Anti-ökonomischer Kommunismus - Jenny Kellner - E-Book

Anti-ökonomischer Kommunismus E-Book

Jenny Kellner

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Beschreibung

Georges Batailles radikales Souveränitäts-Denken entfaltet sich in affirmativen Bezügen zu Nietzsche und zugleich zum kommunistischen Projekt. Es ist ein politisches anti-politisches Denken. Sich seiner Herausforderung zu stellen, heißt: das spannungsvolle Konzept eines »anti-ökonomischen Kommunismus« zu entwickeln. In diesem Begriff verbinden sich als Problem zwei so unvereinbare wie jeweils unverzichtbare emanzipatorische Perspektiven: Während der Kommunismus im Ideal auf die Befreiung des »gesellschaftlichen Ganzen« im Sinne eines zu verwirklichenden Lebensrechts aller unter dem Aspekt ihrer Gleichheit zielt, fordert Nietzsche die Befreiung des »ganzen Menschen«, seine absolute »Souveränität«, d.h. radikale Ungleichheit des einzelnen Menschen und seine Nicht-Unterordnung unter jedwede Handlungsökonomie. Kommunistische und nietzscheanische Emanzipation kollidieren miteinander, schließen einander aus und sind doch zutiefst aufeinander angewiesen. Der anti-ökonomische Kommunismus hebt diesen Widerspruch nicht auf; er hält dazu an, ihn im Zuge einer permanenten Revolte auszuschöpfen.

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Seitenzahl: 491

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jenny Kellner

Anti-ökonomischer Kommunismus

Batailles nietzscheanische Herausforderung

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Georges Batailles radikales Souveränitäts-Denken entfaltet sich in affirmativen Bezügen zu Nietzsche und zugleich zum kommunistischen Projekt. Es ist ein politisches anti-politisches Denken. Sich seiner Herausforderung zu stellen, heißt: das spannungsvolle Konzept eines »anti-ökonomischen Kommunismus« zu entwickeln.In diesem Begriff verbinden sich als Problem zwei so unvereinbare wie jeweils unverzichtbare emanzipatorische Perspektiven: Während der Kommunismus im Ideal auf die Befreiung des »gesellschaftlichen Ganzen« im Sinne eines zu verwirklichenden Lebensrechts aller unter dem Aspekt ihrer Gleichheit zielt, fordert Nietzsche die Befreiung des »ganzen Menschen«, seine absolute »Souveränität«, das heißt radikale Ungleichheit des einzelnen Menschen und seine Nicht-Unterordnung unter jedwede Handlungsökonomie. Kommunistische und nietzscheanische Emanzipation kollidieren mit einander, schließen einander aus und sind doch zutiefst aufeinander angewiesen. Der anti-ökonomische Kommunismus hebt diesen Widerspruch nicht auf. Er hält dazu an, ihn im Zuge einer permanenten Revolte auszuschöpfen.

Vita

Jenny Kellner, Dr. phil., studierte Schauspiel, Philosophie und Soziologie in Hamburg und Berlin. Sie lehrt an der Hafencity Universität Hamburg und an der Universität der Künste Berlin und ist als freie Publizistin und Künstlerin tätig.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Eingang

I.

Bataille mit Nietzsche wider den Faschismus

1.

Batailles Wiedergutmachung an Nietzsche

1.1

Eine Aristokratie freier Geister gegen den Faschismus

1.2

Ein antifaschistischer Mythos der Zukunft

1.3

Kritik der modernen Ideen

1.4

Nietzsches Denken als Labyrinth

2.

Gewalt, Intensität und Mythos im Kontext der Faschismusanalyse Batailles

2.1

Die Gewalt der Heterogenität im Gegensatz zur friedlichen Homogenität

2.2

Heterogene Kräfte als Intensitäten

2.3

Ein kopfloser Mythos als Antwort auf den Faschismus

3.

Der Wille zur Macht als pluralistische Theorie der Kräftedifferenzen

Übergang I

II.

Das Verlangen nach der Gemeinschaft

1.

Gemeinschaft als Kategorie einer politischen Theorie

2.

Batailles Gemeinschaft als innere Erfahrung

2.1

Die innere Erfahrung als Kritik des Projekts

2.2

Gemeinschaft erfordert Kommunikation und Dramatisierung

3.

Nietzsches ›Anti-Politik‹

3.1

›Gegen-Politik‹

3.2

›Vor-Politik‹

3.3

Eine ›Politik des Gegen‹ als Politik der Differenzen

Übergang II

III.

Die Herausforderung des anti-ökonomischen Kommunismus

1.

Batailles Souveränität als anti-politisches und anti-ökonomisches Konzept

1.1

Souveränität durch Transgression

1.2

Souveränität statt Herrschaft: Nietzsche wird gegen Hegel ausgespielt.

1.3

Souveränität zwischen Kunst und Politik

2.

Nietzsche für den Kommunismus: ein paradoxes Bündnis

3.

›Anti-Ökonomie‹ im Anschluss an Bataille und Nietzsche

3.1

Die Ökonomie eines siedenden Subjekts

3.2

Batailles ökonomietheoretische Position

3.3

Eine nietzscheanische Ökonomie des Schenkens

4.

Anti-ökonomischer Kommunismus

4.1

Anti-ökonomische Gleichheit

4.2

Anti-ökonomische Gemeinschaft

Ausgang

Literatur

Dank

Eingang

Georges Batailles Schriften stellen für jedes Denken, das sich von ihnen affizieren lässt, eine Herausforderung dar. Jede zugreifende Handhabung scheint an einer so eigenwilligen wie eindringlichen Sprache abzugleiten. Eine sogartige Anziehung verbindet sich mit Effekten der Distanzierung. Ähnliches lässt sich auch über das Werk Friedrich Nietzsches sagen, von dem Bataille seinerseits sich in außergewöhnlicher Weise affizieren und herausfordern ließ.

Wie ist mit dem Überwältigenden und Irritierenden von Batailles Sprache umzugehen, angesichts des Bestrebens, sein Denken philosophisch und politisch ernst zu nehmen? Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, sich dieser Herausforderung unter einem spezifischen Aspekt zu stellen und sie so für eine politisch interessierte philosophische Begriffsarbeit fruchtbar zu machen. Denn Batailles Diskurs zeichnet sich sowohl durch seine starken politischen Implikationen als auch durch eine nachdrückliche Skepsis in Bezug auf politische Projekte aus, wie sich an einer gleichermaßen affirmativen Haltung zu Karl Marx’ kommunistischer Idee wie zu Nietzsches radikalem Aristokratismus ablesen lässt. Batailles nietzscheanische Herausforderung annehmen, heißt, den Begriff eines ›anti-ökonomischen Kommunismus‹ zu entwickeln.

Zwar haben weder Bataille noch Nietzsche explizit das Ziel verfolgt, eine bestimmte Idee des Kommunismus zu verteidigen. Die Nietzscheinterpretation Batailles jedoch, die im Zusammenhang mit seinen Theorien des Heterogenen, der Souveränität und der allgemeinen Ökonomie gelesen werden muss, bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung eines spezifischen Begriffs des Kommunismus, weil Bataille einer nietzscheanischen und einer kommunistischen Haltung, trotz und wegen des unendlichen Abstands zwischen beiden, die gleiche Geltung und Relevanz zuerkennt: »Es bleibt mir unbenommen, zu glauben und zu sagen, daß das Denken Nietzsches in Wahrheit nicht weniger wichtig als der Kommunismus ist«,1 schreibt Bataille im Aufsatz Nietzsche im Lichte des Marxismus, und an etwas späterer Stelle: »Ich glaube, daß in der heutigen Welt keine Einstellung außer der des Kommunismus und der Nietzsches annehmbar ist.«2

Wenn der Traum vom Kommunismus und sein historisches Desaster heute in eine unauflösliche Zerrissenheit versetzen, so muss der Kommunismus in dieser Zerrissenheit neu gedacht werden. Diese Aufgabe lässt sich mit der nietzscheanischen Herausforderung Batailles verbinden. Denn das Verhältnis zwischen Nietzsche und dem Kommunismus stellt sich, Bataille zufolge, wie das Verhältnis zwischen zwei Fremden dar, die einander zu erkennen nicht imstande sind und doch zutiefst aufeinander angewiesen zu sein scheinen, um die Frage nach einer befreiten Menschheit voll zu entwickeln.3

›Anti‹ heißt ›Anfechtung‹

Das Attribut des ›Anti-Ökonomischen‹, das dem Kommunismus zugeschrieben werden soll und sich dem Wort nach weder bei Bataille noch bei Nietzsche findet, verweist auf eine Form des Widerspruchs, die nicht dialektisch, sondern paradoxal verfasst ist. Obwohl ›Anti‹ eine Gegnerinnenschaft4 impliziert, ist es im Kontext des Denkens Batailles und Nietzsches zugleich affirmativ zu denken. Abstand und Verbindung schließen einander nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig. Die Frage nach einem nichtdialektischen kritischen Denken des Widerspruchs steht seit den 1960er Jahren im Zentrum einer französischen Nietzsche-Rezeption, die sich zwischen Dekonstruktion, strukturalistischer Marxlektüre und vitalistischem Differenz-Denken entwickelt,5 und die einen entscheidenden Anstoß in Batailles Auseinandersetzung mit Nietzsche fand.6 Ohne diese in sich heterogene Nietzsche-Rezeption zu rekonstruieren und für oder gegen die jeweiligen darin zum Ausdruck kommenden theoretischen Positionen zu argumentieren, wird in der vorliegenden Arbeit mit Bataille eine offene und öffnende Zwischenposition eingenommen, die eine Methode und eine Politik der ›Anfechtung‹ impliziert.7

Es liegt nicht auf der Hand, von einer ›Politik‹ der Anfechtung nach Bataille zu sprechen, sofern es sich bei Batailles Anfechtung zunächst um ein epistemologisches Konzept handelt, nämlich dasjenige »einer kontinuierlichen Infragestellung«, »einer grundlosen Befragung, die eng mit […] einer Negativität ohne Verwendung« zusammenhängt, »einer Negativität, die nicht mehr Arbeit oder Kampf ist und die sich daher auch nicht mehr in die Produktion der Geschichte des Sinns oder des Diskurses investieren lässt, sondern die Geschichte entschieden dekonstruiert.«8 Doch trotz ihres radikal-dekonstruktivistischen Zuges impliziert Batailles Methode der Anfechtung eine Politik, und zwar eine Politik der Revolte.9

Batailles methodologischer Positionierung geht dieser Grundsatz voraus: Das transformatorische Potenzial gesellschaftskritischer (theoretischer) Praxis findet seine Grenze in dem Maß, in dem diese Praxis die Wirklichkeit anerkennt und sich den objektiven Bedingungen von Existenz und Diskurs unterwirft. Sie kauft im Horizont der Anerkennung der Wirklichkeit die Bedingungen ein, die ihr ›Feind‹ (die gegebenen Verhältnisse als zu bekämpfende) selbst setzt und gegen die sie sich zuallererst richten müsste.10 Bataille besteht daher auf der Methode der Anfechtung, die als spezifische paradoxe Praxis des Anti, als theoretische ›Anti-Praxis‹, begriffen werden kann.11 Angefochten wird immer das positiv Gegebene, was es auch sei. Ohne diese Anfechtung kann es nie etwas Neues geben – weder Transformation noch Revolution. Dabei lässt Anfechtung sich auf konkrete soziale Verhältnisse ebenso beziehen wie auf diskursive Formationen und auf das Denken selbst. Wenngleich Batailles Werk zweifellos von dem Bestreben zeugt, etwas (oder sogar: alles) zu denken, zu begreifen und zu erkennen, so läuft der Weg zur Erkenntnis paradoxerweise gerade über deren Anfechtung.

