Antidepressiva absetzen - Giovanni A. Fava - E-Book

Antidepressiva absetzen E-Book

Giovanni A. Fava

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Beschreibung

Antidepressiva wann und wie absetzen? Fakten: Etwa die Hälfte der Patient:innen leidet unter persistierenden Absetzerscheinungen. Diese können schwerwiegend und bedrohlich sein Konkretes Know-how: Alle Schritte des Absetzens vor dem Hintergrund klinischer Erfahrung und aktueller Forschung Expertise: Fava ist einer der wenigen Scientist Practitioner im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie Das Absetzen von Antidepressiva ist weitaus schwieriger als ihre Verschreibung. Menschen, bei denen Entzugsphänomene auftreten, werden vor allem von medizinischer Seite oft allein gelassen. Fava, ein international renommierter Psychiater, stellt in diesem Buch drei Module vor, die das Absetzen der Medikamente erleichtern bzw. die Symptome dessen möglichst gering halten. Mit Hilfe aktueller Forschungsergebnisse und Falldarstellungen lernen Sie einzuschätzen, inwiefern Ihre PatientIn auf das Absetzen reagieren wird. Was ist angemessen, welche Gegenanzeigen gibt es für das Absetzen, welche Gegenanzeigen für das Fortsetzen? Wie kann die Dosisreduzierung durchgeführt werden, welche Optionen gibt es? Seite für Seite wird deutlicher, worauf es ankommt und dass präventive Maßnahmen gegen Medikamentenabhängigkeit und Entzugsphänomene durchaus möglich sind!

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Seitenzahl: 272

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Cover for EPUB

Giovanni A. Fava

Antidepressiva absetzen

Anleitung zum personalisierten Begleiten von Absetzproblemen

Übersetzt und mit einem Geleitwort versehen von Dr. Wulf Bertram

Schattauer

Impressum

Prof. Giovanni A. Fava

Università di Bologna

Departimento di Psicologia

viale Berti Pichat 5

IT – 40127 Bologna (Italy)

[email protected]

Besonderer Hinweis

Die in diesem Buch beschriebenen Methoden sollen psychotherapeutischen Rat und medizinische Behandlung nicht ersetzen. Die vorgestellten Informationen und Anleitungen sind sorgfältig recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen weitergegeben. Dennoch übernehmen Autor und Verlag keinerlei Haftung für Schäden irgendeiner Art, die direkt oder indirekt aus der Anwendung oder Verwertung der Angaben in diesem Buch entstehen. Die Informationen sind für Interessierte zur Weiterbildung gedacht.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Schattauer

www.schattauer.de

© Giovanni A. Fava

»Discontinuing Antidepressant Medications« was originally published in English in 2021. This translation is published by agreement with Oxford University Press. J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH is solely responsible for this translation from the original work and Oxford University Press shall have no liability for any errors, omissions or inaccuracies or ambiguities in such translation or for any losses caused by reliance thereon.

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von Dóra Bíró/iStock

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Lektorat: Volker Drüke

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

ISBN 978-3-608-40149-3

E-Book ISBN 978-3-608-11913-8

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20621-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Zum Geleit

1 Zugang zum Problem

Das Aufkommen der Antidepressiva der zweiten Generation

Erkenntnisse aus einer klinischen Untersuchung

Literatur

2 Die klinischen Manifestationen des Entzugs nach dem Absetzen von Antidepressiva

Die klinischen Manifestationen des Entzugs

Definition der klinischen Phänomene nach dem Absetzen von Antidepressiva

Die qualitative Erfahrung des Entzugs

Literatur

3 Die klinischen Manifestationen der Verhaltenstoxizität

Assoziierte klinische Manifestationen von Entzugsreaktionen

Verlust der klinischen Wirksamkeit während der Erhaltungstherapie

Paradoxe Auswirkungen

Übergang in einen bipolaren Verlauf

Resistenz

Refraktärität

Die Konzepte der Verhaltenstoxizität und der iatrogenen Komorbidität

Iatrogene Komorbität im Kindes- und Jugendalter

Das Spektrum der Komorbidität

Literatur

4 Zum Verständnis der Pathophysiologie von Entzugssyndromen

Das oppositionelle Modell der Toleranz

Implikationen für die Langzeitfolgen von Depressionen

Genesung als Einbahnstraße

Literatur

5 Die Entscheidung zum Absetzen von Antidepressiva

Konzeptionelle Hindernisse für eine rationale Verschreibung und Absetzung von Medikamenten

Die klinischen Situationen

Die Bedeutung der klinischen Beurteilung und der gemeinsamen Entscheidungsfindung

Literatur

6 Das Setting für das begleitete Absetzen von Antidepressiva

Ein neues Modell einer Ambulanz für affektive Störungen

Der klinisch-pharmakologische Dienst

Auf der Suche nach einem Platz in der Gesundheitsversorgung

Literatur

7 Die Bedeutung der klinischen Bewertung

Behandlungsanamnese und Staging

Bewertung der aktuellen Situation und Makroanalyse

Bewertung von affektiven Symptomen und Entzugserscheinungen während des Taperings und nach dem Absetzen von Antidepressiva

