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Die Doppelfahnen der ›Antifaschistischen Aktion‹ sind heute eines der bekanntesten Symbole der linken Szene. Aber was ist ›die Antifa‹? Dieses Buch liefert den ersten umfassenden Überblick über ihre Entwicklung von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik. Ein Grundlagenwerk für Aktivist*innen und all diejenigen, die erfahren wollen, in welcher Tradition Antifaschismus in Deutschland steht. »Ein absolut wichtiges Buch, welches Antifaschistische Bewegungen und Aktionen (auch die von Frauengruppen bzw. Fantifas) zu allen Zeiten thematisiert und gleichzeitig immer die Gründe für ein Notwendigwerden von Antifaschistischen Handlungen nachzeichnet. […] Wertvolles Buch. Lesen!« – TRUST, Okt/Nov 2016
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Seitenzahl: 529
Veröffentlichungsjahr: 2023
Denen, die kämpfen.
Bernd Langer, geboren 1960 in Bad Lauterberg im Harz, ist seit 1978 in der Antifa-Bewegung aktiv. Er gehörte zu den Gründern des Antifaschistischen Arbeitskreises Bad Lauterberg, der bis 1985 bestand, und war ein Organisator der autonomen Antifa-Bewegung im Harz, dem Eichsfeld, sowie Göttingen und Umgebung. Seit ihrer Gründung 1981 war Langer an der Norddeutschen Antifakoordination beteiligt und am Aufbau der bundesweiten Antifa-Koordination. Er initiierte die erste autonome Antifa-Gruppe in Göttingen und war ab 1987 verantwortlich für die Entwicklung der Bündnispolitik mit etablierten politischen Organisationen wie Gewerkschaften, den Grünen etc. in der Region Südniedersachsen. Langer war Mitbegründer der Autonomen Antifa (M), der AA/BO und der kulturpolitischen Initiative Kunst und Kampf (KuK), bekannt für ihre Plakate, Bilder und AgitProp-Aktionen. In den 1980er-Jahren entwarf er dass neue Logo der Antifaschistischen Aktion mit den roten und schwarzen Fahnen. In einem Verfahren gegen die Autonome Antifa (M) wegen Bildung und Werbung für eine kriminelle bzw. terroristische Vereinigung (§129 bzw. §129a StGB) 1995 gehörte Langer zu den 17 Angeklagten. Die Ermittlungen und die Anklage wurden 1996 nach einem Vergleich mit der Staatsanwaltschaft eingestellt. Im Jahr 2001 löste sich AA/BO auf, die Autonome Antifa (M) folgte 2004. Langer blieb politischer Aktivist. Darüber hinaus publizierte er zahlreiche Artikel und Bücher zum Thema Antifaschismus.
Bernd Langer lebt heute in Berlin.
Bernd Langer
Antifaschistische AktionGeschichte einer linksradikalen BewegungBand 1
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Bernd Langer:
Antifaschistische Aktion
Geschichte einer linksradikalen Bewegung – Band 1
4., aktualisierte und erweiterte Auflage, März 2023
eBook UNRAST Verlag, Juni 2023
ISBN 978-3-95405-034-5
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
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Umschlag & Gestaltung: Bernd Langer & Jürgen Frohnmaier
Satz: Jürgen Frohnmaier
Vorwort
1917–1933
Irrtum Weltrevolution
Spaltung
Rechtsputsch
Beeindruckender Erfolg
Der Urfaschist
Hasserfüllter Kriegskurs
Verlorener Sieg
Squadristen
Fiume
Anfang vom Ende
Brutaler Machtkampf
Der Weg zum Faschismus
Attentate und Machtergreifung
Deutsche Misere
Heran an die Massen
Das Friedensdiktat
Der Sturm auf den Annaberg
Sturmkompanie Koppe
Organisation Consul
Der Rathenau Mord
Deutscher Oktober
Ordnungszelle Bayern
Debakel vor der Feldherrnhalle
Das Reichsbanner
Lehren der deutschen Ereignisse
Blutsonntag
Der Rote Frontkämpferbund
Patriarchale Verlegenheitslösung
Die Sozialfaschismusthese
Hitler kehrt zurück
Sozialdemokratie als Hauptfeind
Aufstieg einer Partei
Machtprobe in Braunschweig
Harzburger Front und Marsch der 100.000
Die Eiserne Front
Saalschlacht
Nationale Konzentration
Preußenschlag
Wahlergebnisse
1933–1945
Bereit sein ist alles!
Zeitfenster von drei Wochen
Der Reichstagsbrand
Der Tag von Potsdam
Nur bombastische Parolen
Das Banner des Antifaschismus
Marxistische Zwischentöne
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Nationalsozialistische Antinationalsozialisten?
Braunes Heer und schwarzer Tod
Die Nacht der langen Messer
Kurswende Volksfront
Das Ende des schwarzen Spuks
Wilde Jungs
Betrogene Hoffnung
Der große Verrat
Antifaschismus in Schwarz-Weiß-Rot
Deutsche Partisanen
Weiße Rose und Edelweiß
Eine Möglichkeit blieb
1945–2015
Alte Krieger im kalten Krieg
Nadelstreifennazis, Neonazis, Hitlerwelle
Bewaffneter Kampf
Wie alles (wieder) anfing
Im Windschatten
Gefundenes Fressen
Offensiv, autonom, militant
Absolut linksradikal
Antipat und Antifa
Viele Namen
Per se faschistisch
Das Ende der eigenen Kräfte
Radikal wie die Wirklichkeit?
Von der Strömung zur Bewegung
Jugendfront, Edelweißpiraten, Gençlik
Die AA/BO
Terror und Lichterketten
Fantifa
Erfolgreiche Talfahrt
Heß-liche Geschichte
Kadervernetzung
Gesundschrumpfen
Wider den Zeitgeist
Unschöne Begleitmusik
Befreiung und Wehrmacht
Aufstand der Anständigen?
Das NPD-Verbotsverfahren
Neuer Terror
Antifa ist keine Kripo
Tag der (deutschen) Arbeit
Globalisierung und Neoliberalismus
Blockaden in Dresden
Desaster Warschau
Trauermarsch in Magdeburg
Wir können sie stoppen
Bad Nenndorf und Friedrichroda
Remagen
Demmin
Occupy, Blockupy ...
Welcome to hell
Hammer und Schwert
Literaturverzeichnis
Zeitschriften-/Zeitungsartikel
Quellen/Dokumente/Interviews
Videos
Bildnachweis
Anmerkungen
Das vorliegende Werk stellt die bislang wohl umfangreichste Darstellung der Geschichte der antifaschistischen Bewegung in Deutschland dar. Am Anfang stand die Broschüre ›80 Jahre Antifaschistische Aktion‹ aus dem Jahr 2012, eine 40-seitige Flugschrift, die zum ersten Mal die Geschichte der Antifaschistischen Aktion beschrieb. Entstanden „für die Bewegung aus der Bewegung“, wurde das Heft im Zusammenhang mit einer bundesweiten Veranstaltungsinitiative verbreitet.
Basierend auf dem überarbeiteten Manuskript erschien dann im Jahr 2014 das Buch ›Antifaschistische Aktion. Geschichte einer linksradikalen Bewegung‹, das bis 2018 drei jeweils erweiterte Auflagen erfuhr. Zudem wurde unter dem Titel ›Antifa – Histoire du mouvement antifaschiste allemand‹ im Sommer 2018 eine französische Übersetzung publiziert.
Die nunmehr vierte Auflage ist mehr als nur die Fortsetzung jener Geschichte der antifaschistischen Bewegung. So begann das Buch bislang mit der Entstehung der Antifaschistischen Aktion 1932. Davon weicht diese Auflage ab, denn auch der revolutionäre Umbruch Ende des I. Weltkrieges und die Abwehr des Kapp-Putsches werden einbezogen, und vor allem wird die Etablierung des italienischen Faschismus beschrieben.
Ein Ziel des Buches ist es, den Mangel im Faschismusbegriff aufzuzeigen, denn mitverantwortlich für den Aufstieg des Faschismus war, dass er fatal unterschätzt wurde. Im Jahr 1933 dachten konservative Kräfte, sie könnten mit Hitler koalieren und würden bald mit ihm fertig werden. Das Bürgertum erkannte die Gefahr nicht, während die Linken wiederum meinten, der Faschismus sei nur eine – finale – Eskalation des Kapitalismus.
Aufgrund der historischen Erfahrungen müssen wir heute von einem Faschismusbegriff ausgehen, der ihn als eigenständige Herrschaftsform erkennt und untersucht. Dieser Erkenntnis entgegengesetzt, nennt Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine einen antifaschistischen Krieg. Eine Gleichsetzung von NS-Herrschaft und der heutigen ukrainischen Regierung bedeutet, den Faschismus-Begriff zu relativieren und ihn für verlogene Kriegspropaganda zu instrumentalisieren.
Das vorliegende Buch ist gegen solche Relativierungen gerichtet und soll zur Diskussion um einen angemessenen Faschismusbegriff beitragen.
Ich sehe im radikaldemokratischen Prozess einen wesentlichen Inhalt antifaschistischer Politik. In jeder Gruppe, in der ich bislang politisch tätig war, bildete die basisdemokratische Ausrichtung den ebenso selbstverständlichen wie ständig zu organisierenden und bewahrenden Grundkonsens. Wie im Kleinen so gilt es auch im Großen für solche Organisationsformen und die soziale und politische Gleichberechtigung aller Menschen zu kämpfen.
Indes ist die aktuelle Entwicklung seit Oktober 2018 in großen Schritten vorangegangen. Die letzten Jahre waren bestimmt u. a. von der Corona-Pandemie, #BlackLivesMatter in den USA, dem Aufstand im Iran und dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Auch diese Entwicklungen sind im Buch verarbeitet. Dadurch wurde ein Seitenumfang erreicht, der es ratsam erscheinen ließ, die Auflage in zwei Bände aufzuteilen.
Dieser erste Band reicht bis 2015. Wenn Entwicklungen, die ihren Ursprung vor 2015 hatten und in späteren Jahren von Bedeutung blieben oder ihren Abschluss fanden, ist ihre Geschichte in diesem ersten Band zu Ende erzählt. Der zweite Band beginnt dann mit dem Flüchtlingssommer 2015 und den sich daraus ergebenen massiven Veränderungen, die bis in die aktuellen Auseinandersetzungen reichen.
Bernd Langer, Frühjahr 2023
Antifaschismus basiert zu großen Teilen auf der historischen Arbeiterbewegung, einer im Wesentlichen demokratischen Reformbewegung. Nicht umsonst wählte sie den Begriff Sozialdemokratie für sich und erkämpfte Stück für Stück soziale Rechte. Das war eine historische Großtat, ein gesellschaftlicher Emanzipationsprozess, an dem aber auch Liberale, fortschrittliche Christen und andere aufgeklärte ›bürgerliche‹ Geister ihren Anteil hatten – wobei viele der intellektuellen Anführer_innen und wichtige Funktionär_innen der sich etablierenden Arbeiterbewegung meist aus dem Bürgertum stammten.
