Aqua Mosel - Mischa Martini - E-Book

Aqua Mosel E-Book

Mischa Martini

0,0
8,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach dem Mord an einem Kandidaten für die kommende Landtagswahl versucht Kommissar Walde den Schleier zu lüften, um einen Blick hinter den Vorhang des Theaters der Lokalpolitik zu werfen. Im Haifischbecken der Politik scheinen selbst die ,Hinterbänkler‘ bei der Durchsetzung ihrer persönlichen Interessen an Machtgier und Rücksichtslosigkeit den Großen in nichts nachzustehen. Und in diesem speziellen Fall ist obendrein sehr viel Geld im Spiel.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 305

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Verlag Michael Weyand

*

Mischa Martini

Aqua MOSEL

*

© Verlag Michael Weyand GmbH, Friedlandstr. 4, 54293 Trier, www.weyand.de, [email protected]

www.mischa-martini.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Dank für Auskünfte und Hilfe bei der Recherche:

Michael Schuhmacher, Hochwassermeldezentrum Trier;

Bernhard Simon, Stadtarchiv Trier

Dank für Lektorat und wertvolle Anregungen:

Gabriele Belker, Christian Kraler, Peter Vollmer

Satz: Verlag Michael Weyand GmbH, Trier

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Titel: Bob, Trier

ISBN 978-3-942 429-39-9

1. Auflage November 2013

*

Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit Verhaltensweisen von Menschen an der Mosel und anderswo sind zufällig, mitunter unvermeidlich.

*

Die Sprache schafft die Möglichkeit,

Unwahres zu erzählen.

Umberto Eco

Er hatte ein flexibles Gewissen.

Jonas Jonasson

Freitagabend

Es gehörte zum Spiel und er hatte sich freiwillig darauf eingelassen. Das musste er sich manchmal vor solchen Terminen in Erinnerung rufen, um sich zu motivieren. Thomas Bröding fuhr seinen Wagen, der seit der Stadtgrenze von Bitburg nur vom Elektromotor angetrieben wurde, mit einer solchen Selbstverständlichkeit auf das Ausstellungsgelände, dass ihn die Wachposten an der Zufahrt anstandslos passieren ließen. Ein paar Besucher hasteten durch den Regen zum Ausgang. An einem Autotransporter wurde es so eng, dass er den Außenspiegel auf der Fahrerseite einklappen musste. Ein Stück weiter sah er den Wagen mit dem Kennzeichen BIT 2000, den Dienstwagen des Landrats. Er parkte direkt daneben, zwischen zwei kastenförmigen Heizgebläsen, von denen dicke Schläuche ins Zelt führten. Für die wenigen Meter an den auf Hochtouren brummenden Geräten vorbei brauchte er keinen Schirm.

Am Eingang des riesigen Zeltes musste er stehen bleiben, weil seine Brille beschlug. Über die Lautsprecher war der Stadtbürgermeister zu vernehmen. »… wünsche ich dem diesjährigen Markt mit seinen vielen Innovationen, dem Angebot von Handel und Gewerbe, allen Ausstellern und den vielen …«

In der feuchtwarmen Luft klebte Stallgeruch. Während Thomas Bröding ein paar Atemzüge lang beobachtete, wie die Brille in seiner Hand weiter beschlagen blieb, nahm er wahr, dass der Geruch von Rindern stammte. Und von diesen waren schon einige in den Holzverschlägen untergebracht, als er über den mit Sägespänen bedeckten Bretterboden daran vorbei zu der Gruppe vor dem Rednerpult schritt. Die Viehauktion sollte morgen früh beginnen. Heute trafen sich hier Aussteller und Offizielle zur Eröffnungsfeier.

»… vom vielfältigen Angebot der Rinder-Union, von dem Sie sich heute Abend hier einen ersten …«, schallte es aus den Lautsprechern.

Vor dem Podium, wo morgen der Auktionator das Vieh versteigern und eine Jury die besten Bullen prämieren sollte, stand, nur zum Teil besetzt, eine Reihe Stühle. An den Stehtischen dahinter hielten sich die meisten Besucher auf. Es waren nicht mehr als hundert, wie Thomas schätzte. Von einem ihm angereichten Tablett nahm er sich ein Glas Bier und ging bis zu den vordersten Tischen, an denen sich die Vertreter der Politik tummelten.

»… ich danke allen Beteiligten, die sich wieder sehr engagiert und ein großartiges Programm für diese Leistungsschau auf die Beine gestellt haben.« Damit schloss der Stadtbürgermeister seine Ansprache und erntete höflichen Applaus, unter den sich einige Huster und das Brüllen einer Kuh mischten.

Der Regen hatte wieder zugenommen und trommelte auf das Zeltdach.

Thomas trank einen großen Schluck, und kaum hatte er das Glas abgesetzt, verspürte er einen leichten Schlag am Schulterblatt.

»Seid ihr da unten im Moseltal schon am Absaufen, dass du dich hier rauf zu uns flüchten musst?« Der Landrat stand neben ihm.

»Die Mosel ist schon ziemlich hoch, steigt schnell und es gießt weiter.« Thomas deutete zum Zeltdach, bevor er die Hand des Landrates ergriff und dessen festen Händedruck erwiderte.

»Komm mit an unseren Tisch … oder willst du dich drüben zu dem besoffenen Arschloch gesellen?«

Auch der zweite freundschaftliche Klaps des Landrats auf Thomas‘ Schulter dürfte vielen der hier Versammelten nicht entgangen sein. Die wenigen der Anwesenden, die noch nicht wussten, wer Thomas war, mussten sich unweigerlich fragen, mit wem der Landrat einen solch jovialen Umgang pflegte.

»Wenn man vom Teufel spricht.«

Klaus Holtzer stellte sein Bierglas so fest aufs Podium, dass es übers Mikrofon durchs ganze Zelt zu hören war.