Umsetzung der Bewertung in eine klinische Entscheidung

Literatur

8 Pharmakologische Strategien und Optionen

Der Aufbau und die Abfolge der Interventionen

Methoden des Absetzens und pharmakologische Ansätze

Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten

Monitoring und Steuerung des klinischen Verlaufs nach dem Absetzen

Nicht nur ein Medikamentencheck

Literatur

9 Erstes psychotherapeutisches Modul: Erklärende Therapie

Erklärende Therapie

Vorwärts gehen

Literatur

10 Zweites psychotherapeutisches Modul: Kognitiv-behaviorale Therapie

Kognitiv-behaviorale Therapie als zweites Modul

Kognitive Verhaltenstherapie als erstes Modul

Ein Ausblick

Literatur

11 Drittes psychotherapeutisches Modul: Well-Being-Therapie

Veränderung des Behandlungsziels: Well-Being-Therapie

Die Bedeutung von Nachuntersuchungen

Literatur

12 Prävention von Abhängigkeit und Entzug mit antidepressiven Medikamenten

Reduzierung der Erstverschreibungen

Einbeziehung der iatrogenen Perspektive in klinische Entscheidungen

Verkürzung der Behandlungsdauer

Über fehlende Erziehung und die Notwendigkeit einer Gegenkultur

Literatur

13 Eine andere Psychiatrie ist möglich

Die Krise der Psychiatrie als medizinische Disziplin

Leitfaden für eine klinische Revolution

Falldarstellung

Schlussfolgerungen

Literatur

Sachverzeichnis

Zum Geleit

Der einfachste Weg, Absetzsymptome von Antidepressiva zu vermeiden, wäre, sie gar nicht erst zu verschreiben. Wobei das in vielen Fällen ohnehin die bessere Idee ist.

Aber der Reihe nach. Denn wahr ist auch, dass Antidepressiva lebensrettende Medikamente sind. Der Berufsverband der psychiatrischen Disziplinen schätzt, dass bei 30–70 % der jährlich konstant um 10 000 schwankenden Suizide (vor Corona!) eine Depression zugrunde lag. Dass solche Selbsttötungen durch eine rechtzeitige und fachgerechte Gabe von Antidepressiva verhindert werden können, ist wahrscheinlich. Wie viele Leben dadurch gerettet werden, kann nur spekuliert werden.

Doch Antidepressiva haben ihren Wert nicht nur in solchen existenziellen Situationen. An Depressionen litten 2022 in Deutschland 11,3 % der Frauen und 5,1 % der Männer (AOK Bundesverband). Insgesamt waren im Laufe eines Jahres 8,2 % der deutschen Bevölkerung neu erkrankt, das entspricht 5,3 Mio. der Bundesbürgerinnen und -bürger. Was diese Krankheit für die betroffenen Individuen bedeutet, muss man entweder selbst erfahren haben oder kann es aus den zahlreichen, auch literarischen Schilderungen von Betroffenen erfahren: Der niederländische Psychiater Piet C. Kuiper, selbst Psychiater, war der Erste, der sich outete und in seinem Buch »Seelenfinsternis« (1992) die Innenwelt eines depressiven Menschen schilderte: Bodenlose Einsamkeit, grundlose, quälende Schuldgefühle, völlige Unfähigkeit, sich über irgendetwas auf dieser Welt zu freuen, bis hin zu dem Gefühl, ein wandelnder Toter zu sein, kennzeichnen Stimmung und Erleben depressiver Menschen.

Kuiper verordnete sich damals selbst einen MAO-Hemmer als Antidepressivum. Er wurde wieder gesund, aber es kann nicht sicher geschlossen werden, ob das Medikament, vor dem er zuvor selbst stets gewarnt hatte, tatsächlich half oder ob die Besserungen, die sich einstellten, auf der Tatsache beruhte, dass alle Depressionen irgendwann ohnehin abklingen. Aber dann auch wieder rezidivieren können.

Die Auswahl der Antidepressiva war zu Kuipers Zeit noch sehr überschaubar. Inzwischen zählen die Websites der Apotheken mindestens 20 verschiedene Präparate auf. Das ist die Klaviatur, auf der Psychiater:innen spielen müssen. In den 1990er-Jahren gab es einen Innovationsschub mit der Entwicklung von reversiblen MAO-Hemmern, Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) und wenig später von Noradrenalin-Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (NSRI). Diese Gruppe von Medikamenten zeigte einige Vorteile gegenüber den bis dahin marktbeherrschenden Trizyklika (TZA). Diese machten vielen Patient:innen mit erheblichen Nebenwirkungen zu schaffen, wie starke Mundtrockenheit, Herzrasen, Obstipation, Harnverhaltung, Herzrhythmusstörungen und orthostatische Dysregulation.

Die meisten der TZA waren bereits in den 1980er-Jahren aus dem Patentschutz gelaufen und nicht mehr von großem ökonomischen Interesse für die Pharmafirmen, obwohl sie in Klinik und Praxis noch regelmäßig und durchaus erfolgreich angewandt wurden. Die Entdeckung, dass es möglich war, mit bestimmten Substanzen die Inaktivierung des Neurotransmitters Serotonin im synaptischen Spalt zu verhindern und dadurch dort dessen Konzentration zu erhöhen, führte zum Design einer Vielzahl von neuen Medikamenten, die auf diesem Prinzip beruhten. Sie leiteten einen neuen Therapie- und Pharmaboom ein. Da der Wirkungsmechanismus bei allen SSRI letztlich gleich war, musste die Pharmaindustrie bei ihrem Marketing viel Fantasie entwickeln, um mögliche Alleinstellungsmerkmale oder wenigstens Wirkungsschwerpunkte herauszustellen.

Da wurde beispielsweise 1990 ein Antidepressivum eingeführt, das angeblich auch besonders gegen die soziale Phobie wirken sollten, und – welch Zufall! – kurz zuvor war eine neue Diagnose »generalisierte soziale Phobie« in das DSM-III (1987) aufgenommen worden. Eine andere strategische Meisterleistung einer Pharmafirma bestand darin, ein »Sisi-Syndrom« zu inaugurieren, benannt nach Kaiserin Elisabeth von Österreich und Ungarn. Sisi soll im Wesenskern depressiv gewesen sein, hätte ihre Krankheit aber perfekt mit betonter Lebhaftigkeit, wilden Ausritten, weiten Reisen und der Produktion von Gedichten im Stil von Heinrich Heine kompensieren und kaschieren können. Das Sisi-Syndrom schaffte es zwar nicht in die offiziellen Diagnoseklassifikationen, wurde aber in der Laienpresse begierig aufgegriffen. Es weckte Hoffnungen besonders bei Patientinnen, die vielleicht überfordert und mit ihrem Leben unzufrieden, aber bemüht waren, eine perfekte und attraktive Fassade aufrechtzuerhalten. Auch deren Ärztinnen und Ärzte schienen froh zu sein, diesem »undankbaren Patientengut« etwas scheinbar Maßgeschneidertes anbieten zu können. Das entsprechende Antidepressivum erlebte einen Höhenflug. Ob es nicht besser gewesen wäre, wenn die betroffenen Patientinnen eine professionelle psychologische Beratungen aufgesucht oder eine Psychotherapie begonnen hätten, steht auf einem anderen Blatt.

