Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod - Judith Butler - E-Book

Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod E-Book

Judith Butler

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Beschreibung

Antigone zwischen der Pflicht gegenüber dem unbestatteten Bruder und der Staatsräson: Das ist - nach Hegel und anderen - das zentrale Thema der Sophokles'schen Antigone. Dieser politischen Interpretation steht die psychoanalytische zur Seite: Für Freud oder Levi-Strauss steht die ödipus-Sage im Dienst der Verwurzelung verwandtschaftlicher Strukturen in Inzesttabu und Heterosexualität. Solchen staatstragenden Lektüren setzt Judith Butler, ausgehend von der Uneindeutigkeit der Verwandtschaftsbeziehungen, eine subversive Antigone entgegen. Zugleich Tochter und Schwester des ödipus, verhindert ihr Liebesdienst an dem toten Bruder die Vereinigung mit dem Geliebten. Ist Antigone ein Modell für neue Verwandtschaftsformen? Für Familien etwa mit nur einem Elternteil oder deren zwei, aber mit demselben biologischen Geschlecht?

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Judith Butler Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod

Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén

Mit einem NachWort von Bettine Menke

Suhrkamp

Originaltitel: Politics and Kinship. Antigone for the Present

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 5. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2187.

© 2001, Suhrkamp Verlag AG, Berlin

© Judith Butler 2001

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77359-8

www.suhrkamp.de

Erbschaft unserer Zeit

Das 20. Jahrhundert, dessen geistiges Erbe in dieser Buchreihe geprüft werden soll, hat durch einen unvorstellbaren Verlust an Ethik Geschichte gemacht. Es war uns vorbehalten, die Techniken der Naturbeherrschung so zu entfalten, daß sie auch an der inneren Natur des Menschen keine Grenze mehr fanden und damit das Jahrhundert der Völkermorde ermöglichten. Verdun und Vietnam, Auschwitz und der Archipel Gulag waren die inhumanen Stationen jenes Fortschrittszuges, den wir lieber zu Freud und Benjamin, Picasso und Godard fahren sahen.

Kann man diese Paradoxie in einer Synthese unseres heutigen Wissens aufheben? Die Bände der »Erbschaft unserer Zeit« versuchen es mit einem Zugang, der an die Enzyklopädisten erinnert. Sie gehen auf Vorträge zurück, die bis zur Jahrtausendwende in Berlin gehalten wurden. Führende Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen leisten auf Einladung des Einstein Forums und der Berliner Festspiele GmbH Beiträge zu einer Bilanz der Moderne, die nur einen gemeinsamen Fluchtpunkt kennt: gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter – aber dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm.

Gary Smith

Inhalt

I.Antigones Verlangen

II.Ungeschriebene Gesetze, abweichende Übertragungen

III.Promisker Gehorsam

Danksagung

Zitierte Literatur

NachWort von Bettine Menke

»sie werden an dem selber ergriffen und gebrochen, was zum Kreis ihres eigenen Daseins gehört«

Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik

I.Antigones Verlangen

Ich habe vor ein paar Jahren angefangen, über Antigone nachzudenken, als ich mich fragte, was eigentlich aus jenen feministischen Positionen geworden ist, die gegen den Staat gerichtet waren. Mir schien, Antigone könnte ganz gut als Gegenfigur zu einem neueren Trend unter Feministinnen dienen, sich zur Umsetzung feministischer politischer Anliegen auf die Unterstützung und Autorität des Staates zu berufen. Das Erbe von Antigones Herausforderung des Staates schien in den zeitgenössischen Bemühungen um die Neuformulierung der politischen Opposition in Begriffen einer Rechtsforderung und bei der Berufung auf die Legitimität des Staates zur Anerkennung feministischer Forderungen verlorengegangen zu sein. Tatsächlich schätzt und verteidigt beispielsweise Luce Irigaray Antigone geradezu als Prinzip des weiblichen Widerstands gegen staatlichen Dirigismus und als Musterbeispiel für eine antiautoritäre Haltung.1