»Guten Abend, liebe Besucher und Freunde«, sein wie immer leicht heiser wirkender Bass dröhnte überlaut durchs Zelt. »Ich freue mich …«

Im Schlepptau des Landrates schüttelte Thomas hier eine Hand, nickte da jemandem zu oder hob eine Hand zum Gruß, während Holtzer mit den Armen gestikulierend von geballter Leistungskraft, Synergieeffekten, wirtschaftlichem Schub und den sonstigen Vorteilen sprach, die der diesjährige Markt den Ausstellern, Besuchern und der Region bringen sollte. Wie immer nutzte er seinen Auftritt, um noch ein paar Sätze zum aktuellen Stand des Bioenergie Südeifel Technologiepark, abgekürzt BEST, loszuwerden.

Ein Fotograf, der genug Fotos vom Redner geschossen hatte, widmete sich nun der Runde des Landrates, zu der, neben dem Stadtbürgermeister, ein Staatssekretär, Abgeordnete, Banker und Vertreter von Verbänden und aus der Privatwirtschaft gehörten.

Am Rednerpult bat Holtzer das Publikum um Aufmerksamkeit für eine letzte Bemerkung über das Großprojekt, eine Kombination aus Pumpspeicherwerk, Solarpark, Biogas- und Windanlagen mit einem Investitionsvolumen von vierhundert Millionen Euro. Seit Jahren versuchte er zusammen mit dem zwielichtigen Projektleiter Damian Lutton, ein Mann mit angeblich besten internationalen Beziehungen, der sich um Investoren für den Energiepark bemühte, Geldgeber aus irgendeinem Land, von den britischen Inseln bis Fernost, zu gewinnen.

Die genervten Huster aus dem Publikum nahmen zu. Irgendwo an einem Stand verlor ein Handwerker die Geduld und begann an einem noch unfertigen Stand zu hämmern und auch eine Kuh konnte nicht mehr an sich halten und brüllte ihren Unmut heraus, während Holtzer die wirtschaftliche Zukunft der Region in den buntesten Farben schilderte.

»Der kommt von einer Schnapsprobe in Meckel«, flüsterte ihm der Landrat zu. »Der Marco musste ihn herfahren.«

Meckel lag nicht weit von Idesheim auf der anderen Seite der B 51. Für die meisten der anderen Orte, insgesamt waren es mehrere Hundert in den drei Landkreisen des Eifelkreises, musste Thomas sein Navi bemühen.

Der Redner legte noch einmal Nachdruck in seine Stimme. »… darf ich Sie herzlich begrüßen und willkommen heißen!« Holtzer hob sein Glas und prostete dem Publikum zu.

Während Thomas, wie die meisten am Tisch, sein Glas hob und Holtzer zuprostete, trafen sich ihre Blicke. In dem kurzen Moment verspürte Thomas, wie die Überraschung bei seinem Gegenüber in einen Ausdruck wechselte, als stelle er sich die Frage, was der Bröding denn schon wieder hier verloren habe.

Holtzer hatte in seiner Funktion als Bezirksvorsitzender des Bauernverbandes gesprochen. Am Tisch, zu dem er nun zurückging, standen überwiegend Kollegen aus der Region und jemand, den Thomas für den Vertreter der Molkerei hielt, vielleicht war es auch ein Landmaschinenhändler. Die Kluft zwischen dieser Fraktion und den Leuten an seinem Tisch war unübersehbar. Erst beim zweiten Blick sah Thomas den Mann, den er bisher nur von Bildern aus der Zeitung kannte. Damian Lutton hatte sich bisher selten öffentlich blicken lassen. Meist war nur etwas aus der Zeitung über seine Aktivitäten zu erfahren. Mal war es ein chinesischer Investor, mal ein von der Rezession verschonter isländischer Industrieller, der hunderte Millionen für das Großprojekt BEST in Aussicht stellte. Fristen wurden angekündigt, in denen ein Vertrag unter Dach und Fach sein sollte, diese wurden verlängert, um letztlich ergebnislos zu verstreichen. Längst war der Optimismus auch bei den vormals glühendsten Anhängern des Projektes der Ernüchterung gewichen. Kürzlich wurde zwar ein neuer Investor als Heilsbringer in Aussicht gestellt, ein angeblich schwerreicher Finanzier, der die Chancen erkannt hatte, die der Energiepark BEST bot. Aber diese Meldung hatte nur noch Häme in der Presse geerntet.

Für einen Moment überlegte Thomas, hinüber zu Damian Lutton zu gehen. Doch als er wieder hinsah, war der selbsternannte Investorbeschaffer verschwunden.

Thomas trank sein Glas leer und schlenderte auf der Suche nach den Toiletten an einem Verschlag vorbei, in dem eine Kuh mit ihrem Kalb untergebracht war. Die Kuh reckte ihren großen Kopf über das Gatter. Thomas blieb stehen und streichelte ihr über die Stirn bis zu den Hörnern. Auch ein Eifeler Dickschädel, dachte er.

Die Landwirte hatten bisher die treue Basis von Holtzers Anhängerschaft gebildet. Ihre Zahl war mit den Jahren deutlich geringer geworden und damit auch ihr Einfluss. Dennoch hatte Holtzer bei der letzten Abstimmung um den Spitzenplatz im Landtagswahlkampf seine Kontrahentin weit hinter sich gelassen. Diese würde kein weiteres Mal gegen ihn antreten. Und ernst zu nehmende Konkurrenten unter sechzig Jahren waren nicht in Sicht.

»Darf ich vorstellen, das sind Yvonne und ihre Paula.« Ein kaum ein Meter sechzig großer Mann war herangekommen.

»Angenehm, ich bin der Thomas«, er nickte den Tieren zu und reichte dem Bauern mit den pfiffigen braunen Augen die Hand. »Thomas Bröding. Heißt sie wirklich Yvonne?«

»So wahr ich der Öko-Karl bin.« Der Mann wischte sich die Hand an seiner Cordhose ab, bevor er in die von Thomas einschlug. »Warum interessieren Sie sich für die Kühe? Wie ein Viehhändler sehen Sie nicht aus.«

Thomas lachte. »Wonach denn?«

»Na, wenn Sie so fragen.« Der kleine Mann grinste. »Eher wie einer, der Versicherungen oder so verkauft.«

»Mein Job beginnt erst, wenn die Versicherung nach dem Schadensfall Zicken macht.«

»Sachverständiger?«

»Rechtsanwalt.«

»Und Politiker«, ergänzte Öko-Karl, der seinen Nachnamen nicht genannt hatte.

