Arafat-Interview auf eigene Faust - Peter Heinze - E-Book

Arafat-Interview auf eigene Faust E-Book

Peter Heinze

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Beschreibung

Vom Zentralen Runden Tisch als "Schule der Demokratie" über den Fahrplan Deutsche Einheit bis zur Glanzrolle Hape Kerkelings als "Königin Beatrix" vor dem Berliner Schloss Bellevue berichtet Peter Heinze in seinem Buch "Arafat-Interview auf eigene Faust". Der langjährige ostdeutsche Journalist war Zeitzeuge vieler nationaler und internationaler Brennpunkte. Er schildert weitere Höhepunkte seiner Arbeit in der DDR-Nachrichtenagentur ADN und ab 1992 als Freier Journalist für Zeitungen in Ost und West. So aus der DDR-Wendezeit den "Sturm" auf die Stasi-Zentrale und den Machtmissbrauch führender SED-Politiker. Dann beschreibt der Autor den Aufbau Ost, die Armee der Einheit sowie Umwelt-Initiativen. Auch der Journalismus gestern und heute wird beleuchtet. Überhaupt standen die friedliche Revolution im Osten und die Wiedervereinigung im Mittelpunkt seiner Tätigkeit.

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PETER HEINZE

Arafat-Interview auf eigene Faust

Als ostdeutscher Journalist an Brennpunkten und Schauplätzen

VERLAG HEINZE

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage: Januar 2018

Verlag Heinze

Postfach 1253, 99302 Arnstadt

Email: [email protected]

Gestaltung: Heiko Freitag

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Fotonachweis im Anhang

ISBN 978-3-00-057711-6

Alle Rechte vorbehalten

Mein besonderer Dank gilt den Berufskollegen, die dem jungen Volontär mit Gesellenbrief auf seinem Weg ins Journalistenleben mit Rat und Tat zur Seite standen.

Ein Arafat-Interview ohne vorherige Absprache mit der Zentrale? Auf diese Initiative ihres Kairoer Korrespondenten reagierte die Nachrichtenagentur ADN in Berlin mit scharfer Kritik, weil der PLO- Führer 1971 kein Lob für die Sowjetunion im Nahost-Konflikt fand. Nur ein Beispiel aus dem Journalistenleben von Peter Heinze. Als Jahrgang 1941 hat er die DDR mit Höhen und Tiefen erlebt: Die Aktivistenbewegung nach dem Krieg, Versorgungsengpässe, die Beat-Demonstration in Leipzig, den Machtmissbrauch führender SED-Politiker, den "Sturm" auf die Stasi-Zentrale und den Runden Tisch als "Schule der Demokratie".

Unvergessen seine Begegnungen mit Turn-Legende Benedix, Kosmonaut Jähn, Star-Anwalt Kaul und Ministerpräsident de Maiziére, Bischof Hubers erstes Interview im Amt oder die Würdigung des deutschen Widerstands durch Frankreichs Verteidigungsminister Leotard. Ebenso der riesige A-cappella-Chor 1960 in Leipzig für den westdeutschen Bahnrad-Weltmeister Rudi Altig. An Erlebnisse in Ägypten, Zypern, Dänemark, Österreich, Schweden, Nordkorea, Vietnam, Indonesien und anderen Ländern kann er sich auch gut erinnern.

Für den Nachrichtenredakteur bildeten die friedliche Revolution im Osten und die Wiedervereinigung Höhepunkte seiner langjährigen Tätigkeit. So der Fahrplan in die deutsche Einheit, der Aufschwung Ost, die neuen Bundeswehr-Strukturen. Der Landschaftsschutz als Lebensgrundlage, das entzauberte Vogelzug-Phänomen oder die Entwicklungshilfe haben ihn auch beschäftigt.

Der Autor gibt Einblick in das Innenleben des ADN, einst staatliche Agentur und ab 1990 GmbH. Der Redakteur für Sport, Politik und Militär bestaunte bei den Motorrad-Six- Days 1964 in Thüringen das US-Team mit Hollywoodstar Steve McQueen, hörte die SED-Weisung: Bundesrepublik Deutschland jetzt "Ausland wie Afrika!" Beim Militär spürte er Moskaus Kriegsbereitschaft mit 24 Divisionen zu Land und in der Luft sowie vielen Nuklearraketen in der DDR, bei deren Abzug er Zeuge wurde.

Seine Sternstunden des Humors: Hape Kerkeling als "Königin Beatrix" und Parteigründung "auf berlinisch", der Ost-Volkssport "Schlange stehen" und Tassen für Linkshänder. Gelehrt hatte man ihn: "Vom Ich zum Wir!" Heute lautet seine Marschroute: "Vom Wir zum Ich!" In Wort und Bild viel Informatives, aber auch Unterhaltsames aus bewegten Zeiten.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Danksagung

Über das Buch

VORWORT

1. In jungen Jahren in ARNSTADT (1941-1958)

Lieber Trockenbrot, als nur einen Tag Krieg

Mycel-Wurst mit Beigeschmack

Die vom Niederrhein im Arnstädter Boxring

Meine Jugendliebe – ein Rennrad

Vom Leserbrief zum Stadtgespräch

Klassenkampf auf Dächern: “Aktion Ochsenkopf”

Der junge Bach in Arnstadt mit Dissonanzen

"Mon Plaisir" vor zwei Besatzungsmächten gerettet

2. Mein LEIPZIG lob´ ich mir (1959-1966)

Opern nahe gebracht mit Wagners Schaffen

Leipziger Messe mit “goldenem” Poppa-Ski

LVZ-Chef: Unter uns ein Nicht-Genosse!

Sektgläser zerschellten zur Grundsteinlegung

Kollektivierung in Eilenburgs Dörfern

Von wegen: „Anruf genügt, Handwerker kommt!“

Verbesserungsvorschlag beim Arbeitseinsatz

Messe-Rundgang mit Walter Ulbricht

Studenten vom “Spötter”-Kabarett im Gefängnis

„Haben Sie eine Beatles-Platte?“

Drama: Gummiknüppel gegen Musik-Fans

Sportlegende Benedix bereicherte Turnkunst

Rudi Altig, deutsche Hymnen und Kalter Krieg

Treffpunkt “Feuerstuhl” am Frohburger Dreieck

3. Viele Jahre ein BERLINer (1964-65, 1966-2012)

3.1. ADN

Staatliche Nachrichtenagentur wieder GmbH

Mein Chef aus einer deutsch-jüdischen Familie

CIA-Spionage im ADN

Karl Marx „langweilig und lebensfremd“

Korrespondenten würdigen 750. Berlin-Jubiläum

Eine Zeitungs-Ente als „Weltsensation“

SED: Bundesrepublik nun “Ausland wie Afrika”

Protest im Großraum gegen Honecker-Meldung

3.1.1. Sport

Reger Trainingsbetrieb in der DHfK

DDR-Trainer als Sendboten Olympias

Eine Olympia-Bronzemedaille, die Gold wert ist

Kinderspartakiade mit Rekorden

Ringarzt: Kopfschutz, aber ohne Kopfschutz

Kein Winterschlaf bei „Simson“-Sport

3.1.2. Politik

Interview mit Arafat auf eigene Faust

Schiffstaufen als Volksfeste in Alexandria

Ein Fellachentraum wird Wirklichkeit

Kanonenschläge als „Zeitzeichen“

Karpfen aus dem Nasser-See

Jähn-Interview zum Weltraumflug

Enge Zusammenarbeit mit Zentralbild

Aktivist Hennecke erst spät ein “Held der Arbeit”

3.1.3. Militärpolitik

Das militärische Element in der Nachrichtenagentur

Geburtstagsfeier beim „Hubschrauberbaby“

Bundeswehr-Manöverbeobachter bei der NVA

Generale im Volvo, Kommandeure im “Trabi”

NVA-Luftwaffe: Hausverbot wegen “Falschmeldung”

Als „Genosse Dr.“ in der NVA verboten war

Lilienthals Fluggeräte begeistern junge Flieger

Wehrmacht aus ostdeutscher Sicht

Zeuge beim Abzug von Nuklearraketen

3.2. Als Sonderkorrespondent unterwegs

Zur Fünfkampf-WM nach Schweden

“Klassen- und Waffenbrüderschaft” mit UdSSR

Riesige Waffenarsenale nach Vietnam-Krieg

Heimstatt „Rose“ für Kambodschas Waisenkinder

Strom für die Bauern von Vientiane

Beim “Großen Führer” in Nordkorea

Beförderung in Österreich: „Herr Chefredakteur!“

Geteilte Hauptstadt auf Zypern

3.3. Ohne Berlinern an der Spree

Tassen für Linkshänder

Man sollte nicht immer Kavalier sein

An Betriebe verkaufen wir nicht!

