Anteil des Redens an der Affenwerdung des Menschen - Daniel H. Rapoport - E-Book

Anteil des Redens an der Affenwerdung des Menschen E-Book

Daniel H. Rapoport

0,0

Beschreibung

Das Hirn stirbt den Redetod - Eine brillante Analyse der gegenwärtigen Sprachkultur Kann man über Geschmack streiten? Ist es eine Illusion, dass das Reden bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme hilft? Warum gibt es Brand-, aber keine Löschreden? Stimmt die gängige Auffassung, dass wir im Wettstreit der Meinungen zu rationaleren Urteilen gelangen? Daniel Rapoport untersucht unsere Kommunikationsgewohnheiten und schlägt dabei einen Bogen von Alltagsphänomenen bis hin zu philosophischen Fragestellungen. Seine Betrachtungen vereinen Wissen und Witz sowie die Präzision und Experimentierfreude eines Naturwissenschaftlers, der er von Haus aus ist, und sind höchst anregend, allgemein verständlich und absolut unkonventionell.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 313

Veröffentlichungsjahr: 2017

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

ISBN E-Book 978-3-360-50144-8

ISBN Print 978-3-360-01326-2

© 2017 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von lisegagne/istock

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlinerscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Über den Autor

Daniel H. Rapoport, geboren 1971 in Berlin, studierte Chemie an der TU Berlin und entwickelt derzeit als Wissenschaftler Technologien zur Analyse und Vermehrung menschlicher und tierischer Zellen am Fraunhofer Institut (EMB) in Lübeck. Neben naturwissenschaftlichen Arbeiten veröffentlichte er Essays in Zeitschriften und Sammelbänden.

Über das Buch

»Reden, das ist, wohin das Lausen unserer Affenvorfahren sich entwickelt hat. Zu einer Art Fernstreicheln nämlich«, sagt Daniel H. Rapoport.

Das ist kein neuer Kommunikationskritiker, der da spricht, sondern ein genauer Beobachter menschlicher Interaktion. Er hat keine Scheu, das vermeintlich Selbstverständliche zu befragen, und ist dabei nicht weniger ertragreich als Karl Kraus. Wer redet wie und wann und mit welchen Absichten? Warum reden wir übers Wetter? Warum begeben wir uns in Diskurse? Warum sollen wir am »gesellschaftlichen Dialog« teilnehmen, warum gar »gesamtgesellschaftliche Debatten« führen? Wie kommen Vorurteile und Stereotype in die Welt? Und wie bringt uns all das Gerede im Streit um vernünftiges Handeln, den idealen Staat oder gar Gott weiter? Seine Beobachtungen sind klar und witzig, er überrascht mit provokanten Schlüssen; dabei geht er theoriefreudig oder auch brachial empirisch alle Umwege, die seine prüfende Vernunft ihn leitet. Kann sein, der Titel seines Buchs legt das Verblöden durch Reden etwas zu nahe; der Verf. hofft nicht minder auf das Erklugen. Hören Sie doch mal zu!

Inhalt

Geleit

BEWERBUNGEN UND ANDERE VERPASSTE CHANCENoder:ÜBER DIE MESSBARKEIT VON QUALITÄTEN

BLÖD, DASS WIR DRÜBER GEREDET HABEN
oder: ANTEIL DES REDENS AN DER AFFENWERDUNG DES MENSCHEN

WEISSE QUADRATEoder: VON DER KUNST, ÜBER KUNST ZU URTEILEN

BOVISTE UND PLANETENoder: DER STREIT UM GOTT

ZAHLENoder: DIE VERMALEDEITE NICHTSWÜRDIGKEIT DES SICHKÜMMERNWOLLENS

THE KONJUNKTURPAKET WREAKS HAVOCoder: ERINNERUNGEN AN EINEN HEISSEN HERBST

FLAUSENLEMMATAoder: STIRN UND DOMINIAK ERSINNEN DEN IDEALEN STAAT

DIE FISCHPARABELoder: LINKE UND IHR VERHÄLTNIS ZUM NEUEN

DIE REIZLOSE SEITE DES HUMANISMUS oder: ZUM VERHÄLTNIS VON JUDEN UND DDR

Geleit

Die in diesem Buch versammelten Aufsätze scheinen zu ganz unterschiedlichen Anlässen und Gegenständen verfasst: Über das schreckliche Bewerbungsdeutsch etwa oder über eine Theorie, wie rassistische Stereotype entstehen. Zum Streit um Gott, der zwischen Atheisten und Gläubigen wütet. Zur Kunst, über Kunst zu urteilen. Darüber, was Linke von Fischen lernen können. Darüber, wie das Problem des idealen Staates längst gelöst wurde. Und so fort. Dinge mithin, denen man nicht ansieht, dass sie eine gemeinsame Klammer haben. Haben sie aber. Es geht immer wieder und auf die unterschiedlichste Weise um Kommunikation. Um den Unterschied zwischen ihrem Schein und ihrem Sein; darum, was wir glauben, dass wir es tun, wenn wir kommunizieren, und was dabei aber tatsächlich geschieht.

Die Rede geht immerfort vom Reden. Wie wir daran verblöden können und wie daran erklugen. Und wie dicht beides beieinander liegt.

Wer im Titel dieses Buches den Engels liest, liest deshalb ganz richtig. Aus der Tradition des Denkens in historischen und naturgeschichtlichen Linien und Widersprüchen, in Erklärungen des Gewordenseins von Begriffen kommen diese Aufsätze. Sie führen sie fort, und sie machen sie gleichermaßen fragwürdig.

Der Leser soll am Ende mit dem Autor, nunja, kommuniziert haben.