»War nur Spaß. Ich habe Sie schon in der Zeitung gesehen.« Karl tätschelte den Hals der Kuh. »Das Mädchen wird nicht verkauft. Sie und Paula gehören zur Streichelabteilung.«

Zehn Minuten später kannte Thomas die Nöte des Bauern, der für den Liter Milch zwar zehn Cent mehr bekam als seine konventionell wirtschaftenden Kollegen, aber dennoch einen harten Existenzkampf führen musste, um seinen Hof über Wasser zu halten.

Thomas hörte zu. Das tat er, seitdem er hier in der Südeifel unterwegs war … und er hatte schon viel darüber erfahren, was die Menschen bewegte.

Der Regen hatte weiter zugenommen. Das Prasseln gemahnte ihn an ein dringendes Bedürfnis, dem er nachkommen wollte. Er wies zum Zeltdach: »Den Daiwel soll et hullen.«

»Et Weeda ass wie et ass«, kommentierte der Öko-Karl.

»Et as beschass«, komplettierte Thomas den Luxemburger Spruch, der längst auch jenseits der Grenze hier in der Eifel verwendet wurde, und wandte sich zum Gehen. »Da‘ je.«

Im WC-Container prasselte der Regen auf das Blechdach. Während er am Urinal stand, sah Thomas auf seine Uhr. Es war schon später, als er angenommen hatte.

Jemand war hereingekommen, stellte sich neben ihn und bald war ein kräftiger Strahl im Becken zu hören.

Auf dem Weg zum Waschbecken zog Thomas den Reißverschluss seiner Hose hoch.

»Auch mal wieder in der Eifel unterwegs?« Der belegte Bass war unverkennbar.

Während Thomas sich kaltes Wasser über die Hände laufen ließ, überlegte er, was er antworten sollte.

»Redst du net mehr mit mir?«, setzte Holtzer mit erhobener Stimme nach.

»Ich denke, es ist auch Ihnen nicht entgangen, dass ich hier wohne.« Thomas drückte auf den Seifenspender.

»Du meinst doch nicht, das funktioniert so einfach.«

»Wir scheinen ja zusammen in dieselbe Schule gegangen zu sein oder woher kommt das Duzen?«

Der bullige Mann fuhr mit seinem Lamento fort. »Man zieht hierher und ist Knall auf Fall ein Eifeler?«

»Hab‘ ich das behauptet?«, fragte Thomas in ruhigem Ton.

»Lavieren und aalglatte Sprüche reichen hier oben net. Hier muss man schon Farbe bekennen. Hier wird Tacheles geredet.« Holtzer war noch lauter geworden.

»Danke, werde ich mir merken.« Thomas’ Stimme klang gelangweilt, während er Papier aus einem Spender zog.

»Du brauchst net zu meinen, ich wüsst’ nicht, was ihr vorhabt«, rief Holtzer. »Das haben schon andere versucht.«

»Dann ist es ja gut.« Thomas warf das Papier in einen Korb und ging zur Tür, die ihm Öko-Karl aufhielt. Der kleine Mann knipste ihm ein Auge.

Durch den strömenden Regen war Thomas mit gesenktem Kopf fast an seinem Wagen vorbei gelaufen; an das Bitburger Kennzeichen musste er sich noch gewöhnen.

»Du bist schon wieder weg?« Es war der Landrat, der hinter ihm herrief.

Thomas wartete, bis der Landrat ihn einholte und seinen Schirm über ihn hielt.

»Ich hab‘ noch in Trier zu tun«, antwortete Thomas. Den Vorfall auf dem Klo erwähnte er nicht. »Und du?«

»Auch noch keinen Feierabend.« Sein Gegenüber schaute zu seinem Fahrer hinüber, der ausgestiegen war und nun im Regen stand, um ihm die Tür aufzuhalten. »Da‘ je.«

Wenig später fuhr Thomas auf die B 51. Die angespannte Hochwasserlage an der Mosel war inzwischen selbst im Deutschlandradio ein Thema. Die Mosel steuerte auf ein Hochwasser zu, das alle bisherigen Pegel zu überbieten drohte. Er schaltete den Sender aus, wählte Arriving somewhere but not here von Porcupine Tree, drehte die Musik auf und gab Gas. Längst war der Sechszylinder angesprungen und gesellte den knapp 100 PS des Elektromotors weitere 333 hinzu. Sein Sohn hatte ihm die CD zum vorletzten Geburtstag gebrannt. Als der Tacho an der Abfahrt Speicher 180 anzeigte, drehte er den Ton noch lauter und trat das Gaspedal durch. Die Elektrogitarren füllten das Auto bis zum Bersten, dazu hämmerte Thomas den Rhythmus aufs Lenkrad. Die Scheibenwischer liefen auf Hochtouren und konnten dennoch weder mit dem schnellen Bass noch mit dem Regen mithalten.

Auf der langen Geraden an der Abfahrt Idesheim flog er an einem Lkw-Konvoi vorbei. Die entgegenkommenden Lichter waren noch weit weg, als er spürte, wie der Wagen die Bodenhaftung verlor. Würde er sich nebenan auf dem Acker fünf- oder zehnmal überschlagen? Landete sein Auto zuletzt in einem langen Bogen auf dem Dach, das ihm das Genick brechen würde, oder wurde er vorher herausgeschleudert und erst später, wenn Feuerwehr und Krankenwagen längst eingetroffen waren, mit verdrehten Gliedern im Matsch gefunden? Er nahm sachte das Gas weg, während ihm die Lichter auf seiner Spur unbarmherzig entgegen kamen. Die Lücke zwischen den letzten beiden noch zu überholenden Lastwagen vor ihm war zu klein und sein Überschuss an Geschwindigkeit noch viel zu hoch, um dort einscheren und rechtzeitig bremsen zu können. Sie fuhren höchstens neunzig und er hatte noch hundertfünfzig Sachen drauf.