Aber wer ist eigentlich diese »Antigone«, die ich mir zur exemplarischen Verdeutlichung einer gewissen feministischen Stoßrichtung ausgesucht hatte?2 Sicher, wir haben die »Antigone« der Sophokleischen Tragödie, aber diese Antigone ist eine Fiktion, noch dazu eine, die sich nicht so leicht zum Vorbild machen läßt, dem man folgen könnte, ohne selber Gefahr zu laufen, in die Irrealität abzudriften. Und dennoch wurde sie von vielen zu einer Art Repräsentantin gemacht. Für Hegel repräsentiert sie den Übergang von der matriarchalen zur patriarchalen Herrschaft, aber auch das Prinzip der Blutsverwandtschaft. Und Irigaray äußert sich zwar über die repräsentative Funktion von Antigone weniger eindeutig, betrachtet sie aber gleichwohl als eine exemplarische Figur, wenn sie sagt: »Es lohnt sich immer, über ihr Beispiel als historische Figur und als Identifikationsmöglichkeit für viele Frauen und Mädchen unserer Zeit nachzudenken. Zum Zweck einer solchen Reflexion müssen wir Antigone außerhalb der verführerischen und reduktionistischen Diskurse zuhören, die sie umgeben, müssen wir hören, was sie über die Regierung der Polis zu sagen hat, über ihre Ordnung und ihre Gesetze.«

Aber kann Antigone denn zur Repräsentantin einer bestimmten Art feministischer Politik werden, wenn ihre eigene repräsentative Funktion sich in einer Krise befindet? Ich hoffe im folgenden zu zeigen, daß sie, verstrickt in ein inzestuöses Erbe, das ihre eigene Position innerhalb der Verwandtschaftsbeziehungen erschüttert, kaum für die normativen Prinzipien der Verwandtschaft stehen kann. Und sie steht auch schwerlich für einen Feminismus, der nicht selber in eben die Macht verstrickt ist, gegen die er opponiert. In der Tat ist der mimetische oder repräsentative Charakter Antigones nicht nur in Frage gestellt, weil Antigone eine fiktive Figur ist, sondern auch, weil sie als Figur der Politik in eine ganz andere Richtung weist, nämlich nicht in Richtung Politik als Frage der Repräsentation, sondern in Richtung der politischen Möglichkeit, die sich eröffnet, wenn die Grenzen der Repräsentation und die Grenzen der Repräsentierbarkeit selber zutage treten.

Lassen Sie mich zunächst meinen Gedankengang zusammenfassen. Ich bin keine Kennerin der Antike, und ich will gar nicht erst versuchen, eine zu werden. Ich lese Antigone3, wie viele Humanisten sie gelesen haben, weil das Stück Fragen über Verwandtschaft und Staat aufwirft, die uns in einer ganzen Reihe kultureller und geschichtlicher Zusammenhänge begegnen. Ich habe angefangen, Antigone und ihre Kritiker zu lesen, um zu sehen, ob man ihr einen exemplarischen politischen Status als weibliche Figur zusprechen kann, die sich mit einer Reihe wirkungsvoller körperlicher und sprachlicher Handlungen gegen den Staat stellt. Aber ich stieß auf etwas anderes, als ich erwartet hatte. Was mich zunächst aufhorchen ließ, waren die Deutungen Hegels und Lacans und dann die Art und Weise, wie Luce Irigaray4 und andere5 Antigone sahen, nämlich weniger als politische Gestalt, deren provozierende Rede politische Implikationen besitzt, sondern vielmehr als Figur, die eine vorpolitische Opposition zur Politik zum Ausdruck bringt und dabei Verwandtschaft als diejenige Sphäre repräsentiert, die über die Möglichkeitsbedingung von Politik bestimmt, ohne je selber zu Politik zu werden. In der Auslegung, die wohl durch Hegel am bekanntesten wurde und die bis heute Aneignungen des Stücks in Literaturtheorie und Philosophie entscheidend prägt, steht Antigone für die Blutsverwandtschaft und ihre Auflösung, Kreon dagegen für eine im Entstehen begriffene ethische Ordnung und staatliche Autorität auf der Grundlage universeller Prinzipien.