3.4. „Horch & Guck“ allgegenwärtig?

Die Stasi hörte uns ab

Mielke: Mit Hass am Feind arbeiten

Mit Bürgerrechtlern im Nasi/Stasi-Hauptquartier

15. Januar 1990: “Sturm” auf die Stasi-Zentrale

Zuchthaus für Erfurter Karikaturist “Ali”

4. Die politische WENDE (1989-1990)

So erlebte ich den Mauerfall

Mit dem Begrüßungsgeld in Dänemark und Schweden

Runder Tisch eine “Schule der Demokratie”

ADN bei Koalitionsverhandlungen am schnellsten

Neu in der DDR: Freie Volkskammer-Debatten

Vom Beamtenentwurf zum Einigungsvertrag

Rehabilitierung der oppositionellen Harich-Gruppe

Machtmissbrauch führender SED-Politiker

Vertrauensmann wurde FDGB-Chef mit Jagdgebiet

Letzter NVA-Befehl: “Einholen der Truppenfahne”

5. DEUTSCHE EINHEIT (ab 1990)

Neue Länder kippten SPD-Bundesratsmehrheit

Ein Stimmzettel in Sachsen, drei in Berlin

DDR-Führungsbunker nun ein Technisches Denkmal

Viele Strausberger bei der Bundeswehr

Lob für Heimatschutzbrigade “Brandenburg”

Kompass der Nato signalisiert neuen Kurs

Nato-Generalsekretär in Berlin: “Historischer Besuch“

In Friedensmission mit AWACS über Europa

Schützenpanzer vor Honecker-Hospital

Golf-Krieg 1991 aus meiner Sicht

Ost-Offiziere an Akademie der Bundeswehr

Hape Kerkeling als "Königin Beatrix"

Wallfahrt zur Mozart-Stadt an der Salzach

6. Als FREIER JOURNALIST ein Allrounder (ab 1992)

6.1. Berliner Alltag

Bischof Hubers erstes Interview im neuen Amt

Ehemaliger Thüringer als Professor im „Trichinentempel“

Parteigründung "auf berlinisch“

Lichtenberg nun Randbezirk Berlins (Dokumentation)

Bürger: BBI-Flughafengesellschaft täuscht uns

"Pilzkonzept" für Bahnmetropole Berlin

Berliner Fußballer mit Roboterintelligenz

Hunderte Düfte im Parfümtröpfchen

6.2. Aufschwung im Osten

Braunkohlenstaub als künftiger Energieträger?

Rückbesinnung auf "Leipziger Allerlei"

Holz für wachsenden Wirtschaftszweig

6.3. Umwelt

"Windmüller" setzen auf Großkraftanlagen

Gestern Tagebaurestlöcher, heute Badeseen

Succow: Landschaftsschutz als Lebensgrundlage

Naturschutz und Jägerpassion

Phänomen des Vogelzugs entzaubert

Fontanes „grüne Haine des Reisens“

6.4. Militär

Neue Kameraden, neue Uniformen, neuer Geist

Über Generalinnen und andere Frauen

Größte Militärbewegung im Nachkriegs-Europa

Französischer Minister ehrte deutschen Widerstand

Todesstreifen verlor 1995 seinen Schrecken

Gelungene Ost-West-Integration in der Truppe

Vor der Einheit: Unsere Heimat ein Gefechtsfeld?

Mit Abrüstung von Konfrontation zur Kooperation

Letzte SA-6-Rakete in Pinnow zerstückelt

Südafrika ohne A-Waffen - Wegweiser für Dritte Welt?

“Feldpost” der Bundeswehr aus Somalia

6.5. Land & Leute

Deutschland auch “postalisch eins”

Fundgrube für Trabi, Schwalbe & Co

Leipzig gibt Büchern eine Zukunft

Radsport-Museum: “Täve” dicht umlagert

Von der Pressekonferenz nach Bali

Deutschland hilft Vietnam

Indische Bauern wollen Monsun “überlisten”

Mit Mikrosatelliten gegen Heuschrecken

7. ANHANG

Abbildungsverzeichnis und Text zu Fotos

Personenregister

Autorenporträt

VORWORT

Nach mehr als fünfzig Jahren Tätigkeit ist wohl ein jeder Journalist geneigt, auf sein meist bewegtes Leben etwas ausführlicher zurückzublicken. Und Besinnung zu halten. Auch mir, Jahrgang 1941, geht das so. Obwohl ich doch in der kleinen DDR gelebt habe. Aber sofort fallen mir bei dieser Denkpause mehrere Brennpunkte und Schauplätze in Deutschlands Osten ein. Auch von Aufenthalten im Ausland. Lange hielt ich mich in und um Leipzig und Berlin auf. Das waren die "Hauptstationen" auf dieser Journalisten-Reise.

Den eigentlichen Höhepunkt - inzwischen schon über ein Vierteljahrhundert her - bildete zweifellos die friedliche Revolution hierzulande. Während der Friedensgebete unter dem schützenden Dach der Kirchen wurde zu Ruhe, Besonnenheit und Gewaltlosigkeit aufgerufen. Da die vielen unzufriedenen und vom Sozialismus enttäuschten Bürger, die sich immer mehr mit den Bürgerbewegungen solidarisierten, friedlich und meist mit Kerzen in der Hand für Freiheit und Demokratie demonstrierten, nirgendwo Fensterscheiben zu Bruch gingen oder Läden geplündert wurden, konnte man durchaus von einer "Kerzenrevolution" sprechen. Ihre Losungen: "Keine Gewalt" und "Dialog". Wann hat es das in Deutschland schon gegeben?

Es fiel kein einziger Schuss. Weder die Nationale Volksarmee noch die Betriebskampfgruppen gaben sich dafür her, der Empörung auf der Straße und in Betrieben Einhalt zu gebieten. Oft waren es ja die eigenen Familien und Kinder, die nach den Wahlfälschungen vom Mai 1989 öffentlich gegen die SED-Diktatur protestierten. Ohne den Einsatz sowjetischer Streitkräfte unter Präsident Michail Gorbatschow musste sich auch die Staatssicherheit als Bürgerkriegsarmee zurückhalten. Festungen wie die Berliner Normannenstraße oder die "Runde Ecke" in Leipzig wurden von Bürgerrechtlern kampflos übernommen. Schon hier zeichnete sich ein unblutiger Systemwechsel ab.

Ohne Übertreibung: Aus einem nationalen Konflikt hätte schnell ein internationaler entstehen können. Und für den scharfen Schuss standen auf deutschem Boden bis zu 1,5 Millionen Soldaten aus Nato und Warschauer Pakt Gewehr bei Fuß: Deutsche in Ost und West, Russen, Amerikaner, Briten, Franzosen, Belgier, Niederländer, Kanadier. Mit ihrer Bewaffnung, darunter viele Kernwaffen beiderseits der deutschen Teilungslinie, wäre in einem Krieg ganz Mitteleuropa in eine Wüste verwandelt worden. Darin sind sich heute alle Militärs einig.

Wie andere Journalistenkollegen der DDR habe ich in all den Jahren so manche Höhen und Tiefen in der Politik miterlebt. In einem Staat, der mir von der Lehrausbildung bis zum Hochschulstudium und danach die Möglichkeit eines gesicherten Berufslebens bot. Ich bin dabei ohne Konflikt mit der Staatsmacht davon gekommen. Hatte wohl auch stets vertrauenswürdige Chefs und Kollegen auf meiner "Laufbahn" vom Fleischer mit Abitur im Volontariat bis zum Redakteur in der ADN-Zentrale an meiner Seite. Ich könnte hier eine ganze Reihe von Namen nennen. Gerade ihnen - und das waren viele gute Menschen - möchte ich bei dieser Bilanz ein großes Dankeschön sagen!

Andere Mitbürger, besonders Andersdenkende, die angesichts des reformunwilligen Systems nach Alternativen in Richtung Friedenspolitik, Abrüstung und Umweltfragen suchten, Meinungsfreiheit und demokratische Mitbestimmung einforderten, hatten nicht dieses Glück. Sie haben demzufolge ganz andere Erinnerungen an diese Zeit. Wie ich heute weiß, saßen aus politischen Gründen zwischen 1945 und 1989 etwa 280000 von ihnen in ostdeutschen Gefängnissen ein. Und noch mehr kritische Bürger, ebenfalls unzufrieden mit dem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umfeld unter den SED-Betonköpfen, wurden verfolgt. Viele flüchteten dann in den Westen.