Eine mächtige, von der Pharmaindustrie lancierte und finanzierte »Fortbildungswelle« – mit Tagungen und Workshops auf griechischen Inseln, in Sternerestaurants, Weltkulturerbe-Locations, Medici-Villen, Unikliniken, auf Satellitensymposien bei großen Psychiatriekongressen und weiteren attraktiven Destinationen – rollte über das Land. Psychiatrische Ordinarien und Chefärzte großer Landeskrankenhäuser (im Teilnehmerjargon »Leihmäuler« genannt) priesen auf Kongressen und »Fortbildungsreisen« die neuen Medikamente, betonten deren Spezialitäten, mit denen sie sich scheinbar von anderen abhoben, wiesen auf ihre geringen Nebenwirkungen hin, präsentierten Mengen von PowerPoint-Folien mit Studien, in denen das jeweilige Medikament anderen und Placebo ohnehin überlegen gewesen war. Parallel dazu schwärmten die Pharmareferenten aus und besuchten die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, teilten ihre Empfehlungen, Hochglanzprospekte und nicht nur Kugelschreiber aus. Auch in der Laienpresse und in reißerischen Buchpublikationen wurden die SSRI als Sensation vorgestellt, zum Teil sogar als Glückspille (Prozac). Dadurch entstand auch von Seiten der Patient:innen Druck auf die Mediziner:innen, diese Wundermittel zu verschreiben. Und es funktionierte. Das Verordnungsvolumen stieg deutlich und stetig an. Während 2006 bei berufstätigen Erwachsenen noch 12,8 Tagesdosen je Versicherungsjahr verordnet wurden, waren es 2021 25,8 Tagesdosen je Versicherungsjahr. Das sind stattliche 101,3 % mehr als zu Beginn der Erhebung (Quelle: Gesundheitsreport der Techniker-Krankenkasse). Inzwischen schluckt jede:r achte bis zehnte Patient:in in Deutschland Antidepressiva (oder bekommt sie zumindest verschrieben).

In der psychiatrischen und epidemiologischen Literatur wird seit Jahren diskutiert, ob die Depression als Krankheit zugenommen hat oder ob sie nur früher und häufiger diagnostiziert wird, weil sowohl die Ärztinnen und Ärzte als auch die Betroffenen besser informiert sind und die Patient:innen sich eher trauen, professionelle Hilfe aufzusuchen und weniger ein Tabu aus ihrem Leiden machen. Wahrscheinlich stimmt beides, innerhalb der Wachstumsrate mag eine tatsächliche Zunahme neuer depressiver Erkrankungen enthalten sein. Aber ein so steiler Anstieg der Verschreibungen lässt sich nicht allein dadurch erklären. Die Depression ist keine ansteckende Infektionskrankheit, die sich epidemieartig von Mensch zu Mensch ausbreitet. Demnach kann diese Steigerungsrate nur bedeuten, dass reichlich Antidepressiva verschrieben werden, die fehlindiziert sind. Die tatsächlich geringen Nebenwirkungen der SSRI und NSRI führen nicht zu Adhärenz-Problemen, sondern erlauben auch den Patient:innen, die ein Antidepressivum eigentlich nicht nötig hätten, es über längere Zeiträume problemlos einzunehmen. Den meisten Menschen geht es nach einer Krise im Berufsleben oder Partnerschaft mit einem nachfolgenden Stimmungstief ohnehin irgendwann besser, egal ob sie Antidepressiva oder Emser Pastillen eingenommen haben.

Mittlerweile wackelt zudem das gesamte Hypothesengebäude um die SSRI und NSRI-Wirkungen. Metaanalysen einschlägiger Studien haben beispielsweise gezeigt, dass die Konzentration dieser Botenstoffe an den angenommenen Wirkorten sich bei Depressiven und Gesunden nicht unterscheidet. Irgendwie helfen Antidepressiva aber offensichtlich dennoch bei Depressionen, und das nicht nur über einen Placeboeffekt. Nur weiß niemand genau, wie. Der schöne, scheinbar elegant zu erklärende Mechanismus der Serotoninwiederaufnahmehemmung lässt sich jedenfalls als Ursache für eine Besserung nicht mehr aufrechterhalten.

Was dabei aber fast völlig unter den Tisch gefallen ist, sind die Probleme, die beim Absetzen der Antidepressiva auftreten können bzw. bei manchen schon fast die Regel sind. Nun wird man sich nicht wundern, dass die Pharmaindustrie bei ihren tatkräftigen Kampagnen für die Zulassung ihrer Präparate und Verbreitung nicht gleich mit kommuniziert hat, wie man diese Medikamente am besten wieder loswird. Zum Teil ist ihr das auch nicht vorzuwerfen, denn bei der Einführung mag es noch kaum Daten über Absetzprobleme gegeben haben. Außerdem sollten die Medikamente nach damaliger Auffassung lange verabreicht werden, weswegen die Aufmerksamkeit für Absetzerscheinungen erst nach einer höheren Latenz wachsen konnte.