Als zweites fiel mir etwas auf, worauf ich gegen Ende dieses Kapitels zurückkommen möchte, nämlich die Art und Weise, wie die Verwandtschaft an der Grenze dessen angesiedelt wird, was Hegel die »sittliche Welt« nennt6, die Sphäre der politischen Teilhabe, aber auch der lebensfähigen kulturellen Normen, in Hegels Begriffen die Sphäre der legitimierenden Sittlichkeit*7 (die artikulierten Normen, die die Sphäre der kulturellen Intelligibilität beherrschen). Dieses Verhältnis erscheint in der zeitgenössischen psychoanalytischen Theorie, die auf strukturalistischen Voraussetzungen ruht, und am deutlichsten vielleicht im Werk Jacques Lacans, noch in einem ganz anderen Licht. Lacan bietet in seinem Seminar VII8 eine Lektüre, nach der Antigone sich an der Grenze zwischen Imaginärem und Symbolischem bewegt und sogar für die Einsetzung des Symbolischen selber steht, der Sphäre von Gesetzen und Normen, die den Zugang zum Sprechen und zur Aussprechbarkeit regeln. Diese Regulierung nun erfolgt eben durch die Festlegung bestimmter Verwandtschaftsbeziehungen als symbolische Normen.9 Als symbolische sind diese Normen eigentlich keine sozialen, und an diesem Punkt, könnte man sagen, grenzt sich Lacan von Hegel ab, indem er eine gewisse idealisierte Vorstellung von Verwandtschaft zur Voraussetzung kultureller Intelligibilität macht. Zugleich schreibt Lacan auch ein bestimmtes hegelsches Erbe fort, indem er diese idealisierte Sphäre der Verwandtschaft, das Symbolische, von der Sphäre des Sozialen trennt. Für Lacan verfeinert sich also die Verwandtschaft zur Sprachstruktur, die eine Voraussetzung der symbolischen Intelligibilität und als solche der Einflußsphäre des Sozialen entzogen ist, während Verwandtschaft für Hegel eben genau eine Verwandtschaft des »Blutes« und nicht der Normen ist; d. h. Verwandtschaft hat für Hegel das Soziale noch gar nicht erreicht, das Soziale, das vielmehr erst durch die gewaltsame Unterdrückung der Verwandtschaft entsteht.

Die Abtrennung der Verwandtschaft vom Sozialen ist noch in den am entschiedensten anti-hegelianischen Positionen innerhalb des strukturalistischen Erbes virulent. Für Irigaray stellt die aufrührerische Kraft Antigones die Kraft dessen dar, was außerhalb des Politischen bleibt; Antigone steht für die Verwandtschaft und in der Tat für die Macht der »Bluts«beziehungen, die Irigaray aber nicht allzu buchstäblich verstanden wissen will. Blut bezeichnet für sie etwas spezifisch Körperliches und Plastisches, das durch völlig abstrakte Prinzipien der politischen Gleichheit nicht nur nicht zu erfassen ist, sondern von diesen sogar rigoros ausgeschlossen und sogar vernichtet werden muß. Wenn Antigone also für »Blut« steht, dann nicht für eine blutsmäßige Abstammungslinie, sondern eher für »Blutvergießen«, das man hinter sich lassen muß, wenn der Staat und seine Herrschaft Bestand haben sollen. Das Weibliche wird gleichsam dieser Überrest, und »Blut« wird zur plastischen Figur für diese wie ein Echo nachhallende Spur der Verwandtschaft, eine Refiguration der Figur der Blutlinie, durch die das gewaltsame Vergessen der ursprünglichen Verwandtschaftsbeziehungen bei der Einsetzung der symbolischen männlichen Herrschaft deutlich zutage tritt. Für Irigaray steht Antigone somit für den Übergang von der Herrschaft des auf Mutterschaft, auf Verwandtschaft gründenden Gesetzes zur Herrschaft des auf Vaterschaft gründenden Gesetzes. Was genau jedoch schließt dieses letztere als Verwandtschaft aus? Wir haben hier den symbolischen Platz der Mutter, der durch den symbolischen Platz des Vaters übernommen wird, aber wie wurden diese Plätze überhaupt einmal instituiert? Haben wir es am Ende nicht doch mit der gleichen Auffassung von Verwandtschaft zu tun, bloß mit verschobenen Akzenten auf verschiedenen Begriffen?