BEWERBUNGEN UND ANDERE VERPASSTE CHANCENoder: ÜBER DIE MESSBARKEIT VON QUALITÄTEN

Peter Beurton gewidmet

Wenn …

Sprache, brech ich einmal los, Sprache ist das Fieberthermometer der Gesellschaft. Sprachgnostiker wie Karl Kraus oder Victor Klemperer hätten das gewiss schöner formuliert, aber den Gedanken selbst vermutlich nicht getadelt. Wo Sprache munter fließt und plätschert, wo sie schöpft und geschöpft wird, wo Wörter erlösen und erlöst werden, da mag wohl alles seine rechte Ordnung haben. Wo Sprache aber notorisch überhitzt oder unterkühlt, oder, fataler noch, beides zugleich ist, da zeigt sie eine weiche Stelle an, eine Maladheit der Gesellschaft und manchmal eine Seuche. Die Fünfwortsprache der Militärs beispielsweise; oder offizielle Sprachregelungen wie die gegenwärtigen Streits um Vokabeln wie »Völkermord« oder »Unrechtsstaat«; das chronisch zur Hysterie überhitzte Zeitungsdeutsch; manch ein elend wortkarger Soziolekt – das sind so Fieberflecken der Sprache, die man kennt. Da offenbaren sich am Sprachgebrauch tiefer liegende Konflikte; da entdeckt sich in Tonfall, Vokabular und Diktion eine Irrheit, eine Deformation, eine Schwachheit der Gesellschaft. Von so einer Stelle will ich handeln. Von einer Stelle mit gleichzeitig entzündetem und verkühltem Sprachgebrauch, einer Stelle, an der Eintönigkeit und Hässlichkeit des Vokabulars unbedingt auf Tieferliegendes verweisen, einer Stelle, der ich in den letzten Jahren immer wieder begegnet bin. Die Rede geht von Bewerbungs- und Empfehlungsschreiben.

Wenn wahr ist, dass Bewerbungs- und Empfehlungsschreiben die Vorzüge eines Menschen unterstreichen sollen (wo nicht sogar ein bisschen erfinden dürfen), und ferner wahr, dass die Vokabeln und Sätze der Bewerbungs- und Empfehlungsbriefe zu eben diesem Behuf mit Bedacht und Sorgfalt, ja nachgerade unter schweren Formulierungsmühen gewählt werden, wenn also in derlei Schaffensfrüchten die besten Kräfte darauf gewandt werden, die besten Seiten eines Menschen auf die beste Weise hervorzukehren, dann … ja, dann stirb wohl, dann gute Nacht, dann Licht aus & Klappe zu; dann trägt das Abendland seinen Namen ganz zu Recht, dann sind in ihm nur tumbe Nachtjacken und keine Hoffnung, dann ist der Untergang besiegelt und das Elend unermesslich.

… Dann

Dann wären wir umgeben von phrasenbleichen, missgeschaffenen Geschöpfen, die ein hohltönendes Leistungssprech absonderten. Dann hausten hierorts nur noch bestürzend unsympathische und dabei gleichförmige Masken, die mit hölzerner Sprache von ihrer seelischen Ödnis kündeten; Menschenlarven, in denen kein Funken Leidenschaft oder Lebensmut glömme, die sich »von Klein auf begeistert« haben, »motiviert« sind, ihre künftige Arbeitsstelle »spannend« finden und so weiter. Und empfohlen würden diese armen Kreaturen durch ebenso kraftlose Zeilen, in denen beurkundet wird, sie hätten sich »stets zur vollsten Zufriedenheit« und zwar bei »Kollegen und Vorgesetzten gleichermaßen« und man könne sich bei weiteren Fragen »gern wenden« … Und wie ich wende!, nämlich das Blatt und mich und vor allem mit Grausen! –

Jedes Elend hat seinen Grund und so auch dieses. An der Oberfläche ist es eben der Arbeitsmarkt mit seinen Gepflogenheiten und seiner eigentümlichen Sprechart. Man solle, heißt es, das Bewerbungsdeutsch als eine Art Latein ansehen; als eine Chiffre, etwa für die Kopfnoten des Zeugnisses (Fleiß, Disziplin, Ordnung & Mitarbeit). – »Kopfnoten« ist gut! Wenig kam mir je so kopfverächtend, wo nicht kopfverderbend vor wie diese vier apokalyptischen Noten.

Und was wäre das überhaupt für ein Markt, dieser »Arbeitsmarkt«, mit seinem Seelenschacher, seiner neureichen Bewertungssucht, seiner verkrämerten »Ware Arbeitskraft«? Und alle, die bei diesem Spiel mittreiben, wissen wohl, wie abgeschmackt und mies es ist. Aber sie zucken die Achseln und sprechen im Gleichtakt etwas in der Art, dass man wohl nichts machen könne, denn irgendwie (in händeringendem Ton): – irgendwie und nach irgendwelchen Kriterien müsse man doch auswählen. Oder, besser noch, mit aristokratischem Stirnrunzeln, gleichsam den Zwicker im Aug’: Der Verzicht auf Auswahl wäre unfair gegen die Leistungsträger der Gesellschaft.

Arbeitsmarkt und Sklavengeist

Was für eine Schmiere wird da gespielt? Jedesmal, wenn mir eine Bewerbung ins Postfach flattert (und es ist mancher Tage ein rechter Taubenschlag), weht mich das Elend an. Arbeitsmarkt, in dem Wort klingt ein Trost mit, ein Versprechen, ein jeder würde – wenn seine Bewerbungsmappe nur durch hinreichend viele Hände gegangen wäre – irgendwo »unterkommen«. Im Groben verhielte es sich wie mit den Töpfchen und den Deckelchen, die ja auch in kongruenten Mengen vorhanden seien … Ein romantisierender, hoffnungsschmarotzender Schmarrn. Erstens kann nun mal nicht jeder arbeiten. Nicht hier und zu dieser Zeit, it’s capitalism, baby! Es gibt keine drei Millionen freie Arbeitsstellen in Deutschland. Und ich lasse einmal ganz unbesprochen, was erst noch mit der sogenannten »Industrie vier punkt null« an überschüssiger Arbeitskraft in die Welt getreten werden wird. Es ist wohl einsichtig wie irgendwas, dass selbst in einer idealen Welt sagenhaft leistungsbereiter, schlauer & talentierter Arbeitsenthusiasten diese drei Millionen nicht verschwänden. Ja, sogar wenn die Übrigen noch Firmen gründeten und Sprunginnovationen wie die Kängurus machten. Es können einmal nicht alle am Markt gewinnen. Und die Verlierer fliegen eben raus. Dürfen nicht teilnehmen. Das ist das Spiel. Ganz nebenbei hörte der hl. Markt ja auf, der hl. Markt zu sein, wenn er nicht diese Konkurrenz beinhaltete, die immer einen Teil der Anbieter leer ausgehen lässt. Sein Wesen und auch all seine unbestreitbaren Vorzüge liegen in eben dem existentiellen Druck, den er auf alle Teilnehmer ausübt. Es gehört nur zur Psychologie des Marktes, dass jeder sich einbildet, selbst nie Verlierer sein zu müssen.