Ein Journalist kann also nach all den abwechslungsreichen Jahren in der DDR und danach im wiedervereinten Deutschland bei diesem persönlichen Innehalten auch Bilanz aus seinen Erlebnissen und Erfahrungen ziehen. Dann überlegt er messerscharf, was wohl die Höhepunkte in seiner Arbeit waren, mit welchen Persönlichkeiten er zusammentraf, wohin ihn die Auslandsreisen geführt haben. Und überhaupt: Was hat er aus der Vergangenheit für die Gegenwart gelernt.

Unvergessen bleibt mir auch die Kritik aus Berlin, weil ich 1971 als Kairoer Korrespondent auf eigene Faust ein Interview mit PLO-Chef Yassir Arafat geführt habe. Ohne vorher, wie üblich, die ADN-Zentrale zu informieren und meine Fragen bestätigen zu lassen. Das war ganz schön waghalsig. Wobei dann in Arafats Antworten die Sowjetunion und ihre Aktivitäten im Nahen Osten - und darum ging es bei der Kritik - aus ganz anderen Gründen keine Rolle gespielt haben. Unverzeihlich zu dieser Zeit in der DDR-Medienlandschaft! Der Hintergrund: Ägyptens Kurswechsel in Richtung Westen.

Ein anderes Beispiel: 1967 überbrachte uns ein Redaktionsleiter die Weisung aus dem SED-Zentralkomitee, die Bundesrepublik sei "Ab sofort!" Ausland. „Ja, wie ein Land in Afrika!“ Eigentlich ein Witz angesichts der millionenfachen familiären und kulturellen Bande mit dem anderen Deutschland. Aber mit den Lieblingsfeinden weit weg auf einem anderen Kontinent wäre es dem deutschen Staat der Arbeiter und Bauern offensichtlich besser gegangen: Kein West-Fernsehen! Keine "Bedrohung" durch die Bundeswehr! Null Pakete mit der Aufschrift „Keine Handelsware“ von drüben! Vielleicht dann nicht mehr die Entschlossenheit vieler Ostdeutscher, wenn nötig, im anderen Teil Deutschlands eine sichere Zukunft zu suchen.

Begonnen hatte meine journalistische Tätigkeit mit einigen Beiträgen auf der Kreisseite der Zeitung "Das Volk" und für die DHfK-Hochschulzeitung "Der Speer". Der Volontär der Bezirksredaktion des ADN in Leipzig traf 1961 zufällig Partei- und Staatschef Walter Ulbricht beim Messerundgang. Später erfuhr er im ersten vollgenossenschaftlichen Kreis Eilenburg Einzelheiten der Zwangskollektivierung oder wurde mit den Worten "Unter uns ist ein Nicht-Genosse" als Gast einer LVZ-Redaktionssitzung ausgeschlossen. Im ADN-Team Leipzig fühlte sich der Verehrer vom Rasenden Reporter Egon Erwin Kisch, seinem großen Vorbild, fast wie zu Hause. Er hat dort viel gelernt.

Nach dem Journalistik-Studium an der Leipziger Karl-Marx-Universität begann 1966 meine Arbeit in der ADN-Sportredaktion. Darauf hatte ich mich langfristig bei der Berichterstattung über Welt-, Europa- und DDR-Meisterschaften an der Seite erfahrener Kollegen vorbereitet. Bei der WM im Fünfkampf 1967 in Jönköping (Schweden), meinem ersten Auslandseinsatz, erlebte ich noch ost- und westdeutsche Trainer und Aktive beim Erfahrungsaustausch.

Die Arbeit in der Politik-Redaktion führte mich, wie erwähnt, von 1971 bis 1973 als Korrespondent nach Kairo. Hier befand ich mich plötzlich im Zentrum des Nahost-Konflikts mit all seinen gefährlichen Seiten. Denn das Land war im Inneren nach dem Sechstagekrieg 1967 noch immer im Kriegszustand. Ich lernte hier auch den früheren Deutschland-Korrespondenten der französischen Zeitung „Le Monde“ Roland Delcour kennen. Ihn hatte ich zu Hause oft im Internationalen Frühschoppen der ARD erlebt, kannte seine Meinung mit nachvollziehbaren Aussagen über die DDR. Er hatte auch das Treffen Stoph - Brandt 1970 in Erfurt in Richtung deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten kommentiert.

Eine andere geteilte Hauptstadt in Europa sah ich im Mai 1987 in Nikosia auf Zypern. Der Anlass meines Aufenthalts war die Berichterstattung über eine DDR-Militärdelegation auf Einladung des Verteidigungsministers Elias Eliades mit einer Visite beim Präsidenten, Spyros Kyprianou. Ich stand auch am Niemandsland zwischen den von Griechen und überwiegend von Türken bewohnten Stadtteilen, der sogenannten Green Line, wo UNO-Soldaten Wache hielten und den Frieden sicherten. Hier verlief zwar keine Mauer wie in Berlin, aber es war auch eine hochbrisante Trennlinie - kein schöner Anblick auf dieser herrlichen Insel. In der Sperrzone seit der Teilung Zyperns 1974 sah man viele Hotel-Ruinen. Die DDR unterstützte den Kampf des zyprischen Volkes zur gerechten, friedlichen und dauerhaften Lösung des Zypern-Problems unter UNO-Schirmherrschaft.

In der kleinen ADN-Militärredaktion erfuhr ich später, dass sich die Marschälle in Moskau die Aufsicht über ihre einstigen Zöglinge, inzwischen Generale und Oberste der NVA, nicht aus der Hand nehmen ließen. Definitiv geschah diese Kontrolle über das DDR-Militärwesen bis zu den ersten freien Volkskammer-Wahlen im März 1990. Obwohl im Verteidigungsministerium treue SED-Mitglieder dienten, konnte nun ein konservativer Abrüstungsminister bis zur deutschen Wiedervereinigung deren Unzufriedenheit mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik im Land für seine Interessen nutzen. Wie ich sah, gab es hier beim Personal nicht viele neue Gesichter.

Mein zweites Leben, nun in der Bundesrepublik Deutschland, begann für mich nicht erst am 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Einheit, oder schon zum Mauerfall am 9. November 1989. Aber wie bei vielen anderen Bürgern fing für mich der Beitritt, jedenfalls innerlich, schon vorher an. Mit den Erlebnissen am Zentralen Runden Tisch in Berlin-Pankow und von der letzten Volkskammer, über die ich mit anderen ADN-Kollegen ausführlich berichtet habe.

Den jahrzehntelangen Einfluss von Rundfunk und Fernsehen aus dem Westen auf einen Ostdeutschen lasse ich hier mal weg. Ebenso die Lektüre westdeutscher Autoren oder amerikanischer Prosa. Solche Bücher, heute noch in meinen Regalen, erschienen hier in Lizenz. Meist gehörten sie zur "Bückware". Sie waren für mich ein Blick durch ein Fenster in die große, weite Welt. Kein "Blick zurück im Zorn".

Zur Neugier auf das Kommende trugen besonders meine Journalistengespräche mit ostdeutschen Bürgerrechtlern bei, die nicht nur an Runden Tischen mutig für das Ende der Vormundschaft einer allmächtigen Staatspartei auftraten. Dann das Zusammentreffen mit Berufskollegen "von drüben" bei politischen Terminen, oft mit dem Austausch persönlicher Meinungen verbunden. Später kamen Begegnungen mit Offizieren der Bundeswehr hinzu.

Rückblickend kann ich sagen: In dieser dramatischen Zeit des Umbruchs und der Revolution habe ich mich recht wohl gefühlt. Auch weil die allgegenwärtigen politischen Kontrolleure, insbesondere in der Medienbranche, verschwunden waren. Und keiner hat sie vermisst! Schon damals wehte im ADN, dann die ADN GmbH, ein frischer Wind. Obwohl doch in unserem Großraum aus technischen Gründen die Fenster nur selten geöffnet wurden.

Als Sonderkorrespondent habe ich zahlreiche Delegationen, auch von Militärs, ins Ausland begleitet: Nach Österreich, Zypern, Laos, Kambodscha, Vietnam, Nordkorea, in die Sowjetunion und andere sozialistische Länder. Auch nach Indonesien hat mich eine Journalistenreise geführt. Besonders gern denke ich an den Aufenthalt beim österreichischen Bundesheer zurück. Nicht nur, weil der ADN-Berichterstatter dort als "Herr Chefredakteur!" angesprochen wurde. Auf einem Truppenübungsplatz bei Salzburg sah ich beeindruckende Gefechtsübungen als Bestandteil der Landesverteidigung.