Irigarays Deutung bezieht sich ganz offensichtlich auf Hegel, der in der Phänomenologie des Geistes behauptet, Antigone sei »die ewige Ironie des Gemeinwesens«. Sie steht außerhalb der Bedingungen der Polis, aber sie bildet gleichsam ein Außen, ohne das die Polis nicht sein kann. Die Ironien reichen hier sicher tiefer, als Hegel gesehen hat. Schließlich spricht Antigone ja, und sie spricht öffentlich genau dort, wo sie in den privaten Raum weggesperrt sein sollte. Was ist das für eine politische Rede, die die Grenzen des Politischen überschreitet und auf skandalöse Weise die Grenze verschiebt, in die ihre eigene Rede eingeschlossen bleiben sollte? Hegel behauptet, Antigone repräsentiere das Gesetz des Hauses (wobei er die chthonischen Götter der griechischen Überlieferung mit den Penaten der Römer verschmilzt), während Kreon für das Gesetz des Staates stehe, und er beharrt darauf, daß die Verwandtschaft im Konflikt zwischen beiden der Staatsgewalt als letzter Gerechtigkeitsinstanz weichen muß. Anders gesagt, verbildlicht sich in Antigone die Schwelle zwischen Verwandtschaft und Staat, ein Übergang, der in der Phänomenologie eigentlich keine Aufhebung* ist, da Antigone überwunden wird, ohne in der entstehenden sittlichen Ordnung noch einen Platz zu haben.

Die nachwirkende Antigonedeutung Hegels scheint von der Trennbarkeit von Verwandtschaft und Staat auszugehen, obgleich zwischen beiden auch eine wesentliche Beziehung behauptet wird. Und so scheint jeder Deutungsversuch, bei dem einer der Protagonisten entweder zum Vertreter der Verwandtschaft oder des Staates gemacht wird, ins Schwanken zu kommen und tendenziell inkohärent und instabil zu werden.10 Dieses Schwanken hat Folgen nicht nur für den Versuch, die repräsentative Funktion der einzelnen Figuren zu bestimmen, sondern auch für den Versuch, die Beziehung zwisehen Verwandtschaft und Staat zu durchdenken, eine Beziehung, die, wie ich zu zeigen hoffe, durchaus auch für uns von Bedeutung ist, die wir dieses Stück in einem zeitgenössischen Kontext lesen, in dem die Politik der Verwandtschaft ein klassisches Dilemma des Westens krisenhaft zugespitzt hat. Denn eine der Fragen, die das Stück aufwirft, für uns aufwirft, lautet: Ist Verwandtschaft – und damit meine ich hier nicht die »Familie« in irgendeiner bestimmten Form – ohne Unterstützung und Vermittlung durch den Staat und ist der Staat ohne die Unterstützung und Vermittlung der Familie möglich? Und weiter: Wenn Verwandtschaftsbeziehungen zu einer Bedrohung für die staatliche Autorität werden und der Staat sich gewaltsam gegen diese Verwandtschaftsbeziehungen wendet – können diese beiden Begriffe dann überhaupt noch ihre wechselseitige Unabhängigkeit behaupten? Dieses Problem wird zu einem textuellen Problem von einiger Wichtigkeit, denn Antigone spricht in der strafbaren Lage, in die sie sich begeben hat, im Namen von Politik und Gesetz: Sie eignet sich genau die Sprache des Staates an, gegen den sie rebelliert, und ihre eigene Politik ist keine der oppositionellen Reinheit, sondern vielmehr eine Politik des skandalös Unreinen.11