Es war ein lächerlicher Tod … für einen wie ihn, der alles so genau im Voraus plante, kaum etwas dem Zufall überließ, diszipliniert, besonnen und verantwortungsbewusst immer seine Ziele vor Augen hatte. Er umklammerte das Lenkrad und gab Gas. Die Bremslichter des Sattelschleppers leuchteten auf, als er vorbeirauschte. Über den auf ihn zurasenden Scheinwerfern wurden nun zwei kleinere Lichter erkennbar. Ebenfalls ein LKW.

Die Straße war nicht breit genug, um mit dem Wagen zwischen zwei Lkws hindurch zu kommen. Thomas’ Wagen erreichte das Fahrerhaus, wo er die in die Höhe geworfenen Arme des Fahrers sah. Das Gaspedal durchtretend, die Hände ans Lenkrad gekrallt, die Angst herausschreiend, sah Thomas mit weit aufgerissenen Augen, wie der Lastwagen frontal auf ihn zuraste. Das Tuten des Horns hatte längst die Oberhand über den Rocksound gewonnen … und dann scherte er zentimeterknapp nach rechts ein. Der Wagen schleuderte zum rechten Straßenrand, Wasserlachen aufstiebend, brach hinten aus, schlingerte zum Mittelstreifen und fing sich, kurz bevor er die Kurve am Kloster Helenenberg nehmen musste.

An der roten Ampel auf der Römerbrücke nahm Thomas sich vor, den Titel von vorhin nie wieder im Auto zu hören. Er hatte plötzlich einen trockenen Mund. Sein linkes Knie zuckte, wie er es zuletzt als nervöser Fahrschüler erlebt hatte. Selbst als er die Handbremse gezogen hatte, schien der Wagen zu wackeln. Konnte es sein, dass die uralte Brücke nicht mehr lange der gewaltigen Flut standhalten würde?

Auf dem Parkplatz im Hof des Büros hielt er sich nicht damit auf, den Wagen an das Ladegerät für die Batterie anzuschließen. Er war froh, als er im warmen und trockenen Haus war und bald darauf Isa in die Arme schloss.

Das regelmäßige Geräusch aus ihrem Traum dauerte an, als sie die Augen öffnete. Es kam nicht von ihrem Festnetzanschluss und auch nicht von ihrem Handy.

Mitten im Ton brach das Klingeln ab.

»Ja!« Er räusperte sich.

Das Licht blieb aus. Draußen platschte der Regen in die Pfützen. Es war eine Frauenstimme. Sie schien sanft zu sprechen.

»Nein, ich mache bald Schluss«, sagte er, »ich bin müde.«

Sie spürte den Schweiß auf ihrem Rücken, wo er sie umarmt hatte. Sie schob einen Fuß unter der Bettdecke hervor.

»Ich komme bald … oh … die Brücken sind noch frei … ja, ich bin vorsichtig … leg dich wieder hin.«

Sie schloss die Augen, als er das Telefon auf den Nachtschrank legte.

»Sie macht sich Sorgen, weil es bei uns in Strömen gießt …« Er hatte seinen neuen Wohnsitz bereits so verinnerlicht, dass er selbst bei ihr darüber sprach, als sei es schon seine Heimat. Er blieb wohl aus Rücksicht neben ihr liegen, weil er gerade mit seiner Frau gesprochen hatte.

Er drehte sich wieder zu ihr und legte einen Arm über ihrer Taille. Beide schwiegen.

Nach einer Weile fragte sie: »Woran denkst du?«

»An Umberto Eco als Kind in Uniform mit dem Arm zu einem Hitlergruß gereckt.«

»Hmh.«

»Da war er vielleicht zehn Jahre alt.«

»Erstaunlich …«

»Finde ich nicht, er war leicht beeinflussbar wie alle Kinder.«

»Das meine ich nicht. Es ist erstaunlich, wie verschieden Frauen und Männer ticken. Ich bin noch ganz von dir erfüllt … und du denkst …« Sie stockte. »Du musst los.« Die Worte konterkarierend drehte sie sich um und schmiegte ihren Kopf an seine Brust. Sein Herzschlag verlangsamte sich, als sie die Hand über sein Ohr legte.

Wenn sie geschlafen hatte, konnte sie die Uhrzeit nicht einschätzen. Es war sicher schon weit nach Mitternacht, er hatte noch etliche Kilometer zu fahren, und in ein paar Stunden musste er schon wieder aufstehen. Jeden Morgen brachte er seinen Sohn zur Schule, bevor er in die Kanzlei oder zum Gericht musste. Nein, morgen war Samstag und außerdem hatte sein Sohn schon seit über einem Monat den Führerschein. Wenn das Wetter es nur irgendwie zuließ, fuhr er mit einer Enduro in die Stadt. Thomas kam wohl nicht umhin, dem Sohnemann einen Kleinwagen zu kaufen. Die Fahrten mit dem Bike waren viel zu gefährlich.

Ihre Gedanken glitten ab. Sie durfte jetzt nicht wieder einschlafen … Ihre freie Hand streifte seinen Bauch hinunter. »Du musst los.«

»Ja.« Dabei dehnte er das A, während er sich auf die Seite drehte und auf dem Weg zur Bettkante auf ihr inne hielt, nur vermeintlich, wie sie bald verspürte. Er beugte sich zu ihr herunter. Seine Bartstoppeln streiften ihre Wange.

Sie genoss jede Minute mit ihm und dachte nicht weiter als bis zum nächsten Tag.