Inzwischen gibt es zwar immer noch nicht viele Daten, dafür aber mehr als reichlich klinische Beobachtungen und Erfahrungen dazu. Doch wo und wem sind sie zugänglich? In einem Beitrag der »Nationalen VersorgungsLeitlinie (NVL)S3« mit dem Titel »Unipolare Depression – was ist wichtig für die hausärztliche Praxis?« suchen Sie die Begriffe »Absetzen« oder »Absetzsyndrome« vergeblich. Nota bene: Hausärztinnen und Hausärzte sind die Ansprechpartner, Verschreiber und Langzeitbetreuer für die Patientinnen und Patienten, wenn sie nach der Initialbehandlung bei einem Psychiater langfristig ein Antidepressivum einnehmen. Und sie sind es auch, die dann als Erste mit Beschwerden im Zusammenhang mit der Reduzierung (im Fachjargon »tapering«) oder dem Absetzen konfrontiert werden.

Immerhin gibt die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) ein »Patientenblatt« zum Thema heraus: »Depression – Antidepressiva – Was ist beim Absetzen zu beachten?«. Ebenso wichtig wäre allerdings ein »Ärzteblatt«, da in der gesamten Berufsgruppe meist entsprechende Erfahrungen und Kenntnisse fehlen.

Es ist also höchste Zeit, dass eine Monographie zu diesem Thema erscheint, und es ist dem italienischen Psychiater Professor Giovanni Andrea Fava zu danken, dass er dieses weltweit erste Buch dazu geschrieben hat. Fava absolvierte seine medizinische Aus- und Weiterbildung in Italien und den USA und war seit 1997 Professor für klinische Psychologie an der Universität von Bologna, seit 1999 zusätzlich klinischer Professor für Psychiatrie an der School of Medicine der University at Buffalo/New York. 30 Jahre lang war er Herausgeber der führenden internationalen Fachzeitschrift »Psychotherapy and Psychosomatics«. Schon früh gründete er in Bologna eine Arbeitsgruppe zum Thema des Taperings und des Absetzens von Antidepressiva. Mit seinem Team und auch persönlich betreute er selbst Patient:innen, die unter Absetzsyndromen litten. Das ist laut Favas Erfahrungen jede/r zweite. Im vorliegenden Buch beschreibt er eine Reihe von Fällen, die einen fatalen Verlauf hätten nehmen können, weil die Absetzsymptomatik nicht als solche erkannt wurde. Stattdessen erhielten die Patient:innen eine Behandlung gegen die Beschwerden, die als unbekannte neue, eigenständige Krankheit interpretiert wurden, was zu einer Polypharmazie mit entsprechenden medizinischen Problemen führte.

Überhaupt hat Fava ein Faible für Fallbeispiele. Sein letztes Buch »Nicht krank ist nicht gesund genug« (Schattauer 2022) ist eine anregende Sammlung von Kasuistiken aus seinem Praxisalltag. Auch im vorliegenden Buch greift er immer wieder auf die Schilderung von Fällen aus seiner eigenen Praxis zurück. Neben dem didaktischen Wert der Schilderung von »erlebten« Therapieepisoden wird ein weiteres Anliegen deutlich: nämlich die Behandlung nicht vorrangig an Leitlinien von Fachgesellschaften zu orientieren. Seine Skepsis gilt zum einen ihrem Zustandekommen: Inwieweit waren Vertreter von Interessengruppen und der Industrie daran beteiligt? Zum anderen beruhen sie auf statistischen Studien wie RCTs (Randomized controlled trials), die letztlich nur einen »durchschnittlichen Patienten« abbilden können (von dem Fava anderenorts gesagt hat, er habe ihn in seiner Praxis noch nie angetroffen). Kontinuierliche und persönliche klinische Erfahrungen auf einer soliden Basis wissenschaftlicher Kompetenz sind für Fava eine unersetzliche Voraussetzung für eine patientengerechte Behandlung.

Nun geht es Fava aber nicht nur darum, die fehlenden oder unzureichenden Kenntnisse im Zusammenhang mit dem Absetzen von Antidepressiva zu vermitteln. Vehement plädiert er auch gegen die Vergeudung von Ressourcen durch die Über- und Fehlversorgung mit Antidepressiva. Das betrifft nicht nur die Ausgaben für diese selbst, sondern es entstehen ja weitere Kosten durch die medizinischen und psychischen Absetzkomplikationen, ganz abgesehen von dem Gesundheitsrisiko und der massiv beeinträchtigten Lebensqualität der betroffenen Patient:innen. Wenn man von den verfügbaren Statistiken ausgeht (in denen, wie gesagt, die Corona- Auswirkungen noch gar nicht ausreichend berücksichtigt sind), dass tatsächlich etwa jede:r zehnte Erwachsene in Deutschland Antidepressiva einnimmt, so wären das etwa 7 Millionen. Und wenn nach Favas Erfahrungen die Hälfte davon manifeste Absetzsymptome hat, müssten 3–4 Millionen Patientinnen und Patienten davon betroffen sein.

Die Evidenz, dass Psychotherapie bei leichten bis mittelschweren Depressionen ebenso wirksam ist wie die Verordnung von Antidepressiva, ist eindeutig, nur hat sich das in der Versorgung bei weitem noch nicht niedergeschlagen. Bei Patient:innen, die unter zeitweiligen Stimmungstiefs, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen, Lustlosigkeit und mangelndem Selbstvertrauen leiden, mögen ihre Hausärzt:innen korrekterweise eine mittelschwere Depression (ICD 32.1) diagnostizieren. Und dann? Wenn sie ihnen dann eine Liste mit niedergelassenen Psychotherapeut:innen übergeben, bei denen sie es »mal versuchen« sollen, schicken sie ihre Patient:innen der Regel auf eine monatelange Telefontour und/oder Warteliste. Und ist es dann verwunderlich, wenn empathische Ärztinnen oder Ärzte sie nicht mit leeren Händen nach Hause schicken mögen, sondern ihnen »wenigstens« eines von diesen modernen, eben als nebenwirkungsarm und risikolos gepriesenen Antidepressiva verschreiben? Der Gedanke an potenzielle gravierende Absetzsymptome liegt dann ja erst mal noch in weiter Ferne, sofern er überhaupt in Erwägung gezogen wird.