Als ich jedoch Sophokles’ Stück wieder las, beeindruckte mich auf etwas perverse Art die Blindheit dieser Auslegungen. In der Tat scheint sich die Blindheit im Text selbst – dem des Wächters und dem des Teiresias – in den zum Teil blinden Deutungen des Textes unverändert zu wiederholen. Stellt man Antigone und Kreon als gegensätzliche Kräfte von Verwandtschaft und Staatsmacht einander gegenüber, so vernachlässigt man völlig, wie Antigone sich bereits von den Verwandtschaftsbeziehungen gelöst hat; man übersieht, wie Antigone, selber Kind aus einer inzestuösen Verbindung und ihrerseits einer unmöglichen und todgeweihten inzestuösen Liebe zu ihrem Bruder verfallen12, mit ihrem Handeln andere zwingt, sie als »männlich« zu sehen, und wie damit die Art und Weise zweifelhaft wird, in der Verwandtschaftsbeziehungen Geschlechteridentitäten stützen können; man überhört auch, wie ihre Sprache sich ganz paradox der Sprache Kreons nähert, der Sprache der souveränen Macht und Handlung, und man übersieht weiter, wie Kreon selber seine Autorität nur gewinnt kraft der Verwandtschaftslinie, die ihm die Thronfolge erlaubt, und wie er durch Antigones Ungehorsam und schließlich auch durch sein eigenes Handeln gleichsam entmannt wird, mit dem er die Normen beseitigt, die ihm allererst seine Verwandtschafts- und seine Machtstellung sichern. Aus Sophokles’ Text wird in der Tat ersichtlich, daß sich beide metaphorisch wechselseitig auf eine Art und Weise implizieren, aus der wir schließen dürfen, daß zwischen beiden kein einfacher Gegensatz besteht.13 Soweit beide Figuren, Antigone und Kreon, überdies chiastisch miteinander verknüpft sind, scheinen sie voneinander nicht leicht trennbar, und es scheint auch, daß Antigones Macht in dem Maße, in dem sie sie für uns noch immer ausübt, nicht nur damit zu tun hat, wie die Verwandtschaft innerhalb der Sprache des Staates ihre Ansprüche erhebt, sondern auch mit der sozialen Deformation sowohl der idealisierten Verwandtschaft als auch der politischen Souveränität, die als Folge ihrer Tat in Erscheinung tritt. Mit ihrer Tat überschreitet Antigone ebenso die Normen der Geschlechtszugehörigkeit wie der Verwandtschaft, und obgleich ihr Schicksal in der hegelianischen Tradition als sicheres Zeichen dafür verstanden wird, daß diese Überschreitung notwendig zum Scheitern verurteilt und tödlich sein muß, bleibt doch eine ganz andere Lesart nicht ausgeschlossen, der zufolge Antigone den sozial kontingenten Charakter der Verwandtschaftsbeziehungen ans Licht bringt, nur um damit einmal mehr Gelegenheit zu bieten, diese Kontingenz als unwandelbare Notwendigkeit darzustellen.

Bekanntlich bestand Antigones Verbrechen darin, ihren Bruder Polyneikes zu begraben, nachdem Kreon, ihr Onkel und der König, dieses Begräbnis öffentlich verboten hatte. Ihr Bruder war an der Spitze einer feindlichen Armee gegen die Herrschaft seines eigenen Bruders in Theben gezogen, um sich die seiner Ansicht nach ihm selbst zustehende Thronfolge zu erkämpfen. Kreon, der Onkel mütterlicherseits der toten Brüder, betrachtet Polyneikes als treuebrüchig und will ihm ein angemessenes Begräbnis verweigern, ja er will, daß Polyneikes’ Leiche unbedeckt bleiben, geschändet und zerstört werden soll.14 Antigone handelt, aber was tut sie? Sie begräbt ihren Bruder, sogar zweimal, und beim zweiten Mal berichten die Wachen, daß sie sie beobachtet haben. Als sie vor Kreon erscheint, handelt sie noch einmal, diesmal verbal, indem sie sich weigert, ihre Tat zu leugnen. Faktisch weist sie damit die sprachliche Möglichkeit ab, mit der Tat zu brechen, aber sie gibt auch an keiner Stelle positiv die Tat zu; sie sagt nicht: »Ich habe es getan.«

Die Tat selbst scheint durch das Stück zu wandern und nacheinander verschiedenen Tätern anhängen zu wollen, einigen zuzugehören, die die Tat nicht begangen haben können, anderen wiederum nicht zuzugehören, die als Täter in Frage kommen.