Äußerst interessante Gesprächspartner in der DDR waren für mich Kosmonaut Sigmund Jähn und, Jahre zuvor, "Staranwalt" Professor Friedrich Karl Kaul (1906-1981). In dessen Berliner Kanzlei erhielt ich vor unseren Gesprächen, meist über sein antifaschistisches Engagement bei Prozessen in der Bundesrepublik, einen Einblick in effektive Büroarbeit: Nacheinander hat er mit Leichtigkeit zwei oder drei Sekretärinnen seine Texte diktiert. Schließlich war der Herr mit der dicken Brille, der im DDR-Fernsehen die Rechtssendung "Fragen Sie Professor Kaul" leitete, preisgekrönter und humorvoller Autor von Romanen, Pitavals und Hörspielen.

Ebenso denke ich an den letzten DDR-Ministerpräsidenten zurück. Seine Erfahrungen als Anwalt und Kirchenfunktionär kamen hier dem revolutionären Prozess und danach den neuen Bundesländern zugute. Später sagte mir Lothar de Maizière (CDU), dass er mit seiner Haltung auch "viel Ärger" im Westen bekam. Mit seiner stellvertretenden Regierungssprecherin, Angela Merkel, heute Bundeskanzlerin, bin ich 1990 wiederholt im Alten Stadthaus nach Kabinettssitzungen zusammengetroffen, über deren Inhalt sie den ADN-Reporter informiert hat. Ihre damalige dienstliche Telefonnummer steht in einem meiner Notizbücher von einst.

Mit all diesen Persönlichkeiten konnte sich der ostdeutsche Pressevertreter auf Augenhöhe unterhalten. Das war bei „Promis“ in der DDR nur selten der Fall. Die meisten hohen NVA-Generale sahen in einem Journalisten immer einen unsicheren Kantonisten. Ein Generalleutnant der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung erteilte mir sogar Hausverbot, weil ich angeblich über eine NVA-Raketenbrigade falsch berichtet hätte. Was aber nicht stimmte. Den Text meiner Meldung hatte zuvor der Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigt.

Alles Geschichte und Geschichten, heute nur noch Erinnerungen. Nach der Wende und zahlreichen Entlassungen in unserem Haus wurde der ADN-Fachredakteur ein Allrounder. Auch Mitglied der Bundespressekonferenz e.V. mit einem Postfach im Internationalen Pressezentrum (IPZ) in der Mohrenstraße, zu dem er vorher keinen Zutritt hatte.

Im April 1991 sah ich, wie vor dem sowjetischen Militärhospital Beelitz ein aufmunitionierter Schützenpanzerwagen den flüchtigen Erich Honecker vor der deutschen Justiz und empörten Bürgern geschützt hat. Gefragt waren auch meine Einschätzungen des Golf-Krieges 1991 gegen den Irak. Der Zentrale Runde Tisch und die neue Volkskammer verlangten erst recht soliden Journalismus. Beim Publizistikwissenschaftler Emil Dovifat und in anderen Büchern aus dem "Giftschrank" der Journalistik-Fakultät hatte ich dafür Quellen studiert.

Als Freier Journalist gehörte dann die Berichterstattung über die Herbstsynode 1993 der größten ostdeutschen Landeskirche in Berlin zu meinen ersten Terminen auf einem ganz anderen Gebiet. Hier gewährte mir der eben gewählte Bischof Dr.Wolfgang Huber zum Abschluss sein erstes Interview in diesem Amt. Und auf meinem Laptop hat er den Text autorisiert.

Danach habe ich regelmäßig in allen neuen Bundesländern recherchiert und darüber berichtet. Zuerst für den Deutschen Zeitungsdienst/Presseplan in Bonn bis 2006, dann für Zeitungen in Brandenburg und Thüringen. In meinen Berichten und Reportagen, von west- und ostdeutschen Zeitungen abgedruckt, befasste ich mich mit Wirtschaft, Landwirtschaft, Wissenschaft, Militär, Forsten, Umwelt, Land & Leuten sowie der Hilfe für die Dritte Welt. An vielen Beispielen konnte ich den erfolgreichen Aufbau Ost als gesamtdeutsches Anliegen sichtbar machen.

Fazit: Früher hieß es auch für Journalisten: "Vom Ich zum Wir". Daraus wurde für mich unter den neuen Bedingungen als Freier Journalist: "Vom Wir zum Ich". Mit allen Vor- und Nachteilen als Selbstständiger, Büroleiter, Selbstfahrer, Steuerzahler. Aber ohne Kontrolle durch selbst ernannte Besserwisser. Was für ein schönes Gefühl bei diesem Rückblick!

1. In jungen Jahren in ARNSTADT (1941-1958)

Lieber Trockenbrot, als nur einen Tag Krieg

Als Jahrgang 1941 habe ich noch eine besondere Erinnerung an den 2. Weltkrieg: Meine Mutter drohte mir im Februar 1945 im Luftschutzkeller, wo ich wohl längere Zeit geheult und damit "Lärm" verursacht hatte, was verboten war, dass ich nun ganz allein in der großen, dunklen Hauseinfahrt des Mehrfamilienhauses an der Ecke Klausstraße/Kleine Klausgasse bleiben müsse, bis ich wieder ruhig sei. Vor diesem Alleinsein hatte ich große Angst. Da war ich plötzlich wieder ganz artig, durfte mit ihr weitere Stunden bei den anderen Familien im Keller vor den Luftangriffen ausharren.

Noch herrschte Krieg. Immer wieder gab es Fliegeralarm. Und noch fürchteten sich alle Arnstädter vor den militärischen Angriffen auf die Stadt. Vor allem wie am 6. Februar 1945 vor den Bomben aus der Luft. Ein Haus war völlig zerstört worden.

Dann erinnere ich mich an die Amerikaner. Sie kamen im April 1945 als Befreier vom Nationalsozialismus in meine Geburtsstadt, wurde mir später erklärt. So endete im ältesten Ort Thüringens, 704 erstmals urkundlich erwähnt, dieser Krieg. An jedem Haus musste als Zeichen der Kapitulation ein weißes Tuch an einem Fenster angebracht werden. Meist waren das Bettlaken. Wenn ich mich recht erinnere, lief ein Uniformierter durch die Straßen und hat das kontrolliert. Noch Jahre später sah man an mancher Häuserwand die allgemeines Misstrauen weckende Losung aus der NS-Zeit: „Feind hört mit!“ Im Hintergrund sah man einen Schattenmann.

Die amerikanischen Soldaten verschenkten von ihren Lastkraftwagen herab Bonbons, Schokolade und Kaugummis. Meist waren die Uniformträger Farbige. Im späteren Chema-Klubhaus in der Lindenallee hatten sie sich einquartiert. Viele Kinder kamen hierher, um etwas Essbares zu erbetteln. Ich auch, zusammen mit großen Jungs und Mädchen aus unserer Straße. Auf dem Wollmarkt sah ich, wie Besatzer auf die Holztore der dortigen Scheunen Messer warfen. Wochen später zogen die Amerikaner wieder ab.

Im Juli rückten Sowjettruppen in Arnstadt ein, die neuen Besatzer. Wir Kinder spielten gerade auf der Straße. Plötzlich erblickten wir, aus der Nachbarstraße An der Weiße kommend, einen Pferdewagen. Auf diesem gummibereiften Panjewagen saßen Soldaten, die ein Käppi mit dem roten Stern trugen. Einer von uns rief: "Die Russen kommen!" Wir rannten schnell nach Hause. Sofort wurden die Haustüren wieder abgeschlossen.

Nicht nur die Erwachsenen, auch wir Jungs und Mädels hatten panische Angst vor den Russen. Sie galten ja noch wenige Wochen zuvor in der Propaganda des Dritten Reichs als „Untermenschen“. Und die nahmen angeblich auch auf Kinder keine Rücksicht. Uns taten sie in den nächsten Monaten und Jahren jedenfalls nichts. Ältere Jungs erzählten mir noch Jahrzehnte später, dass gerade bei Kindern das ganze Gegenteil der Fall gewesen sei.