Nur ein kleiner Teil der Arbeiterbewegung, wenn auch ein entscheidender, wie die Führung der deutschen sozialdemokratischen Partei, berief sich auf den Marxismus. Laut Marx sollten sich die Proletarier aller Länder vereinen und gemeinsam den Kapitalismus überwinden. Der erste Versuch einer solchen Vereinigung war die Internationale Arbeiterassoziation bzw. die im Jahr 1889 als Nachfolgeorganisation gegründete Zweite Internationale – der weltweite Zusammenschluss der sozialistischen Parteien, aus der die Anarchist_innen allerdings im Streit ausgeschlossen worden waren – Streit und (Ab-)Spaltungen waren im linken Spektrum von Beginn an akut. Gleichwohl teilten alle Strömungen die Überzeugung, dass der Siegeszug des Sozialismus unvermeidlich sei. Diese Gewissheit galt auch für die Zeit des Deutschen Kaiserreichs, in dem die größte sozialdemokratische Partei der Welt existierte, die mit den Reichstagswahlen 1912 auch zur stärksten Fraktion im Parlament wurde.
Internationalismus, Antimilitarismus und Klassensolidarität waren die Inhalte der Sozialdemokratie, eine neue klassenlose Gesellschaft ihr Ziel. Vorwärts hieß nicht nur das Zentralorgan der SPD, vorwärts schien auch der Marxismus zu weisen, und das auf einer gesicherten ›wissenschaftlichen Grundlage‹. Diese Grundannahme wurde mit Beginn des I. Weltkrieges 1914 erschüttert. Es erhoben sich nur einige wenige Gegenstimmen, als die sozialistischen Parteien auf den Kriegskurs ihrer jeweiligen Regierungen einschwenkten. Die Internationale zerbrach.
Doch gab es bereits seit der Jahrhundertwende eine breite Diskussion über die Fragen der Organisierung. Im Zuge dieses Prozesses trat ein russischer Intellektueller, der Rechtsanwalt Wladimir Iljitsch Uljanow, hervor. Er wollte Konsequenzen aus dem bisherigen Scheitern der sozialistischen Bewegung ziehen. Uljanow stellte sich u. a. den Fragen des Imperialismus, der Nationalitätenfrage, dem Scheitern der Pariser Kommune, den Bedingungen der Illegalität und des Bürgerkrieges. Mit der Analyse aus russischer Perspektive wollte Uljanow die revolutionäre Organisierung den neuen Erfordernissen anpassen. Dabei blickte der, im Jahr 1870 als Spross einer liberalen bürgerlichen Familie geborene, russische Revolutionär auf eine kämpferische Vergangenheit zurück. Sein älterer Bruder wurde wegen eines geplanten Attentatsversuchs auf den Zaren im Jahr 1887 hingerichtet. Trotzdem, oder gerade deshalb, unterhielt der Student Uljanow Kontakte zu führenden Sozialdemokraten und zählte 1895 zu den Mitbegründern des Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse, einem Vorläufer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die 1898 in Minsk entstand. Die Mutter Uljanows war Deutsche und insofern war Deutsch auch seine Muttersprache. Das kam dem Revolutionär sehr zugute, denn nach dreijähriger sibirischer Verbannung wegen politischer Agitation ging der Revolutionär 1900 ins Deutsche Reich, wo er 1902 in München seine programmatische Schrift ›Was tun?‹ herausbrachte. Das Pamphlet propagiert den Aufbau einer straff organisierten Kaderorganisation aus Berufsrevolutionären. Eine Idee, die den Autor unter dem Pseudonym ›Lenin‹ populär machte, der fortan sein Name blieb. Der Idee seiner Schrift folgend, bildete der Exilant eine radikale Fraktion innerhalb der SDAPR.
Auf ihrem zweiten Exilparteitag in London 1903 spaltete Lenin die Partei. Fortan nannte sich seine Organisation Bolschewiki, was so viel wie Mehrheit bedeutet, im Gegensatz zur Minderheit, den Menschewiki. Diese Namensgebungen spiegelten allerdings nur die Verhältnisse auf dem Exilparteitag wider. In Russland blieben die Bolschewiki in der Unterzahl.
Große Hoffnung kamen im Jahr 1905 auf, als revolutionäre Unruhen Russland erschütterten. Viele Revolutionär_innen, darunter auch Lenin, kehrten ins Land zurück. Doch die Revolte wurde blutig niedergeschlagen. Lenin flüchtete im Jahr 1907 über Finnland erneut in die Schweiz, wo er, zusammen mit einem wichtigen Teil der bolschewistischen Führung, ab 1908 im Exil lebte. Die weiteren Vorgänge in Russland konnte die bolschewistische Führung um Lenin nur von Weitem kommentieren, bis der I. Weltkrieg alles änderte.
Im Februar 1917, dem dritten Kriegsjahr, stürzte eine breite Volkserhebung die Zarenherrschaft in Russland. Seitdem lenkte eine provisorische Regierung unter dem Rechtsanwalt Alexander Kerenski die Geschicke. Kerenski setzte auf das Modell der westlichen parlamentarischen Demokratie, während Linke und Linksradikale, vor allem die Bolschewiki, mit der Sowjet-Herrschaft (dt.: Räte) den Weg zum Kommunismus bahnen wollten.
Doch die Bolschewiki spielten, geschwächt durch massive Verhaftungswellen, in der Februarrevolution 1917 keine große Rolle. Zudem befand sich ein bedeutender Teil der Parteiführung unter Lenin im Schweizer Exil.
Obwohl die Zarenherrschaft gestürzt war, blieben die Bolschewiki in der Opposition, denn sie wollten keine bürgerliche Republik, sie wollten die proletarische Revolution. Ein weiterer gravierender Unterschied zwischen der russischen provisorischen Regierung unter Kerenski und den Bolschewiki war die Haltung zum Krieg. Während Kerenski den Krieg an der Seite der Entente gegen das Deutsche Kaiserreich fortsetzte, traten die Bolschewiki als einzige Gruppierung für einen sofortigen Friedensschluss ein.
Das wollte sich die deutsche Oberste Heeresleitung, kurz OHL, unter den Generälen Ludendorff und Hindenburg zunutze machen. Denn die OHL brauchte an der Ostfront unbedingt Frieden. Am 6. April 1917 waren die USA in den Weltkrieg eingetreten. Aus deutscher Sicht musste eine erfolgreiche Entscheidung auf dem Schlachtfeld erzwungen werden, bevor die US-amerikanischen Verstärkungen an der Westfront eintrafen. Es ließ sich ausrechnen: Der Verschleiß an Material und Menschen und die zur Verfügung stehenden Ressourcen gaben der OHL ein knappes Zeitfenster bis zum Frühjahr 1918.
Ein Friedensschluss mit Russland war die Voraussetzung, um alle deutschen Reserven für die Entscheidung im Westen freizumachen. Als Verbindungsleute des deutschen Außenministeriums an Lenin herantraten, zeigte dieser sich aufgeschlossen. Fast zehn Jahre im schweizerischen Exil, brannte der Revolutionär darauf, nach Russland zurückzukehren. Es kam zu einer Geheimoperation. Lenin und 18 seiner Genoss_innen wurden in einem Zug quer durch Deutschland zum Ostseehafen Saßnitz transportiert. Von dort ging es über Schweden und Finnland nach Russland, wo die bolschewistische Führung Anfang April 1917 eintraf.
Doch die deutsche Unterstützung ging weit über diese Bahnfahrt hinaus. Eduard Bernstein, ein prominenter Sozialdemokrat, der über gute Beziehungen innerhalb der deutschen Regierung verfügte, schätzte die Gesamtsumme, die 1917/18 von deutscher Seite den Bolschewiki angewiesen wurde, auf „über 50 Millionen Goldmark“ (etwa zehn Tonnen Gold).[1]
Unter dem zurückgekehrten Lenin putschten die Bolschewiki im Herbst 1917, nachdem ein erster Versuch im Juli gescheitert war, erfolgreich gegen die russische provisorische Regierung und schlossen wenig später mit dem Deutschen Reich den Frieden von Brest-Litowsk. Dieser Deal ermöglichte es der OHL, den Krieg durchzuhalten und im Frühjahr 1918 die letzten entscheidenden Offensivoperationen zu starten. Nach einigen Anfangserfolgen scheiterten die deutschen Angriffe. Damit fiel die Entscheidung.
Militärisch ausgeblutet, ökonomisch ruiniert und politisch bankrott brach zunächst Österreich-Ungarn zusammen, unmittelbar darauf ging auch das Deutschen Kaiserreich auf Forderungen der Entente[2] für Friedensverhandlungen ein. Der Kaiser erklärte sich mit einer Umwandlung der konstitutionellen in eine parlamentarische Monarchie einverstanden. Am 3. Oktober übernahm eine neue Regierung unter Max von Baden und der Beteiligung der Sozialdemokraten die politischen Geschäfte. Alle deutschen Offensivhandlungen wurden eingestellt, politische Häftlinge amnestiert, die Pressezensur aufgehoben und einiges mehr. Aber die Entente, allen voran US-Präsident Wilson, forderte als Vorbedingung für Friedensverhandlungen die Abdankung Wilhelm II. Die Diskussionen zogen sich hin, während an den Fronten weiter gekämpft und gestorben wurde. Endlich begann am 29. Oktober eine Meuterei von Matrosen der deutschen Flotte. Binnen weniger Tage erfasste die Revolte das gesamte Land und erreichte am 9. November die Reichshauptstadt Berlin.
Der Kaiser hatte sich bereits am 29. Oktober seiner Verantwortung entzogen, indem er ins Große Hauptquartier nach Spa in Belgien reiste, von dort aus türmte er wenig später ins Exil nach Holland. Seine Abdankungsurkunde schickte Wilhelm II. einige Tage später per Post nach Berlin. Wie der Kaiser dankten alle Monarchen im Deutschen Reich ab und eine Revolutionsregierung, der Rat der Volksbeauftragen, übernahm vorübergehend die Macht. Dieser Rat bestand aus sechs Sozialisten, drei von der SPD und drei von der USPD. Aus dem Deutschen Kaiserreich wurde eine Republik.
Bereits während des I. Weltkrieges war es zur Spaltung der sozialdemokratischen Partei in die sozialistische SPD und die linkssozialistische USPD gekommen. Außerdem entstanden diverse Strömungen und Basisorganisierungen, die zumeist bis zum Krieg in der SPD organisiert gewesen waren.