Zentral ist das Thema der Anfechtung ist in Batailles Monographie Die Innere Erfahrung. Es handelt sich um das erste von drei philosophischen Werken, die Bataille während des Zweiten Weltkriegs schrieb und im Nachhinein unter der Überschrift Atheologische Summe zusammenfasste.12Die Innere Erfahrung erschien erstmals 1943 und wurde 1954, um zwei Anhänge – »Methode der Meditation« und »Post-scriptum 1953« – ergänzt, neu aufgelegt. Im ersten Teil der Methode der Meditation stellt Bataille unter der Überschrift »[Anfechtung]«13 Überlegungen zum Problem der Erkenntnis in Form kurzer »Meditationen« an.14 Sowohl thematisch als auch terminologisch springt die Anlehnung an René Descartes ins Auge, dessen ›methodischer Zweifel‹ in seinen Meditationen zur Anwendung kommt.15 Doch anders als Descartes es mit seinem methodischen Zweifel tut, stellt Bataille die Anfechtung nicht in den Dienst der Suche nach einer unbezweifelbaren prinzipiellen Wahrheit. Sie ähnelt dem cartesischen Vorgehen nur insofern, als sie eine philosophische Methode darstellt, durch die der Bereich des scheinbar selbstverständlich Wahren zur Erosion gebracht wird.16 Die Anfechtung des Sinns führt bei Bataille aber tatsächlich in den Nichtsinn, in eine ›schwarze Nacht des Nichtwissens‹: »Die Welt des Subjekts ist die Nacht: die erregende, unendlich suspekte Nacht, die, wenn die Vernunft schläft, Ungeheuer hervorbringt.«17 Batailles Suche ist erklärtermaßen eine Suche nach Nichtwissen eher als nach Wissen, wobei das Nichtwissen sich als eine Art anti-hegelianischer ›Gipfel‹ des Wissens ausnimmt.18 Es ist nur vom Wissen aus zu erreichen, insofern das Wissen als anzufechtendes die Voraussetzung des Nichtwissens bildet. Doch auch das Umgekehrte dieser Behauptung ist wahr: Das Nichtwissen bildet die Voraussetzung des Wissens als dessen entgründender Ungrund, da das Wissen bei Bataille eben nicht, wie bei Descartes, auf einer unanfechtbaren Gewissheit ruht, sondern immer von einer ›Erfahrung der Nacht‹ heimgesucht werden kann, gegenüber der es in Wahrheit sekundär ist.19 Die Erfahrung der Nacht ist dabei notwendig eine gemeinschaftliche, sie führt in eine Gemeinschaft.

»Ich insistiere auf einer Grundtatsache: die Trennung der Wesen ist auf die reale Ordnung begrenzt. Nur wenn ich der Dinglichkeit verhaftet bleibe, ist die Trennung real. Sie ist in der Tat real, aber was real ist, ist äußerlich. In ihrer Intimität sind alle Menschen eins.«20

So zerschmettert die intime Erfahrung der ›Nacht‹ Individuum und Subjekt und öffnet zuallererst den Raum des Politischen als einen offenen Raum, in dem nicht bloß immer wieder das ohnehin bereits Bekannte und Bestehende unter mal mehr, mal weniger reformatorischen Beimischungen erhalten beziehungsweise restauriert wird. Die radikale ›Anti-Politik‹ der Anfechtung erweist sich als Politik des Neuen, als Affirmation einer noch nicht festgestellten, nicht definierten polis, mithin einer Gemeinschaft ohne Namen am Rande des Unmöglichen.

Genuine Aufgabe der Philosophie: Den Kommunismus neu denken

Batailles Insistenz auf der Gemeinschaft, die besonders in den 1943 beziehungsweise 1945 erstmals erschienen Monographien Die Innere Erfahrung und Nietzsche und der Wille zur Chance allgegenwärtig ist, fordert die Frage nach dem Kommunismus heraus, der dem Wort nach nichts anderes als die Idee einer umfassenden Gemeinschaft bedeutet.21 Maurice Blanchot und Jean-Luc Nancy haben sich deshalb über Jahrzehnte hinweg vor dem Hintergrund eines ›realen Kommunismus‹, der seine eigene Idee verraten zu haben schien, mit der Frage nach den politischen Implikationen von Batailles Gemeinschaftsdenken auseinandergesetzt und im Anschluss daran sowie in Abgrenzung davon eigene Begriffe von ›uneingestehbarer‹ respektive ›entwerkter‹ Gemeinschaft entwickelt.22

In der Tat sind die bisherigen Versuche, der kommunistischen Idee eine konkrete gesellschaftliche Gestalt zu verleihen, unleugbar desaströs gescheitert. Dennoch zirkulieren der Begriff des Kommunismus und mit ihm verbundene politische Hoffnungen weiterhin.23 Angesichts zunehmend unerträglicher globaler Entwicklungen mit den absehbaren und bereits eintretenden Folgen von blutigen Kriegen, irreversiblen Verwüstungen und sich stetig steigerndem Elend, liegt der Wunsch nach einer umfassenden gesellschaftlichen Alternative zu den herrschenden Verhältnissen auf der Hand. Das Wort ›Kommunismus‹ zeugt dabei in seiner Emphase auf dem Gemeinsamen, der ›Kommune‹, von einer Gemeinschaft, die unter den Bedingungen eines marktradikal-liberalen Individualismus abhandengekommen ist, während dennoch die Idee, der Traum von ihr zu persistieren scheinen. Diese Persistenz klingt in breiten theoretischen Auseinandersetzungen wider, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einsetzen und bis heute fortgeführt werden. Slavoj Žižek, Alain Badiou oder Antonio Negri etwa entwickeln heterogene philosophische Positionen, die eine bestimmte Idee von Kommunismus zu verteidigen versuchen.24 In diesen Ansätzen verdichtet sich, ungeachtet ihrer spezifischen Merkmale und konkreten Argumentationsstrategien, die allgemeine Frage nach einem Widerstand des Denkens gegen die Vorstellung einer unveränderlichen kapitalistischen Gegenwart radikaler Vereinzelung. Das Allgemeinste, das sich über den Gehalt des Begriffs ›Kommunismus‹ sagen lässt, besteht in dieser Bedeutung von Widerstand gegen kapitalistische Vereinzelung und Verelendung und dem Wunsch nach einer anderen, glücklicheren politischen Existenzform. Von dieser Minimaldefinition des Ausdrucks ist auszugehen.25

Ein Ergebnis der Auseinandersetzungen Blanchots, Nancys, Žižeks, Badious, Negris und anderer mit dem Begriff des Kommunismus26 besteht bei allen inhaltlichen Kontroversen darin, dass die Philosophie heute, im Hinblick auf die historisch-politische Realität ebenso wie im Hinblick auf sich selbst, wesentlich die Aufgabe hat, die Idee des Kommunismus erneut und neu zu denken.

Schon Marx hatte die Philosophie und das kommunistische Projekt in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis gestellt: »Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.«27 Badious »kommunistische Hypothese«,28 die von der Annahme der Möglichkeit eines ›gemeinsamen‹ Wahrheitswerts politischer Ideen ausgeht, »folgt dem Primat der politischen Idee gegenüber ideenlosen, rein pragmatischen oder interessegeleiteten Machtkalkülen«.29 Und der Sozialismus ist, so Badiou, ungeachtet seiner entmutigenden historischen Ausdrucksformen, die einzige politische Ideologie, die sich überhaupt auf eine Idee beruft. Solange die Idee, die ›Kommunismus‹ genannt wird, die einzige ist, die sich dem marxschen Ideal gemäß alle Einzelnen in eine ›freie Assoziation‹ integrierend auf das Schicksal der gesamten Menschheit bezieht, bleibt die »kommunistische Hypothese […] der Hintergrund jeder emanzipatorischen Orientierung«.30 Sofern »die Philosophie selbst an keiner Katastrophe, die aus schlechten Interpretationen einer Idee resultiert, vollkommen unschuldig« ist, hat philosophische Kritik sich mit den Lehren zu verknüpfen, die historisch aus den gescheiterten Realisierungsversuchen der kommunistischen Idee gezogen werden können.31

Vor dem Hintergrund dieses normativen Verständnisses von Philosophie wird mit der vorliegenden Arbeit die systematische These verfolgt, dass Batailles nietzscheanisches Denken die Entwicklung des Begriffs eines anti-ökonomischen Kommunismus herausfordert, durch den der ›herkömmliche‹ Kommunismus, ebenso wie Faschismus und Kapitalismus, radikal angefochten werden können.