Von Übergriffen auf die Zivilbevölkerung habe ich ebenfalls nichts gehört. Ich wusste nur, dass unser Hausbesitzer, der Betreiber eines Gemischtwarenladens, über Nacht von den neuen Besatzern abgeholt wurde. Nach etwa einem Jahr kam der ehemalige NSDAP-Funktionär zurück. Er hat, auch danach, nie ein Wort über seine Inhaftierung verloren. Wahrscheinlich musste er im vormaligen Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, wo 56000 Menschen unter dem Nazi-Terror ihr Leben verloren hatten, einsitzen. Hier sperrte der russische Geheimdienst KGB solche und andere Personen -insgesamt 28000 - in einem Speziallager ein. All das erfuhr man im Osten erst nach der Wende 1989. Vorher war dieses Thema tabu.

Diese und ähnliche Erlebnisse habe ich vor Augen, wenn vom Ende des 2. Weltkrieges die Rede ist. Viele Erwachsene wollten damals „lieber ein Jahr mit Trockenbrot und Wasser leben, als nur einen Tag im Krieg“. Das habe ich oft gehört. Und das werde ich auch nie vergessen. Natürlich hatten manche Familien ihre Väter und Söhne im Gedächtnis, von denen viele Thüringer nicht nur bei Stalingrad „Für Führer, Volk und Vaterland“ gefallen waren oder als vermisst galten. Zwei Söhne meiner Großmutter kamen nie wieder. Auch in unserer Straße sowie noch Jahre später in meiner Schulklasse erhielten manche Familien die schreckliche Nachricht vom Tod eines lieben Menschen. Eine ganz schlimme Zeit!

Mein Vater war gelernter Fleischer. Beim Arbeitsdienst wurde er zum Bau der fast 25 Meter hohen Lütsche-Talsperre in der Nähe von Oberhof im Thüringer Wald als Schlosser eingesetzt. Glücklicherweise kam der 34-Jährige schon bald nach Kriegsende nach Hause. In Osteuropa geriet er in russische Gefangenschaft, konnte aber fliehen. Zu Fuß und per Anhalter schlug sich der Gefreite wie andere ehemalige Wehrmachtsangehörige in die Heimat durch.

Ich hielt mich gerade auf der Treppe des Mehrfamilienhauses auf, in dem wir in der zweiten Etage wohnten, als eine Nachbarin, die am Hauseingang stand, eines Vormittags laut schrie: „Else, Else, der Rudi ist wieder da!“ Meine Mutter hatte plötzlich ihren Mann, ich meinen Vater wieder.

Noch heute lese ich manchmal seine Feldpostbriefe „an meine innigstgeliebte Else und Kinder“. Darin beklagte er sich oft über diesen „Scheißkrieg“, in dem er immer wieder gute Kameraden verlor, wie er uns später erzählte, und sich eine „baldige Heimkehr zur Familie“ wünschte. Auch das habe ich nie vergessen. Alle Briefe, mit Bleistift geschrieben, hat meine Mutter gesammelt und mir vererbt. Wenn man sie liest, und das habe ich oft getan, wird einem noch einmal so richtig bewusst, wie bitter ein Krieg sein kann.

Der letzte große Krieg in Europa, also der 2. Weltkrieg, der vor mehr als 70 Jahren endete, forderte etwa 55 Millionen Menschenleben. Und jedes Opfer war mit dem Schicksal einer ganzen Familie verbunden. Was für ein Glück heute: Es gibt nun seit Jahrhunderten die erste Generation in Deutschland, die hier ohne Krieg aufgewachsen ist. Trotz Kalten Krieges, der nach dem 13. August 1961 und während der Kuba-Krise 1962 zwischen den beiden hochgerüsteten Bündnissen der Welt manchmal vor einer heißen Auseinandersetzung stand.

Kurz nach Kriegsende eröffneten meine Eltern in der Rosenstraße ein kleines Geschäft mit einer Rossschlächterei. Dazu hatte mein Vater irgendwo einen ehemaligen Wehrmachts-Sanitätskraftwagen Marke „Opel Blitz“, einen 1,5-Tonner, erworben und umgebaut. Auf beiden Seiten des LKW konnte man die großen Buchstaben lesen: „Roßschlächterei Rudi Heinze“. Auch die Arnstädter Telefonnummer stand hier. Oft habe ich meinen Vater auf Fahrten durch den Landkreis begleitet, wo sich immer wieder ein Pferd - damals noch ein bezahlbarer „Traktorersatz“ in den Dörfern - verletzt hatte und geschlachtet werden musste.

Etwas später übernahm unsere Familie in der Klausstraße die Gastwirtschaft „Zur Deutschen Eiche“. Ihr Besitzer, schon etwas betagt, war zu seinen Kindern gezogen. Nun hatte unsere Familie zwar viele Schulden, aber meine Eltern weiter ihre Arbeit. Und wir in dieser bitteren Zeit immer etwas zu essen. Heute würde man sagen: Ein Full-Time-Job. Der war auch für die Versorgung in unserer Stadt sehr wichtig, bestätigten mir noch Jahre später Mitbewohner.

Neben Bier, Schnaps, Likör und Brause gab es bei uns im Restaurant und im Außer-Haus-Verkauf Pferdefleisch. Auch Wurst und Buletten "vom Ross". Im Winter auch Fleischbrühe. Dazu - Jahre später - dunkle Brötchen vom Bäcker. In der Zeit nach dem Krieg war das alles sehr begehrt.

Unsere Gaststätte hatte schon früh, kurz nach der Öffnung um 8 Uhr, viele Gäste. Sie kamen aus allen Schichten der Bevölkerung. Man sah das an der Bekleidung - manche Männer in Arbeitssachen, manche Frau im Alltagskleid. Eine große Bockwurst mit viel Senf oder eine heiße Brühe mit Brötchen waren in den ersten Nachkriegsjahren für viele Menschen ein Leckerbissen. Und, noch wichtiger: Auch in einer Gaststätte bezahlbar! Sogar ohne Fleischmarken, die nach Kriegsende den Familien zugeteilt wurden.

Das Pferdefleisch, das wir während der Öffnungszeiten an bestimmten Tagen im Nebenraum an einer Ladentheke verkauft haben, konnten sich schon viele Leute leisten. Wer sich am Stadtrand oder auf dem Dorf in seinem Stall eine Kuh oder ein Schwein hielt, bekam nach der Schlachtung für einige Zeit keine Fleischmarken. Und wer dann beim „Schwarzschlachten“ erwischt wurde, musste mit harten Strafen, wie Enteignung oder Gefängnis, rechnen.

Da kannten die Besatzer in der Arnstädter „Kommandantura“ in der Rosenstraße und danach der Arbeiter-und-Bauern-Staat mit seiner neuen Polizei und neuen Justiz, die nicht immer nach den Buchstaben des Bürgerlichen Gesetzbuches gerichtet hat, kein Pardon. So schlimm stand es hier um die Versorgung mit Fleisch und Wurst. Erst 1958, fast zehn Jahre nach Gründung der DDR, wurden die Lebensmittelkarten abgeschafft.

Meine Eltern hatten vom Morgen bis Mitternacht zu tun. Sonnabends bis 01.00 Uhr, dann war Polizeistunde. Nur montags war bei uns Ruhetag. Da hielten wir uns im Schrebergarten in der Anlage „Parkfrieden“ gleich neben dem Hauptfriedhof auf. An diesem Tag ging unsere Familie manchmal ins Kino. Im Filmtheater „Merkur“ gab es hin und wieder schöne DEFA-Filme in Schwarz-Weiß oder westdeutsche Heimat- und Musikfilme in Farbe. Über das „Wirtshaus im Spessart“ mit Liselotte Pulver und die Räubergeschichten aus alter Zeit muss ich heute noch lachen. Viel gemeinsame Freizeit blieb unserer Familie sonst nicht.

Ansonsten hatte ich als Kind zu Hause immer eine kleine Tätigkeit rund um unsere Gastwirtschaft zu erledigen. Meine Lieblingsbeschäftigung: Das Auflegen von Schallplatten auf den Plattenspieler hinter der Theke, was heute ein DJ macht, zur Unterhaltung der Gäste. Daher konnte ich viele Schlager der Plattenfirma Amiga lückenlos nachsingen.

Auch sonst habe ich mich nützlich gemacht, meist Bier- und Brauseflaschen für den Verkauf aus dem Keller geholt. Vor allem am Samstagabend wurde jede Hand in der vollen Gaststube gebraucht. In unserem großen Saal - von der kleinen Gaststube durch eine Schiebetür getrennt - stand ein Klavier. Auf dem habe ich in jungen Jahren geübt, wenn die Gaststätte leer war.