Ende der 1990er-Jahre entwickelte Giovanni Fava mit der Well-Being-Therapie (WBT) eine manualisierte niederschwellige Kurzzeittherapie, die acht Sitzungen umfasst. Ziel ist die Förderung der Resilienz der Patient:innen, vor allem im Anschluss an eine stationäre psychiatrische Behandlung oder als Krisenintervention. Seine Erfahrungen mit Menschen, die unter Absetzsyndromen litten und bis zur endgültigen Einstellung der psychopharmakologischen Behandlung eine verlässliche psychologische Begleitung brauchten, gingen in die Entwicklung dieser Therapie mit ein. Im vorliegenden Buch stellt Fava die WBT als einen frühen präventiven Ansatz bereits zu Beginn des Taperings vor.

Virchow schrieb 1848, Politik sei »weiter nichts als Medizin im Großen«. In einer solchen Wechselbeziehung wäre die Politik ihrerseits in der Pflicht, »therapeutische« Eingriffe in Fehlentwicklungen der gegenwärtigen Praxis der Medizin zu leisten. Eine davon ist zweifellos die Kostenexplosion durch die exzessive Verschreibung von vielfach fehlindizierten Antidepressiva mit deren Folgekosten durch behandlungsbedürftige Absetzerscheinungen. In erster Linie geht es zweifellos darum, vermeidbares Leid und verhängnisvolle Spätfolgen bei den Betroffenen zu verhindern. Es handelt sich aber mittlerweile auch um ein Kostenproblem von erheblichem volkswirtschaftlichen Ausmaß.

Statt der Solidargemeinschaft stillschweigend die Kosten für eine solche Fehlversorgung zuzumuten, gäbe es sinnvollere Möglichkeiten, die Mittel einzusetzen. Sie sind ja offensichtlich reichlich vorhanden, wie man aus den bisher nonchalant tolerierten exorbitanten primären und sekundären (Behandlungskosen der Absetzsymptomen) Ausgaben für Psychopharmaka schließen kann. Da wir nun mal evidenzbasiert wissen, dass bei leichten bis mittelschweren Depressionen Psychotherapie ebenso wirksam ist wie psychopharmakologische Behandlungen, wären die gesundheitsökonomischen Ressourcen besser in die psychotherapeutische Fort- und Weiterbildung und die Erleichterung der Niederlassung junger Psycholog:innen sowie Ärztinnen und Ärzte investiert.

Auch Psychotherapien sind nicht immer erfolgreich, aber wie eine Reihe von Studien zeigt, tritt oft bereits nach 4–20 Stunden eine Besserung ein. Über langwierige, schädliche, schwer zu kontrollierende und quälende Absetzsyndrome bräuchten wir uns bei ausreichenden Angeboten an psychotherapeutischen Leistungen jedenfalls keine Gedanken zu machen.

Geleitworte schließen oft mit dem Satz: »Dem vorliegenden Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen.« Eine originellere Formulierung fällt mir hier auch nicht ein. Fest steht: Favas Buch könnte wirklich eine vernünftige und notwendige Wende in der Verordnung und Handhabung von Antidepressiva einleiten.

In diesem Sinne kann der etwas abgegriffene Geleitwortwunsch nach der »weiten Verbreitung« bei diesem Werk nur mit vollkommener Überzeugung bekräftigt werden.

Stuttgart, im März 2023

Wulf Bertram

1 Zugang zum Problem

Als ich vor über 40 Jahren meine psychiatrische Weiterbildung in Italien begann, war die Depression die psychiatrische Störung, die meine Aufmerksamkeit am meisten auf sich zog. 1980 entschloss ich mich, in die USA zu gehen, um dieses Interesse intensiv zu verfolgen – zuerst nach Albuquerque, New Mexico, und dann nach Buffalo, New York State. Dort wurde mir angeboten, eine Abteilung für Depressionen aufzubauen. Ich war davon überzeugt, dass die Depression im Wesentlichen eine episodische Störung wäre, dass es wirksame Mittel zu ihrer Behandlung gibt (Antidepressiva) und dass eine Chronifizierung im Wesentlichen die Folge einer unzureichenden Diagnostik und Behandlung wäre. Wenn ich heute an meine damaligen Überzeugungen denke, wundere ich mich über meine Naivität und klinische Blindheit, wobei diese Ansichten ja damals von praktisch allen Experten auf diesem Gebiet geteilt wurden. Inzwischen haben wir erkannt, dass die Depression im Kern eine chronische Erkrankung ist, mit mehreren akuten Episoden im Verlauf [1].

Als ich in den USA arbeitete, hatte ich tatsächlich eine begrenzte Sicht auf diese Störung (ich untersuchte Patienten, während sie im Krankenhaus waren, hatte aber keine Ahnung, was mit ihnen passierte, wenn sie nach Hause kamen). Als ich mich jedoch Ende der 1980er-Jahre entschloss, nach Italien zurückzukehren und an der Universität Bologna eine Klinik mit der Möglichkeit zur Langzeitbetreuung von Patienten aufzubauen, sah die Sache anders aus. Die Patienten, denen ich Antidepressiva verordnete und von denen ich dann annahm, dass sie vollständig geheilt wären, litten nach einiger Zeit wieder unter Depressionen. Was lief falsch?

Inzwischen weist eine zunehmende Zahl von Studien darauf hin, dass die medikamentöse Behandlung von Depressionen nicht alle Probleme löst und trotz deutlicher Besserung erhebliche Residualsymptome bestehen bleiben [2]. Diese Symptome umfassten insbesondere Angst und Reizbarkeit und bedeuteten insgesamt eine Verringerung der Funktionsfähigkeit. Die meisten dieser Restsymptome waren auch in der Prodromalphase der Erkrankung vorhanden gewesen und konnten dann zur Prodromalsymptomatik des Rückfalls werden [2]. In den 1990er-Jahren habe ich daher eine Behandlungsstrategie entwickelt, die sich von den damals üblichen Ansätzen unterschied: das sequenzielle Modell [3]. Es war ein intensiver, zweistufiger Ansatz, zu dem eine psychotherapeutische Behandlung gehörte, um so Symptome zu verbessern, die durch eine pharmakologische Therapie allein nicht beeinflusst werden konnten. Voraussetzung für diesen Ansatz war, psychotherapeutische Strategien dann einzusetzen, wenn sie am wahrscheinlichsten den entscheidenden und erkennbaren Beitrag zum Wohlbefinden des Patienten leisten und eine weitgehendere Genesung bei der Behandlung von Restsymptomen erreichen würden [3]. Dieser sequenzielle Ansatz unterschied sich von Erhaltungsstrategien zur Verlängerung der klinischen Effekte, die durch Therapien akuter Episoden erzielt worden waren, sowie von Augmentations- oder Ersatzstrategien, wenn die primären Behandlungsstrategien nicht angesprochen hatten.