Mit anderen Worten: Ja, es geht um die schnöde Kohle, die Knete, den Zaster, das Sich-dies-&-jenes-leisten-Können, aber auch, und wahrscheinlich wichtiger noch, um Teilhabe an dem, was so Gesellschaftlichkeit und soziales Miteinander heißt. Ferner auch um so Dinge wie Reputation und Selbstachtung. Es geht mithin um verdammt viel. Um ungefähr das, was gern auch die »Würde des Menschen« geheißen wird und, dem Vernehmen nach, unantastbar sei.

Wer sich schon immer fragte, was das eigentlich sein solle, diese nebulöse »Würde des Menschen«, nun: Das. Beispielsweise das einfache Recht auf Wahrnehmung und Würdigung jenseits von Leistungs- und Marktkriterien. Einfach, weil man da ist! Jedes Bewerbungsschreiben, folgt daraus, ist ein Angriff auf die Würde des Menschen. Mein Taubenschlag quillt über von angetasteter Menschenwürde, die, zu allem Überfluss, darum bettelt, danach lechzt, nun auch noch von meinen auswählenden Griffeln befingert zu werden.

Da erhöht es die Tragik der Sache eher, dass dieser Angriff zur Hälfte Autoaggression ist. Ich gebe das ganz freimütig zu: Selbsterniedrigung spielt eine Rolle. Auf beiden Seiten. Natürlich spielen beide Parteien mit. Natürlich hat ein Jeglicher die Regeln des Spiels von Geburt an eingeatmet und sich entsprechend gemüht und gereckt. Er preist sich in eben jenen schalen Worten, von denen er gelernt hat, dass es die Beschwörungsformeln seien, die Zugang zu eben diesem Spiel erwirken, das »Sesam öffne Dich« zum »persönlichen Gespräch«, zum Praktikum, zur festen Anstellung; zum Mitspielendürfen & seligen Nichtausgeschlossensein. Es sind Vokabeln, die der Bewerbling in irgendeinem verschämten Winkel der Gesellschaft aufschnappen muss (ganz wie sein Wissen über den Geschlechtsverkehr), Formulierungen, die gleichzeitig geheim und öffentlich sind, die er sich mühsam zurechtlegt und dennoch auf jeder Website als Vorlage finden kann, Wortwendungen, an die er glaubt, ja glauben muss, wie er an sich und sein Leben zu glauben gezwungen ist, weil er doch in Glück leben will, Worte, die er zur selben Zeit hasst und gegen die er innerlich rebelliert, Sätze, deren Einandervorspielen aber – so glauben beide Seiten, Bewerbling und Personaler, felsenfest – zum Ritual gehört. Der Personaler erwartet den Schwachsinn, und der Bewerbling liefert ihn. Beide wissen, dass es eine Farce ist, und beide unterwerfen sich ihr mit beschämender, unwürdiger Bereitwilligkeit.

In diesem kurzen Moment aber, da sich zwei erwachsene Menschenseelen begegnen, die doch leichterdings ein Stück Wegs miteinander schlendern und verständig plaudern könnten, in diesem entscheidenden Moment der Begegnung, bei dem sie dann jedoch ein Rollenspiel vorziehen, dergestalt, dass einer sich aufs Unglaubwürdigste und mit den ausgeborgtesten, fadenscheinigsten Vokabeln preist, während der andere ihn noch ermuntert, als hätte es sein rechtes Bewenden damit. In diesem winzigen, fast lachhaft gekünstelten Moment aber offenbart sich ihrer beider Verlorenheit auf das Abgründigste.

Unnötig anzufügen, dass Nichtbeachtung des Spiels durch nur einen der beiden dessen Ausschluss nach sich zöge; Nichtbeachtung aber durch die Meisten würde unfehlbar zum Einsturz des gesamten Betriebes und der Gesellschaft überhaupt führen. Davon sind alle überzeugt. Denn wie könnte eine Wirtschaft, eine Gesellschaft, eine ganze Zivilisation funktionieren, in der nicht die Besten ausgewählt, in der nicht gesiebt, beurteilt, beworben und empfohlen würde?

Die ganze Bewerbungssituation beruht auf einer Reihe von Fehlannahmen und ideologiegeleiteten Folgerungen. Zu verfilzt ist der Stoff und zu langwierig wäre sein vollständiges Entheddern. Damit mir der Text nicht ins Kraut schieße, will ich mich auf zwei Punkte beschränken: Erstens auf die Darstellung der Problemklasse, der das Bewerbungsproblem zurechnet. Zweitens auf eine knappe Schilderung einer Phantasmagorie, die ich das »Messfieber« nenne.

Lebenskomplexe Probleme

Die Probleme, mit denen sich ein Mensch im Verlaufe seines Leben konfrontiert sieht, sind von so unterschiedlicher Beschaffenheit, dass durchaus nicht dumm ist, sie anhand sinnvoller Sortierprinzipien einzuteilen. Es vereinfacht vieles, Probleme klassenrichtig, das heißt gemäß der Klasse, unter die sie rechnen, zu behandeln. Erstes Sortierprinzip wäre nach Arten der Lösungsstrategie: Gewisse Probleme lassen sich beispielsweise durch Nachdenken oder auf einem Blatt Papier lösen. Mathematische oder logische Probleme sind von dieser Beschaffenheit. Dann gibt es Probleme, die man durch praktisches Ausprobieren lösen kann; reines, selbst noch so scharfes Hindenken bringt in solchen Fällen wenig. Die meisten naturwissenschaftlichen Probleme sind von dieser Art. Sie werden in der Regel durch schlaues Ausprobieren gelöst oder besser begriffen. Physik, Biologie, Chemie usw.: In diesen Bereichen bringt die Probiermethode viel. Dann wieder gibt es eine Reihe von Problemen, die vor allem Fleiß, Wiederholung und Hartnäckigkeit erfordern: zum Beispiel Instrument- oder Spracherlernen. Eigentlich jegliche Fertigkeit und Erfahrungswissen werden auf diese Weise erworben – durch wiederholten Umgang mit einer Sache, bis man sie beherrscht oder doch im Mindesten auf vertrautem Fuß mit ihr sich befindet. Und so fort; der Leser mag sich noch ein paar Problemklassen hinzudenken.

Schließlich aber gibt es noch eine Klasse von Problemen, die ich »lebenskomplex« nenne. Sie verdienen sich diese Bezeichnung, weil das prototypische Problem dieser Klasse das »Leben bewältigen« selbst ist. Es gibt, soll das heißen, keine allgemeine Strategie, mit der sich ein Leben gut bemeistern ließe. Egal, wie sehr man über sein Leben nachdenkt, egal, wie sehr man Fertigkeiten trainiert, egal, wie viel man probiert oder spielt und nur probeweise, im Konjunktiv, als Lebensentwurf einmal testet: Eine Strategie, die alle Lebenslagen abdeckt oder nur ein halbwegs verlässliches Mittel zu einem guten Leben wäre (ein Leben, meint die Bestimmung »gut«, halbwegs im Sinne der eigenen Vorstellungen geführt), so eine Strategie hat niemand noch gefunden.