Erst unten in der Kanzlei schlüpfte Thomas in seine Schuhe, deren glatte Sohlen sich nicht dazu eigneten, auf einer gefrorenen Straße der Eifel aus dem Auto steigen zu müssen, falls ihm auf der nassen Strecke, wie die Formel 1-Piloten so schön sagten, die Straße ausgehen würde. Das Erlebnis von vorhin hatte er kurzfristig verdrängen können.

Er stellte das Festnetztelefon, das er zu Isabelle mitgenommen hatte, auf die Ladestation in seinem Büro, fuhr den Rechner herunter und warf einen schnellen Blick in den Spiegel im WC. Sein Hemd war korrekt zugeknüpft, die wirren Haare konnten auch von der Schirmmütze herrühren, die er gleich tragen würde. Auf dem Weg zum Ausgang besann er sich anders und ging, ohne Licht zu machen, ins Sekretariat. Hinter dem gardinenlosen Fenster sah er ein Taxi, Gischt versprühend vorbeisausen. Eine emotionslose Maschinenstimme verkündete in den dunklen Raum, dass der Anrufbeantworter aktiviert wurde.

Der Regen plätscherte in die Pfützen, tropfte von den Rändern des Vordachs und der Abdeckung auf der hohen Mauer auf das Pflaster. Winziger Graupel perlte über den dunklen Lack des Porsche Panamera.

Ein kalter Windstoß blies Thomas den Regen ins Gesicht. Er hatte den Schal an der Garderobe hängen lassen, doch nun war er schon am Auto angelangt. Mit der Linken betätigte er am Autoschlüssel die Fernbedienung. Während er sich nach unten zu dem nassen Türgriff beugte, wähnte er auf einmal jemanden hinter sich.

»Isa?«

Ein dicker kalter Tropfen traf seinen Nacken. Seine Hand war noch zu der Stelle am Hals unterwegs, als er wie eine Marionette, deren Fäden gekappt wurden, zusammenbrach.

Er sah auf dunkle Steine in einer Pfütze und auf einen Schuh, der zuckte. Draußen auf der Straße fuhr ein Wagen vorbei.

Er konnte hören und sehen, sonst nichts, nicht einmal seine Augen schließen, alles Körpergefühl war weg. Es schien sein eigener Fuß zu sein, der sich ohne sein Zutun bewegte.

War er Opfer eines Überfalls, hatte ihn ein herabgestürzter Ast getroffen oder war sein Auto vom defekten Akku des Elektoantriebs unter Strom gesetzt worden?

Womöglich sah Isa aus dem Fenster oder seine Schockstarre löste sich. Befand er sich in einem Wachkoma oder war er schon tot und nur sein Gehirn verfügte noch über einen Rest Energie?

Waren Sekunden oder bereits Minuten vergangen? Blutete er aus einer Wunde, die er nicht fühlte? Sah er nun den Tunnel, wie in Berichten von Nahtoderfahrungen beschrieben, oder eine Rückschau auf sein Leben?

Was er sah, kam ihm unscharf vor. Wie lange würde er die Kälte hier auf dem Boden überstehen? War schon lange kein Wagen mehr auf der Straße vorbeigefahren oder hatte auch sein Gehör ausgesetzt? Würde er schmerzlos einschlafen, wenn sein Körper auskühlte? Wann hatte er seine nächsten Termine? Hatten sich seine Lider geschlossen oder war die Straßenbeleuchtung erloschen …?

Samstag

Als Walde erwachte, hörte er Annika husten. Beim Hinausgehen schloss er die Tür des Schlafzimmers hinter sich, damit Doris und die kleine Mathilda nicht geweckt wurden. Nebenan im Zimmer quälte sich seine sechsjährige Tochter mit einem weiteren Hustenanfall. Ein leichter Duft von hustenlindernden ätherischen Ölen hing in dem Raum. Er setzte sich neben Annika, um ihr in eine sitzende Position zu verhelfen. Doch das hatte sie schon selbst getan, während sie, wie es ihm schien, auch freier husten konnte als in den letzten Tagen. Auf das Glas mit Tee, das er ihr reichte, reagierte sie nicht. Als der Hustenanfall vorbei war, legte sie sich hin und schlief weiter.

Walde blieb noch auf der Bettkante sitzen und atmete den Duft der ätherischen Öle ein, während er ein paar frische Tropfen auf das Tuch auf der Heizung träufelte. Bevor er Kinder hatte, bereitete ihm mancher Fall nachts oft stundenlange Grübeleien. Jetzt zählte nur noch jede Minute Schlaf. Zurück in seinem Bett lauschte er den regelmäßigen Atemzügen von Doris und der zweijährigen Mathilda. Sobald seine Füße wärmer wurden, schlief er wieder ein.

Grabbe lehnte am nassen Geländer der Einfahrt. Es war ihm viel zu übel, um sich Gedanken darüber zu machen, ob der Rost des Schmiedeeisens seine Jacke färbte. Am liebsten hätte er sich in sein Auto gesetzt, aber bis dahin glaubte er es nicht mehr zu schaffen.

Er hatte den Wagen vorhin um die Ecke in der Hindenburgstraße abstellen müssen, weil Notarzt, Krankenwagen und Streifenwagen die Allee blockierten, auf der sich die morgendliche Rushhour bereits ankündigte, während das Morgengrauen noch auf sich warten ließ. Als er das Telefon unter der Kapuze an sein Ohr hielt, tropfte der Regen in den Ärmel des Parkas.

Sobald Walde hier wäre, würde er wieder nach Hause fahren. Aber der ging auch beim vierten Versuch nicht ans Telefon. Nun probierte Grabbe es in seiner Verzweiflung bei Gabi. Seine Kollegin verwies ihn in harschem Ton darauf, dass ihr Dienst erst wieder in der kommenden Woche begann. Der Ärger darüber lenkte ihn einen Moment von der Übelkeit ab.