Nietzscheanische Emanzipation: Das Problem des ganzen Menschen

Batailles eigentümlicher Nietzscheanismus versetzt ihn in ein spezifisches, in der Bataille-Rezeption noch kaum systematisch erforschtes Spannungsverhältnis zum Kommunismus. Er spielt Nietzsche nicht gegen den Kommunismus aus, sondern stellt vielmehr eine paradoxe Verbindung zwischen beiden heraus. Während die kommunistische Perspektive Bataille zufolge diejenige eines Projekts ist, versteht er Nietzsches Denken als eines, das sich dem Projektcharakter radikal entgegensetzt, insofern Nietzsche sich jeder Form der Dienstbarkeit verweigert. Diese schematische Gegenüberstellung vom Kommunismus als projekthaft und nützlichkeitsorientiert auf der einen und Nietzsche als radikal ›undienlich‹ und antiutilitaristisch auf der anderen Seite lässt freilich alle Aspekte außer Acht, die bereits bei Marx selbst und in dessen Nachfolge reinen Verwertungslogiken entgegenstehen. Bataille geht es um ein grundlegendes Problem, das sich präzise nur im Kontext dieser Vereinfachung stellen lässt: Nietzsche habe das Problem »des ganzen Menschen«32 gestellt, so Bataille in Nietzsche und der Wille zur Chance, wobei der ›ganze Mensch‹ als einer zu verstehen ist, der sich durch keine Unterordnung unter partikulare Zwecke »zerstückeln«33 lässt.34 Streng genommen weigert er sich, zu handeln, wenn Handeln stets als eine Ökonomie der Vermittlung von Zwecken und Mitteln gedacht wird: »Der fragmentarische Zustand des Menschen ist im Grunde dasselbe wie die Wahl eines Zwecks.«35 Hier deutet sich bereits an, inwiefern im Kontext der Nietzschelektüre Batailles von einer anti-ökonomischen Position die Rede sein kann, denn jede Frage nach der Nützlichkeit eines bestimmten Tuns oder Lassens, das heißt nach seinem ökonomischen Sinn, ist im Hinblick auf den ›ganzen Menschen‹ Nietzsches zurückzuweisen.36 Bataille kontrastiert die nietzscheanische Haltung sogleich mit politischen Perspektiven:

»Die Aktivität, die jeden unserer Augenblicke einem bestimmten Resultat unterordnet, löscht selbst dann, wenn sie von allgemeinem Interesse ist, was gewöhnlich nicht der Fall ist, den vollständigen Charakter des Daseins aus. Wer handelt, setzt an die Stelle des Daseinsgrundes, der er selber in seiner Ganzheit ist, den und den partikularen Zweck, in den am wenigsten speziellen Fällen die Größe eines Staates, den Triumph einer Partei.«37

Der ›vollständige Charakter des Daseins‹ und das ›allgemeine Interesse‹ sind demzufolge nicht deckungsgleich, sondern erscheinen als Gegensätze. Zunächst lässt sich hieraus ein diametraler Gegensatz zwischen Nietzsches Denken und dem kommunistischen Projekt ableiten: Dieses muss sich letztlich, selbst wenn es eine eigene Kritik am Utilitarismus formulieren kann, auf eine Ökonomie nützlichen Handelns möglichst vieler Menschen stützen, um das Ziel einer klassenlosen, emanzipierten Gesellschaft verwirklichen zu können; jenes sieht den Daseinsgrund eines Menschen gerade in seinem vollständigen, das heißt keiner konkreten Handlungsökonomie untergeordneten Charakter. Gleichzeitig offenbart sich aber auch die Verwandtschaft beider Positionen, sofern sie, obzwar auf je eigene und völlig ungleiche Weise, mit der Vorstellung eines aus Ausbeutungsverhältnissen befreiten Menschen verbunden sind. Beide Positionen beziehen sich auf ein Ganzes, das es zu befreien gilt: Nietzsche auf die Ganzheit eines einzelnen Menschen, der Kommunismus auf die Ganzheit im Sinne der gesamten Menschheit. Diese Perspektiven kollidieren miteinander: Die Ganzheit des Individuums im Sinne seiner völligen Freiheit von allen partikularen Nützlichkeitserwägungen steht der Umsetzung einer allen Menschen zukommenden Emanzipation aus Ausbeutungsverhältnissen im Wege. Umgekehrt muss die Orientierung am Gemeinwohl die irreduzible Freiheit der Einzelnen tendenziell unterdrücken. So hat Nietzsche die Entwicklung herausragender Individuen stets dem Allgemeinwohl übergeordnet und auf diese Weise autoritäre Politiken und etwa auch die Sklaverei gerechtfertigt.38

Bataille zieht andere Konsequenzen aus dem Problem des ganzen Menschen. Seine Nietzschelektüre ist weniger als exegetische Rekonstruktion, sondern vielmehr als Entwicklung und Behauptung eines ganz eigenen, eines neuen Nietzsche zu verstehen, der nichtsdestoweniger eine eigentümliche Konsistenz im Kontext von Nietzsches Werk aufweist.39 Weit davon entfernt, Nietzsches Denken zu verharmlosen oder einer bestimmten politischen Ideologie anzuverwandeln, stellt Bataille dieses radikale Denken in ein paradoxes Spannungsverhältnis zur Sphäre des konkret Politischen. Nietzsches Lehre, die Bataille selbst als »Lehre des Paradoxen«40 bezeichnet, kann für die Politik nur fruchtbar gemacht werden, wenn und insofern sie diese gespannte Distanz zu ihr wahrt. Diese spezifische nietzscheanische Distanz zum Politischen wird in der vorliegenden Arbeit als ›anti-politische‹ Position bezeichnet, wobei auch hier das Anti auf eine theoretische Praxis der Anfechtung in Batailles Sinn verweist, das heißt, auf eine paradoxe, nicht-dialektische Form des Widerspruchs.

Von Bataille zu einem Begriff des Anti-Ökonomischen

Im aufgespannten Abstand zwischen Nietzsche und dem Kommunismus erweist sich das ›Anti-Ökonomische‹ als zentrale Kategorie. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier festgehalten, dass das ›Anti-Ökonomische‹ nicht einfach als Nichtökonomisches zu denken ist (so wenig wie das ›Anti-Politische‹ als apolitisch), obwohl diese Konnotation zunächst naheliegt und auch nicht völlig falsch ist. Das Anti-Ökonomische verhält sich zum Ökonomischen wie die Bedingung zum Bedingten, wie die Kämpfenden zum Bekämpften oder wie das Unbewusste zum Diskurs. So wie Nietzsches Kritik des Rationalismus keinen Irrationalismus impliziert, läuft das anti-ökonomische Argument keinesfalls auf eine von Ökonomie völlig befreite Existenz hinaus, die ebenso wie die vollkommen irrationale Existenz ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Beim Verhältnis von Anti-Ökonomie zu Ökonomie handelt es sich um eines der Anfechtung, nicht eines der schlichten Negierung. Die Begrifflichkeit eines anti-ökonomischen Kommunismus ist nur dann treffend, wenn unter ›Ökonomie‹ das Ensemble rationalistischer Handlungsimperative im Kontext der gesellschaftlichen Sphäre der Produktion verstanden wird (Imperative, die allerdings weit über diese Sphäre hinausgreifen).41 Das Ökonomische meint hier entsprechend dem alltäglichen Sprachgebrauch das Effiziente, Nützliche, Rationale, Produktive. Batailles ökonomietheoretische Überlegungen zielen im Gegensatz zu diesem verkürzten Ökonomieverständnis auf eine ›allgemeine Ökonomie‹,42 in welcher Abfall, Verschwendung, sinnloser Exzess und »untätige Negativität«43 einbezogen werden. Insofern zielt Bataille nicht auf eine Antiökonomie, sondern auf eine umfassende, universelle Ökonomie.44

Jacques Derrida hat – unter anderem in Anlehnung an Bataille – im Kontext der Entwicklung einer radikalen Theorie der Gabe den Begriff des ›Anökonomischen‹ eingeführt, um die Idee einer Ökonomie des exzessiven (nicht reziproken, nicht nützlichen) Schenkens, die den Verlust als primäre und positive Kategorie behandelt, zu entwickeln.45 In der vorliegenden Arbeit soll, bei aller Nähe beider Ausdrücke, der Begriff eines anti-ökonomischen, nicht eines anökonomischen Kommunismus entwickelt werden, weil mit der Vorsilbe ›Anti‹ eine Emphase auf den aktiven Aspekt der Anfechtung als einer widerständigen ›Praxis‹ gelegt wird. Das ›Anti‹ impliziert eine kämpferische Herausforderung, einen Trotz und eine Kraft, während das ›An‹ der Anökonomie eher abstrakt auf eine entgründende existenziale Bedingung des Ökonomischen verweist.

Der Begriff des anti-ökonomischen Kommunismus wird im Horizont der allgemeinen Ökonomie Batailles entwickelt, ohne jedoch zu behaupten, dieser Begriff entspräche ihr im Sinne eines Synonyms oder stamme gar von Bataille selbst. Beides ist nicht der Fall. Daher bedarf es einer spezifizierenden Erläuterung dessen, was hier unter der Kategorie des Anti-Ökonomischen verstanden wird. Im Verlauf des ersten Hauptkapitels der vorliegenden Arbeit wird die Bedeutung der Vorsilbe ›Anti‹ im Zusammenhang mit Nietzsches Verhältnis zum Politischen, im dritten Hauptkapitel dann erneut unter Bezugnahme auf Batailles Ökonomiekritik entfaltet. Die Bedeutung des ›Anti‹ wird sich dabei als vielschichtig erweisen, und nur durch die Berücksichtigung dieser Vielschichtigkeit kann die Idee eines anti-ökonomisch genannten Kommunismus plausibel gemacht werden. Ökonomie beziehungsweise Politik in ihren herkömmlichen Verständnissen werden von Anti-Ökonomie beziehungsweise Anti-Politik auf mehreren Ebenen angefochten. So fungiert Anti als eine Gegnerin, die sowohl Ablehnung als auch Entgegnung, sowohl Gegenentwürfe als auch Vorbedingungen hervorhebt und problematisiert. Anti bringt das Paradoxe einer Praxis der Anfechtung zum Ausdruck, das keinesfalls eine Aporie darstellt, sondern stets dazu anhält, das Zerreißende auszuhalten und weiterzugehen, ans Ende des Möglichen.