Diese Linksradikalen wollten, trotz ideologischer Unterschiede, im November 1918 allesamt das Rätemodell durchsetzen. Man eiferte damit dem russischen Vorbild nach. Freilich war das, was man unter Sozialismus verstand, genauso unklar wie die Ordnung, die mit dem Schlagwort ›Räterepublik‹ bezeichnet wurde.
Ideologisch beriefen sich die Bolschewiki auf Marx, dessen Idee einer ›Diktatur des Proletariats‹ indes zur Rechtfertigung für die Vorherrschaft einer autoritären Parteipolitik wurde. Moskauorientierte Revolutionär_innen setzten also auf eine autoritäre Parteipolitik und eine Rätediktatur während andere Linke unter dem Rätemodell eine radikale Basisdemokratie verstanden und von einer Rätedemokratie sprachen: Unter Räterepublik firmierten beide Varianten. Die Ansichten darüber, was unter einer Räteherrschaft zu verstehen war, gingen also von Beginn an stark auseinander.
Nach den Vorstellungen Lenins konnte jedenfalls der revolutionäre Prozess in Deutschland nur von einer bolschewistischen bzw. kommunistischen Partei geführt werden, die aber noch nicht existierte. Mit dem Ziel, diese Parteigründung zu erreichen, war der bolschewistische Emissär Karl Radek Ende 1918 im Deutschen Reich unterwegs. Es galt, einige Widerstände zu überwinden, bis sich der Spartakusbund und die Internationalen Kommunisten Deutschlands, kurz IKD, zur Jahreswende 1918/19 in Berlin zur KPD vereinigten.
Das KPD-Programm orientierte sich eng an den Bolschewiki. Das bedeutete, dass die KPD eine proletarische Revolution mit einem bewaffneten Aufstand erzwingen wollte und eine Beteiligung an Wahlen ablehnte. Bei diesem Programm kann es nicht wundern, dass die KPD zunächst eine kleine Splittergruppe blieb.
An den ab Januar 1919 in Deutschland ausbrechenden bewaffneten Aufständen beteiligte sich die KPD aktiv. Doch waren alle Versuche, Räterepubliken durchzusetzen, bereits bis Mai gescheitert, wobei die Regierung Freikorps gegen die Revolutionär_innen einsetzte, die mit brutaler Gewalt vorgingen. In dieser Phase entstanden weltweit kommunistische Parteien, die an den Bolschewiki orientiert waren. Sie sollten sich, wie von Marx propagiert und nun von Lenin gefordert, in einer gemeinsamen Organisation zusammenschließen. Deshalb wurde im März 1919, als Ersatz für die gescheiterte Zweite Internationale, die Dritte Internationale, bekannt unter dem Namen Kommunistische Internationale, kurz KomIntern oder KI, mit Sitz in Moskau gegründet. Von Beginn an war die KPD Mitglied der KI und unterlag ihren Weisungen.
Bis zum Jahr 1920 kannte man in Deutschland nur Revolten und Aufstände von links. Zwar existierten in der Zeit vor dem Weltkrieg der pangermanische Alldeutsche Verband sowie esoterische Germanen-Sekten und reaktionäre Interessenverbände. Aber diese galten allesamt als vaterländisch gesinnt. In besonderem Maße traf das auf die 1917 gegründete Deutsche Vaterlandspartei (DVLP) zu, die für eine rücksichtslose Kriegsführung und einen ›Siegfrieden‹ eintrat. Der zweite Vorsitzende der DVLP hieß Wolfgang Kapp, ein in den USA geborener, gewichtiger Politiker, der das Amt des Generallandschaftsdirektors von Ostpreußen innehatte. Zur wirtschaftlichen Entwicklung Ostpreußens waren im 18. Jahrhundert vom preußischen König den Landwirten günstige, unkündbare Kredite eingeräumt worden. Daraus wurde im 19. Jahrhundert eine öffentlich-rechtliche Institution, quasi eine spezifisch ostpreußische Entwicklungsbank, an deren Spitze der Generallandschaftsdirektor stand, eine Art Bankdirektor mit erheblichem Einfluss. Wie alle rechtsnationalistischen Monarchisten gehörte auch Generallandschaftsdirektor Kapp zu den Stützen des Kaiserreiches.
Zeitgenössische Bildbeschreibung: Gegenrevolution in Berlin. Parade der Kapp-Truppen vor Lüttwitz.
Nachdem das Deutsche Reich 1918 zur Republik geworden war, standen die Monarchisten und Militaristen mit einem Male gegen die politische Ordnung. Zu den Gegnern der Regierungspolitik, die sie als ›Erfüllungspolitik‹ der Siegermächte diffamierten, zählte auch General Walter von Lüttwitz, der ›Vater der Freikorps‹. Diesen Titel hatte Lüttwitz erhalten, nachdem er 1919 im Regierungsauftrag von Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) die Freikorps aufgestellt hatte.
Der General stand mit Wolfgang Kapp und dessen Nationaler Vereinigung in Verbindung, einem Netzwerk von einflussreichen Rechtsnationalisten, die gegen die Republik konspirierten, ohne sich auf einen tatsächlichen Plan geeinigt zu haben. Doch die Zeit drängte, denn die Freikorps sollten aufgrund der Versailler Friedensbedingungen aufgelöst werden.
Am 29. Februar 1920 erging der Befehl, die 2. Marinebrigade Ehrhardt und die 3. Marinebrigade Loewenfeld zu demobilisieren. Eine Parade, mit der die Marinebrigade Ehrhardt am 1. März auf dem Truppenübungsplatz Döberitz bei Berlin den Jahrestag ihres Bestehens feiern wollte, würde damit auch ihr letzter Auftritt sein. Das militaristische Spektakel wurde zur Demonstration. Alles, was in der reaktionären Offizierskaste Rang und Namen hatte, war eingeladen. Reichswehrminister Noske (SPD) durfte nicht erscheinen.
Der anwesende General von Lüttwitz ließ sich von seinen Empfindungen hinreißen; einige Offiziere seines Stabes vermittelten ihm in den nächsten Tagen ein Gespräch mit den Rechtsparteien Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und Deutsche Volkspartei (DVP), die gerade eine parlamentarische Initiative einleiteten, um Wahlen zum Reichstag durchzusetzen. Diese Parteien spekulierten auf eine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten, ein Putsch käme ihnen da nicht zupass.
Daraufhin ersuchte von Lüttwitz den Reichspräsidenten Ebert (SPD) um eine persönliche Unterredung und verlangte vom Staatsoberhaupt, die Truppenreduzierung nicht durchzuführen, stattdessen die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen durchzuführen. Ebert und Reichswehrminister Noske lehnten dieses Ansinnen ab und erwarteten nun ihrerseits den Rücktritt des Generals. Als von Lüttwitz sich weigerte, sein Amt freiwillig aufzugeben, entzog Noske ihm am 10. März die Kommandogewalt. Außerdem erwirkte der Minister Haftbefehle gegen Kapp und einige Offiziere. In Haft kam allerdings niemand, da die Betreffenden vorher gewarnt wurden.
Währenddessen fuhr von Lüttwitz nach Döberitz und drängte mit den Worten: „Der Augenblick zum Handeln ist gekommen. Rücksichtslos will die Regierung alle Verbände auflösen“[3] Freikorpsführer Ehrhardt zur Tat. Erst nachdem klar war, dass Ehrhardt marschieren würde, informierte von Lüttwitz die Nationale Vereinigung über den unmittelbar bevorstehenden Putsch. Am Abend des 12. März marschierten die 6.000 Soldaten der Marinebrigade in Richtung Berlin. Gleichzeitig brachte ihr Schwesterverband, die Marinebrigade von Loewenfeld, die schlesische Hauptstadt Breslau unter seine Kontrolle. Nirgends trafen die Freikorps auf Widerstand. ›Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr‹, lautete die Parole des Militärs.
Durch die vom Zaun gebrochene Aktion, war Wolfgang Kapp gezwungen mit seiner Nationalen Vereinigung auf den fahrenden Zug aufspringen, ohne über ein politisches Konzept zu verfügen. Der getriebene Verschwörer wollte wieder an die Monarchie anknüpfen, ohne einen Monarchen dafür zu haben. Der Kronprinz hatte bereits im Vorfeld signalisiert, nicht zur Verfügung zu stehen, und Wilhelm II. konnte man schlecht wieder in sein Amt einsetzen – schließlich hatte der Kaiser kläglich versagt und war ins Ausland geflüchtet. Als Modell blieb nur eine Militärdiktatur. Deshalb erklärte sich Kapp am 13. März zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten und Lüttwitz zum Reichswehrminister und Oberbefehlshaber der Reichswehr.
Viele Freikorpssoldaten der Marinebrigade Ehrhardt hatten sich ein Hakenkreuz auf den Helm gemalt.
Letztlich war der Umsturz eine nicht durchdachte, spontane und dilettantische Unternehmung; eine militaristisch, antisozialistisch und antidemokratisch motivierte Militärrevolte. Im Kern war der Staatsstreich reaktionär und daher kein faschistischer Putsch, markierte aber sehr wohl den Übergang der alten Wilhelminischen Rechten zum neuen Rechtsradikalismus.
Viele Freikorpssoldaten traten bereits mit dem Hakenkreuz am Stahlhelm auf. Es existierten Kontakte zur völkisch-antisemitischen Thule-Gesellschaft. Von ihr stammte das Hakenkreuz, das auch Adolf Hitler von dieser Organisation übernahm. Hitler und die NSDAP spielten aber im Kapp-Putsch keine Rolle.
Auch wenn der Staatsstreich kein faschistischer Putsch war, gehörte seine Abwehr bereits zur Geschichte des Antifaschismus. Der Begriff Faschismus war im März 1920 in Deutschland noch nicht gebräuchlich und blieb auch später den Italienern vorbehalten – kein Deutschnationaler würde sich nach einer Bewegung des ehemaligen Kriegsgegners nennen.
Gegen den ersten rechtsradikalen Putsch in der deutschen Geschichte stellte sich eine spontan entstehende Aktionseinheit. Von der Arbeiterschaft bis zum Beamtenapparat, quer durch alle sozialen Schichten, reichte die Solidarität für die aus der Novemberrevolution 1918 hervorgegangene Republik. Zwei Millionen Menschen beteiligten sich am einzigen Generalstreik in der deutschen Geschichte. Bereits am 17. März, nach 100 Stunden, brach der Staatsstreich zusammen. Wolfgang Kapp und Walter von Lüttwitz flohen ins Ausland, die putschenden Freikorps unterstellen sich wieder dem Befehl der legitimen Reichsregierung.