Und dann war Sattler mit seinen Leuten von der Kriminaltechnik da. Grabbe brauchte nur mit einer Handbewegung den Weg zu weisen und beobachtete dann, wie die Kollegen in den hellen Schutzanzügen die Zufahrt und den Hof untersuchten, Licht anbrachten und ein Zelt über dem Tatort errichteten. Nach dem Blut zu urteilen handelte es sich beim Fundort des Toten auch um den Tatort, soweit war sich Grabbe sicher, auch wenn er die Leiche nicht näher hatte in Augenschein nehmen können. Zu plötzlich hatte ihn der Zustand wieder gepackt, den er überwunden zu haben glaubte.

Auch wenn er für gewöhnlich nicht an Wunder glaubte, so grenzte die plötzliche Wandlung, die er durchlebt hatte, daran, nachdem er aus einem brennenden Wagen gerettet worden war. Fast alle Empfindlichkeiten und Ängste, unter denen er bis dahin gelitten hatte, waren wie weggeblasen. Zuerst hatte er es nicht glauben wollen. Dann hatte er sogar damit begonnen, die Grenzen auszureizen. Wie weit sich sein Mut und seine Selbstsicherheit in kürzester Zeit entwickelt hatten, war geradezu phänomenal. Bis dahin hatte schon eine etwas rasantere Autofahrt bei ihm Übelkeit ausgelöst, von einer Fahrt im Polizeiboot über die Mosel ganz zu schweigen. Das alles war kein Problem mehr. Er war sogar, was seine Frau kaum fassen konnte, mit ihr übers Wochenende nach London geflogen, scheute beim Autofahren nicht vor gewagten Manövern zurück und ging kaum mehr einer der Situationen aus dem Wege, die er früher tunlichst gemieden hatte. Dazu hatte auch eine Achterbahnfahrt im Vergnügungspark gehört, nach der er sich gleich wieder in der Schlange angestellt hatte, um seinem Körper noch einmal diesem extremen Gefühl auszusetzen, das ihm am Schluss sogar Spaß bereitet hatte. Auch wer nicht daran glaubt, ist dazu bereit, ein Wunder anzunehmen.

Sollte das alles nun von einer Sekunde zur anderen wieder vorbei sein?

»Guten Morgen!« Dr. Hoffmann stand vor ihm.

»Bisher konnte ich noch nichts Gutes daran finden«, grummelte Grabbe.

»Warten wir’s ab.« Vom Schirm des Gerichtsmediziners tropfte Wasser auf Grabbes Parka. »Alles in Ordnung?«

»Es geht.«

»Gut, dann kümmere ich mich mal um den Toten!« Dr. Hoffmann wandte sich dem Zelt zu, von dessen Dach Blitzlicht reflektiert wurde. Während er sich Überzieher aus transparentem Kunststoff über die Schuhe zog, stützte sich der Gerichtsmediziner an der Ecke des Hauses ab.

Grabbe atmete tief durch, als er zögerlich zum Tatort zurückkehrte, wo er in gebührendem Abstand stehen blieb und beobachtete, wie Dr. Hoffmann Sattler seinen Schirm reichte, bevor er neben dem Opfer in die Hocke ging. Hoffmanns Rücken verdeckte Grabbe die Sicht auf den Oberkörper des Toten. In der aufkommenden Morgendämmerung war die große Blutlache deutlicher zu erkennen. Es schien Grabbe die mit Abstand größte, die er bisher sehen musste. Der Regen hatte seinen Teil dazu beigetragen, sie soweit auszubreiten und zu verdünnen, dass sie sich neben dem Baldachin der Spurensicherung unter dem dunklen Wagen verlor, dessen Fahrertür immer noch offen stand.

Gegenüber auf der hohen Mauer erschien ein Kopf. Ein Junge schaute neugierig durch den Maschendrahtzaun. Grabbes abwehrende Handbewegung ignorierend, ließ er den Blick über das Treiben in der Einfahrt schweifen, stutzte einen Moment, verzog dann angewidert das Gesicht. Der Kopf tauchte wieder ab.

Wenige Sekunden später erschien der nächste und ein Handy wurde durch den Zaun gestreckt.

»Schluss jetzt, runter da!«, rief Grabbe. »Sonst komme ich rüber!«

Der Kopf verschwand wieder.

»Zick, zack, Bullenpack! Zick, zack, Bullenpack!«, wurde aus mehreren Kehlen skandiert. Es folgten Gelächter und Getrappel von schnellen Schritten, die sich entfernten.

Diesen Spruch hatte er schon viele Jahre nicht mehr gehört.

»Schöne Scheiße!«

Grabbe zuckte zusammen.

»Hätte das nicht Zeit bis Montag gehabt?«, fragte Gabi, die neben Grabbe stehen geblieben war, von wo sie einen freien Blick auf die Leiche zu haben schien.

»Guten Morgen, entschuldige, ich hatte … mir war nicht so gut … und Walde war auch nicht zu erreichen«, stammelte Grabbe.

»Was ist mit Burkhard?«, fragte Gabi. Burkhard Decker war kurz vor der Geburt ihres Sohnes und des sich an-schließenden Elternurlaubs zur Mordkommission gestoßen.

»Hat Urlaub und ist auf einer Radtour.«

»Bei diesem Wetter?«

»Auf Mallorca.«

»Ach so, und bis wann?«, fragte sie.

»Ich glaube, bis Ende nächster Woche, aber wir versuchen, ihn zu erreichen.«

»Schöne Scheiße. Übrigens habe ich Walde mitgebracht.« Sie deutete auf die dunkle Verfärbung auf dem Pflaster. »Ist das alles nur von dem einen da?«

»Was meinst du?«

»Das Blut.«

»Sieht ganz danach aus.« Dr. Hoffmann, der Gerichtsmediziner, stützte sich am Kotflügel des Wagens ab, während er sich schwerfällig erhob. »Hallo Gabi! Wieder im Dienst? Was macht der Sohnemann?« Er reichte ihr eine Brieftasche. »Das hatte der Tote in der Manteltasche.«

»Wächst und gedeiht. Und mein Dienst beginnt eigentlich erst in der nächsten Woche wieder.« Sie reichte das Portemonnaie an Walde weiter, der zusammen mit einem uniformierten Polizisten herangekommen war.