Probleme der Wissenschaft: Methodologie und Politik

Der Ansatz der Anfechtung hat für diejenigen, die ihm folgen, erhebliche Konsequenzen in Bezug auf die wissenschaftliche Methodologie, derer sie sich bedienen. Wenngleich Bataille wie Nietzsche Autoren sind, die den sprachlichen Diskurs in seinen Grundfesten erschüttern und ›an seine Ränder treiben‹ wollen, so nehmen dennoch beide für sich eine bestimmte Form von wissenschaftlicher ›Redlichkeit‹ in Anspruch. Mögen ihre Texte von einem literarischen Stil geprägt und bisweilen suggestiven oder provokativen Charakters sein, mögen sie immer auch eine Form von performativer Selbst-Subversion in Szene setzen: Sie partizipieren nichtsdestoweniger an einem theoretischen Diskurs, in dem sie offensichtlich ernstgenommen werden wollen. Weitgehend halten sie sich an die etablierten Regeln der Argumentationslogik,46 wenn sie diese auch gleichzeitig offen problematisieren. Diese Problematisierung mag selbst als Ausdruck eines hohen wissenschaftlichen Anspruchs gelten, demzufolge die Bedingungen von Wissenschaft und Erkenntnis zu hinterfragen sind. Damit stehen Bataille wie Nietzsche in einer aufklärerischen Tradition (wenn etwa die Vernunftkritik Immanuel Kants als paradigmatischer Fall eines aufklärerischen Projekts gelten kann).47

So verfolgt Bataille in den 1930er Jahren das Projekt einer Heterologie.48 Damit versucht er, sich denjenigen Gegenständen zu nähern, die sich dem Blick der klassischen Wissenschaften entziehen, obwohl sie für Existenz und Geschichte der Menschheit konstitutiv sind, und obwohl die Frage nach dem Umgang mit diesen ›Nichtgegenständen‹ für aktuelle gesellschaftspolitische Probleme als absolut virulent erscheint: In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in der Bataille seine Heterologie entwickelt, machen die Erfahrung einer nie gekannte Zerstörungskraft sowie der aufkommende Faschismus eine Auseinandersetzung mit denjenigen Elementen der menschlichen Existenz notwendig, die Bataille in seiner Faschismusanalyse von 1933 als heterogene bezeichnet.49 Denn mit den herkömmlichen Mitteln wissenschaftlicher Rationalität ließen sich diese Entwicklungen (das Ausmaß der Gewalt, die bereitwillige Gefolgschaft gegenüber massiv freiheitsbeschränkenden totalitären Regimen) nicht begreifen, erst recht nicht im historischen Kontext von Aufklärung, Demokratisierung und allgemeinem Fortschrittsgeist.

Das Heterogene im Sinne Batailles bezeichnet das, was von wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen meist vergessen, verleugnet oder ausgeschlossen wird:50 das Exkrementelle, das Elend, das Heilige, der Luxus. Diese Elemente haben gemeinsam, dass sie unproduktiv – anti-ökonomisch – sind und der Gesellschaft im Hinblick auf eine allgemeine Wohlstandssteigerung nichts nützen. Was der Gesellschaft nützlich ist, gehört ihrer produktiven Sphäre an, die Bataille als homogene bezeichnet. Deren Elemente sind kommensurabel: Sie können immer auf einen monetären Nenner gebracht und dergestalt einem Äquivalenzprinzip gemäß verglichen werden. Gegenüber der grundlegenden Homogenisierungstendenz der Gesellschaft behauptet sich das Heterogene als ein Fremdes, das »nicht reduziert, nicht unterworfen ist«51 und sich als nichtidentifizierbare Vielheit erweist. Das methodologische Problem, das sich einer Wissenschaft des Heterogenen stellt, besteht von vorneherein darin, dass die Wissenschaft selbst Teil des homogenen Aspekts der Gesellschaft ist.

»So sind die heterogenen Elemente, die durch die soziale Homogenität ausgeschlossen sind, ebenfalls aus dem Feld der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit ausgeschlossen. Die heterogenen Elemente sind sogar dadurch definiert, daß sie als solche von der Wissenschaft nicht erkannt werden können. Sobald die Wissenschaft die Existenz von irreduziblen Elementen zugestehen muß, die ebenso unvereinbar mit ihrer Homogenität sind wie etwa eingefleischte Kriminelle mit der sozialen Ordnung, fühlt sie sich aller funktionalen Befriedigung beraubt (sie fühlt sich ausgebeutet, benutzt wie ein Arbeiter in einer kapitalistischen Fabrik, ohne am Profit teilzuhaben). Die Wissenschaft ist nämlich keine abstrakte Wesenheit, man kann sie immer auf ein Ensemble von Menschen zurückführen, die die dem Wissenschaftsprozeß innewohnenden Bestrebungen verkörpern.«52

Die Rede von der ›funktionalen Befriedigung der Wissenschaft‹ offenbart eine gewisse Nähe Batailles zur Triebtheorie Sigmund Freuds, der zufolge menschliches Handeln letztlich immer auf ein Streben nach Triebabfuhr oder -befriedigung zurückzuführen ist. Seine Freud-Rezeption hat Bataille nirgends in seinem Werk systematisch ausgearbeitet, doch sie ist zweifellos als ein dieses Werk mitbedingendes Element zu betrachten. So verweist Bataille im zitierten Aufsatz Die psychologische Struktur des Faschismus explizit auf die Psychoanalyse als eine der drei wissenschaftlichen Perspektiven, denen die Entwicklung seines Arguments sich verdankt.53 Die große Entdeckung Freuds, das Unbewusste,54 erweist sich aus Batailles Sicht selbst als »eine der Seiten des Heterogenen«.55 Strukturanalog zur Zensur unbewusster Elemente durch das bewusste Ich nach Freud, konstatiert Bataille die Zensur des Heterogenen durch die homogene Wissenschaft.56

In Batailles sozialtheoretischer Perspektive kommt Affekten eine entscheidende Bedeutung zu – auch in diesem Punkt steht er Freuds Kulturtheorie und insbesondere seinen Überlegungen zur Massenpsychologie nahe. Neben dem Rückgriff auf die psychoanalytische Theoriebildung bezieht Bataille sich auf eine ganze Reihe weiterer wissenschaftlicher Perspektiven, um dem skizzierten Problem der Unmöglichkeit einer Wissenschaft des Heterogenen zu begegnen und einen »neuen [Gesichtspunkt]« zu entwickeln, »von dem aus gedacht wird«.57 So nennt er im zitierten Aufsatz auch die Religionssoziologie (im Anschluss an Émile Durkheim) sowie die deutsche Phänomenologie (womit hier Hegels Phänomenologie des Geistes gemeint ist), um den wissenschaftlichen Rahmen seiner Analyse zu skizzieren.58 Sein theoretisches Werk steht insgesamt zudem vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Ethnologie und Anthropologie. Bisweilen wird auf marxistische Kategorien rekurriert, auch kunsthistorische Betrachtungen spielen regelmäßig eine Rolle. Heute wäre wohl von einem inter- oder transdisziplinären Verfahren die Rede, dessen Bataille sich bedient, und in der Tat ist sein intellektuelles Engagement im Kontext der Gründung und Mitbegründung von Zeitschriften und Institutionen (etwa den Documents und dem Collège de Sociologie) von dem Bestreben geprägt, verschiedene wissenschaftliche und politisch kontroverse Perspektiven zusammenzubringen.59

Wenn er in der zitierten Passage von der Wissenschaft als einem »Ensemble von Menschen« spricht, das von einer affektiven Struktur geprägt ist (sofern es der Wissenschaft um »funktionale Befriedigung« geht),60 so muss er diese Definition auch auf sich selbst und den wissenschaftlichen Rahmen, in dem er sich bewegt, beziehen. Es mag eine wichtige und je nach Argumentationsziel sogar entscheidende Frage sein, inwieweit Bataille sich in seinen Bezügen zu bestimmten wissenschaftlichen Perspektiven überhaupt auf deren theoretischem Niveau bewegt, ob er zum Beispiel Freud ›richtig‹ verstanden habe, oder ob etwa sein Zugang zur marxistischen Theorie nicht allzu sehr durch den Blick und die Begriffe des berühmten Hegel-Kommentators Alexandre Kojève geprägt sei. In der vorliegenden Arbeit geht es allerdings nicht um diese Fragen nach der akkuraten Theorieverarbeitung durch Bataille, sondern um die Herausforderung eines denkerischen Ansatzes, der als Problematisierung schwer greifbarer, verdeckter, verdrängter oder verleugneter Phänomene erscheint. Die theoretische Haltung Batailles öffnet, ungeachtet der Frage nach der ›Korrektheit‹ bestimmter theoretischer Bezüge, den Blick für Verbindungen und Wechselbeziehungen zwischen wissenschaftlicher Methodologie und Politik. Denn wenn Wissenschaft nicht als ›abstrakte Wesenheit‹, sondern als konkretes, affektiv strukturiertes ›Ensemble von Menschen‹ gefasst wird, erscheint sie als polis: als politisch konstituierte Vielheit von Körpern eher denn als einheitlicher oder vereinheitlichender Geist auf dem Wege fortschreitender Erkenntnis. Dabei ist es für den Begriff des anti-ökonomischen Kommunismus entscheidend, dass eine solche polis in Batailles Sinn nicht als klassisches kollektives Subjekt zu verstehen ist. Vielmehr impliziert sie entsubjektivierende Effekte: »What is at stake in such groups is not the fusion of finitudes in an us«,61 schreibt Dennis Hollier in seiner Studie zum Collège de Sociologie.

»We have to think of it, rather, as a mechanism of erasure, a machine for desubjectified, impersonal enunciation. Less the production of a collective subject, the integration of various I’s into the supplementary self-importance of a we than the desubjectification through the multiplication of divided voices, the multiplication of singularities that were not cumulative. The utopia of the group is that of an Arcadia with no ›Ego‹. No ›first person‹.«62

Wissenschaftliche Forschung hat für Bataille mit Politik zu tun,63 sie impliziert Holliers Ausführungen über das Collège de Sociologie zufolge sogar eine Utopie. Doch es handelt sich hier nicht um die Art politischer Utopie, die sich über ein kollektives Subjekt zu verwirklichen sucht. Sondern die Utopie liegt gerade darin, das ›Ich‹ als ›erste‹ Person, ob individuell oder kollektiv gedacht, aufzugeben. Hierin zeigt sich die zutiefst anti-hierarchische und damit radikal-egalitäre Einstellung Batailles, die sich in seiner Art der Organisation wissenschaftlicher Forschung ausdrückt.

Die Klammer zur Analogie des »Arbeiter[s] in einer kapitalistischen Fabrik« mit der Wissenschaft (in der weiter oben zitierten Passage)64 verweist ebenfalls deutlich auf die von Bataille immer mitgedachte Verquickung von Wissenschaft und Politik. Wenn Batailles ›Wissenschaft‹ methodologisch als Anfechtung begriffen wird, als eine Art sich revoltierende Gegen-Wissenschaft im Sinne einer Wissenschaft dessen, was die Wissenschaft strukturell ignoriert, so scheint der Schritt zu einer Gegen-Politik nicht weit zu sein. Nicht von ungefähr entlehnt Bataille das zentrale epistemologische Konzept der Anfechtung einem eher politischen oder rechtlichen Bereich.65 Anfechtung ist mehr als methodischer Zweifel, sie erscheint als Herausforderung, Verweigerung, sogar als Zerstörung des Bekannten und vermeintlich Gesicherten. Wenn sie eine epistemologische Haltung ist, dann erhält Politik im Sinne widerständiger Praxis Einzug in die Erkenntnistheorie.