Dieser beeindruckende politische Erfolg hatte auch Eigendynamiken innerhalb der Anti-Putsch-Bewegung zur Folge. Unkoordiniert und spontan kam es an einigen Orten zur Aufstellung von Arbeiterwehren, die sich hier und da Scharmützel mit Putschisten lieferten. Oft traten im Wirrwarr von Falschmeldungen, gefühltem Wissen und Übereifer militante Aktivist_innen auch gegen regierungstreue Reichswehreinheiten an. Überhaupt begannen die schwersten Kämpfe erst nach dem Zusammenbruch des Putsches am 17. März. Das sinnlose Blutvergießen, das im ›Ruhraufstand‹ einen Höhepunkt fand, hielt bis in den April hinein an.
Massendemonstration gegen Kapp und Lüttiwitz, Berlin, März 1920.
An dieser Entwicklung hatte auch die KPD ihren Anteil, die innerhalb der Anti-Putsch-Bewegung ihr revolutionäres Maximalkonzept zu realisieren trachtete und bar jeglicher realistischen Einschätzung auf den bewaffneten Aufstand setzte. Die irrige Annahme, man stünde am Beginn der Weltrevolution, ist nur durch die spezifische Situation jener Zeit erklärbar. In der Folge kam es zu weiteren Fehlinterpretationen, insbesondere betraf das die Einschätzung des Faschismus.
Gescheitert; der rechtsradikale Putschist Wolfgang Kapp auf der Flucht nach Schweden, Berlin-Adlershof, 17. März 1920.
Zu Zeiten von Marx und Engels gab es noch keine faschistische Strömung oder Bewegung, auch wenn sich die Begründer des ›wissenschaftlichen Kommunismus‹ bereits mit reaktionären und restaurativen Ideologien und Bewegungen auseinandersetzten. Auch Lenin konzentrierte sich noch auf die konterrevolutionären Kräfte seiner Zeit, die mannigfaltig und mit brutaler Gewalt in Erscheinung traten.
In einem grauenhaften Bürgerkrieg mussten sich die Bolschewiki in Russland von 1917 bis 1920 erst durchsetzen. Sie kämpften gegen reaktionäre ›weiße‹ Armeen unter zaristischen Generälen, die von den kapitalistischen Westmächten unterstützt wurden. Einige Staaten wie England, Frankreich, USA und Japan intervenierten sogar mit eigenen Truppen. Deutsche Freikorps kämpften im Dienst der Entente im Baltikum gegen die Bolschewiki, dazu tobte ein Krieg mit dem neu entstehenden antibolschewistischen und nationalistischen Polen. Bis 1920 war keineswegs klar, ob die Bolschewiki sich würden halten können.
Überzeugt von der Vorstellung, die Speerspitze der Weltrevolution zu sein, sahen sich die russischen Revolutionär_innen von einem imperialistischen Komplott bedroht. Ob diese Staaten demokratisch verfasste liberale Demokratien waren, Militärmachthaber diktatorisch herrschten oder eben der Faschismus an die Macht kam, blieb dabei unerheblich. Im Entscheidungskampf sah man alle kapitalistischen Staaten unter Führung der Westmächte gegen die Bolschewiki verschworen. So wurde der Faschismus von der Sowjetunion und der KPD zunächst gar nicht als eigenständige Massenbewegung und Ideologie ernst genommen, dann falsch interpretiert und lange Zeit unterschätzt. Aber auch liberale und sozialdemokratische Kräfte schätzten den Faschismus falsch ein, Konservative und bürgerliche Kräfte verhalfen ihm gar zur Macht. Das Versagen war allgemein.
Faschismus nur als eine Art präventive Konterrevolution aufzufassen, greift jedenfalls zu kurz. Faschismus ist auch und oft zuvorderst gegen die liberale westliche Demokratie gerichtet.
Bereits der Kapp-Putsch richtete sich gegen das demokratische System, über das Mussolini seine Herrschaft errichtete und gegen das Hitler 1923 zunächst putschte, bevor er 1933 die Macht übernahm.
Als Begründer der faschistischen Bewegung gilt Benito Mussolini, aus der norditalienischen Kleinstadt Predappio, wo seine Mutter Lehrerin war und sein Vater als Schmied arbeitete. Das Elternhaus galt als belesen und der Vater saß als aktiver Sozialist im Stadtrat. Als Sozialist war er auch an anarchistischem wie nationalistischem Denken orientiert. Zu dieser Zeit stellte das in Italien keinen Widerspruch dar.
In dieser Tradition trat Mussolini 1900 der Partito Socialista Italiano (PSI) bei und arbeitete zunächst als Lehrer. Allein das zeichnete ihn bereits als Mitglied der gebildeten, bürgerlichen Schicht aus. Laut offizieller Statistik waren 56 Prozent der Italiener_innen im Jahr 1901 Analphabeten.[4] In den ärmeren Schichten, vor allem bei der Landbevölkerung im unterentwickelten Süden, konnte kaum jemand Lesen und Schreiben.
1902 ging Mussolini in die Schweiz. Da er der Einberufung zum Militär nicht nachkam, verurteilte ihn ein italienisches Militärgericht in Abwesenheit wegen Desertation. In der Schweiz schlug sich der 19-Jährige mit Gelegenheitsjobs und vor allem Geldzuwendungen der Eltern durch. Auch schrieb er als Mitglied der Auslandsorganisation des PSI regelmäßig für sozialistische Zeitungen, trat bei Versammlungen auf und wurde mehrfach von der Polizei verhaftet, bis er 1903 von der Berner Kantonalbehörde ausgewiesen wurde. Er wich nach Lausanne aus, wo er ein Semester studierte, bevor er 1904 endgültig die Schweiz verlassen musste.
Zurück in Italien leistete Mussolini zunächst seinen Wehrdienst ab, um dann wieder als Lehrer zu arbeiten. Doch 1908 warf der unstete Revolutionär seine Anstellung hin. Sein Weg sollte allein ein politischer sein, und er schaffte es im folgenden Jahr in der Tat, Sekretär der PSI für das zu diesem Zeitpunkt österreichische Trient zu werden. Mit dieser Funktion war auch der Posten des Chefredakteurs des dortigen Parteiblattes verbunden.
Trient zählte zu den Gebieten, die der Irredentismus, (abgeleitet von terre irredente – unerlöste Gebiete), eine nationalistische Ideologie in Italien, dem italienischen Staat anschließen wollte. Es zeigte sich bald, wie sehr auch Mussolini dieser Idee nahestand. So erklärte er „Italien endigt nicht in Ala!“[5], dem damaligen Grenzbahnhof.
Durch ihre gemeinsame italienisch-nationalistische Opposition zur österreichisch-ungarischen Monarchie ergaben sich in Trient Kontakte zwischen verschiedenen politischen Strömungen. Vor allem machten die, sich antibürgerlich gebenden, kulturellen Avantgarden Italiens, eine Verbindung von linksradikalen Parolen mit extremem Nationalismus möglich. Mussolini, durch seinen persönlichen Geltungsdrang den Anführern dieser Kunstbewegungen nicht unähnlich, war angetan von der Radikalität der avantgardistisch-modernen Ideen. Nicht zuletzt blieb der junge Journalist und Parteikader bestrebt, als Intellektueller zu gelten und sich durch extreme Positionen hervorzutun. Sein persönlicher Ehrgeiz bestand nicht einfach darin, in einer revolutionären Partei Karriere zu machen, er wollte sie bestimmen oder vielmehr beherrschen: Sein egozentrischer Charakter stand noch über den politischen Inhalten.
Nachdem er sich entsprechend exponiert hatte, wurde Mussolini im August 1909 verhaftet und wenig später aus Österreich abgeschoben. Einige Aufmerksamkeit erhielt die Ausweisung, weil PSI-Vertreter in der Abgeordnetenkammer in Rom den Fall mehrmals zum Thema von Debatten machten. Der radikale Aktivist gründete kurz darauf die Zeitung La Lotta di Classe (dt.: Der Klassenkampf), proklamierte im Zusammenhang mit der Kriegserklärung Italiens an die Türkei 1911 einen Generalstreik und trat bei militanten Unruhen in Erscheinung. Das brachte ihm eine einjährige Haftstrafe ein, von der er aber nur wenige Monate bis zu seiner vorzeitigen Entlassung absitzen musste. Diese Episode ließ ihn weithin als Kopf der revolutionären Strömung in der PSI bekannt werden.
Als populärer Anführer des linken Flügels wurde Mussolini 1912 ins Parteidirektorium gewählt, gleichzeitig übernahm er den Posten als Chefredakteur des PSI Zentralorgans Avanti! mit Sitz in Mailand. Das war der wichtigste Posten, den die Partei zu vergeben hatte, und der mittlerweile 29-Jährige zeigte sich der Aufgabe gewachsen. Mit seinem journalistischen Talent gab er dem Blatt eine neue, radikalere Ausrichtung. Die Auflage steigerte sich bis 1914 auf über 100.000 Exemplare und übertraf damit die Anzahl der Partei-Mitglieder bei Weitem.
In der Redaktion agierte der noch recht jugendliche Chef selbstherrlich und forderte von seinen Mitarbeiter_innen absolute Gefolgschaft. Geringe Meinungsverschiedenheiten führten bereits zu Entlassung. Mussolini war der Chef – Basta.
Das Königreich Italien bildete vor dem I. Weltkrieg den Dreierbund mit dem Deutschen Kaiserreich und dem Königreich Österreich-Ungarn. Doch bereits vor dem Krieg gab es bezüglich einiger Gebietsforderungen deutliche Spannungen zwischen Österreich und Italien. Als dann der österreichische Thronfolger 1914 in Sarajevo ermordet wurde, erklärte sich das Königreich Italien für neutral, da es sich beim Dreibund um ein Defensivbündnis handelte. Italien vertrat die Meinung, der österreichisch-serbischen Konflikt sei kein Verteidigungsfall.
Ausschlaggebend für dieses Verhalten waren Geheimverhandlungen, die Vertreter der Entente mit der Regierung in Rom bereits vor Kriegsbeginn aufgenommen hatten. Die englischen und französischen Unterhändler knüpften an der Ideologie des italienischen Irredentismus an. Demnach sollten alle Gebiete mit italienischsprachiger Bevölkerung, egal ob diese das wollten und ob sie die Mehrheit bildeten, dem Mutterland angeschlossen werden. Die meisten dieser Territorien gehörten zu Österreich-Ungarn. Unterhändler der Entente stellten in Aussicht, dass Südtirol, Triest und andere vom Irredentismus geforderte Gebiete Italien zugeschlagen würden, wenn das Land im Falle eines Krieges die Seiten wechseln würde. Die Neutralitätserklärung von 1914 konnte also nur der erste Schritt sein, entsprach aber der Stimmung des größten Teils der Bevölkerung. Weder die liberale Parlamentsmehrheit noch die katholische Kirche oder die Sozialistische Partei (PSI), am wenigsten die arme Landbevölkerung und die Industriearbeiterschaft, waren für den Krieg. Doch finanziell unterstützt von England und Frankreich, wurden bald die Interventionisten aktiv. Diese Bewegung setzte sich für den sofortigen Kriegseintritt Italiens an der Seite der Entente ein. Viele ihrer intellektuellen Mitglieder standen vor 1914 linksradikalen Ideen nahe, um dann im fliegenden Wechsel zu glühenden nationalistischen Kriegstreibern zu werden.