In den 1990er-Jahren habe ich zwei randomisierte kontrollierte Studien (RCTs)(1) geplant und durchgeführt, die auf dieses sequenzielle Modell der Depressionsbehandlung abzielten: akute episodenbezogene Pharmakotherapie, gefolgt von einer modifizierten Form der kognitiven Verhaltenstherapie im Vergleich zum üblichen klinischen Management. Letzteres bedeutete, dass dem Patienten zwar die gleiche Zeit gewidmet wird, aber keine spezifischen Interventionen angewendet oder Hausaufgaben gestellt werden, während die Antidepressiva reduziert oder abgesetzt wurden [4], [5]. Die verwendeten Medikamente waren hauptsächlich trizyklische Antidepressiva (TZAs)(1). Nach der Einführung von TZAs waren nach dem Absetzen dieser Medikamente bald Entzugserscheinungen beobachtet worden [6], und mir wurde klar, dass sie im Rahmen des Ausschleichens oder nach dem Absetzen der Medikamente auftreten könnten [7]. Ausgehend von meiner klinischen Erfahrung hatte ich folgendes Protokoll entwickelt: Alle zwei Wochen wurden die Antidepressiva so langsam wie möglich reduziert. Kam es bei einem Patienten beispielsweise mit 150 mg Amitriptylin zur Remission, wurde das Medikament alle zwei Wochen um 25 mg reduziert, bis es ganz abgesetzt wurde. Alle zwei Wochen führte ich auch eine Psychotherapiesitzung durch, bei der ich die Unterbrechung der medikamentösen Therapie überprüfen konnte. Ich habe alle 88 Patienten, die an der Studie teilgenommen haben, persönlich behandelt [4], [5]; nur in acht Fällen wurde die Reduzierung aufgrund einer erneuten Manifestation eines depressiven Zustands unterbrochen. Bei sechs Patienten war das Absetzen der TZA einige Monate später nach Abschluss dieser Studie erfolgreich.

Ich hatte die Patienten angewiesen, mich anzurufen, wenn sie eine »Stufe« (einen qualitativen Unterschied zum psychischen Zustand bei der vorherigen Dosierung) wahrnehmen würden. In keinem Fall wurden Entzugserscheinungen beobachtet. Damals schien es daher unwahrscheinlich, dass Antidepressiva beim Ausschleichen oder Absetzen eine Abhängigkeit und Entzugserscheinungen hervorrufen könnten.

In einer anderen Studie, die ich damals durchführte [8], reduzierten wir schrittweise die medikamentöse Therapie von 20 Patienten mit Panik und Agoraphobie, die bisher erfolgreich mit einem Standard-Verhaltensprotokoll und mit Benzodiazepinen (BZ) behandelt worden waren, und beendeten sie schließlich. Die Idee hinter der Studie war, Entzugserscheinungen in einem Kontext zu analysieren, der nicht durch das Wiederauftreten von Angststörungen kontaminiert war. Ein erfolgreiches Absetzen wurde bei 16 Patienten erreicht, aber bei 13 Patienten traten Entzugserscheinungen auf. Bei vier weiteren Patienten konnte das Absetzen nicht fortgesetzt werden. Zu diesem Zeitpunkt war mir klar, dass TZAs und BZs in ihrem Suchtpotenzial sehr unterschiedlich sind.

Das Aufkommen der Antidepressiva der zweiten Generation

In den 1990er-Jahren zeichnete sich jedoch mit der Einführung selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs)(1) ein ganz anderes Bild ab. Wir begannen, uns mit den Entzugserscheinungen nach ihrer Reduktion oder Unterbrechung zu beschäftigen. Meine erste Erfahrung war wie ein böses Erwachen [9].

FALLBEISPIEL

Alan war ein 43-jähriger Manager mit einer viermonatigen Vorgeschichte einer schweren depressiven Episode, dem von seinem Hausarzt 40 mg Paroxetin pro Tag verschrieben wurden. Mit dieser Behandlung hatte sich Alan nur teilweise gebessert und wurde daher »wegen etwas Stärkerem« an mich überwiesen. Tatsächlich dachte ich, dass ein TZA, Desipramin, bessere Ergebnisse haben könnte. Ich reduzierte das Paroxetin auf 20 mg und ersetzte es nach drei Tagen durch Desipramin mit einer Anfangsdosis von 50 mg pro Tag. Nach einer Woche mit Desipramin (erhöht auf 100 mg/Tag) rief mich Alan an und bat mich dringend um einen Besuch. Er wollte mir am Telefon nichts sagen, aber ich spürte, dass er sehr besorgt war. Er sagte mir nur: »Ich kann nicht noch eine Nacht wie diese ertragen.« Ich konnte es noch am selben Tag sehen. Er hatte einen heftigen Schwindel, unsicheres Gehen, Schwäche, Muskelschmerzen und hypnagoge visuelle Halluzinationen (abstrakte geometrische Formen oder filmische Szenen beim Einschlafen) erlebt. Alan war entsetzt. »Was geht da vor?«, fragte er mich. Ich dachte an etwas organisches. Alan bestritt, andere Medikamente oder Drogen genommen zu haben, und ich dachte, ich könnte ihm glauben. Ich dachte an eine medizinische Krankheit, aber es gab kein Fieber oder andere Anzeichen. Ich habe eine körperliche Untersuchung gemacht, die aber komplett negativ ausfiel. Ich versuchte ihn dann zu beruhigen, indem ich ihm sagte, dass dies vorübergehende Nebenwirkungen aufgrund des schnellen Medikamentenwechsels seien. Desipramin wurde auf 25 mg/Tag reduziert und dann nach drei Tagen abgesetzt. Ich wollte, dass mein Patient keine Medikamente mehr nimmt. Es dauerte 10 (lange) Tage, bis die neuen Symptome verschwanden. Zu diesem Zeitpunkt begann ich wieder mit Desipramin, das ich langsam und stetig auf 150 mg pro Tag erhöhte. Alan sprach nach vier Wochen perfekt auf die Behandlung an und alle Entzugserscheinungen verschwanden.

