Tag. Ausweis und Papiere bitte.“ Annika stieg ab, nahm ihren Rucksack ab und kramte das Gewünschte hervor. Sie wartete geduldig, als der Mann ohne Eile die Papiere prüfte, um das Fahrzeug herumging, Reifen und Kennzeichen kontrollierte. „Annika? Lang nicht mehr gesehen, wie geht es dir immer?“, sagte er dann. Annika, die gar nicht richtig zugehört hatte, schaute den jungen Mann genauer an. „Jürgen?“, sagte sie dann und schenkte ihm ein Lächeln. Das war nun wirklich lange her, der war mit ihr zur Gesamtschule gegangen, und die beiden hatten sich ein paar Wochen lang eingeredet, „miteinander zu gehen“. „Das ist aber wirklich schon eine Weile her. Da schau, du bist bei der Polizei gelandet?“ „Ja, und seit ein paar Monaten Polizeimeister. Und was machst du immer?“ „Ich studiere BWL in München, komme gerade aus der Vorlesung.“

Er sah sie an. „Aber nicht den ganzen Weg in dieser Justierung auf dem Mofa?“, fragte er fast besorgt. „Nein, nein, nur vom Bahnhof. Helm hat es nicht auf den Kopf geschafft, ich bin eh ganz zerknirscht.“ „Ihr wohnt immer noch da oben auf der Kuppe?“, fragte er. „Du hast ein gutes Gedächtnis“, gab sie zurück. „Meinst du, er findet jetzt auf den Kopf, der Helm?“ Annika öffnete rasch das Top-Case, das auf dem Gepäckträger des Mofas montiert war, und kramte den alten Helm heraus, den sie für solche Fälle da drin lagerte. Jürgen nahm ihr den Helm aus der Hand, sah sie mitleidig an und zeigte auf einen Müllbehälter, der ein paar Meter weiter an der Straße stand. „Den wirfst du jetzt da hinein, und wenn ich dich wieder mal aufhalte, möchte ich dich mit etwas auf dem Kopf sehen, das die Bezeichnung Helm auch verdient.“ Annika schaute mit gut einstudiertem Blick der Zerknirschung zu Boden. „Und jetzt ab nach Hause mit dir, bevor es zu regnen beginnt. Und vielleicht mal ein Kaffee oder so?“ Er drückte ihr zusammen mit ihren Papieren eine Karte in die Hand. „Machen wir“, sagte Annika. „Ciao Jürgen, und danke.“

Sie nahm ihren Rucksack auf den Rücken, startete das Mofa und machte, dass sie weiterkam, es sah tatsächlich nach Regen aus. Jürgen sah ihr lange nach, bevor er bemerkte, dass er den Helm noch in der Hand hielt. Er blickte sich um – es hatte wohl niemand mitbekommen – und warf ihn rasch in den Container. Sein nächster Klient, der Lenker eines Sportwagens, bekam seinen Ärger über sich selbst zu spüren und einen Punkt in Flensburg.

Annika hingegen fühlte sich in diesem Augenblick gut, richtig gut. Es war bereits das zweite Mal an diesem Tag, dass sie ihre Fraulichkeit, ja das Leben an sich, sehr deutlich gespürt hatte. Vielleicht sollte sie sich doch weniger mit sich selbst und mehr mit der Welt da draußen befassen, die schien ihr in diesem Augenblick doch einiges zu bieten zu haben.

Petra

Annika erreichte das Haus gerade noch, als die ersten Regentropfen zu fallen begannen. In der Garage war der Platz von Gudruns Cabrio leer, aber der Kombi, den sich die drei Frauen teilten und der auch für kleinere Transporte wie Gartenabfälle verwendet wurde, stand auf der anderen Seite. Eigentlich hatten sie Petra erst in ein paar Tagen von der Berufsschule zurückerwartet, zu der die mit dem Wagen gefahren war.

Annika stellte das Mofa ab und dachte noch daran, einen anderen auf einem Regal herumliegenden Helm in das Top-Case zu räumen. Sie hatte keine Ahnung, was diesem Jürgen an dem vorigen nicht gepasst hatte, und auch kein Interesse, es herauszufinden. So schnell würde sie ihm nicht wieder begegnen, zumindest nicht, wenn er im Dienst war. Die offenbar neue Kontrollstelle war leicht zu umfahren.

Als sie die Durchgangstüre zum Wohnhaus öffnete, hörte sie bereits gedämpft Musik aus dem Wohnzimmer. Sie stellte ihren Rucksack ab, schlüpfte aus den Straßenschuhen und ging barfuß, wie sie war, dem Lärm nach. Wie sie erwartet hatte, fläzte ihre Halbschwester Petra mit Limonade und Knabberzeug auf dem Sofa und ließ sich von irgend einem Musikkanal beschallen, der auf dem überdimensionalen Fernsehmonitor lief. Annika blieb eine Weile in der Tür stehen und betrachtete Petra: Sie war gerade achzehn geworden, ihr volles dunkles Haar trug sie offen, nur mit einem Band ein wenig zurückgehalten. Petra mochte 1,80 groß sein, einen guten Kopf größer als Gudrun und Annika. Ihr Teint war dünkler, ihr Knochenbau gröber, ihre Figur war deutlich fraulicher, ihre Brüste schwerer, ihr Becken ausladender als die der beiden anderen.

„Hey Sis, gerade mit Weiterbildung beschäftigt?“, fragte Annika schließlich in den Raum hinein. Petra blickte auf. „Hey Sis. Du streberst eh für zwei“, gab sie gelassen zurück. „Magst du?“ Sie deutete auf ihre Knabberbox. Annika würdigte sie nicht einmal einer Antwort darauf. „Ich dachte, Berufsschule ist noch bis nächsten Freitag?“ „Kann sein, ja“, antwortete Petra ohne sonderliches Interesse. „Und Abschlussprüfung im Juni?“ „Jetzt hör mal, du magst es genauso wenig wie ich, wenn sich jemand in deine Angelegenheiten einmischt.