Wortführer der Interventionisten war der sich ehemals als linksradikaler Dichter gebärdende Vertreter des Symbolismus Gabriele D’Annunzio. An seine Seite trat bald Benito Mussolini.
Noch am 22. August 1914 schrieb Mussolini im Avanti!„Der Krieg ist das Höchstmaß der Ausbeutung der Proletarierklasse, die Opposition des sozialistischen Proletariats gegen den Krieg ist einfach unüberwindlich.“[6]
Ebenso nahm der Parteivorstand am 21. September einen von Mussolini eigenhändigt verfassten Entschluss an, der sich zur „absoluten Neutralität“[7] bekannte. Bereits am 6., 7. und 8. Oktober wurden Gedanken von Mussolini u. a. im Avanti! veröffentlicht, die eine ganz andere Haltung offenbarten. Der Chefredakteur meinte nun, dass die sozialistische Kriegsgegnerschaft lediglich eine Propagandabewegung zur Verbreitung eines Prinzips sei, und die von den Sozialisten verkündete absolute Neutralität nur eine ideelle Opposition bedeuten würde.
In der PSI erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Am 21. Oktober musste Mussolini aus der Redaktion des Avanti! und der Parteileitung ausscheiden. Er blieb aber Parteimitglied und trieb in der Absicht, große Teile der PSI auf seine Seite zu ziehen, eine heftige Kontroverse voran.
Auf eine Parteispaltung zielte auch die Herausgabe der neuen Tageszeitung, Il Popolo d’Italia (dt.: Das Volk von Italien). Bereits ab dem 15. November 1914 gab Mussolini die – zumindest dem Titel nach – sozialistische Zeitung heraus. Von der ersten Nummer an propagierte das Blatt einen hasserfüllten, aggressiven Kriegskurs und war in besonderem Maße antideutsch eingestellt. Geldgeber für Il Popolo d’Italia, mit einer Auflage von 80.000 Exemplaren, fand Mussolini in Kreisen der italienischen Rüstungsindustrie, erhebliche Summen steuerte zudem der französische Geheimdienst bei.[8]
Umgehend rief die Mailänder Sektion des PSI am 24. November eine Versammlung ein, um Mussolini aus der Partei auszuschließen. Der große Agitator meinte, dort mit einem theatralischen Auftritt größere Teile der Versammlung auf seine Seite ziehen zu können. Das scheiterte, die Mailänder PSI wollte Mussolini nicht mehr in ihren Reihen dulden. Der Parteivorstand besiegelte am 29. November den Ausschluss.
Dass sich Sozialisten mit Beginn des Weltkrieges auf die Seite ihrer Staaten stellten, war nichts Ungewöhnliches. Alle sozialistischen Parteien der kriegsführenden Staaten, die kurz zuvor den Militarismus bekämpft und für internationale Klassensolidarität gestanden hatten, schwenkten auf einen patriotischen Kurs um. Sozialismus und Nationalismus waren für sie kein Widerspruch. Doch die Interventionisten gingen weit darüber hinaus; sie sprangen ihrem Königreich nicht in vaterländischem Dünkel bei, sondern mobilisierten eine ultranationalistische Bewegung, um die Regierung in einen imperialistischen Krieg zu zwingen.
Mussolini stand deshalb nicht nur gegen die PSI, sondern gegen alle parlamentarischen Parteien, genau wie gegen die Kirche und das Königshaus, die allesamt weiterhin für die Neutralität Italiens eintraten.
Eine neue Partei nach altem Muster zu gründen, die sich in behäbige politische Debatten einmischte, kam für die Interventionisten nicht infrage. Sie wollten den sofortigen Kriegseintritt Italiens an der Seite der Entente erwirken. Einige ganz Ungeduldige meldeten sich freiwillig bei der französischen Armee. Individuelle Entscheidungen trugen aber nichts zur Veränderung der politischen Gesamtlage bei. Es galt, eine nationalistische Mobilisierung zu inszenieren, um die öffentliche Meinung zu manipulieren.
Organisierte Bewegung statt Partei, so lautete Mussolinis Credo, und weiterhin blieben vor allem die Linken seine Zielgruppe. Lokale Verbände, sogenannte Fasci (dt.: Bündel), sollten als weitgehend selbstständige Gruppen entstehen. Innerhalb dieser autonomen Zusammenschlüsse herrschten allerdings strenge Regeln: Wer dreimal Versammlungen nicht beiwohnte, wurde z. B. ausgeschlossen. Das Organisationsmodell und der Name stammten aus der Gewerkschaftsbewegung. Bei Sozialisten, Syndikalisten und Republikanern war die Bezeichnung Fasci bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchlich.
Diese organisierte Bewegung begann am 11. Dezember 1914 in Mailand, mit einer Versammlung von rund 300 Gewerkschaftern, Sozialisten und Republikanern – die letztlich ihr italienischer Nationalismus verband. Unter Führung von Benito Mussolini und den bekannten linksradikalen Syndikalisten Alceste De Ambris sowie Filippo Corridoni, die sich als ›Linksinterventionisten‹ sahen, wurden die Fasci Interventisti gegründet.
Bereits Ende Februar 1915 hatte sich das Fasci rivoluzionari di azione (dt.: Revolutionäre Aktionsbündel) nennende Organisationsgeflecht mit 9.000 Mitglieder in 105 Gruppen[9] über ganz Italien ausgebreitet.
Den Fasci ging es nicht nur um Worte, es war eine militante Bewegung, die ab Frühjahr 1915 von sich reden machte. Mussolini und seine Anhänger_innen störten sozialistische Versammlungen und verhinderten Kundgebungen für die Neutralität.
Neben den Fasci standen andere, ähnliche Strömungen für den Interventionismus, namentlich Gabriele D’Annunzio, außerdem die Futuristen, eine avantgardistische Kunstbewegung, unter ihrem Gründer Filippo Tommaso Marinetti.
Aus der Mischung von nationalistischem Fanatismus und avantgardistischem künstlerischen Einfluss ergab sich ein neuer Propagandastil, mit Massenaufmärschen, dramatischen Appellen, hämmernder Rhetorik, dem Pathos von Blut und Kampf. Die Sache des Interventionismus beherrschte schließlich die Straßen. Treibende Kraft blieb dabei Mussolini, der mit seinen Fasci der Bewegung eine feste Organisation gab.
Zehn Monate verhandelte die italienische Regierung mit deutschen Diplomaten, aber auch mit den Entente-Mächten, und versuchte, den Preis für einen Kriegseintritt möglichst hochzuschrauben. Schließlich kam der Londoner Vertrag zustande, ein Geheimabkommen, das am 26. April 1915 zwischen Italien und den Entente-Mächten geschlossen wurde. Er sicherte Italien sämtliche Gebietsansprüche im Handel für den Kriegseintritt zu.
Am 3. Mai 1915 kündigte Italien den Dreierbund auf und trat am 23. Mai auf Seiten der Entente in den Krieg ein, wobei die PSI den Kriegskrediten nicht zustimmte. Ihre Vertreter gehörten zu der von Lenin auf den Konferenzen 1915 und 1916 in den schweizerischen Bauerndörfern Zimmerwald und Kiental formierten revolutionären Linken.
Begeisterung über den Waffengang herrschte hingegen bei den Interventionisten. An einen schnellen Sieg glaubend, meldeten sich viele freiwillig. Allen voran Gabriele D‘Annunzio. Doch anders als von den Kriegstreibern erwartet, konnten die schwachen österreichischen Sicherungen an der Alpenfront nicht überrannt werden. Der italienische Angriff ging in einen aufreibenden Stellungskrieg über, und Deutschland entsandte das Alpenkorps zur Unterstützung an die österreichische Front.
Anstecknadel aus Österreich. Sie verspottet D’Annunzio als ›Italiens Held für Englands Geld‹.
Während viele Freiwillige an den blutigen Schlachten teilnahmen, arbeitete Mussolini in den ersten Monaten nach dem Kriegseintritt weiter als Journalist. U. a. bereitete er seine Zeitung, Il Popolo d’Italia, organisatorisch auf seine Abwesenheit vor. Ihm deshalb persönliche Feigheit anzudichten, wäre indes falsch: Als seine Altersklasse im Herbst 1915 einberufen wurde, reihte er sich mit 32 Jahren in die Armee ein und ging an die Front. Als Zeitungsredakteur und Führer der Fasci hatte Mussolini bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt. Auch als Soldat schrieb er weiterhin im Il Popolo d’Italia, die Zeitung wurde trotz einiger Schwierigkeiten den gesamten Krieg über herausgegeben. Mussolini setzte sich für eine erbarmungslose Kriegsführung ein und betrieb extreme anti-deutsche Propaganda. So forderte er, dass alle deutschen Spuren in Italien getilgt und Deutschland nach dem Krieg aus der europäischen Völkergemeinschaft ausgeschlossen werden sollte.
Durch den Status als ›Gebildeter‹ war er zum Offizier befähigt, war jedoch bis 1916 lediglich zum Korporal (unterster Unteroffiziersdienstgrad) befördert worden. Seine militärische Karriere endete wenige Monate später abrupt. Bei einer Übung explodierte am 23. Februar 1917 eine Mörsergranate beim Abschuss. Mehrere Soldaten in Mussolinis Nähe starben, er selbst wurde schwer verletzt und musste mehrere Monate in einem Mailänder Lazarett verbringen. Nach seiner Genesung erfolgte im August die Entlassung des Kriegsinvaliden aus dem Militärdienst.
In dieser Zeit versuchte Italien, die Initiative an der Alpenfront zurückzugewinnen und begann ab Juli 1917 mit der Aufstellung von Stoßtruppen, genannt Arditi (dt.: die Kühnen). Diese Einheiten bestanden in der Regel aus Freiwilligen und stellten eine selbstständige Untergattung der Infanterie dar. Ihre Waffenfarbe war schwarz, ihr Emblem ein lorbeerbekränzter Totenkopf mit Dolch im Gebiss. Aber auch die neue Elite-Truppe konnte keine Wunder vollbringen. Am 24. Oktober 1917 begann eine große deutsch-österreichische Offensive. In der Schlacht von Karfreit drohte dem italienischen Heer eine vernichtende Niederlage. Nur durch den Einsatz französischer und britischer Truppen wurde der völlige Zusammenbruch verhindert, doch Teile des Landes blieben besetzt. Um nicht aus dem Krieg auszuscheiden, mussten alle Reserven ausgeschöpft und das italienische Heer neu aufgestellt werden. Unter dem Slogan ›Für die Befreiung‹ setzte eine ultra-nationalistische Mobilisierung ein.