Ich besuchte ab 1947 die Grundschule. In unsere Klasse der Arnstädter Knabenschule gingen etwa 40 Jungs. Die Schule trug den Namen von Wilhelm Külz (1875-1948). Das war ein ehemaliger Reichsinnenminister, nach dem Krieg ein Gründer der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD), einer Blockpartei in der DDR. Unter meinen Mitschülern befanden sich mehrere Vertriebenenkinder. Zwei von ihnen, Heinrich und Leopold, die mit ihrer Mutter von Polen vertrieben worden waren, lud ich zum Essen zu uns ein.

Im Osten hießen Vertriebene immer Umsiedler. Manche hatten auch im Winter keine Jacke an, sondern nur einen Pullover. In der großen Pause kurz vor 10 Uhr sammelte unsere Lehrerin, Maria Claren, für diese Jungs belegte Brote und anderes Essbares unter den Kindern mit "Frühstückspaket" ein. Die strenge Katholikin ist später in die Bundesrepublik übergesiedelt. Sie fragte stets höflich, wer von uns „eine Scheibe Brot“ übrig habe. Später gab es für jedes Kind in der Schule zur 10-Uhr-Pause ein dunkles Roggenbrötchen umsonst.

Bald wurde an der Schule ein Fanfarenzug gegründet. Die Instrumente, auch die Trommeln, stammten vom Schulboden. Hier wurden ebenfalls alte Klassenbücher aufbewahrt. Die Klangkörper hatte einst eine andere Jugend genutzt. Jetzt wehte ein Wimpel der Pionierorganisation, später der Freien Deutschen Jugend, an jeder Fanfare. Ich war ein Trommler. Wir haben auf dem Schulhof geübt, sind aber nicht durch die Stadt marschiert. Solche Klänge mit möglichen Erinnerungen an die Nazi-Zeit wollte die Schulleitung der Bevölkerung nicht zumuten.

Finanziert wurde Vieles von den Altstoffen, die wir von zu Hause oder aus der Nachbarschaft in die Schule mitgebracht hatten: Lumpen, Knochen, Eisen und Papier. Da fand schon der erste Wettbewerb zwischen den Schulklassen statt. Die Annahme erfolgte einmal in der Woche nachmittags auf dem Schulhof. Gewogen wurde auf einer alten Personenwaage. Ich gab immer ausgekochte Knochen ab und galt so als einer der aktivsten Altstoffsammler. Mit meinem Schulfreund Wolfgang aus dem Nachbarhaus rollte ich sogar eine ausgediente eiserne Transmissionswelle aus der Lederfabrik in unserer Straße auf den Schulhof, wofür wir lange Zeit als Spitzenreiter im Altstoff sammeln auf der Schulwandzeitung neben dem Sekretariat geführt wurden.

Gleich neben der Schule besichtigten wir oft im ehemaligen Rektorat in der Kohlgasse die Gedenkstätte für Johann Sebastian Bach (1685-1750). Er hatte in Arnstadt von 1703 bis 1707 als Organist gewirkt. Dieses musikalische Amt bot ihm die Möglichkeit für eigene Kompositionen und für meisterhaftes Orgelspiel von Werken berühmter Komponisten.

Unsere Klasse weilte oft in den Räumlichkeiten mit historischen Wort- und Bilddokumenten über sein Leben und Werk. All das besaß für mich eine besondere Bedeutung: Nicht weit von hier, am Marktplatz vor dem Rathaus, wurde ich 1942 während des Krieges in seiner ehemaligen Wirkungsstätte getauft. Seit 1935 trägt die Bachkirche seinen Namen. Sie ist heute, dank Deutscher Einheit, wieder ein Schmuckstück. Nicht nur die alljährlichen Bach-Tage im März locken Tausende Touristen und Musikliebhaber aus ganz Deutschland und vielen Ländern der Welt an. Regelmäßige Orgel- und andere Konzerte sind auch sehr beliebt.

In meiner Freizeit, schon als Schüler, las ich gern die Tageszeitung. Diese hatten wir abonniert und in der Gaststätte ausgelegt. Ich weiß noch genau: Meine Mutter schaute immer zuerst auf der letzten Seite nach den Todesanzeigen. Mich interessierte eigentlich alles, was darin stand. Und ich schmökerte natürlich die Bände von Karl May über den Wilden Westen und den Vorderen Orient oder die nicht weniger spannenden Jerry-Cotton-Hefte, mochte auch Bildgeschichten mit Donald Duck.

Da in unserer Nachbarschaft eines Tages eine kleine Bibliothek aufgelöst wurde, kauften die Eltern ganz preisgünstig mehrere Karl-May-Bände. Sie waren ja in der Ostzone und späteren DDR nicht verboten. Nur gedruckt wurden sie damals nicht. Offizielle Begründung: Kein Papier. Ich glaube, es ging auch um die fehlenden Lizenzen dafür. "Wilder Westen" haben wir Kinder oft auf der Straße gespielt. Alle Beteiligten hatten dann einen verwegenen Namen aus Karl Mays Bücherwelt.

Die berühmten Groschenhefte mit Kriminal- und Cowboy-Geschichten aus dem Westen, gern gelesen und viel getauscht, wurden uns bei überraschenden Taschenkontrollen in der Schule weggenommen. Offizielle Bezeichnung: „Schundliteratur“. Mancher Lehrer, der nicht nur seine Schuhe und Ringelsöckchen im Westberliner „HO Gesundbrunnen“ eingekauft hatte, wie bei uns die Herkunft aller Artikel und Bekleidungsstücke von drüben sarkastisch bezeichnet wurde, erfüllte so seine Pflicht. Ob er dann mal in die Heftchen und Bücher aus dem anderen Deutschland, die er im Sekretariat abgeben musste, reingeschaut hat?

Jedenfalls sah man damals einem Erwachsenen und jedem Kind schon aus drei Meter Entfernung an, ob seine Bekleidung aus dem Osten - also vom volkseigenen und genossenschaftlichen Einzelhandel oder aus dem Westen stammte. Das, was "von drüben" kam, war meistens schick und mit angenehmen Farben. Von der Qualität ganz zu schweigen.

Viele Ostler erhielten solche bereits getragene Bekleidung von ihrer West-Verwandtschaft. Die Pakete aus dem innerdeutschen Postverkehr mussten deshalb die Aufschrift „Keine Handelsware“ tragen. Bei uns zu Hause kamen nie solche Geschenke an. Unsere wenigen Verwandten im Westen dachten sicher, die Heinze-Familie in Arnstadt besitzt eine Gaststätte mit Rossschlächterei und ein Auto. Da brauchen die nichts von uns.

Eigentlich kein Wunder, dass hier ein solcher Bedarf für diese Bekleidung bestand. Denn die russischen Besatzer hatten nach Kriegsende in Ostdeutschland etwa 3 000 Betriebe aller Art beschlagnahmt. Die Eigentümer wurden enteignet, manche mit falschen Anschuldigungen eingesperrt. Und die Maschinen, in Holzkisten verpackt, ins Moskauer Riesenreich abtransportiert. Das war - so schätzten Ökonomen nach der Wiedervereinigung ein - eine größere industrielle Zerstörung im Osten als während des Krieges mit all seinen Schäden.

Offiziell hieß das „Reparationen für Schäden, die Deutschland im 2. Weltkrieg in der Sowjetunion angerichtet hat“. Seriöse westdeutsche Quellen, die ich nach der Deutschen Einheit einsehen konnte, sprachen von Werten in Höhe von etwa 100 Milliarden Reichsmark. Heute wären das umgerechnet etwa 400 Milliarden Euro. Unter den industriellen Strukturschäden in Ostdeutschland mit dem Niedergang der Produktionsleistungen um rund 50% gegenüber 1936 befanden sich auch 11800km Eisenbahnschienen, die hier bis März 1947 demontiert und in die Sowjetunion transportiert wurden.

So war einer der ersten Reifen für mein Kinderrad, Marke Vorkriegsmodell, ein dicker Gartenschlauch, mindestens zwei Zoll stark, den mein Vater mit Sägespäne gefüllt und mit Draht zusammenflickt hatte. Als DDR-Erfindung galten später sogenannte Igelitschuhe und –taschen. Der weiche Kunststoff diente als Lederersatz. Bei sommerlichen Temperaturen bekam der Träger solcher Schuhe, auch mit Strümpfen, garantiert Schweißfüße. Aus jener Zeit rührt noch heute mein „Tick“ für eine gute Ledertasche, die es damals nirgendwo gab.