Methode der Auseinandersetzung

Die Spannung zwischen dem Anspruch auf wissenschaftliche Redlichkeit und argumentative Stringenz einerseits und dem Bewusstsein für die Grenzen und den Ungrund des rationalen Diskurses andererseits durchzieht und bedingt das nietzscheanische Denken Batailles. Keine Rekonstruktion seiner Argumente kann von dieser Spannung unberührt bleiben, sondern sie ist ihr notwendig ausgesetzt. Das Zerreißende mag überfordern und dazu verleiten, die Spannung um den Preis einer reduktionistischen Lektüre zu ignorieren. Und der Versuch, sich auf der Höhe der Referenztexte zu halten, ist stets mit der Gefahr eines mimetischen Vorgehens verbunden, bei dem die Aus-einander-Setzung ihr Wesentliches verliert und in einer Art stilistischen Nachahmung aufgeht. In methodischer Hinsicht liegt das Ziel dieser Arbeit in einer Auseinandersetzung, die ihren Namen verdient, die Spannung aushält und eine eigenständige Form findet. Diese Form will wissenschaftlichen Standards genügen und sich gleichzeitig dem von Bataille und Nietzsche so eindrücklich herausgestellten Problem der Stromlinienförmigkeit einer allzu selbstgewissen und selbstgerechten Wissenschaftlichkeit aussetzen, ohne dadurch ohnmächtig zu werden.

Eine Methode zur Vermeidung eines unbewusst sich einschleichenden mimetischen Verfahrens besteht in der Konfrontation der Bezugstexte mit anderen, ihnen mindestens stilistisch fremden Perspektiven. Eine solche Konfrontation entspräche auch einer Politik der Öffnung gegenüber dem Anderen und Fremden, einer Politik der Verbindung heterogener Perspektiven. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung wird in der vorliegenden Arbeit, die sich insgesamt auf die Schriften Batailles und Nietzsches fokussiert, an bestimmten Stellen auf Argumente und Begriffe aus dem Werk von Gilles Deleuze zurückgegriffen, um die Referenztexte von einer anderen Seite her ›aufzuschließen‹. Deleuze stand dem Werk Batailles skeptisch gegenüber und lehnte insbesondere die darin präsente Transgressionsemphase vehement ab.66 Stilistisch steht das Werk Deleuzes demjenigen Batailles diametral entgegen. Während dieses mitunter eine Tendenz zu mystizistischem Pathos aufweist,67 bedient jenes sich bisweilen eher der nüchternen Form eines der Mathematik verwandten, seriellen Sprach-Rhythmus.68 Indessen lassen sich bei Deleuze und Bataille zugleich, gerade in ihren jeweiligen Bezügen auf Nietzsches Philosophie, ungeahnte Übereinstimmungen entdecken, die es zumindest stellenweise ermöglichen, den Text des einen durch den Text des anderen zu erschließen. So korreliert Deleuzes Interpretation des Willens zur Macht als eine Theorie der Kräftedifferenzen in Nietzsche und die Philosophie69 mit Batailles Verteidigung Nietzsches gegen dessen faschistische Vereinnahmung – vor allem in Bezug auf den Kraftbegriff und das Problem einer rein reaktiven (Deleuze) beziehungsweise homogenen (Bataille) Wissenschaft. Die von Deleuze in Proust und die Zeichen70 entworfene Interpretationstheorie, in der Deleuze den Begriff einer Art ›Post-Vernunft‹ – einer Vernunft, die nachher kommt – entwickelt, hilft dabei, Batailles paradoxe, in der Inneren Erfahrung entwickelte Vorstellung einer Vernunft, die ihre eigenen Projekte zerstört, zu verstehen. Schließlich lässt sich der Erschöpfungsbegriff, den Deleuze in einem Aufsatz zu Samuel Becketts Fernseharbeiten einführt,71 in einer Weise mit Batailles Nietzschelektüre verbinden, durch die Deleuzes ›Erschöpfung‹ und Batailles Nietzsche zugeschriebene ›Souveränität‹ jeweils als Formen, ›ans Ende des Möglichen zu gehen‹, begriffen werden können – Formen, die ihre Politisierung implizieren.

Alle Anstrengung, eine wissenschaftlich valide, stringente und nachvollziehbare Argumentation hervorzubringen, wird jedoch niemals ganz von der Gefahr ihrer plötzlichen oder schleichenden Implosion befreit sein, wenn Gegenstand und Ziel der Argumentation in derart paradoxen Lehren und Begriffen bestehen, wie es bei der vorliegenden Arbeit der Fall ist. Bataille selbst gibt diesen Gefahren des Schreibens einen entwaffnenden, entblößenden Ausdruck:

»Beinahe jedes Mal, wenn ich ein Buch zu schreiben versuchte, kam die Ermüdung vor dem Ende. Ich entfremdete mich allmählich dem Projekt, das ich mir gemacht hatte. Ich vergesse, was mich am Vorabend entzündete, von Stunde zu Stunde in schläfriger Langsamkeit immer wieder verändernd. Ich entgleite mir selbst und mein Buch entgleitet mir; es wird fast ganz zu so etwas wie ein vergessener Name: ich bin zu faul, um ihn zu suchen, doch das dunkle Gefühl des Vergessens ängstigt mich. Und wenn dieses Buch mir gleicht? wenn die Fortsetzung dem Anfang entgleitet, ihn verkennt oder in der Gleichgültigkeit belässt? seltsame Rhetorik! seltsames Mittel, ins Unmögliche einzudringen! Verleugnung, Vergessen, formlose Existenz, zweideutige Waffen… die Faulheit selbst als unerschöpfliche Energie benutzt.«72

Hier deutet sich eine unerschöpfliche Erschöpfung an, in deren Horizont das Denken sowohl Batailles als auch Deleuzes zu politisieren wäre. Faulheit, Vergessen und Ermüdung stehen nicht gegen eine aktive Kraft, sondern münden vielmehr in eine nie sich erschöpfende Energie. Zwecke und Mittel in einem Bereich der Unbestimmbarkeit und des Entgleitens zu verorten und so keine Garantien über den Ausgang einer Anstrengung geben zu können, spricht keinesfalls dagegen, diese Anstrengung auf sich zu nehmen. Die Anstrengung ist eine Grundbedingung der Existenz, insbesondere der politischen Existenz (die von Bataille gebrauchte Metapher der Waffen verweist auf den Kampf gegen die Feindin und damit auf das Feld des Politischen). Gerade das Nichtwissen darüber, woher die Energie, die aufgebracht werden muss, kommt und in was sie sich verwandeln wird, macht die Möglichkeit der Textproduktion ebenso wie die stetige radikale Veränderlichkeit der politischen Verhältnisse aus. Aber die Subversion greift niemals nur die ›äußeren‹ Verhältnisse an, sondern sie greift auf die Subjekte der subversiven Kämpfe selbst über: Sie müssen sich verlieren. Sie sind Kommunistinnen, wenn sie um den Kommunismus kämpfen und wenn sie dessen Idee zu denken versuchen, aber sofern sie sich notwendig immer selbst entgleiten werden, können sie nur anti-ökonomische Kommunistinnen sein.

Struktureller Aufbau der Untersuchung und spezifische Thesen

Die Entwicklung des Begriffs eines anti-ökonomischen Kommunismus im Anschluss an Bataille erfolgt in drei Schritten, die jeweils im Kontext eines Hauptkapitels ausgeführt werden. Aufeinander aufbauend sollen die drei Kapitel, die durch zwei Übergänge miteinander verbunden werden, eine zunehmend sich verdichtende Argumentation ergeben, die von Anfang an auf den anti-ökonomischen Kommunismus zielt, ihn aber erst zum Schluss des dritten Kapitels voll auf den Begriff bringen wird. Der Weg dorthin führt über eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Bataille und Nietzsche zum Faschismus (Kap. I), über die Frage nach ihrem Denken der Gemeinschaft (Kap. II) und über eine Rekonstruktion von Batailles für die hier aufgeworfene Fragestellung entscheidenden Konzeptionen von Souveränität, vom Verhältnis zwischen Nietzsche und dem kommunistischen Projekt und von einer allgemeinen Ökonomie (Kap. III).

In einem ersten Schritt wird das Verhältnis der Referenzautoren zum Faschismus untersucht (Kap. I).73 Da der anti-ökonomische Kommunismus als bestimmte Form des Antifaschismus konzipiert wird, ist diese Untersuchung unerlässlich, zumal hier Autoren politisch-emanzipatorisch perspektiviert werden, die regelmäßig dem Verdacht eines mindestens teil- oder ansatzweise faschistoiden Denkens ausgesetzt sind. Zudem erlaubt die Analyse der Konstellation Bataille-Faschismus-Nietzsche eine erste historisch sinnvolle Annäherung an Batailles Nietzschelektüre, da diese in den 1930er Jahren mit dem vehementen Versuch beginnt, Nietzsches Denken gegen nationalsozialistische Vereinnahmungen zu verteidigen. Batailles Verteidigung Nietzsches gegen seine faschistische Besetzung bildet den Gegenstand des ersten Teils dieses Kapitels (Kap. I.1). Die Faschismusanalyse, die Bataille 1933 mit dem Aufsatz Die psychologische Struktur des Faschismus vorlegt, rückt im zweiten Teil in den Fokus der Betrachtung (Kap. I.2). Im dritten Teil wird die Interpretation des Willens zur Macht als eine Theorie der Kräftedifferenzen, die Deleuze vorschlägt, rekonstruiert und mit Batailles Perspektive verbunden (Kap. I.3). Die These, die in Kapitel I schrittweise entwickelt werden soll, besagt, dass es eine Nähe zwischen den theoretischen Positionen Batailles beziehungsweise Nietzsches und der faschistischen Position gibt, die sich allerdings bei genauer Betrachtung als bloß scheinbare Nähe erweist und letztlich auf die denkbar größte Distanz hinausläuft. Hier offenbart sich eine paradoxe Struktur, die für eine spezifische antifaschistische Position im Anschluss an Bataille und Nietzsche ebenso wie für den Begriff des anti-ökonomischen Kommunismus konstitutiv ist: Die vermeintliche Nähe zum Faschismus bringt im Falle beider Autoren eine weitaus radikalere Abgrenzung hervor, als es eine behauptete strikte Distanznahme, durch die jede Nähe geleugnet wird, zu tun vermag.