Nehmen wir einmal an, es wäre so, nehmen wir an, es gäbe eine Sorte von Problemen, die so komplex und krumm und seltsam ist, dass keine planvolle Strategie als optimal oder auch nur im Sinne einer erhöhten Erfolgswahrscheinlichkeit ausgezeichnet werden könnte. Welche Probleme – neben »Leben führen« – fielen darunter oder klingen zumindest nach plausiblen Kandidaten?

Nun, hier ein erster Vorschlag: Lebenspartner finden zum Beipiel. Das kann gutgehen oder auch nicht; es gibt keine Möglichkeit, das im Vornherein herauszufinden. »Drum prüfe, wer sich ewig bindet!« – ach ja? Weiß denn der gute Friedrich auch einen Rat, wie das anzustellen sei? Soll man ein Jahr auf Probe miteinander zubringen? Oder fünf? Und damit sei die Gefahr des Auseinanderlebens oder der Nebenbuhlerschaft oder des Irgendwasdazwischenkommens gemindert? Die Bindung ist die Prüfung.

Oder könnte vielleicht ein eigens einzurichtender Test- und Belastungparcour werdenden Eheleuten lebenslange (oder erhöhte) Sicherheit garantieren? Möglicherweise wäre ein auf »wissenschaftlichen Untersuchungen« basierendes Assessment-Center für Heiratskandidaten eine grandiose Geschäftsidee! Oder, dem allgemeinen Vernunftsverdrusse folgend, die Geschicke doch lieber in die Hände von »Berufenen« legen? Die von Kupplerinnen, von Schadchen, von Pythien, von Schamanen?

Natürlich ist das alles verlorene, nunja, Liebesmüh. Es geht nicht! Keine Liebe und kein Bauchgefühl, kein Vernunftsgrund und kein Beziehungscoach können etwas dazu tun, dass es hält mit der Liebe; dass es mit dem lebenslangen Einanderbegleiten und Aufeinanderachthaben funktioniert. Sicher kann man vieles dafür tun, ja, soll sofort zugegeben und bestimmt sein, dass man viel für eine Beziehung tun muss; aber eine Garantie, dass es gut gehen wird oder auch nur glimpflich, die gibt es nicht. Die kann es nicht geben.

Es wird wohl etwas damit zu tun haben, dass es keine Lösung vor der Lösung gibt und das Leben sich nicht in irgendeiner komprimierten Form vor dem Leben selbst durchspielen lässt, um ihm dann wissender zu begegnen. Was auch immer es mit Komprimierbarkeit und Datenreduktion des Lebens auf sich haben mag, hier soll lediglich bedeutet und illustriert sein, dass es eine Klasse von Problemen gibt, denen man mit keiner Strategie begegnen kann außer der einen, trivialen, dass man sich Mühe geben will; dass man einen nicht zu kleinen und nicht zu kurzatmigen Willen mitbringt, die Sache irgend zu bewältigen, Strategie hin oder her.

Unter eben diese Sorte »lebenskomplex« rechnet das Bewerbungsproblem. Es ist ja gar nicht so verschieden vom Problem der Partnerwahl. Man sucht auch hier einen Menschen, mit dem man die meiste Zeit des Tages, fünf Tage die Woche, auskommen kann, auf den man zählen kann, der loyal, lebens- und fachklug & angenehm ist, kurz, man sucht einen Menschen mit allerhand Vorzügen und steht vor der Aufgabe, in gegebener Frist zu entscheiden, wer von den Kandidaten das Versprechen dieser Vorzüge denn auch einlösen wird. Nun, Freunde, Leser, Personaler, potenzielle Bewerblinge! Ihr müsst jetzt, wie so oft im Leben, »resilient« sein: Es gibt keinen besten Weg, dieses Problem zu entscheiden. Es gibt eine Reihe von Methoden, die alle ungefähr zum gleichen Resultat führen, nämlich dass man manchmal einen tollen Kollegen und oft genug auch eine Niete abgreift. (Und: Manchmal zombisiert dann ein einst toller Kollege nach fünf Jahren, während eine immerwährende Trauergestalt sich plötzlich »mausert«. Man weiß es einfach nie. Man kann es nicht wissen.)

How to become a Spezi

An dieser Stelle scheint mir passend, eine autobiographische Anekdote zu erzählen; gar nicht aus Erzählfreude, sondern weil sie im vorliegenden Zusammenhang lehrreich sein könnte. Also: In der DDR, meinem Geburtsland, gab es die sinnreiche Einrichtung sogenannter »Spezialklassen«. Das waren Abiturklassen (elf und zwölf) mit erweitertem Unterricht in einer Spezialisierungsrichtung. In meinem Fall handelte es sich um Chemie (und Naturwissenschaften), und die ganze Veranstaltung fand in der zauberspruch- und petrolchemie-umwehten Stadt Merseburg an der dortigen Hochschule »Carl Schorlemmer« statt.

Nun konnte nicht jeder ein »Spezi« werden. Man hatte ein raffiniertes Aufnahmeverfahren ersonnen, um die Talentreichen von den Minderbegabten zu sondern. Das Verfahren dauerte eine ganze Woche und begann damit, in einem ersten Test das Vorwissen der Kadidaten zu testen. Es wurden Klausuren in den wichtigsten Fächern geschrieben. Der fernere Verlauf sah dann eine Woche intensiven Unterricht vor und zwar über Stoffe, die derart fortgeschritten waren, dass ein Schüler von 15 oder 16 Jahren selbst bei außerordentlicher Vorbildung und brennendem Fachinteresse unmöglich schon mit diesen Dingen vertraut sein konnte. Nach Wochenablauf wurde das neue Wissen in Klausuren geprüft. Das hatte den Hintersinn, die Auffassungsgabe vom Vorwissen halbwegs getrennt begutachten zu können. Überdies erhielten die Lehrer im Unterricht einen Eindruck von Lebhaftigkeit, Mitarbeit, Sozialverhalten und was so an weiteren Faktoren in die Eignung eines Kandidaten hineinspielt. Am Ende gab es noch mit jedem Bewerbling ein Eignungsgespräch, und damit war das Aufnahmeverfahren beendet. Ich selbst muss mich während dieser Prozedur (wie ich später erfahren habe) nur mäßig gut geschlagen haben, denn ich landete im allgemeinen Ranking auf einem mittleren Platz. Da aber nur die Hälfte aller Bewerblinge angenommen wurde, lag die Abbruchkante gerade ein, zwei Plätze vor mir. Ich war aussortiert, ungeeignet, raus.