»Entschuldige, ich habe das Telefon nicht gehört«, sagte Walde zu Grabbe, während er im Fach vor den Geldscheinen einen Ausweis entdeckte. »Thomas Bröding,« las er. »Wohnt in Idesheim. Was hat er hier gewollt?«

»Er hat hier im Haus seine Kanzlei«, antwortete Grabbe. »Der Wagen ist auf ihn zugelassen.«

»Das scheint der Tote zu sein«, Hoffmann wischte die Regentropfen vom Passbild.

»Er ist auf recht ungewöhnliche Weise gestorben.«

»Die haben wir gefunden.« Sattler hielt einen durchsichtigen Beutel mit einer Patrone in die Höhe. »9 mm, blaue Markierung.«

»Die Farbe passt.« Hoffmann schaute hinunter zu den Überzügen auf seinen Schuhen, unter denen vom Blut gefärbte Rinnsale in die Fugen des Pflasters liefen.

»Wie bitte?«

»Die blauen Kartuschen werden für schweres Vieh eingesetzt.«

»Ich verstehe nur Bahnhof.« Gabi schüttelte den Kopf.

»Genau, die Eintrittstelle im Nacken ist ungewöhnlich, normalerweise wird der Apparat im Stirnbereich angesetzt …«

»Soll das heißen, Bröd … dings wurde mit einem Bolzenschussgerät umgebracht?«

»Von einer suizidalen Handlung kann nicht ausgegangen werden, denke ich mal, sonst wäre die Tatwaffe noch hier.«

»Wer schießt sich schon ins Genick?«

»Das ist schon vorgekommen«, korrigierte sie Hoffmann, »ich hatte schon mal, das ist wirklich lange her, einen Metzger – oder war es ein Bauer? –, der sich mit ähnlicher Schussbeibringung in die ewigen Jagdgründe befördert hat. Bei diesem Gerät wird keine Kugel abgefeuert, sondern das Gehirn mit einem Bolzen penetriert.« Er streifte die Überschuhe ab. »Falls es über Nacht keine weiteren Anfragen gab, komme ich heute noch zur Obduktion.«

»Wie lange ist er schon tot?«, fragte Walde.

»Nicht leicht zu sagen, fünf bis maximal acht Stunden dürfte der Todeszeitpunkt her sein.«

Nebenan ertönte ein lang anhaltendes Klingeln, das Walde, obwohl er es viele Jahre nicht mehr vernommen hatte, gleich wieder vertraut vorkam.

»Also zwischen Mitternacht und drei Uhr früh«, sagte er. Walde ließ Hoffmann vorbei, bevor er sich dem Hauseingang zuwandte, blieb dann aber stehen und besann sich. Die Klingel, es schien immer noch dieselbe zu sein, hatte bei ihm den gleichen Bewegungsreflex ausgelöst wie früher, als er das Hindenburg-Gymnasium besucht hatte, das nun in Humboldt-Gymnasium umbenannt worden war.

»Diese Audio-CD hat Bröding zuletzt gehört.« Sattler reichte ihm eine silberne Scheibe in der Folie.

»Was soll ich damit?«

»Hey, hey, was soll das, Kamera aus!« Der Kriminaltechniker richtete beide Handflächen in abwehrender Haltung in Richtung Mauer. Oben auf dem Sims war auf den ersten Blick nur eine große Kamera zu sehen, deren Objektiv an den Maschendrahtzaun gedrückt wurde. Die Kamera verschwand, um ein paar Sekunden später, einen Meter entfernt, wieder aufzutauchen. Von dort versprach sich der Kameramann wohl eine bessere Sicht auf das Opfer.

»Jetzt ist aber Schluss!« Sattler ging zur Mauer und hielt das Klemmbrett mit seinen Notizen vor die Kamera.

»Da steht Bröding«, ließ sich der Kameramann vernehmen, während er weiter das Objektiv auf die Notizen richtete. Er schien diese Infos an eine zweite Person hinter der Mauer weiterzugeben.

»Kacke!« Sattler drehte das Klemmbrett um, weil die Aufzeichnungen nass wurden.

Der Mann mit der Kamera verschwand.

Augenblicklich stürmte Gabi los und folgte Grabbe, der die Einfahrt runter zur Straße rannte. Während ihr Kollege auf dem Bürgersteig blieb, kürzte sie über die aufgeweichte Wiese vor der Synagoge ab und holte Grabbe an der Ecke der Schule ein.

Beide schauten schnaufend dem zitronengelben Smart hinterher, auf dem das Logo von Tele Mosel prangte.

Nachdem es erneut geklingelt hatte, kam nebenan vor dem Tor zum Schulhof Bewegung in eine Gruppe Jugendlicher. Einige entsorgten ihre Zigaretten im Aschenbecher an der Bushaltestelle und bewegten sich Richtung Schulhof. War der Knabe, der ihn im Vorbeigehen angrinste, nicht derjenige, den er vorhin auf der Mauer gesehen hatte? Grabbe war sich nicht ganz sicher. Wahrscheinlich hatte er das Foto vom Handy gleich an Tele Mosel weitergesendet. Wer weiß, wo der grausige Anblick demnächst noch im Netz zu sehen sein würde. Aber darum konnte Grabbe sich nicht kümmern, sie hatten einen Mord aufzuklären. Er war froh, die Schwächephase von vorhin überwunden zu haben.

Zurück in der Einfahrt zur Villa stampfte Gabi kräftig auf, um ihre Schuhe von den hartnäckig haftenden Lehmbrocken zu befreien. »Ich dachte, samstags haben die Schulen geschlossen?«

»Haben sie auch«, bemerkte Grabbe. »Nur heute wird irgendein Tag ausgeglichen. Ich glaube, der Fastnachtsdienstag, für den kein beweglicher Ferientag mehr zur Verfügung stand.«

»Wer von euch möchte mit hochkommen?«, fragte Walde, der an der Haustür unter einem von Säulen gestützten Vordach gewartet hatte. »Zu Frau …«, er beugte sich zu den beiden Schildern an der Klingel hinunter.