Der zweite Schritt der Argumentation besteht in der Untersuchung des Begriffs der Gemeinschaft, der für die Idee des Kommunismus entscheidend ist.74 Hier geht es zunächst um eine allgemeine Problematisierung der Gemeinschaft im Kontext politischer Theorie (Kap. II.1), gefolgt von der Analyse des spezifischen Gemeinschaftsdenkens Batailles, wie es sich insbesondere in Die innere Erfahrung und in Nietzsche und der Wille zur Chance darstellt (Kap. II.2). Zuletzt wird Nietzsches Verhältnis zur Frage der Gemeinschaft betrachtet, ein Verhältnis, das in dieser Arbeit ›anti-politisch‹ genannt werden wird, und das Bataille zufolge – für die gewöhnliche Nietzsche-Interpretation einigermaßen erstaunlich – zentral für Nietzsches Denken ist (Kap. II.3). Ziel dieses zweiten Schrittes der Argumentation ist es, einen Begriff von Gemeinschaft zu entwickeln, der auf das Denken einer bestimmten Art von Gegen-Politik hinausläuft. Hier kehrt sich das Paradox, das im Hinblick auf das erste Kapitel bezeichnet wurde, strukturell um: Eine strikte Abgrenzung (vom Bereich des Politischen und Gesellschaftlichen) erzeugt nun eine ungeahnte Affirmation des Gemeinschaftlichen. Dieses wird von Bataille aber radikal anders gedacht als in herkömmlichen Diskursen. So hat, was Bataille unter Gemeinschaft versteht – und dies gilt folglich auch für den Kommunismusbegriff, der an sein Denken anschließt – mit Intersubjektivität nichts zu tun. Vielmehr geht es ihm um eine Art ›negativer‹ Gemeinschaft, in der gängige Subjekt-Objekt-Verhältnisse von Grund auf erodieren. In der Inneren Erfahrung beschreibt Bataille die Ekstase des Subjekts, bei der sich eine »klaffende Bresche« zwischen Subjekt und Objekt auftut, »und in der Bresche sind Subjekt und Objekt aufgelöst, es gibt Übergehen, Kommunikation, aber nicht vom einen zum anderen: das eine und das andere haben ihre gesonderte Existenz verloren.«75 Insofern es hier keine gesonderten Existenzen mehr gibt, wird die Existenz selbst gemeinschaftlich. Für Bataille ist Nietzsches Denken aufs Engste mit der Suche nach einer Gemeinschaft verbunden. Kann dieses nietzscheanische Denken der Gemeinschaft politisch begriffen werden? Inwieweit verfügt der Gemeinschaftsbegriff, den Bataille im Horizont seiner Nietzschelektüre entwickelt, über ein subversives politisches Potenzial?

Im dritten und letzten Kapitel wird der Frage nach einem ›Kommunismus‹ batailleanisch-nietzscheanischer Ausprägung systematisch auf den Grund gegangen. Anhand von Batailles Überlegungen im Aufsatz Die Souveränität (Kap. III.1), seiner Arbeit zum Verhältnis zwischen der Philosophie Nietzsches und dem politischen Projekt des Kommunismus, das er in Nietzsche im Lichte des Marxismus untersucht (Kap. III.2), sowie seiner Konzeption einer ›allgemeinen Ökonomie‹, die er in Der verfemte Teil vorstellt (Kap. III.3), wird die Rekonstruktion des Denkens Batailles auf die Konzeption des Begriffs eines anti-ökonomischen Kommunismus hin enggeführt (Kap. III.4). Trotz der politischen Konnotation des Ausdrucks ›Souveränität‹ liegt das politische Potenzial dieses Begriffs in Batailles außergewöhnlichem Verständnis nicht auf der Hand, sofern das Souveräne Bataille zufolge immer nur im Augenblick erfahren und niemals ›dingfest‹ gemacht werden kann. So scheint er es von der politischen in eine existentielle und künstlerische Sphäre zu verschieben. In einer eigenwilligen Interpretation der hegelschen Herr-Knecht-Dialektik ersetzt Bataille, indem er Nietzsche gegen Hegel ausspielt, hegelsche Herrschaft durch eine Souveränität bar jeder objektiven Macht. Gerade in diesem Entzug liegt die politische Brisanz der Souveränitätsphilosophie Batailles und ihre Relevanz für jede politisch-emanzipatorische Perspektive. Im Kontext der von Bataille herausgearbeiteten paradoxen Verbindung zwischen Nietzsches Denken und dem kommunistischen Projekt geht es genau um das Problem der Souveränität, das erst durch den Einbezug der Perspektive Nietzsches wirklich gestellt werden kann, wie Bataille behauptet. In Batailles allgemeiner Ökonomie schließlich, die stark von Marcel Mauss’ ethnologischen Studien zu Gesellschaften der exzessiven Gabe beeinflusst ist, wird der unproduktiven Verausgabung Vorrang vor der produktiven Tätigkeit eingeräumt und so das nietzscheanische Problem des ›ganzen‹ oder ›souveränen‹ Menschen in eine ökonomietheoretische Position übersetzt.

Für die Idee des Kommunismus ergibt sich aus Batailles Nietzscheanismus, wie er in einem spezifischen Antifaschismus, in einem Denken der Gemeinschaft, in einer Philosophie der Souveränität und in einer allgemeinen Ökonomie zur Entfaltung kommt, eine zugleich affirmative und kritische Perspektive auf ›den‹ Kommunismus: die Perspektive eines anti-ökonomischen Kommunismus.

Positionierung zu einem paradoxalen Denken

Theoretische Perspektiven postmarxistischer Gesellschaftskritik. Einer Vernachlässigung der politischen Aspekte von Batailles Werk in seiner Rezeptionsgeschichte will die vorliegende Arbeit die Wiederbelebung eines politischen Bataille entgegenstellen. Dabei geht es um ein allgemeines Problem gesellschaftskritischer Theoriebildung, über das in den letzten hundert Jahren bereits heterogene Debatten geführt wurden. So ist die Frage nach möglichen Formen der theoretischen, praktisch relevanten Gesellschaftskritik im Anschluss an Marx im Kontext der Erfahrung des historischen Faschismus sowie des Stalinismus für die Kritische Theorie der ›Frankfurter Schule‹ genauso zentral wie für die kritische Theoriebildung, die – etwa existentialistische und strukturalistische Positionen nach Martin Heidegger beziehungsweise Ferdinand de Saussure, aber auch Nietzsches Diskurs aufgreifend – vor allem in Frankreich ein dekonstruktivistisches oder poststrukturalistisches Differenzdenken hervorbrachte. An beide Traditionslinien, die Kritische Theorie im engeren (deutschen) Sinne mit großem ›K‹, sowie die kritische Theorie im weiteren (französischen, internationalen) Sinne mit kleinem ›k‹, wird bis heute in theoretischen Diskussionen mit emanzipativem Anspruch, etwa in post-marxistischen, neo-materialistischen, dekolonialen, feministischen oder queertheoretischen Diskursen, angeschlossen.

In der Frage nach der Möglichkeit effektiver zeitgenössischer Gesellschaftskritik zeichnen sich verschiedene antagonistisch anmutende Argumentationslinien ab: Kritik wird einmal eine notwendig negative Form zugeschrieben (etwa mit Theodor W. Adornos Entwurf einer Negativen Dialektik), ein anderes Mal soll das Denken affirmative Widerstandsformen entwickeln (wie es etwa Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus versuchen). Auf der einen Seite wird sich auf eine wie immer geartete post-religiöse Transzendenzfigur bezogen (etwa im existenzialistischen Kontext), auf der anderen Seite werden strikt immanente Argumentationsstrukturen verwendet (in vitalistisch-materialistischen und genealogisch-historischen Perspektiven). Was die hier grob skizzierten Positionen entlang ihrer kritischen Konfliktlinien negativ/affirmativ, transzendent/immanent dennoch gemeinsam haben, ist ein unbeirrtes Festhalten an prinzipiellen gesellschaftskritischen Einsichten, an marxistisch geprägter Kapitalismus- und Ausbeutungskritik sowie an entsprechenden emanzipatorischen Ansprüchen, die von den verschiedenen Vertreterinnen der kritischen beziehungsweise Kritischen Theorie freilich immer wieder neu und anders reformuliert, perspektiviert und problematisiert werden.

Wenn in stark vereinfachter Darstellung Adorno eine Position einnimmt, die in bestimmter Weise an Hegel festhält, Derrida eine eher an Heidegger orientierte Perspektive vertritt und Deleuze und Foucault in Ablehnung sowohl Heideggers als auch Hegels einen stärkeren Bezug auf Nietzsche suchen, lassen sich die jeweiligen theoretischen Positionen als negativ-dialektisch, existenzialistisch-dekonstruktivistisch und affirmativ-genealogisch-immanent schematisieren. Bei allen Affinitäten und Überschneidungen, die sich zwischen den genannten Positionen ausmachen lassen, und von denen im Kontext der vorliegenden Arbeit insbesondere die zwar verschiedenartigen, jedoch in allen Fällen intensiven Bezugnahmen auf Nietzsches Philosophie hervorzuheben sind,76 gibt diese schematische Darstellung dennoch eine ungefähre Orientierung über die widerstreitenden, an bestimmte philosophiehistorische Bezüge gebundenen Positionen innerhalb der kritischen und Kritischen Theorie.

Sollen Batailles Theorien des Heterogenen, der Souveränität und der allgemeinen Ökonomie sowie seine Nietzschelektüre auf diesem Feld verortet werden, ergeben sich allerdings Schwierigkeiten: Batailles Auseinandersetzung mit Hegel ist für seine philosophische Position ebenso zentral wie seine Nähe zu Nietzsche. Sein Denken wurde mit dem Heideggers verglichen77 und die französischen ›Links-Heideggerianer‹ Blanchot und Nancy beziehen sich ihrerseits stark auf Bataille. Während Deleuze kaum je explizit an Bataille anschließt, befindet sich seine Nietzsche-Interpretation in unübersehbarer Nähe zu derjenigen Batailles. Ob Bataille als Dialektiker, Existenzialist, Immanenzdenker oder Vitalist einzuordnen ist, lässt sich nicht so einfach sagen. Die Etiketten scheinen an bestimmten Stellen zu passen, um im nächsten Moment wie eingeseift an seinen Schriften abzugleiten. Das Denken Batailles entzieht sich in eigentümlicher Weise seiner Einordnung, was sich besonders deutlich an seinen starken Bezügen auf die theoretischen Antipoden Hegel und Nietzsche zeigt. Bataille nimmt im gesamten im weitesten Sinne postmarxistischen gesellschaftskritischen Diskurs des letzten Jahrhunderts eine schwer definierbare, bisweilen unmöglich anmutende Position ein. Darin mag einer der Gründe dafür liegen, dass seinem Werk, trotz seiner breiten Wirkungsgeschichte, bis heute so wenig systematische Auseinandersetzungen gewidmet wurden.