– Wäre ich gewesen. Wenn nicht zufällig ein paar Bewerblinge dann doch noch abgesprungen wären. So konnte ich »nachrutschen« und wurde dennoch Spezi. Welch ein Glück! Es waren eine Zeit und eine Schule, das nebenher bemerkt, die sich gar nicht genug loben lassen. Gar nicht genug! Hier aber nur die vorläufige Pointe, dass ich, nach Ablauf der zwei Spezi-Jahre, zu den Jahrgangsbesten gehörte. Ich teile das wirklich nicht mit, um anzugeben, sondern um die Hinfälligkeit und Nutzlosigkeit selbst eines so ausgeklügelten Auswahlverfahrens zu beweisen. Das System hätte einen – nach dessen eigenen Maßstäben – hervorragenden Kandidaten beinahe als ungeeignet aussortiert. Kein Korrektiv des Systems, sondern nur ein Zufall hat diesen Fehler vermieden. Wie viele Talente aber wurden tatsächlich fortgeschickt, entmutigt, nie gefördert? Ist nicht von schlagender Beweiskraft, dass selbst dieses wohldurchdachte System so eklatant scheitern kann? Wodurch noch rechtfertigt sich denn der getriebene Aufwand? Hätte man nicht, indem man sich nur auf das halbstündige Interview beschränkte, mit einer ganz vergleichbaren Ausfallquote rechnen können?

Sinnlose Berufe

Die Methoden zur Bewerbling-Auswahl, wollte ich nahelegen, unterscheiden sich, wiewohl sie alle zu ungefähr demselben Ergebnis führen, in ihrem Aufwand ganz erheblich. Ein paar Tage Assessment-Center können locker zehn- oder zwanzigtausend Euro kosten. Was wenige glauben mögen: Ein Telefonat und/oder ein kurzes persönliches Gespräch hätten ganz dieselbe Erfolgsquote. Mit dieser Empfehlung soll auch das Missverständnis ausgeräumt sein, ich würde gleich alles Abwägen verwerfen und vertreten, dass jede Strategie so gut wie ein aleatorisches Verfahren sei (Würfeln etc.). Das wäre Quatsch. Irgendeine Heuristik wird benötigt. Ich sage nur, dass alle Heuristiken ungefähr gleich gut (oder gleich schlecht) sind und ferner, dass die Heuristik unserer Intuition nicht so schlecht ist wie ihr Ruf. Zumindest nicht beim Bewältigen lebenskomplexer Aufgaben.

Nur könnten dann sehr viel weniger Menschen von so einem einfachen Verfahren leben; Abteilungen müssten geschlossen werden, der ganze Berufszweig der Personaler stürbe. Ich persönlich gönne diesen Menschen alles Gute und wünsche ihnen nichts Schlechtes, aber sie sind einmal – beruflich! – außerordentlich entbehrlich. Man verstehe mich auch nicht dahingehend fehl, dass ich diesen Personalern irgendeine Schuld an irgendeinem Missstand anlastete. Um Gottes willen, sie haben sich doch diesen Blödsinn genauso wenig ausgedacht, wie Soldaten sich den Krieg ausdenken. Sie sind nur eben die unnützen Idioten, die es dann tun. Und weil jeder Berufsstand mit einer gewissen, dem Selbstschutz dienenden Wahrnehmungsverzerrung einhergeht, halten Personaler ihre idiotischen Tätigkeiten und Kriterien für wichtig, unternehmensförderlich, wo nicht sogar sittlichkeitshebend und in gewisser Weise heroisch. Sie sind sozusagen die Soldaten der bestmöglichen Crew, und zwar in vorderster Front.

Kein Wort mehr gegen Personaler! Sie sind ja nur eine neuere Inkarnierung eines menschheitsalten Aberglaubens, lebenskomplexen Problemen durch Professionalisierung begegnen zu können. Aus dieser irrigen Hoffnung heraus entstanden immer wieder kuriose Berufsgruppen: es entstanden die besagten Kupplerinnen und Schadchen; es entstanden Schamanen, Seher und Hofweise; es entstanden Geishas, Psychoanalytiker und Lebenscoaches; es entstanden Werbe- und Verkaufsfachleute und eben Personaler, Headhunter und wie sie alle heißen. All diese Berufe verkörpern die sozusagen fleischgewordene Ratlosigkeit, welche die Menschen – berechtigterweise! – beim Bewältigen lebenskomplexer Aufgaben befällt. Sie bezeichnen die auf halbem Wege stehengebliebene Einsicht in die Unmöglichkeit, diesen Aufgaben mit einer Strategie begegnen zu können. Statt aber an dieser Wegesstelle sich ein Herz zu fassen und sie als ermunternden Fingerzeig, ja als Beweis einer grundlegenden Lebensfreiheit zu verstehen, wird die Ratlosigkeit schnell zur Mutlosigkeit, und die wiederum wird, in noch schnellerem Regress, zur Sehnsucht nach Autorität. Und weil nun nichts einen »berufenen Mund« an Autorität übertrifft, wird der Mund eben berufen, das heißt, es wird dem Munde ein Beruf geschaffen. Der soll dann sagen, der soll weisen, der soll richten! – So schafft man sich die großen, lebenskomplexen Probleme scheinbar vom Halse, indem man das kleinere Problem sinnloser Berufsgruppen in Kauf nimmt. Wir lassen uns unseren Selbstbetrug gern etwas kosten. Natürlich ist gar nichts gelöst. Wir haben uns nur, zusätzlich zu den lebenskomplexen Problemen selbst, ein paar kostspielige Gestalten aufgehalst, denen wir den überaus lästigen Wahn eingeredet haben, sie könnten zur Problembewältigung beitragen.