In der 8. Klasse bewarb ich mich um die Aufnahme in die Erweiterte Oberschule (EOS). Das wurde von der Schulleitung abgelehnt. Aus unserer Klasse schafften das nur drei Schüler. Mit einem davon traf ich mich später oft auf der gemeinsamen Bahnfahrt von Arnstadt nach Erfurt, bevor wir an unsere Studienorte weiterfuhren - er nach Dresden und ich nach Leipzig. Hier habe ich 1961 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in der Vorstudien-Fakultät das Abitur gemacht, danach mein Volontariat absolviert und von 1962 bis 1966 Journalistik an der Karl-Marx-Universität studiert.

Während meiner Schulzeit konnte mir niemand aus unserer Familie sowie aus dem Bekanntenkreis in unserer Kleinstadt so recht erklären, wie man Journalist wird. Das war immer mein großer Traum. Aber mein Vater bestand darauf, dass ich - zehn Jahre nach Kriegsende - etwas „Richtiges“ lerne. Ich wurde Fleischer-Lehrling. Viel lieber wäre ich Autoschlosser geworden oder hätte einen anderen technischen Beruf ergriffen. In der Arnstädter Konsum-Großfleischerei habe ich dann die üblichen Arbeiten und Handreichungen im Produktionsraum für Brüh- und Kochwurst erlernt. Mit der Zeit machte mich unser Polier Bruno zu seiner rechten Hand.

Im Laufe der Lehrjahre bekam ich als dünnes Kerlchen Kraft und Ausdauer. Nur mit den etwas zu großen Gummistiefeln, die mir bei der Einkleidung zu Lehrbeginn am 1. September 1955 - seit diesem Tag bin ich Gewerkschaftsmitglied - übergeben worden waren, hatte ich meine Probleme. Dass wir mit nicht ganz so scharfen Messern gearbeitet haben, meist Vorkriegsmodelle, weil es auch im Büro der Fleischer-Innung keine Solinger Produkte mehr gab, musste ich ab und zu schmerzvoll feststellen.

Der Arbeitstag begann für mich recht früh. In der Brühwurstabteilung durfte ich im zweiten Lehrjahr schon einige Maschinen allein bedienen. Beim täglichen großen Saubermachen am späten Nachmittag war ich dann einer der Letzten im Betrieb. Auch hier galt das Motto: Wer früh kommt, darf länger bleiben!

Schon nach zweieinhalb Jahren konnte ich meine Ausbildung beenden. Ein halbes Jahr früher, als im Lehrvertrag vereinbart. Darauf bestand der Obermeister der Fleischer-Innung, Heinrich Wickler. Er erteilte uns Fachunterricht in der Allgemeinen Berufsschule. Manchmal erzählte er, was ihm im 1. Weltkrieg 1914-1918 Schlimmes widerfahren war.

Trotzdem hatte der Obermeister das Lachen nicht verlernt. Er schickte Fleischverkäufer-Lehrlinge zu einem bekannten Fleischermeister. Gleich um die Ecke, wo die jungen Damen und Herren die „Presskopfpresse“ oder den „Speckhobel“ abholen sollten. Der Meister dort hatte schon kleine Pakete vorbereitet. Sie enthielten meist einen Ziegelstein, der dann beim Auspacken in der Berufsschule für großes Lachen sorgte.

Nachdem mein Vater recht jung verstorben war, dachte wohl der Obermeister, dass ich bald den Meisterbrief erwerben, Gaststätte und Rossschlächterei übernehmen werde. Das wollte ich aber nicht. Ich arbeitete nun im Konsum als junger Geselle fast schon wie ein perfekter Thüringer Wurstmacher. Nur vor dem berühmten Hausschlachten bei Bekannten auf dem Land habe ich mich immer gedrückt. Da musste man als Fleischer auch trinkfest sein. War der Wirtssohn aber nicht, obwohl doch sein Elternhaus „Zur Deutschen Eiche“ hieß.

Sport hatte in unserer Familie, damals alles Nichtraucher, Tradition: Mein Vater war mit seinen mehr als zwei Zentnern Gewicht und etwa 1,85 Meter Größe ein nicht nur in unserer Stadt als Thüringen-Meister bekannter Schwergewichtsboxer. Deshalb legte sich in unserer Gaststätte niemand mit ihm an. Wenn er laut sagte: „Ruhe!“, dann hielten auch die etwas angetrunkenen Gäste den Mund. Politische Gespräche, vielleicht mit DDR-Kritik, wurden ebenfalls nicht geduldet. Man wusste ja nie, wer da unter den Zuhörern im Gastraum saß.

Daher auch meine Freude, als ich im Herbst 1958 in der Tageszeitung „Deutsches Sportecho“ in einer kleinen Anzeige der Deutschen Hochschule für Körperkultur las: Junge Arbeiter mit Beruf können in Leipzig das Abitur machen, um später das Sportlehrer-Diplom zu erwerben. Ich habe mich sofort beworben. Kurze Zeit darauf wurde ich zur Aufnahmeprüfung eingeladen.

Diese verlief gut. Sowohl die Tests mit Diktat und Aufsatz als auch die Prüfungen in der Leichtathletik, im Schwimmen und beim Turnen. Am Barren machten die Rennfahrerbeine zwar einen steifen Eindruck. Aber die anderen Anforderungen bildeten für den gut trainierten Körper keine Probleme. Unter den Mitbewerbern befanden sich namhafte Spitzenleute aus verschiedenen Sportarten, wie ich in den Gesprächen hörte.

Mehrere Weltmeister im Kanuslalom, ein DDR-Jugendmeister im Querfeldeinfahren und der 2-m-Hochspringer mussten im 25-m-Schwimmbecken wie ich und alle Studienbewerber aus der ganzen Republik bestimmte Zeiten schaffen. Dank regelmäßigem Training auf dem Rennrad hatte ich auch beim Schwimmen genügend Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit. Als Startsprung machte ich zwar einen „Bauchklatscher“. Aber danach folgten schnelle Arm- und Beinbewegungen. Die Zeit im Brustschwimmen war so gut, dass mich dafür der Dozent mit der Stoppuhr am Beckenrand gelobt hat. In unserer späteren Seminargruppe schwamm in dieser Disziplin tatsächlich nur ein Studienkollege aus Weißenfels ein klein wenig schneller, der dort als Wasserballer in der DDR-Oberliga das Tor gehütet hatte.

Mein Studium als junger Facharbeiter an dieser Fakultät der DHfK mit der Hochschulreife als Abschluss begann im Januar 1959 und endete im Sommer 1961. In dieser Zeit habe ich regelmäßig für unsere Hochschulzeitung „Der Speer“ geschrieben. Das wurde nun, anstatt mit dem Rennrad in der Freizeit zu trainieren, mein Hobby. Verfasst habe ich Nachrichten, Berichte und kleine Artikel über Sport und Kultur. Darunter über die Vortragsreihe „Opern - nahe gebracht“ an unserer Hochschule. Ich äußerte mich sogar über eine Aufführung an den Städtischen Bühnen mit einem Werk Richard Wagners, der aus Leipzig stammte.

Alles wurde gedruckt und, für mich noch wichtiger, von Dozenten und Studenten unserer Fakultät gelesen. Man sprach mich zu einzelnen Beiträgen sogar an, so zu meiner Vorschau auf die „Meistersinger“-Aufführung. Wenn ich das heute lese, muss ich doch staunen, was sich der junge Zeitungsschreiber damals zugetraut hat.

Auf einer studentischen Vollversammlung sollte ich für unsere Hochschulzeitung werben. Ich sprach von „unserer Betriebszeitung“. Der Verantwortliche für das Blatt nannte sich nämlich nicht Hochschulzeitungs-Redakteur, sondern Betriebszeitungs-Redakteur. Das galt im DDR-Journalismus einheitlich für alle Zeitungen dieser Art - in Betrieben, Kombinaten und Hochschulen. Viele Journalistik-Absolventen, die noch im ersten Studienjahr vom Einsatz als Auslandskorrespondent geträumt hatten, mussten oft mit einer solchen Tätigkeit vorlieb nehmen. Was aber Arbeiten an einem Ort und meist ein sorgenfreies Familienleben sicherte.

Jedenfalls haben hier alle über meinen Versprecher, der gar keiner war, herzlich gelacht. Ich galt von nun an als "Der von der Betriebszeitung“. Viele Studenten bekamen nämlich aus dem ehemaligen heimatlichen Betrieb („aus Verbundenheit mit ihren Werktätigen beim Studium“) die Betriebszeitung nachgeschickt. Mit diesem Titel konnte ich leben. Schließlich bewarb ich mich mit meinen Veröffentlichungen an der Fakultät für Journalistik der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Mein heimliches Ziel: Sportjournalist. Das war die zweite Liebe in meinem Leben. Die Dritte und große Liebe ist aber seit 1970 meine Frau Regine.