Probleme der deutschen Bataille-Rezeption. Die deutsche philosophische Bataille-Forschung ist bestenfalls als überschaubar zu bezeichnen, sofern Bataille an den hiesigen Universitäten fast ausschließlich in literaturwissenschaftlichen Kontexten ernstgenommen wird. Rita Bischof und Bernd Mattheus versuchten seit dem Ende der 1970er Jahre, Batailles Denken einem deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs zugänglich zu machen.78 1988 widmete Jürgen Habermas Bataille im Philosophischen Diskurs der Moderne einen Aufsatz,79 in dem er Batailles theoretische Arbeiten von seiner Faschismusanalyse bis zur allgemeinen Ökonomie in die Kontinuität eines philosophischen Projekts stellt, in dem es um die Befreiung des souveränen Teils des Menschen im Kontext einer emanzipierten kommunistischen Gesellschaft geht. Habermas stellt die Affinitäten und Unterschiede zwischen Batailles und Heideggers Beiträgen zum Philosophischen Diskurs der Moderne, zwischen Batailles Begriff des Heterogenen und Freuds Begriff des Unbewussten, zwischen Batailles Faschismusanalyse und derjenigen der Kritischen Theorie nach Horkheimer und Adorno, sowie zwischen Batailles und Marx’ Gesellschaftsanalysen heraus und attestiert Bataille so eine eigenständige politisch motivierte theoretische Position. Diese wird von Habermas allerdings letztlich für unzulänglich erklärt, vor allem, weil Bataille einer grundlegenden Gewaltemphase keine gewaltfreie Sphäre entgegenstelle, wie es etwa Walter Benjamin mit dem Bereich der Sprache tue.80 So bleibe Bataille unfähig, den Unterschied zwischen faschistischer Massenbewegung und sozialistischer Revolution zu begründen, »an dem ihm doch alles gelegen ist«.81 Habermas kontextualisiert Batailles vernunftkritischen philosophischen Einsatz zwischen Marxismus, Surrealismus, Kritischer Theorie und Postmoderne und wirft ihm eine Überbetonung der Unmöglichkeit diskursiver Erkenntnis vor, die Bataille immer wieder in einen Rückzug in den literarischen Erotismus zwinge, so dass sein Denken im dialektisch-aufklärerischen Zusammenhang letztlich unfruchtbar sei.82 – Dieser negative Befund durch Habermas hat die deutsche Bataille-Forschung nicht gerade vorangetrieben. Ihr Hauptproblem bestand in der Folge zusätzlich in dem großen Einfluss, den Gerd Bergfleth zunehmend auf sie ausübte. Zwar hat er viele Schriften Batailles erstmals in deutscher Übersetzung zur Veröffentlichung gebracht und kommentiert, doch genügen seine Übersetzungen und Kommentare nicht immer den kritischen wissenschaftlichen Standards und haben eine Wahrnehmung von Batailles Denken als mystizistisch und tendenziell faschistoid begünstigt.83

Die wissenschaftliche Unterbelichtung der Schriften Batailles in Deutschland bemerkten 1999 Andreas Hetzel und Peter Wiechens, die mit der Herausgabe der Aufsatzsammlung Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung das explizite Ziel verfolgten, »eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk« anzuregen, »die sich weder in einer rein immanenten Auslegung […] noch in vorschnellen Aburteilungen oder Subsumptionen unter geläufige Schemata erschöpfen würde«.84 Doch auch die hier versammelten Beiträge zeugen davon, dass Batailles Diskurs für viele in politisch-theoretischer oder soziologischer Hinsicht vor allem von ›archäologischem‹ Wert ist und eher in den Bereich der Ästhetik gehört.

Thomas Wex etwa kontextualisiert Batailles Ökonomiekritik innerhalb der ökonomietheoretischen Tradition und weist sie so als dem Mainstream der Ökonomietheorie fremd, jedoch durchaus verwandt mit bestimmten sozialökonomischen Klassikern, namentlich mit Werner Sombart und Joseph Schumpeter, aus. Auch Sombart und Schumpeter hatten die Bedeutung der Elemente von Luxus, Verschwendung und Zerstörung im Kontext kapitalistischer Gesellschaften erkannt und untersucht. Während Batailles Zielsetzung allerdings eine gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft subversive ist, zeigen die Vergleiche mit Sombart und Schumpeter, Wex zufolge, die Problematik auf, dass Luxusstreben und Zerstörungsprozesse vom Kapitalismus selbst produktiv gemacht und insofern homogenisiert werden, so dass sie keine subversive, die bürgerliche Gesellschaft überschreitende Kraft entfalten können. Batailles Beitrag zur Ökonomiekritik besteht nach Wex daher in erster Linie in einer »Archäologie der Wirtschaftsformen und des ökonomischen Denkens, durch die wir die heutige Ökonomie und Ökonomik klarer zu beurteilen vermögen.«85 Im Kontext der hier angestrebten Begriffsentwicklung eines anti-ökonomischen Kommunismus ist aber gerade diese Frage nach dem subversiven Potenzial der ökonomietheoretischen Position Batailles entscheidend. Es soll gezeigt werden, dass sie trotz der enormen Integrationskraft des Kapitalismus über ein subversives theoretisches Potenzial verfügt, dass sie mithin nicht bloß ›archäologisch‹, sondern auch politisch relevant ist.

Christoph Menke expliziert in seinem Beitrag über ästhetische Souveränität die Differenz zwischen Batailles Begriff von Souveränität und einem geläufigen Autonomiebegriff, nach dem Freiheit als Selbstbestimmung zu verstehen ist.86 Diese systematische Unterscheidung ist auch für die vorliegende Arbeit von Bedeutung. Weniger bedeutend ist hingegen die Kontextualisierung bataillescher Souveränität als Kritik der künstlerischen Avantgarden, die Menke vornimmt. So hilfreich dieser Kontext für ein Verständnis der Ausgangsproblematik des Souveränitätsdenkens Batailles sein mag, liegt der Fokus in der vorliegenden Arbeit auf systematischen und spekulativen, nicht auf historischen Gesichtspunkten. Der Behauptung Menkes, Souveränität sei für Bataille ausschließlich der Kunst vorbehalten, wird hier im Übrigen nicht gefolgt. Der Bereich der Ästhetik ist für die Überlegungen Batailles zum Problem der Souveränität zwar wichtig, doch nicht exklusiv. Souveräne Augenblicke sind nach Bataille nicht ausschließlich in der Kunst erfahrbar, sondern überall, wo Grenzen überschritten werden, heillose Verschwendung praktiziert und objektive Macht negiert wird.

Der Beitrag von Torsten Hitz betrifft den Begriff des Geschenks, dem er mit Nietzsches Zarathustra den des Gifts entgegenstellt.87 Hitz vergleicht die Bezugnahmen Batailles und Heideggers auf Nietzsches Denken im Zusammenhang mit dem Problem der Gabe und attestiert am Ende beiden einen ›Verrat‹ an Nietzsche,88 mit dem sie Nietzsches Forderung, ein wenig heilsames ›Gift‹ zu geben, allerdings paradoxerweise gerade entsprechen. Hitz’ Überlegungen sind im Zusammenhang einer Rekonstruktion der ökonomietheoretischen Position Batailles in ihrer Verbindung mit Nietzsches Denken interessant und werden in Kapitel III.3 der vorliegenden Arbeit aufgegriffen.

Die deutschsprachige akademische Diskussion um die Gabe findet indessen weitgehend ohne Bataille statt. Im Zusammenhang einer Ökonomiekritik, die (wie diejenige Batailles) an Marcel Mauss’ Theorie der Gabe anschließt, sind die Arbeiten von Frank Hillebrandt, Stephan Moebius, Samuel Strehle, Gunther Teubner, und Dirk Quadflieg einschlägig, die Batailles Position kaum Beachtung schenken.89 Strehle etwa zeigt auf, dass bereits Marx einen Beitrag zu einer Soziologie der Gabe leistet; Teubner analysiert die Ökonomie der Gabe im Kontext der Systemtheorie Niklas Luhmanns und der différance nach Derrida und Hillebrandt und Quadflieg setzen sich mit der Möglichkeit einer allgemeinen Theorie des Tausches auseinander, die symbolische Formen der Reziprozität einschließt und die Entgegensetzung von Warentausch und Gabentausch überwindet.90 Anders als in den genannten Diskursen soll hier mit Bataille (und Nietzsche) ein radikalisierter Begriff der Gabe betont werden, der Exzess und Verlust gegenüber sozialer Reziprozität und Nützlichkeit (ob symbolischer oder ob dingförmiger Natur) den Vorzug gibt.91

Jenseits der Debatten um die Gabe gibt es zur sozialtheoretischen Bedeutung von Batailles Schriften inzwischen eine, wenn auch überschaubare, akademische Auseinandersetzung, die von Michael Riekenberg und Burkhard Liebsch angeregt wurde.92 Hier geht es vor allem um das Element der Gewalt in Batailles Denken und dessen Fruchtbarmachung in einem aktuellen soziologischen Kontext. Die Anerkennung des Gewaltmoments als eines konstitutiven Bestandteils auch des menschlichen, vergesellschafteten Lebens (die übrigens eine der zentralen Lehren Nietzsches darstellt) und die massiven Probleme, in die eine Verleugnung dieses Moments führen, werden in dieser Auseinandersetzung diskutiert. Diese Diskussion ist im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit vor allem für die Frage nach Batailles spezifischem Antifaschismus (Kap. I) interessant.

2015 erschien mit Welt der Abgründe. Zu Georges Bataille ein weiterer Sammelband in deutscher Sprache, der dem Denken Batailles gewidmet ist.93 Darin sind Beiträge zu den verschiedenen ›abgründigen‹ Bereichen aus Batailles Schriften versammelt: zu Existenz, Politik, Ästhetik, Literatur, Epistemologie, Ökonomie, philosophischer Methodik, Anthropologie und Erfahrung. Bischof trägt mit ihrem Beitrag zu diesem Band, Der Sprung ist das Lachen des Tanzes. Versuch über das Nicht-Wissen, den umfassendsten Versuch bei, Batailles Philosophie systematisch zu explizieren. Ihre präzise Erläuterung dessen, was die Ränder und die Überschreitung der diskursiven Erkenntnis für Bataille bedeuten, erschließt sein Denken als eine Philosophie des Lachens, des Sprungs und des Nichtwissens.94 Auf diese Rekonstruktion ist in der vorliegenden Arbeit im Kontext der Analyse des Begriffs der Gemeinschaft bei Bataille (Kap. II.2) zurückzukommen.