Paarschiffe & Redereyen

Ein lustiges Beispiel für die sinnlose Professionalisierung lebenskomplexer Probleme geben Partnerschaftsbörsen ab. Das bekannte deutsche Datingportal »NAMEDESDATINGPORTALS« wirbt mit dem Slogan »Alle elf Minuten verliebt sich ein Single auf NAMEDESDATINGPORTALS«. Alle elf Minuten, wie geil! Yay, instant Love! Da wird es niemand verargen, wenn wir uns rasch zwei dieser Minuten nehmen, um zu überschlagen: Laut Wikipedia hat NAMEDESDATINGPORTALS 4,5 Millionen Mitglieder (»riesige Auswahl«!). Wenn sich nun von denen alle elf Minuten einer verliebt, macht das 131 am Tag bzw., weil die Liebe in der Regel zwischen zweien statthat, runden wir auf die nächste gerade Zahl auf: Macht 132 Frischverliebte/Tag. Auf die 4,5 Millionen gerechnet, ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit von 0,003%, unter den Glücklichen des Tages zu sein – oder 99,997%, wieder einmal allein, missvergnügt und unbefriedigt in Schlummer zu sinken. Nun, mit dieser Trefferquote würde es ca. 23105 Tage dauern (mehr als 63 Jahre), damit die Wahrscheinlichkeit, selbst unter die 132 Sonnenkinder zu rechnen, auch nur 50% übersteigt! (0,99997 hoch 23105<0.5) Selbst wenn wir anstatt mit einem Tag mit der feinstmöglichen Granularität von elf Minuten rechnen und großzügig immer ein Paar anstelle einer Person ansetzten (dh. p(Verliebt)=2/4.5Mio pro 11 Minuten), blieben es ca. 32,5 Jahre, bis die Wahrscheinlichkeit, sich zu verlieben, größer würde als 50%. Dreißig Jahre, damit die Wahrscheinlichkeit über ein halb steigt! Das muss der Fortschritt sein! – Sowas kommt bei der Professionalisierung lebenskomplexer Probleme heraus. Da mag es nachgerade unwirklich anmuten, dass man im wahren Leben durchschnittlich zwei oder drei Jahre benötigt, um sich zu verlieben. Selbst wenn es zehn wären, wäre das Leben immer noch ein dreimal effizienterer Matchmaker als die Profis. Talk about sinnlose Berufe!

Aber es kommt noch besser. Denn es ist das Verlieben ja noch keine Lösung des Partnerschaftsproblems. Manche mögen mir einwenden, es wäre immerhin der Anfang einer Lösung; andere aber wenden (mit derselben Berechtigung) ein, es wäre überhaupt erst der Anfang des Problems. – Worüber wir dazu geleitet sind, einen weiteren Aspekt lebenskomplexer Probleme zur Sprache zu bringen: Den nämlich, dass man nie weiß, wie gut die gefundene Lösung oder die momentane Lebenslage eigentlich ist (bzw. wie schlecht). Oder, auf eine Lebensentscheidung gewandt (z.B. Berufswahl, Umzug, Heirat etc.): Ob diese Entscheidung eigentlich ein Fehler war, oder nicht? Ob sie unser Leben zum Besseren oder zum Schlechteren gewandt? Oder, auf unser Bewerberproblem bezogen: Ob der eingestellte Bewerber tatsächlich so katastrophal ist, wie wir glauben (oder ob nicht ein anderer uns gar die ganze Bude über den Häuptern abgefackelt hätte), bzw. ob nicht der nächste Bewerber ein Genie gewesen wäre (obwohl wir mit dem Eingestellten recht zufrieden sind). Auf all diese Fragen können wir keine Antwort wissen, weil sie den Vergleich mit einer Alternative suchen, die es nicht gibt. Ein Vergleich, der, infolge der einfachen Tatsache, dass jedes Leben (und jede historische Situation) eben nur ein einziges Mal stattfindet, nicht möglich ist.

Selbst in einer Zeitschleife, wie in dem Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«, würden wir alternative Handlungsmöglichkeiten nicht miteinander vergleichen können, weil wir entweder mit jeder Iteration mehr wüssten (und also nicht dieselbe Situation wiederherstellten, sondern eine informiertere; wie ja auch im Film) oder mit jedem Neubetreten der Zeitschleife (»I got you babe …«) auch unser Gedächtnis gelöscht würde und also kein Vergleich möglich wäre. Es geht nicht. Das ist einer von mehreren Gründen, aus denen lebenskomplexe Probleme lebenskomplex sind. Vieles in ihnen geschieht nur ein einziges Mal und kann nicht verglichen oder wiederholt oder in seiner Richtigkeit eingeschätzt werden.

Und Zufriedenheit, wie steht es mit der Zufriedenheit? Wäre sie nicht ein untrüglicher Gradmesser des Erfolgs beim Bewältigen lebenskomplexer Aufgaben? Bzw. Unzufriedenheit? Weiß der zufriedene/unzufriedene Mensch nicht, dass seine Wahl goldrichtig/ein Schuss in den Ofen war? – Nein. Es weiß der Zufriedene genauso wenig wie der Unzufriedene, wo er sich im Leben befindet. Er könnte sich gleich nebenan, vielleicht nur eine Entscheidung weiter, durchaus noch besser befinden – oder noch schlechter. Um aber das »Nebenan« zu kennen, hätte man eben ein anderes Leben führen müssen, ja, wäre man recht eigentlich ein anderer Mensch geworden, bedenkt man, dass unsere Erfahrungen zumindest einen Teil unseres Charakters fortschreiben. Und selbst im Fall, man befände sich »Nebenan«, gäbe es von dort aus (wo nicht wir, sondern ein leicht von uns verschiedener Mensch sich befände) genauso viel unerkundetes und unerkundbares »Nebenan«. Zufriedenheit und Unzufriedenheit, bedeutet das, sollen weniger als Anzeiger, wo wir uns tatsächlich befinden, aufgefasst werden denn als Grad innerer Ruhe oder Unruhe, als Stärke unseres Antriebs, etwas zu verändern. Wo uns das hinführt, ob wir dem Antrieb der Unzufriedenheit bzw. der sedierenden Wirkung der Zufriedenheit besser nicht gefolgt wären, das lässt sich mithin gar nicht ermitteln.

Überhaupt, das ins unzulässig Allgemeine gesprochen, neigen wir dazu, den Kommentar unserer Gefühle zu überschätzen. Man sollte ihre Einrede beachten wie den Rat eines guten Freundes: Irgendwas ist meist dran, aber einen privilegierten Zugang zur »Wahrheit« über unsere Lebenslage bieten sie nicht.

Man bleibt, was oder wen auch immer man zu Rate ziehen mag, nicht mehr als jener Frosch in einem Kruge voller Milch, der vom Butterschlagen nichts wissen kann und aber immerfort rudert. Zwar strampelt man sich, anders als der, im Verfolg von Träumen und Plänen ab, aber ob man dadurch, selbst im Fall, man erreicht das Erstrebte, lebensklug beraten ist, das weiß man nie. Die Aufgabe besteht darin, das Lächerliche des Gehampels zu durchschauen und dennoch genießen zu können. Man muss eine gewisse Liebhaberei fürs Peinliche entwickeln, sonst versauert man.