»Isabelle Neumann«, half Grabbe. »Sie hat den Toten … sie hat angerufen.«

»Was ist mit seiner Frau?«, fragte Gabi. »Wer fährt dahin?«

»Ist er denn verheiratet?« Waldes rechter Zeigefinger wanderte zur Klingel.

»Du kennst ihn nicht?« Gabi legte eine Hand auf seinen Unterarm.

»Ich hab schon von ihm gehört. Er ist Anwalt und sitzt im Stadtrat.«

»Dann lass‘ uns zu seiner Familie fahren, bevor sie es aus den Medien erfährt.«

Nach dem Klingeln sah Grabbe den Kollegen hinterher. Es dauerte eine Weile, bis sich eine Frauenstimme an der Gegensprechanlage meldete.

Als die Haustür per Türsummer geöffnet wurde, besah sich Grabbe das Schloss und den Rahmen. Auf dem Weg zur Treppe kam er am opulenten Eingang zur Kanzlei vorbei. Hinter den Glasfenstern im oberen Bereich des Rahmens war es dunkel. Auch hier waren keine Spuren von gewaltsamem Eindringen zu erkennen.

Beim Treppensteigen ließ Grabbe die Fingerspitzen seiner linken Hand entlang der leicht erhabenen Blütenwelle auf der Wandbordüre gleiten. Oben erwartete ihn in der überdimensioniert wirkenden Wohnungstür eine junge Frau.

»Frau Neumann, Isabelle Neumann?« Sie nickte und reichte ihm die Hand. Grabbe wurde bewusst, wie kalt seine war, als er ihre Wärme spürte. »Sie haben uns angerufen?«

»Kommen Sie herein.«

»Danke.« Grabbe knöpfte seinen Parka auf und blieb unschlüssig auf der Fußmatte mit dem hellen Tuch stehen. »Ich ziehe besser meine Schuhe aus.«

»Das geht schon. Geben Sie mir Ihre Jacke.«

Während sie den Parka über einen Kleiderbügel hängte, kniete sich Grabbe und begann, mit seinen vor Kälte steifen Fingern die nassen Schnürsenkel zu lösen. Es dauerte eine Weile und beim zweiten Schuh blieb ein dicker Knoten zurück. Nur auf Strümpfen versuchte er, den kleinen Pfützen auszuweichen, die seine Schuhe bereits auf dem Parkett hinterlassen hatten.

»Kommen Sie bitte mit in die Küche.« Sie ging über die knarzenden Dielen voraus.

Auf dem weiteren Weg schaute er durch eine der offenen Türen. Eine in ein dunkles Kleid gehüllte Gestalt stellte sich nach kurzer Irritation als Schneiderpuppe heraus.

In der geräumigen Küche fiel sein Blick auf den im Schachbrettmuster gefliesten Boden. Der Belag schien noch aus den Anfangszeiten des Hauses zu stammen. Die Einrichtung bestand aus einer Kombination aus alten Möbeln und edler Küchentechnik. Als Isabelle Neumann ihm einen Platz an dem Holztisch anbot, wählte er den Stuhl an der Heizung neben dem Fenster.

»Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«

»Danke.« Eigentlich hatte Grabbe es mit ein paar Sätzen an der Tür bewenden lassen wollen, aber nun saß er hier in der warmen Küche.

Sie schenkte ihm aus einer Keramikkanne auf einem Stövchen ein und legte einen Löffel neben Grabbes Tasse. Eine Dose mit Kandiszucker stand auf dem Tisch.

»Danke.« Grabbe wärmte sich vorsichtig die Hände an der heißen Tasse. »Sie haben die Polizei alarmiert?«

Sie nickte. Aus der Nähe verrieten die kleinen Fältchen unter ihren Augen, dass sie deutlich älter sein musste als die dreißig Jahre, auf die er sie zuerst geschätzt hatte.

Mit dem Löffel balancierte er einen Brocken Kandis in seine Tasse. »Haben Sie heute Nacht … ist Ihnen irgendwas aufgefallen?«

»Heute Morgen … als ich aus dem Fenster …« Sie stand auf. Vor der Spüle blieb sie stehen. »Wollen Sie es sehen?«

Grabbe ließ den Löffel in der Tasse und stand ebenfalls auf. Sie hätten sich eigentlich erstmal unterhalten und er sich aufwärmen können, aber nun folgte er ihr in die Diele. Und diesmal erlaubte er sich, ihre Figur von hinten zu betrachten, deren weibliche Rundungen in der engen Kleidung deutlich zur Geltung kamen. Als sie an der offenen Tür vorbeikamen, schweifte sein Blick wieder in den Raum mit der Schneiderpuppe. Nun sah er auch die hellen Regale an den Wänden, Billy von Ikea. Hinter den Glastüren lagerten verschiedenfarbige Stoffballen. Über einem Arbeitstisch schien eine Lampe auf eine Nähmaschine, aus der rostroter Stoff bis zum Fußboden hinunter hing. Isabelle Neumann hatte gerade ihre Arbeit unterbrochen.

Sie öffnete eine weitere Zimmertür. Grabbe beschleunigte seine Schritte, um zu ihr aufzuschließen. Es folgte ein großes, minimal möbliertes Schlafzimmer mit einem gemachten Bett zwischen zwei Nachtschränkchen. Eine an Drähten schwebende Lampe warf ein gelbliches warmes Licht auf die gegenüberliegende Wand.

Während die Frau mitten im Zimmer stehen blieb, sah Grabbe zwischen den Pflanzen auf der Fensterbank hindurch hinunter zum Hof, wo zwei dunkel gekleidete Männer einen geschlossenen Metallsarg davontrugen. Zurück blieb eine große, bereits verdünnte Blutlache, die der Regen über feine Verästelungen zwischen dem Pflaster leitete wie Wasser am Strand, das ein Kind durch selbst gegrabene Rinnen abfließen lässt.