Wie Alan fragte ich mich auch, was passiert war. Ich suchte in der Literatur und entdeckte zwei Briefe, die ähnliche – wenn auch weniger heftige – Entzugserscheinungen nach Absetzen von Paroxetin dokumentierten [10], [11]. Bei einem in diesen Berichten beschriebenen Patienten [11] kehrte die Zugabe von Fluoxetin die Entzugseffekte von Paroxetin um, was darauf hindeutet, dass das Syndrom über den serotonergen Weg vermittelt werden könnte. Dilsaver [7] postulierte, dass Entzugsphänomene durch cholinerge Mechanismen vermittelt werden könnten, was in Alans Fall jedoch ausgeschlossen wurde, da Desipramin und Paroxetin mit nahezu identischer Affinität an den muskarinischen cholinergen Rezeptor binden [12]. Seit Alans Fall habe ich mich jedoch entschieden, beim Ausschleichen von SSRIs vorsichtiger zu sein, indem ich die Methoden anwende, die ich in den sequenziellen Behandlungsstudien bei TZAs angewendet hatte – d. h. so wenig wie möglich alle zwei Wochen [4], [5]. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen haben jedoch alle Arten von SSRIs Entzugserscheinungen ausgelöst, obwohl dies nicht immer der Fall war. In der Literatur wurde eine Welle von Fällen gemeldet, gefolgt von kontrollierten Doppelblinduntersuchungen, die die klinische Welt auf das potenzielle Risiko eines Entzugssyndroms nach dem Absetzen von SSRIs und sogar selektiven Serotonin-Noradrenalin-Inhibitoren (SNRIs)(1) wie Venlafaxin aufmerksam machten, was in mehreren veröffentlichten Artikeln zusammengefasst wurde [13]–[17].

In den 1990er-Jahren und dann im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends hat die Pharmaindustrie große Anstrengungen unternommen, um die Entzugserscheinungen nach dem Absetzen von SSRI und SNRI zu bagatellisieren. Die kommerzielle Strategie bestand darin, den Einsatz von SSRI und SNRI von Depressionen auf andere psychiatrische Störungen (insbesondere Angststörungen) auszuweiten und ihre Verabreichung so lange wie möglich zu verlängern. Die Kunde von einem Gewöhnungsrisiko wäre einer solchen Strategie zuwidergelaufen. Die Entzugsreaktionen wurden prompt in Absetzsyndrome umgetauft, um hervorzuheben, dass es sich um etwas anderes handelte als bei psychotropen Medikamenten (obwohl es keine Belege dafür gab, dass es eine andere Art Abhängigkeit war). Ärzten und Patienten wurde beigebracht, dass sich das Problem nur bei abruptem Absetzen von Antidepressiva manifestiert und dass, wenn Symptome auftreten, diese als Anzeichen eines Rückfalls mit sofortiger Wiedereinführung des Antidepressivums gewertet werden sollten.

Viele Kliniker in allen Fachgebieten und in allen Arten von Praxen konnten spüren, dass mit dem von der pharmazeutischen Industrie und ihren verschwenderischen Experten diktierten Ansatz etwas nicht stimmte. Ich vermute jedoch, dass sie nicht bereit waren, zuzugeben, dass der Kaiser nackt war – da die wissenschaftliche Literatur mit sehr wenigen Ausnahmen einhellig des Kaisers neue Kleider lobte.

Erkenntnisse aus einer klinischen Untersuchung

Mit meiner Kollegin Chiara Rafanelli haben wir eine Studie entwickelt, die derjenigen ähnelt, die für das Absetzen von BZs [8] verwendet wurde, um zu testen, ob es machbar ist, Patienten mit Panikstörung und Agoraphobie dazu zu bringen, SSRIs abzusetzen. Auch hier behandelte ich alle Patienten selbst. Bei 20 Probanden, die erfolgreich mit einem auf Hausaufgabenexposition basierenden standardisierten Verhaltensprotokoll behandelt worden waren und SSRIs eingenommen hatten, wurde die Medikation ausgeschlichen und schließlich abgesetzt [18]. Wir hatten das Gefühl, die besten Voraussetzungen für das Absetzen von SSRI zu haben: Die Patienten waren nach einer Art von Psychotherapie, die mit anhaltenden Effekten verbunden war, panikfrei [19], und sie wurden individuell betreut, mit der Möglichkeit, etwaige Symptomatik abzuklären und zu besprechen. Ich habe mich sowohl mit Psychotherapie als auch mit medikamentöser Therapie befasst. Doch die Ergebnisse waren enttäuschend. Neun dieser Patienten (45 %) litten unter Entzugserscheinungen, die bei allen innerhalb eines Monats verschwanden – Ausnahmen blieben die drei Patienten, die Paroxetin einnahmen [18]. Diese drei Patienten entwickelten eine Zyklothymie, an der sie nie gelitten hatten, und offenbarten ein Syndrom, das später als anhaltende Post-Entzugsstörung definiert wurde [20] – d. h. die Verlängerung der Entzugssymptome und/oder die Rückkehr der ursprünglichen Symptome in einer höheren Intensität und/oder mit zusätzlichen Symptomen im Zusammenhang mit dem Auftreten einer neuen psychischen Störung. Sie wurden alle mit Clonazepam behandelt: In einem Fall war die Reaktion gut; in einer anderen war sie sehr begrenzt und die Symptome verschwanden, als Paroxetin erneut verabreicht wurde; schließlich brachte Clonazepam im dritten Fall keinen Nutzen, und die Symptome hielten drei Jahre lang an, bevor sie verschwanden (während der Patient sich weigerte, Paroxetin erneut einzunehmen). Nichts Ähnliches war mit Benzodiazepinen passiert: Tatsächlich wurde mit dem Absetzen die Angst verbessert [8], in Übereinstimmung mit der veröffentlichten Literatur [21].