Und darf man nicht wenigstens vom zufriedenen Augenblicke sagen – im Gegensatz zur Lebenslage –, wenigstens vom zufriedenen Momente schließen, dass er ein guter sei? Oder doch ein bessrer als ein unzufriedener? – Unzweifelhaft fühlt er sich besser an. Aber er kann durchaus im Lichte späterer Lebenserfahrungen und der Volten, die zu schlagen dem Leben einmal beliebt, drastische Umwertung erfahren. Zufriedenheit kann späterhin als unbemerkte Saumseligkeit, wo nicht Verdrängung erscheinen; Unzufriedenheit als Ursache für Regsamkeit und ferneres Lebensglück und so fort. Und weil es nun kein Ende dieser Bewertungsfunktion gibt, sondern wir den ganzen Ausdruck unseres Lebens immerfort aufs Neue und aus anderem Gesichtswinkel auswerten, und weil das Ende, das ihm der Tod unvermeidlich bereitet, ein ganz und gar willkürliches ist (dem auch nur in seltenen Fällen eine Generalauswertung mitgegeben), und weil, selbst im Fall wir eine Generalauswertung kurz vor dem Tode vornähmen, ich mich doch vehement dagegen verwahrte, dass wir lediglich für den letzten Kassensturz vor dem Tode lebten und unser Handeln von dieser hypothetischen, dürren und willkürlichen Stunde aus bewerten sollten, weil also fundamental unklar bleibt, was ein Moment im Leben eines Menschen tatsächlich bedeutet, will ich dieser Frage nach dem zufriedenen Moment mit der wohlmeinenden Ratlosigkeit begegnen, dass er wohl, solange er gut scheint, auch gut sei und währt; und aber, wenn er sich denn als trügerisch und falsch erwiese, genauso vorläufig als falscher Moment fortgelten dürfe …

Sekretärinnenprobleme

Lassen wir das trügerisch Allgemeine und wenden uns beschließend noch einmal kurz dem Bewerbungsproblem zu. Es gibt Versuche, dem Problem, trotz Lebenskomplexität und prinzipieller Aussichtslosigkeit, systematisch zu Leibe zu rücken. Eine der bekanntesten Behandlungen fand unter dem Namen »Sekretärinnenproblem« statt: Darin wird eine optimale Strategie gesucht, um aus einer gegebenen Menge von Bewerbern (»Sekretärinnen«), von denen einer nach dem andern begutachtet wird, den besten zu finden, ohne gleich alle ansehen zu müssen. Die Idee der optimalen Strategie lautet wie folgt: Erst verschaffe man sich durch eine Stichprobe Überblick über das allgemeine Leistungsniveau der Bewerber, und dann nehme man den ersten Bewerber, der besser ist als der beste Bewerber der Stichprobe. Unter den Nebenbedingungen, dass (1.) Bewerber immer sofort nach dem Interview und wenn, dann endgültig abgelehnt werden und dass (2.) die Anzahl der Bewerber feststeht, kann man zeigen, dass die optimale Stichprobengröße bei ≈37% der Bewerber liegt (1/e). Dann, so die streng mathematische Herleitung, wäre die Chance, mit dem nächsten Besseren auch den optimalen Bewerbling abzugreifen, maximal.

Vermutlich bricht der Leser unterdessen schon bei der Wortbildung »optimaler Bewerbling« in Lachen aus. Um Vergebung, ich habe mir das nicht ausgedacht, ich referiere es ja nur. Der Fehler liegt schon klaftertief in der Voraussetzung: Unter n Bewerbern, so will es die Aufgabe, gäbe es einen, der am geeignetsten wäre (bzw. man könne die Bewerber hinsichtlich ihrer Eignung in eine Reihenfolge bringen). Es ist der Zweck dieser Zeilen, genau diese Vorstellung fragwürdig zu machen.

Geben wir also, einander die Langeweile ausschweifender Wiederholungen zu ersparen, unsere bisherigen Einwände gegen die Einbildung einer objektiv vorhandenen Bewerber-Rangfolge in abgekürzter Form:

Erstens versagt uns die fundamentale Unbestimmtheit der Zukunft die genauen Eignungs- und Bewährungsumstände, unter denen der Bewerbling sich dann tatsächlich beweisen muss. Möglicherweise sind in wichtigen künftigen Situationen ganz andere Qualitäten erfordert als die von uns für wesentlich gehaltenen (zum Beispiel Umsicht statt Erfindungsreichtum oder Beharrungsvermögen statt Teamfähigkeit etc.). Dieselbe Unbestimmtheit der Zukunft kann – vielleicht wichtiger noch – bereithalten, dass ein Mensch gründlich aus seiner Bahn geworfen wird. Was bislang an ihm war oder zu sein schien, kann umgeworfen, verschüttet, ins Gegenteil verkehrt werden. Es muss ihm dazu nicht mal etwas Einschneidendes oder gar Traumatisches widerfahren. Derlei Änderungen, Verkrustungen, Niedergänge können sich auch schleichend ereignen, und ein einst hochmotivierter, robuster und schaffensfroher Mitarbeiter kann zu einem verzagten, mürrischen, kränklichen und manchmal sogar intriganten und verschlagenen Wesen sich wandeln. Man weiß es nicht.