Bei beiden genannten Bänden zu Batailles theoretischem Werk handelt es sich aber insgesamt um Sammlungen von in der Form meist essayistischen Annäherungen an Batailles Werk, in der Tat eher um ›Vorreden‹ als um Interpretationen der Philosophie Batailles mit umfassenderem Anspruch. Artur R. Boelderl weist in seinem kurzen Vorwort zu Welt der Abgründe darauf hin, dass es »vielleicht auch gar nicht wünschenswert« sei, »Bataille gleichsam in den Mainstream (zumal deutschsprachigen) Philosophierens einzuschreiben«, da »sein Denken [als das eines veritablen Außenseiters]« seine Wirkung konsequentermaßen eher vom akademischen Rand her erziele.95 Dennoch muss es angesichts der breiten Wirkungsgeschichte Batailles (insbesondere, aber nicht nur in Bezug auf die französische Gegenwartsphilosophie) und angesichts seiner zweifellos »bahnbrechenden Überlegungen zur Ökonomie, zu Politik, Kunst und Literatur«96 verwundern, dass der Wille, sein Werk – ob von einem akademischen ›Rand‹ oder aus einer akademischen ›Mitte‹ heraus – systematisch zu erschließen, innerhalb der deutschsprachigen Debatten so gering ausgeprägt ist. In der Tat ist es in erster Linie Bischof zu verdanken, dass es zu Batailles Denken in deutscher Sprache überhaupt umfassendere wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Zuletzt hat sie etwa Batailles Hegelinterpretation systematisch aufgearbeitet.97

Bataille und Nietzsche politisch lesen: Politisierung des Anti-Politischen. In der vorliegenden Arbeit geht es um die Herausforderung Batailles, Nietzsches Denken ebenso ernst zu nehmen wie das kommunistische Projekt, mithin betrifft eines ihrer zentralen Probleme die Frage nach dem Politischen der Philosophie Nietzsches. Diese Frage bleibt bis heute unbeantwortet. Obwohl sie bereits seit dem Einsetzen der Rezeption von Nietzsches Schriften (das heißt seit etwa 130 Jahren) intensiv diskutiert wird, scheint mit ihr nachdrücklich etwas Uneingelöstes zu persistieren. Die kontroversen Debatten um eine mögliche oder unmögliche Vereinnahmung Nietzsches von marxistischer, sozialistischer, anarchistischer, oder aber von nationalistischer, rassistischer, faschistischer Seite her, sind so umfangreich, dass sie hier nicht adäquat abgebildet werden können.98 Allerdings zeigen jüngste Veröffentlichungen, wie die des Tagungsbandes Nietzsches Perspektiven des Politischen von 2023 oder die von Paul Stephans zweibändiger Studie Links-Nietzscheanismus von 2020,99 dass das Problem des Politischen bei Nietzsche weiterhin für bedenkenswert gehalten wird. Bataille gilt dabei als einer der Begründer eines französischen ›Links-Nietzscheanismus‹, obwohl er selbst nicht müde wurde, zu betonen, dass Nietzsche weder von rechts noch von links politisch nutzbar gemacht werden könne.100

In der deutschen akademischen Nietzsche-Forschung spielen die Arbeiten Batailles allerdings so gut wie gar keine Rolle. Und obwohl es einem breiten Konsens in der Bataille-Rezeption entspricht, dass Nietzsche für Batailles Denken von entscheidender Bedeutung ist und Batailles enormer Einfluss auf die französische Nietzsche-Rezeption nicht bezweifelt werden kann, gibt es zur Verbindung seiner Philosophie mit Nietzsches Denken auch in der Bataille-Forschung kaum systematische Untersuchungen. In der deutschsprachigen Auseinandersetzung ist in dieser Hinsicht nichts zu finden. Im französischsprachigen Raum ist vor allem François Warins Monographie Nietzsche et Bataille. La Parodie à l’Infini101 zu nennen, in der es dem Titel gemäß zentral um die Figur der Parodie geht, deren entscheidende Funktion in den Schriften beider Autoren außer Frage steht und die das spezifisch Paradoxe und Verwirrende ihres Denkens mitbegründen mag. Allerdings käme es einer fatalen Verharmlosung gleich, die Verbindung zwischen Bataille und Nietzsche auf das parodistische Element zu reduzieren.

Die spezifische Frage nach den politischen Implikationen der Nietzschelektüre Batailles liegt eigentlich auf der Hand, da Batailles frühe Nietzsche-Studien in den 1930er Jahren im Kontext seines antifaschistischen Engagements entstanden sind. In ihnen verfolgt Bataille wesentlich das Anliegen, Nietzsches Denken gegen faschistische Besetzungen zu verteidigen. Doch hierzu liegen keine systematischen Arbeiten vor. Über eine im Denken Batailles möglicherweise implizierte Politik gibt es in Frankreich zwar eine etwas breitere Debatte als in Deutschland, jedoch wird sie auch dort kaum in engerem Zusammenhang mit Batailles Nietzsche-Interpretation geführt. Jean-Michel Besnier legte 1988 mit La Politique de l’Impossible. L’Intellectuel entre Révolte et Engagement die bis heute ausführlichste systematische Rekonstruktion der politischen Position Batailles vor.102 Im ersten Kapitel dieses Buches, das den Titel »Le front nietzschéen«103 trägt, wird Batailles Nietzscheanismus thematisiert, im weiteren Verlauf der Argumentation wird aber kaum darauf zurückverwiesen. Dies ist folgerichtig, sofern der Autor das Anliegen verfolgt, den Begriff einer ›Politik des Unmöglichen‹ im Kontext von Batailles Gesamtwerk zu entfalten und diesen Begriff nicht in erster Linie an Batailles Nietzschelektüre anzubinden sucht. Dennoch zeigt sich die auch für Besnier grundlegende Bedeutung Nietzsches für Batailles politische Perspektive darin, dass »Le front nietzschéen« den Ausgang der gesamten Argumentation bildet. Olivier Koettlitz legt in seiner 2017 erschienenen Einführung Comprendre Bataille nahe, dass Bataille in politischer Hinsicht eine Art ›demokratischen Aristokratismus‹ vertrete,104 was auf eine paradoxe Verbindung radikal-demokratischer Elemente mit Nietzsches ›radikalem Aristokratismus‹105 verweist. Da es sich bei Comprendre Bataille um eine Einführung handelt, wird dieser für die vorliegende Arbeit interessante Gedanke allerdings eher impliziert als ausführlich entwickelt.

In der über mehrere Jahrzehnte sich erstreckenden Auseinandersetzung zwischen Blanchot und Nancy über den Begriff der Gemeinschaft bei Bataille106 wird die Frage nach dessen politischer Fruchtbarkeit von beiden Philosophen tendenziell negativ beantwortet, sofern sie Bataille einen sukzessiven Rückzug in den Bereich der Intimität und Erotik unterstellen.107 Ein Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht darin, zu zeigen, dass die politische Brisanz Batailles jedoch gerade in seiner paradoxen Verbindung von Intimität und politischer Gemeinschaft liegt. Blanchot und Nancy selbst entwickeln in Die uneingestehbare Gemeinschaft108 beziehungsweise Die entwerkte Gemeinschaft109 einen je eigenen, jedoch stärker am Denken Heideggers als am Denken Nietzsches orientierten Anschluss an Batailles Gemeinschaftsbegriff. Interessant für die hier anvisierte Begriffsentwicklung ist vor allem, dass es das Problem des Kommunismus ist, das Blanchots und Nancys Hinwendung zum Begriff der Gemeinschaft motiviert. Beide verspürten, so berichtet Nancy rückblickend,

»eine zwingende, gewaltsame Notwendigkeit […], die Arbeit an dem wieder aufzunehmen, was der Kommunismus ebenso machtvoll verdunkelt hatte, wie er es hatte aufkommen lassen: die Instanz des ›Gemeinsamen‹ – doch auch sein Rätsel oder seine Schwierigkeit, sein nicht gegebener, nicht verfügbarer Charakter, in diesem Sinne der am wenigsten ›gemeine‹ der Welt…«110

Das Gemeinsame ist demnach nicht gegeben, nicht verfügbar und insofern kein Gemeinplatz. Nancys und Blanchots an Batailles Gemeinschaftsbegriff anschließender Diskurs legt nahe, dass es gerade die Unverfügbarkeit ist, die das Gemeinsame ausmacht: Nicht nur ist die Gemeinschaft unverfügbar, sondern das Unverfügbare ist selbst das Gemeinsame, es stiftet die Gemeinschaft. Doch in anderer Hinsicht ist die Gemeinschaft Nancy zufolge durchaus gegeben: »Die Gemeinschaft ist uns gegeben, das heißt, uns ist ein ›wir‹ gegeben, ehe wir ein ›wir‹ artikulieren oder gar rechtfertigen können.«111 Diese Gegebenheit der Gemeinschaft ist aber nichts Positives, keine Sache, sondern eine Voraussetzung, die in der Art eines heideggerschen Existenzials in der Existenz selbst impliziert ist, sofern jeglicher Bezug zu einer Präsenz oder einer Welt bereits etwas Gemeinsames im Sinne eines Geteilten enthält. »Nun verweist der ›Kommunismus‹ auf eine Idee und ein Projekt«, so Nancy, »während die ›Gemeinschaft‹ eine Tatsache, eine Gegebenheit zu vermerken scheint.«112

An diese Überlegungen zum Problem der Gemeinschaft und des Kommunismus wird in der vorliegenden Arbeit angeschlossen. Denn der von Nancy herausgestellte Widerspruch zwischen dem Projektcharakter des Kommunismus und einem Gemeinschaftsdenken, das einer projekthaften Existenz entgegengesetzt ist, entspricht der Spannung, die Bataille, wie weiter oben ausgeführt, zwischen dem Kommunismus und Nietzsche ausmacht. Die Gemeinschaft, von der Bataille spricht, ist eine nietzscheanische, was sich gerade in ihrer dem Projekt entgegengesetzten Verfasstheit zeigt. Sie ist aber nicht als unpolitische Gemeinschaft zu verstehen, sondern als eine, die gegenüber dem Bereich des Politischen eine Haltung der radikalen Anfechtung einnimmt. Diese Haltung entspringt einem Gemeinschaftsdenken, das sich zwischen Batailles Nietzscheanismus und der Idee des Kommunismus aufspannt. Sie ist konstitutiv für den Begriff des anti-ökonomischen Kommunismus, der hier entwickelt werden soll.

Neben Blanchot und Nancy haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie oben bereits angedeutet, auch andere französische Denker, etwa Derrida und Foucault, positiv auf Bataille bezogen, ohne allerdings sein Gemeinschaftsdenken und die politischen Implikationen seiner Nietzschelektüre ausführlich zu diskutieren. So hat etwa Derrida Batailles Hegellektüre als eine ›rückhaltlose‹ rekonstruiert und gewürdigt, während Foucault Batailles Begriff der Überschreitung zu aktualisieren versuchte.113