Unsere Ergebnisse standen in krassem Gegensatz zu dem, was die großen Meinungsführer predigten. Nach meiner Erfahrung können sich Entzugserscheinungen auch als sehr allmählicher Rückgang bei Patienten in Remission manifestieren. Bei fast der Hälfte der Patienten waren die Beschwerden schwerwiegend und beeinträchtigend und verschwanden nicht unbedingt innerhalb von 2–3 Wochen. Damit wurde deutlich, wie schwierig es für viele Patienten war, die Einnahme von Antidepressiva abzubrechen. Wenn die Dinge unter diesen Bedingungen schwierig wären, wie schwierig wären sie dann für eine Person, die allein einen eigenen Ausweg sucht? Einige Patienten, die an der Studie teilnahmen, vertrauten mir an, dass sie ohne mich (d. h. ohne jemanden, dem sie vertrauten, dass er ihnen hilft, ihre Agoraphobie loszuwerden), aufgehört hätten, die Medikamente abzusetzen. Ich hatte ihnen die vorübergehende Natur der Phänomene erklärt. Übrigens war unser Artikel nur ein kurzer Beitrag in einer Zeitschrift für Psychopharmakologie im Jahr 2007 [18]. Wie konnten wir mit der massiven Propaganda, mit Artikeln in weit verbreiteten Zeitschriften, Vorträgen und Symposien auf Kongressen konkurrieren?

Unsere Erkenntnisse über die Persistenz von Entzugserscheinungen mit der möglichen Erweiterung um neue klinische Phänomene wurden von der Gruppe von Guy Chouinard in Montreal vorweggenommen [22]. Einige Monate nach der Veröffentlichung unseres Essays [18] teilte Chouinard mir schriftlich mit, dass er nach Italien kommen und sich freuen würde, mich kennenzulernen. Ich dachte, dies wäre eine außergewöhnliche Gelegenheit: Ich war ein großer Bewunderer seiner bahnbrechenden Arbeit als klinischer Pharmakologe (er hatte Pionierarbeit bei der klinischen Anwendung vieler Psychopharmaka geleistet, darunter Fluoxetin und Clonazepam) und seiner Kreativität, seiner methodischen Strenge und seiner intellektuellen Ehrlichkeit. Chouinard würde nach Parma kommen, nicht weit von Bologna. Ich nahm den Zug und fand ihn am Bahnhof auf mich wartend. Wir fanden ein Café in der Nähe und verbrachten eine Stunde damit, Ideen auszutauschen. Es war ein echter Trost zu hören, dass ich nicht der Einzige war, der einige Annahmen über Entzugsphänomene von SSRIs und SNRIs machte. Leider musste ich nach einem für mich zu kurzem Gespräch den Zug zurück nach Hause nehmen, aber wir begannen eine Zusammenarbeit und eine Freundschaft, die für die Entwicklungen der folgenden Jahre wesentlich war. Ich hatte das Glück, von seinen häufigen Reisen nach Italien profitieren zu können. Als ich an diesem Abend im Zug nach Bologna zurückkehrte, kam mir in den Sinn, was Alan, mein Patient, mich gefragt hatte: »Was geht da vor?« Ich fühlte mich moralisch und intellektuell verpflichtet, eine Antwort zu geben, was auch immer die persönlichen Kosten waren.

Ich war mir vollkommen bewusst, wie der Kampf ausgehen würde. Vor 20 Jahren nahm die Zeitschrift Psychotherapy and Psychosomatics, deren Herausgeber ich war, das heutige medizinische Szenario vorweg, das von kommerziellen Interessen dominiert wird, deren Ergebnis eine akademische Oligarchie (Special Interest Groups) ist, die die klinische und wissenschaftliche Information beeinflusst [23]. Die Mitglieder dieser Gruppen verhindern aufgrund ihrer Finanzkraft und engen Verbindungen untereinander systematisch die Verbreitung von Daten, die ihren Interessen widersprechen könnten. Unternehmensmächte haben sich mit der akademischen Medizin verfilzt, um eine ungesunde Allianz zu schaffen, die gegen die objektive Berichterstattung über klinische Forschung arbeitet, die Tagungen und Symposien mit dem spezifischen Ziel organisiert, Teilnehmer an Sponsoren zu verkaufen, und die Zeitschriften, Ärzteverbände und verwandte Stiftungen effektiv kontrolliert (durch direkte Unterstützung und/oder Werbung) [24]. Solche Phänomene treten in allen Bereichen der Medizin auf, einschließlich der Psychiatrie [25]. Wir waren nur eine lockere Gruppe, leiteten ein kleines unabhängiges Magazin, hinterfragten Mainstream-Meinungen und bauten eine Gegenkultur auf – aber ich war entschlossen, die Herausforderung anzunehmen.

Literatur

[1]

Fava GA, Tomba E, Grandi S (2007). The Road to Recovery from Depression. Psychother Psychosom; 76: 260–265.

[2]

Fava GA, Kellner R (1991). Prodromal Symptoms in Affective Disorders. Am J Psychiatry; 148: 823–30.

[3]

Fava GA (1999). Sequential Treatment: A New Way of Integrating Pharmacotherapy and Psychotherapy. Psychother Psychosom; 68; 227–229.

[4]