Zweitens, die Unmöglichkeit des Vergleiches mit den Alternativen. Das ist ein sehr viel stärkerer Einwand als der erste, der für sich schon nicht von Pappe ist. Jetzt wird es prinzipiell. Denn jede Bestimmung läuft auf irgendeine Form der Vergleichbarkeit hinaus. Wo kein Vergleich, da keine Bestimmung. Das Messbare kommt an seine Grenze, wo der Unterschied nicht feststellbar ist. Man müsste aber, um vergleichen zu können, zwei verschiedene Bewerber in zwei identischen Kopien eines Unternehmens einstellen. Und selbst im Fall wir eine solche Parallelwelt herstellen könnten, wäre nicht klar, wann und wie man bilanzieren soll? Nach einem Jahr? nach zehn? beim Ausscheiden des Bewerblings aus dem Unternehmen? – Letzteres wäre sicher die genaueste Bilanz, aber gleichzeitig erschwert sich das »Herausrechnen« eines Einzelbeitrags zum Gesamtgeschehen mit der Zeit zusehends. Denn je länger und unterschiedlicher die Entwicklung der beiden hypothetischen Unternehmenskopien, desto weniger wird sich sagen lassen, was von den Unterschieden auf den Einfluss der eingestellten Person und was auf die übrige Dynamik der Welt rückführbar sei. Wenn aber ein Test unserer Hypothesen über die Eignung eines Kandidaten gar nicht möglich ist, dann sind unsere Hypothesen dazu verdammt, nie verifizier- und nie falsifizierbar zu sein. Alles, was wir uns im weiteren Verlauf als Verifikation oder Falsifikation zusammenklauben mögen, ist im Sinne einer wissenschaftlichen Überprüfung nichts wert; es ist nichts weiter als die Selbstbestätigung eines Observer-Bias. Wie gesagt: Man kann – man soll – Reihenfolgen machen. Aber man soll nicht auch noch glauben, sie drückten mehr aus als unser subjektives Hoffen. Mit »objektiven Reihenfolgen« hat das wenig zu tun; ja, es wird, eingedenk dieser prinzipiellen Unmessbarkeit, die gesamte Rede von »objektiven Reihenfolgen« zuschanden.

Drittens schließlich komme ich an den wichtigsten und bislang nur implizit mitgeführten Einwand. Er handelt von der Unmöglichkeit, Qualität restlos in Quantität überführen zu können. Diese schädliche Vermischung der Kategorien liegt dem Problem als Kern überhaupt zugrunde. Man verlangt zu messen, wovon nicht einmal klar, ja wovon sogar höchst zweifelhaft ist, ob es messbar sei. Dieses unbändige, oft suchtartige Züge annehmende Verlangen nach Messbarkeit und Rangfolgen nenne ich das Messfieber.

Epidemiologie

Die Sache ist ernst. Am Messfieber laboriert unterdessen das gesamte Abendland; und hat das Morgenland längst infiziert; und muss der Welt überhaupt die ungute Diagnose mitgeteilt werden, dass sie recht eigentlich in all ihren bekannten Teilen fibrös ist, geschüttelt von der Phantasmagorie, jedweden Vorgang oder Gegenstand – und insbesondere aber Menschen! – messen und in Reihen- und Rangfolgen bringen zu können.

Die Diagnose ist nicht neu. Wer nun aber wittert, dass es in der Konsequenz gegen den Kapitalismus gehen würde, wird sich enttäuscht finden. Ich ziele tiefer, ich ziele in letzter Konsequenz auf das Wesen des Menschen und der Arbeit.

Bevor wir aber dahin gelangen, wollen wir gern zugeben, dass was dran ist an dem Vorwurf, dass namentlich das Bürgertum die rangmacherische Messwut in praktisch jeden Lebensbereich getragen hat; dass die Menschheit, wenn man so sagen kann, das Entrinnen aus kirchlicher Umnachtung mit der Verwandlung des Messweins in Messfieber bezahlt hat.

Natürlich hat das Messfieber etwas mit Kapitalismus, Wettbewerb, Markt, Geldwirtschaft und so weiter zu tun. Erst mit dem Bürgertum hielt eine krasse Durchrationalisierung des Lebens Einzug, die selbst vor ganz marktfernen oder seeleninnerlichen Bereichen weder Halt noch Scham kennt: nicht vor der Kunst, nicht vor Medizin und Fürsorge pflegebedürftiger Menschen, nicht vor der Wissenschaft, nicht vor der Quantifizierung des Glücks, oder, wie wir schon zu besichtigen kurze Gelegenheit hatten, der Liebe.

Man verstehe mich recht: Ich kritisiere nicht, dass man überhaupt die Forderung erhebt, auch derlei »müsse sich rechnen«. Ich bestreite, sehr viel grundlegender, die Messbarkeit selbst!

Es gehört zu unseren tiefsten Irrtümern, dass wir, indem wir achten, dass »es sich rechnet«, die Qualität »messen« würden, von der wir glauben, dass sie sich in den Zahlen (Gewinnspannen, Zeiten, Rankings etc.) niederschlüge. In Wirklichkeit messen wir etwas völlig anderes. Was das Gemessene bedeutet, ist oft gar nicht einfach zu sagen, siehe die klassische Kontroverse um die Interpretation des Wertes einer Ware. Was das Gemessene nicht bedeutet, lässt sich hingegen klar angeben: Keinesfalls misst es eine Qualität – nicht eines Bewerblings, nicht eines Kunstwerkes, nicht einer wissenschaftlichen Arbeit. Niemand hat je eine Qualität gemessen. Qualitäten sind ihrer Natur nach gar nicht messbar. Dazu müssen sie immer erst in Quantitäten umgewandelt werden. Diese Umwandlung geht, wie wir im Folgenden sehen werden, nie ohne Verlust vonstatten. Es wird das Verhältnis dieses Verlustes zum Gewinn sein, den wir untersuchen.

Vermessenheiten der Vermessbarkeit

Zu welcher Verrücktheit das Messfieber unterdessen erblüht ist, ersieht man daran, wie ganze Messindustrien erschaffen wurden, um sich der Vermessenheit der Vermessbarkeit hinzugeben.

Ein simples erstes Beispiel geben vielleicht die allbeliebten Hitparaden bzw. »Charts« ab. Sie drücken, zumindest in der Art, wie sie das Reden über und den Umgang mit Musik bestimmen, die Qualität eines Musikstücks als Verkaufsrang aus. Dann wieder kenne ich niemanden, der ernsthaft auch nur an eine lose Korrelation von Musikqualität und Verkaufsrang glaubt, von Zusammenhang oder Kausalität ganz zu schweigen. Lässt sich, verschärft nachgefragt, wahrhaftig daran glauben, dass sich die Qualität eines Musikstückes (allgemein: eines Kunstwerkes) überhaupt irgend messen lässt? Der Kunstrezipient, indem er rezipiert, misst ja noch nichts; denn er erzeugt zunächst keine Zahlen und keine Rangfolgen. Er mag dann verschiedene Kunstwerke gegeneinander beziehen und im Gespräch darüber, in einer Kritik etc., mehr oder minder nachvollziehbare Gründe für sein Wertschätzen und sein Vorziehen eines Werkes vor ein anderes weisen, messbar aber wird dadurch nichts. Dennoch missverstehen Künstler, Publikum und Musikindustrie gleichermaßen den Verkaufsrang als Anzeiger von irgendwas; und meist hat es auf verquaste Weise doch mit der Qualität der Musik oder des Künstlers zu tun.