Waffenfarbe schwarz, Totenkopf mit Eichen- und Lorbeerkranz und ein Dolch im Gebiss; Symbole der Arditi, die sich später bei den Faschisten wiederfanden. Auch die Kopfbedeckung (Fez), die Parole „A noi!“ (dt.: Zu uns!), wie die spätere Parteihymne Giovinezza (dt.: Jugend) gingen auf die Arditi zurück. Der Elitekult um die Arditi-Bataillone hielt der Realität nicht stand. Besser ausgerüstet als die normalen Einheiten, kämpften sie unter hohen Verlusten, brachten aber keinen militärischen Durchbruch. Bei der großen Niederlage in der Schlacht von Karfreit 1917 wurden sie einfach überrannt.
Damit fiel den Resten der Interventionistischen Bewegung erneut propagandistische Aufgaben zu. Viele Gruppen existierten indes nicht mehr, weil sich die aktivsten Anhänger nach dem Kriegseintritt freiwillig zum Militär gemeldet hatten und der Zweck der Bewegung erfüllt war. Aus demselben Grund gerieten auch die Fasci in die Krise. Mit zwei Treffen im November 1915 und Mai 1916 konnten die Strukturen reorganisiert werden. Ihre neue politische Ausrichtung folgte den Ideen Mussolinis. Hass und Kriegswillen gegen den ›äußeren Feind‹ sollten weiter angespornt werden, waren aber auch auf den ›inneren Feind‹, also Sozialisten, Liberale und Klerikale, gerichtet. Um politisch ein größeres Gewicht zu erlangen, vereinigten sich national gesinnte, revolutionäre und reformsozialistische Gruppen im Mai 1918 zur Unione Socialista Italiana.[10] Doch Mussolini beteiligte sich mit den Fasci nicht an der ›Unione‹. Der Zusammenschluss war nicht nach dem Geschmack des Egomanen, er hätte sich nur anschließen, die ›Unione‹ aber nicht dominieren können.
Unumschränkter Chef war Mussolini dagegen im Il Popolo d’Italia, deren Untertitel „Sozialistische Zeitung“ er ab dem 1. August 1918 in „Zeitung der Krieger und Produzenten“[11] änderte. Geldsorgen musste sich der Chefredakteur weiterhin nicht machen. An der Existenz des Blattes hatte die Entente ein lebhaftes Interesse. Auch der britische Geheimdienst MI5 trug nun seinen Teil zur finanziellen Stabilität bei und ermöglichte darüber hinaus Mussolini einen gehobenen Lebensstandard mit eigenem Pferd und Auto.
Dass Italien am Ende des Weltkrieges 1918 aufseiten der Sieger stand, verdankte es der massiven Unterstützung durch die Entente. Am Ende bekam das Land die versprochenen Gebiete zugeschlagen, aber zu welchem Preis?
Zwischen 1915 und 1918 hatte Italien insgesamt 5,6 Millionen Soldaten mobilisiert. Davon waren 650.000 gefallen und 950.000 verwundet worden. In den Lazaretten erlagen in den folgenden Jahren noch Zehntausende ihren Verletzungen.
Dazu kamen die ökonomischen Probleme, die das Land allein nicht lösen konnte. In den ersten Friedensjahren blieb das Königreich auf die umfassende Unterstützung der Entente angewiesen, denn der Krieg hatte die Staatsfinanzen zerrüttet, dazu waren die wichtigen Exportmärkte Deutschland und Österreich weggebrochen. Grundsätzlich musste die Industrie von Kriegs- auf Friedensproduktion umgestellt werden. Als Folge kam es zu Massenentlassungen, die durch die vielen, ausgemusterten Soldaten noch verstärkt wurde. Die Preise stiegen, es entwickelte sich eine galoppierende Inflation. Da soziale Sicherungssysteme nicht existierten, eskalierte die Situation. Es kam zu den Biennio rosso, den zwei roten Jahren, die 1919 begannen und 1920 ihren Höhepunkt erreichten.
Bereits während des Weltkrieges war die PSI auf den Revolutionskurs der Bolschewiki eingeschwenkt. Verantwortlich dafür war unter anderem Giacinto Menotti Serrati, der nach Mussolinis Sturz im Jahr 1914 den Avanti! herausgab. Serrati trieb auch die Mitgliedschaft der PSI in der KomIntern voran, die vom XVI. Parteitag im März 1919 beschlossen wurde. Die Ausrichtung auf das russische Weltrevolutionsmodell beinhaltete den bewaffneten Aufstand als Mittel zur Machtergreifung. Allerdings entstanden in der PSI über die Auffassung, ob sie sich aus taktischen Gründen auch an Wahlen im November beteiligen sollte, zwei Fraktionen. Eine endgültige Klärung dieser Frage blieb zunächst offen, denn alle Aufmerksamkeit galt einer Welle von Streiks und Demonstrationen die den industrialisierten Norden Italiens erfasste. Die PSI setzte sich an die Spitze der Bewegung. ›Viva Lenin‹, lautete die vom Avanti! verbreitete Parole. Wenig später kam es zu Aussperrungen, gewaltsamen Betriebsbesetzungen und militanten Demonstrationen. Nun wären konkrete Aussagen zur weiteren Zielsetzung vonnöten gewesen. Sollte gleich die politische Macht übernommen werden, oder ging es zunächst um konkrete Verbesserungen? Innerhalb der PSI konnte diese Frage nicht geklärt werden. Solcherlei Unklarheit gab es in Turin, dem Zentrum der bolschewistischen Fraktion, nicht. Dort war man um revolutionäre Maximalforderungen nicht verlegen. Eine Gruppe von Intellektuellen, unter ihnen der Schriftsteller und Philosoph Antonio Gramsci, gaben am 1. Mai 1919 die Zeitung L’Ordine Nuovo (dt.: Die neue Ordnung) heraus, in der sie zur Bildung von Arbeiterräten in den Fabriken aufriefen. Damit machte sich L’Ordine Nuovo zum Sprachrohr der Rätebewegung. Bis zum Jahresende waren allein in Turin mehr als 100.000 Menschen involviert, und Arbeiterräte übernahmen die Kontrolle über die Fabriken. Es handelte sich um den Versuch der direkten Sozialisierung, die Produktion lief weiter. Probleme blieben freilich die Rohstoffversorgung und die Absatzmärkte. Die Produktion konnte nur weiterlaufen, wenn die Zulieferfirmen die besetzten Betriebe nicht abhängten und sie an die staatliche und private Infrastruktur angeschlossen blieben. Politik und Wirtschaft lenkten erst einmal ein. Vom Einsatz des Militärs wurde abgesehen, und die Infrastruktur wurde nicht angetastet. Auf keinen Fall sollte die Lage eskalieren, sondern eine Verhandlungslösung gesucht werden.
Indes zeigte die Übernahme von Fabriken durch Arbeiterräte für die Intellektuellen um Gramsci das die Zeit des gesamtgesellschaftlichen Umschwungs gekommen war. In dem programmatischen Artikel Democrazia operaia (Arbeiterdemokratie) propagierte L’Ordine Nuovo ein Rätekonzept, das über die Fabrikkomitees hinaus in den politischen Bereich reichte. Damit wollten die Kommunist_innen eine „revolutionäre Kultur selbstorganisierter Produzenten“ realisieren, die sie als Vorstufe der kommunistischen Gesellschaft ansahen. Die Entwicklung schien ihnen Recht zu geben. Immer mehr Städte wurden von der Revolte erfasst, selbst in den ländlichen Regionen breitete sie sich aus. Nun galt es für Gramscis Fraktion um L’Ordine Nuovo, die Politik der gesamten PSI im Sinne der Bolschewiki zu bestimmen. Die proletarische Revolution schien greifbar nahe. – Tatsächlich hatte sie keine Chance.
Abgesehen von ihren eigenen Unzulänglichkeiten erwuchs den Linksradikalen mit dem Faschismus eine Gegenbewegung, die sie zerschmettern sollte.
Mussolini hatte bereits seit Herbst 1918 eine Reorganisation des Interventionismus geplant. Unter den heimkehrenden, durch die Kriegserlebnisse traumatisierten und radikalisierten Soldaten entfaltete der große Agitator mit seiner Il Popolo d’Italia eine rege Propaganda.
Nur schwer konnten sich die meist arbeitslosen Veteranen wieder in die Gesellschaft einfügen. Die demokratischen Parteien verschenkten ihrer Meinung nach den Sieg und die Sozialisten verrieten mit ihrem Internationalismus ohnehin Italien. Alles Werte, für die sie im Krieg gekämpft hatten, sahen die Veteranen mit Füßen getreten und fühlten sich von der Welt betrogen; der Weg zum Faschismus war nicht weit.
Zunächst schlossen sich antibolschewistisch/antiliberale Gruppen auf lokaler Ebene und unabhängig voneinander zusammen. All diese Gruppen rief Mussolini für den 23. März 1919 zu einer konstituierenden Versammlung in Mailand auf. Einige Hundert Offiziere, Unteroffiziere und Intellektuelle sowie Arbeiter kamen im Sitzungssaal des Industrial Alliance Circle auf der Piazza San Sepolcro zusammen. Darunter auch die Futuristen, die mit Mussolinis Bewegung fusionierten. Die Fasci italiani di combattimento (dt.: Italienische Kampfverbände) entstanden.[12]
Unter den ersten Anhängern befanden sich auch fünf Juden, und die Räumlichkeiten des ersten Hauptsitzes in Mailand wurden von der lombardischen Vereinigung der Industriellen unter dem Vorsitz von Cesare Goldmann gemietet, einem Industriellen und Freimaurer jüdischer Herkunft.
Bereits nach wenigen Wochen waren Dutzende Kampfbünde mit etwa 15.000 Mitgliedern in den Fasci italiani di combattimento zusammengefasst. Organisatorisch blieb es beim Konzept aus dem Dezember 1914. Weitgehend autonome Gruppen agierten unter Mussolinis Oberhoheit.
Neu war allerdings das politische Programm, das die Fasci italiani di combattimento auch bei der Arbeiterschaft und der Landbevölkerung anschlussfähig machte. Dabei zeigte sich, dass Mussolini, der die Idee des internationalen Sozialismus bzw. den Bolschewismus bekämpfte, eine Geschichte in der politischen Linken hatte. Denn der Faschistenführer übernahm viele zuvor als klassenkämpferisch geltende Forderungen. So trat Mussolini für Mindestlöhne, den Achtstundentag, die Verkürzung von Nacht- und Kinderarbeit, höhere Invalidenrenten, eine obligatorische Kranken- und Arbeitslosenversicherung sowie die Beteiligung von Arbeitern an Unternehmergewinnen ein.
In der Agrarpolitik sollte Kleingrundbesitz gefördert werden, genauso die Verpachtung von Landhöfen an Feldarbeiter bzw. deren Beteiligung am Produktionsgewinn erfolgen.
Wenn Mussolinis Programm auch in Teilen einen sozialistischen Anstrich hatte, wollte er das kapitalistische Wirtschaftssystem keinesfalls abschaffen. Es ging ihm aber auch nicht um ungezügelte private Profitmaximierung. Sein Programm forderte bei großen Gewinnen außerordentliche Vermögensabgaben, Einzug der Kriegsgewinne, Beschlagnahme von Kirchengütern, Erbschaftssteuer und die Besteuerung von Luxuswaren.
Kapitalisten wie Arbeiter hatten der Nation zu dienen. Soziale Forderungen und Kapitalschöpfung waren keine Widersprüche und ließen sich integrieren, doch alles nicht italienische und antinationale wurde bekämpft.
Ebenso stand der Faschismus gegen bürgerliche, liberale Vorstellungen und die Kirche. Mussolini erfand eine neue politische Idee, deren Klammer ein überbordender Nationalismus war, verbunden mit einem militaristischen Kult und den Rückgriff auf die imperiale Vergangenheit.
Alte Größe, ewige Werte, Härte, soldatische Stärke, all das war ganz nach dem Geschmack vieler ehemaliger Kriegsteilnehmer. Durch ihren Zustrom bekam die Struktur der Fasci italiani di combattimento einen mehr und mehr militärischen Charakter.
Untergliedert waren die Kampfbünde in Squadre d’azione (dt.: Aktionskommandos), ihre Mitglieder nannten sich Squadristen.
Im Dienst und bei Aufmärschen traten die Squadristen in schwarzen Uniformhemden auf. Eine Symbolik, die ebenfalls in der Arbeiterbewegung fußte. Vor allem im Süden trugen Bergarbeiter wie Anarchisten oft schwarze Hemden. Im Krieg war schwarz die Waffenfarbe der Arditi gewesen. Sinnfällig verbanden sich damit die politisch aufgeladenen Traditionen zu einem neuen, faschistischen Sinngehalt.
In Anlehnung an die römische Vergangenheit bezeichneten sich die ›Schwarzhemden‹ selbst als Legionäre und grüßten mit dem Saluto romano, dem angeblich antiken Römischen Gruß. Auch das faschistische Symbol, dass Rutenbündel der Römischen Lektoren, bezeugte den imperialen Bezug. Das alte Amtssymbol symbolisierte die staatliche Macht. Diese wollte die Faschisten, auf neuer Grundlage, wiederauferstehen lassen.
Parteiabzeichen der Partito Nazionale Fascista (PNF) ab 1926. Das antike Liktorenbündel war als republikanisches Symbol in der französischen Revolution und den USA verwendet worden. Später wurde es auch von Teilen der sozialistischen Bewegung übernommen. Mussolini machte es zu einem faschistischen Abzeichen.
Aktionen der Faschisten ließen nicht lange auf sich warten. Mitte April 1919 kam es in Mailand zu Streiks und Demonstrationen. Mussolini ließ seine Fasci mit brutaler Gewalt gegen die Sozialist_innen vorgehen, die davon völlig überrascht waren. Die Schwarzhemden stürmten linke Treffpunkte und den Avanti!, dessen Redaktion in Flammen aufging; es gab Tote und Verletzte. Viele Zeitungen berichteten daraufhin über Mussolini, selbst Minister der Regierung Orlando nahmen Kontakt mit ihm auf. Das brachte der faschistischen Bewegung neuen Zulauf, während die politische Lage in Italien immer instabiler wurde.
Am 23. Juni 1919 trat die Regierung zurück, und Francesco Saverio Nitti, der die liberale Partei Partito Radicale Italiano führte, übernahm die Ämter des Ministerpräsidenten und des Innenministers. Das Kabinett Nitti stützt sich auf den liberalen Partito Popolare Italiano (PPI) und die Reformsozialisten. Auf diesem Kabinett lastete die volle Wucht der Abrüstung und Umstrukturierung der italienischen Wirtschaft. Für die rechtsradikalen Kreise war Netti eine Hassfigur, weil er ihres Erachtens die nationalen Interessen verriet.
Neben den Faschisten blieb Gabriele D’Annunzio ein Orientierungspunkt der rechtsradikalen Bewegung in Italien. Mussolinis Gesinnungsfreund, der seit dem Krieg als Fliegerheld galt, polemisierte gegen den ›vittoria mutilata‹ (dt.: verstümmelter Sieg) und forderte weitere Gebiete, die angeblich zu Italien gehörten.
Der Regierung unter Francesco Saverio Nitti warf D’Annunzio vor, die nationalen Interessen bei Verhandlungen mit den westlichen Alliierten verraten zu haben. Kurzerhand besetzte der rechtsradikalen Schriftsteller im September 1919 mit einer Truppe von 2.500 ehemaligen Arditi sowie Soldaten des italienischen Heeres, die zu dem Präfaschisten desertiert waren, die Adria-Stadt Fiume (heute Rijeka in Kroatien). Dort organisierte D’Annunzio regelmäßig Massenaufmärsche, bevorzugt bei Fackelschein, mit Akteuren, die Dolche in die Höhe hielten, und ergötzte sich an pathetische Reden vom Balkon des Palastes. Der Dichter liebte theatralische Gesten und führte den Saluto romano ein, den Römischen Gruß, mit gerade ausgestrecktem rechtem Arm, der wenig später bei den Faschisten unter Mussolini Verwendung fand und schließlich als ›Hitlergruß‹ von der NSDAP übernommen werde n sollte.[13]
Fiume erhielt eine Verfassung mit dem Anspruch, die Zukunft der Menschheit zu repräsentieren. Diese Zukunft betraf allerdings nur Italiener_innen. Gegen die andere Hälfte der Bevölkerung, die aus Kroat_innen und anderen Nicht-Italiener_innen bestand, gingen die bewaffneten Einheiten des Dichter-Diktators rigoros vor. Sie sollten assimiliert oder vertrieben werden, die kroatische Sprache wurde verboten. Ebenso wurden Linke verfolgt. Für D’Annunzios ›Arditismus‹ begeisterten sich viele Gesinnungsfreunden in Italien und unterstützten ihn nach Kräften, darunter auch Mussolini. Aber nach 16 Monaten, im Dezember 1920, drohte die italienische Regierung dem Operettenstaat Fiume mit Waffengewalt und zwang D’Annunzio zur Aufgabe. Nachdem der Möchtegern-Diktator zunächst vollmundig erklärt hatte, an der Spitze seiner Bewaffneten fallen zu wollen, meinte er kurz darauf, dass es sich nicht lohnen würde, für ›dieses‹ Italien zu sterben. Der Abzug vollzog sich kampflos.
Aufmärsche in schwarzen Uniformen mit Totenköpfen auf den Helmen und in die Höhe gestreckten Dolchen. Futuristisches Spektakel in martialischen Posen, die Mussolini von D’Annunzio übernahm.
Der gescheiterte Despot kehrte nach Italien zurück. Den nun beginnenden Konkurrenzkampf mit Mussolini konnte der alternde 57-jährige Dichter nicht gewinnen; dafür war sein ›Arditismus‹ gegenüber dem Faschismus zu versponnen und realitätsfern. D’Annunzio Anhängerschaft schloss sich zu großen Teilen den Faschisten an. Der Dichter selbst zog sich in seine Villa am Gardasee zurück, wo Mussolini ihm später ein luxuriöses Leben im faschistischen Italien ermöglichte. Bis heute gilt D’Annunzio in Italien vielen als Vorbild und Held.
Wie groß die Ablehnung gegenüber der Regierung Nitti war, sollten die Parlamentswahlen in Italien am 16. November 1919 zeigen. Zeit auch für Mussolini, der mittlerweile viel Redens um sich gemacht hatte, sich erstmal dem Votum zu stellen.
Mit seinem Gesinnungsfreund und Begründer des Futurismus, Filippo Tommaso Marinetti, führte Mussolini eine Liste bei der Wahl in der Provinz Mailand an und spekulierte auf einen regionalen Erfolg. Marinetti hatte 1918 die Partito Politico Futurista gegründet, die nun in der faschistischen Partei aufging. Neben Marinetti machten in den kommenden Jahren eine ganze Reihe Futuristen als faschistische Politiker Karriere. Zunächst war das aber noch Zukunftsmusik, die Faschisten besaßen nur eine kleine Anhängerschaft und trafen auf Ablehnung. So war Regierungschef Nitti ein erklärter Gegner von ›Arditismus‹ und Faschismus. Die ständigen maßlosen Ausfälle des Popolo d’Italia gegen Nitti brachten dem Chefredakteur Mussolini kurz vor der Wahl sogar einen Tag Gefängnis ein.
Das Wahlergebnis im Jahr 1919 war für die Rechtsradikalen eine Blamage. Auf die faschistische Liste entfielen lediglich 4.000 Stimmen, sie gewannen kein einziges Mandat.[14] Ganz anders sah das Ergebnis für die PSI aus, die mit 32,3 Prozent (das waren 156 Abgeordnete) ihren größten Wahlerfolg überhaupt feiern konnte.[15]
Die linkssozialistische Bewegung befand sich auf ihrem Höhepunkt, sie war stärkste Kraft im Parlament, wenn sie sich auch nicht an der Regierung beteiligte. Ihr Bezugspunkt bildete die Rätebewegung, sie wollte die proletarische Revolution.
Nitti gelang es erneut mit seiner liberalen Partito Radicale Italiano, der katholischen Partito Popolare Italiano und der Partito Socialiste Riformista Italiano Ministerpräsident zu werden. Die brüchige Koalition des Kabinett Nitti II hielt aber nur ganze 18 Tage, bis es zerbrach. König Viktor Emanuel III. beauftrage daraufhin den Konservativen Giovanni Giolitti mit der Regierungsbildung. So übernahm Giolitti, mit seinem mittlerweile fünften Kabinett, die Regierungsgeschäfte. Einer Regierungsbildung kaum noch fähig, mit massiven sozialen Unruhen konfrontiert, war der Staatsapparat in die Defensive gedrängt und verhielt sich zurückhaltend. Das beförderte in Teilen des Bürgertums die Angst vor einer bolschewistischen Revolution. Damit unterlag man jedoch einem Irrtum. Auch wenn die PSI durch ihre Organisation und Zeitungen nach außen hin den Ton angab, existierte keine geeinte linksradikale Bewegung mit klarer Stoßrichtung. Vielmehr setzten sich die sozialen Proteste, politisch heterogen zusammen. Syndikalist_innen, Anarchist_innen und Sozialist_innen verschiedener Lager agierten neben- und teilweise gegeneinander. Ständige Streitereien der verschiedenen Strömungen und Fraktionen kennzeichneten den Zustand des linken Lagers. Eine Beteiligung an der Bewegung bedeutete auch noch lange nicht, dass die betreffenden Menschen bereit und in der Lage waren, bewaffnet zu kämpfen. Ohnehin blieben die Linksradikalen in der Minderheit. Wenn das auch aus der Perspektive von Turin und einigen anderen Städten und Regionen anders wirkte. Turin zählte im Jahr 1920 ca. 502.000 Einwohner_innen, während insgesamt knapp 40 Millionen Menschen in Italien lebten[16] – und die waren mehrheitlich nicht links eingestellt. Mit ihren 32,3 Prozent der Stimmen sollte die PSI ihr absolutes Maximum erreicht haben.
Ein Blick auf die Zahlenverhältnisse allein, sagt natürlich nicht alles und Anfang 1920 konnte man durchaus noch an eine siegreiche proletarische Revolution glauben. Zur Weiterführung der revolutionären Initiative wollten die Intellektuellen um Gramsci im Frühjahr einen Generalstreik proklamieren. Doch die Führung der PSI zog nicht mit. Von ihrer Mission überzeugt, setzte die radikale Turiner Fraktion daraufhin eigenständig ein Zeichen und legte die Stadt im April 1920 mit einem zehntägigen regionalen Generalstreik lahm. Um die 200.000 Menschen sollen sich beteiligt haben. In Turin standen alle Räder still – aber der Funke sprang nicht auf andere Landesteile über. Isoliert auf eine Stadt, brach der Ausstand zusammen. Trotz dieser Niederlage legte Gramsci gleich mit einem Neun-Punkte-Programm nach, das er am 8. Mai 1920 veröffentlichte. Unverdrossen forderte der Schriftsteller den raschen Übergang zur Revolution und zielte mit seinem Papier auch auf den 2. Kongress der KomIntern vom 19. Juli bis 7. August in Moskau.
Dieser Kongress verabschiedete die ›21 Bedingungen‹, d. h. die Aufnahmebedingungen für Parteien, die Mitglieder der KomIntern werden wollten. Von nun an mussten die Mitgliedsparteien ihre Eigenständigkeit erheblich einschränken und wurden zu ›nationalen Sektionen‹ der KomIntern . Damit einhergehend wurde auch Lenins Modell des demokratischen Zentralismus auf die Weltorganisation übertragen, d. h. eine Abstimmung war erst dann gültig, wenn sie die Billigung der jeweils höheren Parteiinstanz fand. Ein hierarchisches System, das diktatorische Vollmachten impliziert.
Auch wurde festgelegt, dass der Name der betreffenden Parteien in ›Kommunistische Partei‹ umgeändert werden musste. Damit verbunden war der Ausschluss reformistischer Gruppen und Strömungen.
Was Italien betraf, erhob Giacinto Menotti Serrati dagegen Einwände. Serrati, Mitglied des Präsidiums der KomIntern und auf dem Weltkongress in das Exekutivkomitee gewählt, befürchtete eine erhebliche Schwächung der PSI. Lenin hingegen befürwortete den Ausschluss reformistischer Strömungen und bezeichnete Serrati und andere Kritiker als ›Zentristen‹[17]. Wer gegen den Kurs der Bolschewiki bzw. Lenins opponierte, fiel in Ungnade. Gramscis radikales Neun-Punkte-Programm befürwortete Lenin hingegen ausdrücklich. Die Spaltung der PSI, oder vielmehr die Abspaltung einer bolschewistischen Fraktion, war damit eingeleitet. Und das genau zu dem Zeitpunkt, als die Faschisten zum Angriff übergingen und eine geschlossene, möglichst breit aufgestellte Gegenwehr nötig gewesen wäre.
Im September 1920 eskalierte die Lage durch eine neuerliche Streik- und Besetzungswelle. Nun waren auch wichtig Betriebe der Infrastruktur wie Post und Eisenbahn betroffen, und nach bolschewistischem Vorbild wurde die Bewaffnung des Proletariats verkündet. Die Aufstellung bewaffneter Arbeitermilizen forderte die Staatsmacht heraus.
Der Ruf nach einem Durchgreifen und einem Ende der unsicheren Situation wurde bis in liberale Kreise laut. Das Kabinett Giolitti, welches das Kabinett Nitti abgelöst hatte, musste handeln. Als der Einsatz des Militärs drohte, lenkten die Aktivist_innen aufseiten der radikalen und revolutionären Linken ein. Verhandlungen beendeten die Besetzung der meisten Fabriken. Auch konnten weitere Streiks durch Lohnerhöhungen und die Erfüllung sozialer Forderungen beigelegt werden. Dennoch gab es einige radikale Räte, die ihre Betriebe nicht räumen wollten. Aber auch die mussten schließlich, weitgehend isoliert, kapitulieren. Was Antonio Gramsci dazu nutzte, die Führung der PSI anzugreifen, deren reformistische Haltung er für die Situation verantwortlich machte.
Was Serrati befürchtet hatte, trat nun ein. Im November 1920 lehnte eine PSI-Tagung in Imola einen Ausschluss des von der bolschewistischen Fraktion als Reformisten bezeichneten Flügels ab. Dadurch verschärften sich die internen Differenzen. Auf Initiative von Gramsci und anderen intellektuellen Anführern spaltete sich die Partito Comunista Italiano (PCI) im Sinne der Bolschewiki am 21. Januar 1921 von der PSI ab. Von nun an gab es eine sozialistische und eine kommunistische Partei.
Zwar gab es bereits seit Anfang 1920 verstärkt Überfälle von Faschisten auf Linksradikale. Aber die Zeit zum großen Gegenschlag war für den Faschistenführer noch nicht gekommen. Bis zum Herbst wartete Mussolini noch ab und baute seine Truppe weiter auf. Teilweise von Industriellen und Großgrundbesitzern finanziert oder mit Automobilen und Waffen unterstützt. Hier und da beteiligten sich die Besitzenden auch selbst an den faschistischen Banden. Doch wäre es falsch, Mussolini und seine Bewegung als ›Handlanger des Kapitals‹ abzutun. Mussolini war mehr als nur willkommener Bewahrer der Kapitalinteressen und der besitzenden Schichten. Das zeigte sein Programm, das sicher vielen Kapitalisten eher missfiel. Denn seine Anziehungskraft erlangte der Faschismus durch seine nationalrevolutionäre Ideologie. Besonders unter der Generation der desillusionierten Soldaten aus dem 1. Weltkrieg, fanden diese Parolen Anklang und ließen den Faschismus zur Massenbewegung werden.
Auf diese Kräfte gestützt wollte Mussolini seine Offensive aus der Defensive beginnen und als Verteidiger für alle nationalgesinnten Bürger_innen und arbeitsfreudigen Arbeiter_innen auftreten. Ende 1920 war seine Truppe stark wie nie, und die Linksradikalen hatten erste Schlappen erlitten. Da kam der Moment. Nicht zentral befohlen, sondern aus der Bewegung heraus, lieferte ein Vorfall in der landwirtschaftlich geprägte Po-Ebene in Norditalien den Ausgangspunkt zum Losschlagen.
Diese Region, insbesondere die ›rote Hauptstadt‹ Bologna, schien fest in sozialistischer Hand, bis Linksradikale Ende 1920 dort einen nationalistischen Kommunalbeamten töteten. Die Empörung über diesen Mord reichte weit bis in bürgerliche Kreise und wurde von Squadristen zur moralischen Legitimation für einen Rachefeldzug genutzt. Am 21. November überfielen mehrere Hundert Schwarzhemden die konstituierende Sitzung des neugewählten sozialistischen Gemeinderates von Bologna, neun Menschen starben. Diese Gewalttat markierte den Beginn des faschistischen Squadrismo, bewaffneter ›Strafexpeditionen‹. Militärisch gut organisiert und mit Lastwagen ausgestattet, begannen die Schwarzhemden eine Phase des offenen Terrors. Ständig gab es Überfälle auf linke Aktivist_innen mit etlichen Toten und Verletzten. Oft mussten die Überfallenen Rizinusöl trinken, wurden zusammengeschlagen und nackt an die Straße oder einen öffentlichen Platz gebunden. Die Träger_innen der linken Strukturen wurden so buchstäblich physisch vernichtet.
Eine geeinte antifaschistische Antwort wäre notwendig gewesen. Stattdessen spaltete sich am 21. Januar 1921 die Kommunistische Partei Italiens von der PSI ab. Der Gewalt wie den Parolen der Schwarzhemden, die durch ihr martialisches und gewalttätiges Auftreten noch weiteren Zulauf erfuhren, zeigten sich die linken Strukturen immer weniger gewachsen.
Antonio Gramsci zählte in den 18 Monaten zwischen Januar 1920 und Juni 1921 rund 4.000 „Männer, Frauen, Kinder und Greise, die unter den Kugeln der öffentlichen Sicherheitsorgane und des Faschismus den Tod auf Straßen und Plätzen fanden“[18], wie er im Juli 1921 in der Zeitung L’Ordine Nuovo schrieb. Allein im ersten Halbjahr 1921 zerstören die faschistischen Sturmtrupps 25 Volkshäuser, 59 Arbeitskammern, 85 Genossenschaften, zehn Druckereien und sowie sechs Redaktionen von Tageszeitungen.[19]
Hilfesuchend forderten Linke Schutz von den Behörden. Doch staatliche Stellen standen oft passiv, in einigen Fällen aktiv, aufseiten der Faschisten, auch wenn es Razzien, Beschlagnahmen von Waffen und Verhaftungen von Faschisten durch die Polizei gab. Aber diese Maßnahmen blieben, genau wie Apelle von Regierungsstellen, die Gewalt einzustellen, hilflose Gesten.
Schon im Sommer 1921 triumphiert Benito Mussolini „Es gibt keine ernsthafte bolschewistische Gefahr mehr in Italien. Der Bolschewismus ist so gut wie ausgerottet!“[20], schrieb er in seinem Blatt Il popolo d’Italia.
Leider beförderten auch Gewalttaten aus antifaschistischen Zusammenhängen rechtsradikale Schlagzeilen, wie etwa der anarchistische Bombenanschlag am 23. März 1921 auf das Diana Theater in Mailand, das 21 Menschen das Leben kostete und etwa 50 verletzte. Es galt dem Polizeikommissar Giovanni Gasti, der sich aber zum Zeitpunkt des Attentats nicht im Theater aufhielt.