Wohl auch als "Anerkennung" für meine regelmäßige Öffentlichkeitsarbeit delegierten mich die Studienkollegen aus dem Altbau der Hochschule in den Elferrat. Hier war ich in all den Sitzungen im Gebäude neben dem Tennisplatz als Nichtraucher und Anti-Alkoholiker eigentlich der falsche Narr. Meine Aufgabe bestand nun darin, für den berühmten DHfK-Fasching, der seit 1958 gefeiert wird, die in ganz Leipzig heiß begehrten Eintrittskarten drucken zu lassen. Also Papier beschaffen (eine große Druckerei half mir), die Gestaltung und den Druck (das war weniger kompliziert) organisieren.

Dieses alljährliche Ereignis mit etwa eintausend Teilnehmern, alles lebenslustige und tanzfreudige Närrinnen und Narren, in den Neubauten der Sporthochschule genoss damals in der Messestadt schon den Ruf großer körperlicher Freizügigkeit. Ob Sportlerin oder Sportler, also Weiblein oder Männlein -jeder wollte hier zeigen, wie gut sie oder er durchtrainiert war und sich bewegen konnte. Ich natürlich auch. So allein beim mühevollen "Aufstieg" über die netzüberdachte Treppe zur Galerie oder bei der sausenden Abfahrt auf der Rutschbahn. Mit uns Studenten schwoften 1961 unter donnernden Hoch- und Faschingsrufen aus hunderten Kehlen auch jüngere Dozenten, Aktive der DHfK-Sportsektionen und manche Gäste aus Leipziger Sportgemeinschaften.

An diesem Abend konnte man sich bei unserem Fasching mit scharfer Musik, vorwiegend aus dem Westen, allein auf der Tanzfläche in der Pausenhalle richtig austoben. Das lustige Völkchen hielt es bei dieser "Attraktion des Jahres" bis in die Morgenstunden aus. Oft hörte ich zum Abschied die Worte: "Einfach großartig, dieser Jubel und Trubel!" Noch heute treffen sich nicht nur Leipziger Sportstudenten zu diesem Ereignis. Jetzt findet das als „Event“ oder „tolle Party“ statt. Der 58. DHfK-Fasching 2016 "wegen der Hallenbelegung" auf dem Veranstaltungsgelände der ehemaligen AGRA-Landwirtschaftsausstellung Leipzig. Und nach wie vor gilt das alte Motto: Ohne Kostüm kein Einlass!

Danach folgte das Journalistik-Studium an der Karl-Marx-Universität. Die Studienjahre begannen in der Regel mit Ernteeinsätzen. Hier lernten sich die neuen Studenten auch persönlich kennen. Mancher Mitstreiter berichtete voller Stolz, was er für "große Reportagen" während des Volontariats in "seiner" Bezirkszeitung geschrieben hatte. Ich konnte da journalistisch nicht mithalten, weil der ADN, so meine Antwort, eben "nur Nachrichten" gesendet hat. Die aber dann auch manchmal in aller Welt Leser und Hörer fanden.

Nach einem solchen Ernteeinsatz baten mich die Kommilitonen, schnell noch ein paar Zeilen für eine zentrale Zeitung zu schreiben. Unter der Überschrift: "Kartoffelgeschichten, Knollenkieker, Knollenball" wurde alles abgedruckt. Am "Schwarzen Brett" der Journalisten-Fakultät konnte man dann ein paar Tage später an diesem Zeitungsausschnitt nachlesen, was die 21 Studenten des 2. Studienjahres im Kreis Bernau 1963 doch für fleißige Erntehelfer waren.

Das Thema meiner Diplomarbeit nach 4-jährigem Studium, bei dem im 3. Studienjahr "die Begabung des Studenten Heinze auf dem Gebiet der informierenden Genres" mit einem Förderungsvertrag gewürdigt wurde, lautete 1966: "Die Parteilichkeit in der Berichterstattung der dpa über den Wahlkampf 1965 in Westdeutschland". Hätte auch über den Hamburger Meinungsmacher heißen können: "DPA formiert westdeutsche Bevölkerung". Die Agentur - mit ihrer Monopolstellung der Neutralität verpflichtet - hatte über die von Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) propagierte "formierte Gesellschaft" immer wieder ausführlich berichtet. Und die Gewerkschaften, insbesondere die IG Metall, angesichts der Proteste besonders gegen die Notstandsgesetze attackiert.

Mycel-Wurst mit Beigeschmack

Als ich zehn Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges meine Fleischer-Lehre begann, waren Fleisch und Wurst für die Bevölkerung noch "Raritäten". Man konnte sie nur bei gleichzeitiger Abgabe von Fleischmarken aus der Lebensmittelkarte kaufen. Und zwar "grammweise". In einem Umfang, wie vom Staat für jede einzelne Person bestimmt und zugeteilt. Mal mehr, mal weniger.

Dieser Nachkriegszustand bei der Versorgung mit Lebensmitteln, durch Zuteilung mit Marken auch bei Butter, Zucker, Brot und anderen lebenswichtigen Produkten sichergestellt, hielt sich hierzulande bis 1958. Dann brauchte man auf dem alljährlichen Arnstädter Rummelplatz Wollmarkt mit uralter Geschichte an einem Bratwurststand den geliebten Leckerbissen "nur" noch mit Geld bezahlen. Die kleinen zusätzlichen Papierschnipsel von der Lebensmittelkarte fielen, auch zur Freude der Verkäufer und Verkäuferinnen, weg.

Dabei hatte doch die Nachkriegszeit hier an der einstigen Handelsstraße Leipzig - Nürnberg mit der Versorgung von Wurst schon gewisse "Höhepunkte" erlebt. Nämlich - wenn es in der Rosenstraße beim Fleischer Otto Herda frische Mycel-Wurst gab. Eigentlich ein Brotaufstrich mit Wurstgeschmack. Und ohne Marken. Daher auch immer die viele Kundschaft an solchen Tagen vor dem Geschäft. Nicht täglich konnte man in dieser fast fleischlosen Zeit solche Wurst kaufen. Aber oft!

Fleischermeister Herda hatte sich bei den russischen Besatzern in der Stadt vor Beginn seiner Mycel-Produktion mit etwa zehn Gesellen und Mitarbeitern schon einen Namen gemacht. Er musste nämlich 1945 in der späteren Nationalen-Front-Schule, die den neuen Besatzern als Kaserne diente, rund vier Wochen lang Heizungsbauer von hier mit Essen versorgen. So der Befehl aus der benachbarten "Kommandandura". Diese Handwerker reparierten das Heizungssystem. Hier lernte Otto Herda seinen späteren Mitarbeiter Arno Langenhan vom Heizungsbau Bertels kennen. Und dessen Arbeit schätzen.

Ein weiterer Mitarbeiter Herdas, auch nicht aus der Zunft der Metzger, wurde zu dieser Zeit ein gewisser Dr.Friedrich Fleischmann. Dieser Herr, Jahrgang 1906, war zuvor Leiter des Biologischen Instituts bei der Thüringischen Zellwolle AG in Schwarza an der Saale. Wie man heute den im Internet veröffentlichten Akten aus dem Rudolstädter Staatsarchiv entnehmen kann, fanden unter seiner Leitung Forschungsarbeiten zur "Eiweißgewinnung aus Abfällen der Zellulosefabrikation" sowie zur "Gewinnung von Kartoffeleiweiß aus Abwässern der Stärkemehlfabrikation" statt. Solche Untersuchungen waren streng geheim! Es ging um die Verwertung des Wertlosen, würde man heute sagen.

All das sollte aber der Entwicklung künstlicher Lebensmittel wie Mycel und Biosyn aus der Abfallmasse der Zelluloseherstellung für die deutsche Nahrungsmittelindustrie dienen. Hauptsächlich wurde ab 1943 an eine bessere Versorgung der Wehrmacht mit dem Einzeller-Eiweiß gedacht. Auf einer Tagung im Januar 1944 im Berliner Rüstungsministerium hat man unter der Regie der SS auch über die „Ernährung von KZ-Häftlingen mit Mycel auf der Grundlage von Sulfit-Ablaugen aus der Zellstoffindustrie“ beraten, geht aus anderen Unterlagen hervor.

Bei ersten Ernährungsexperimenten im Krankenlager des KZ Mauthausen starben zahlreiche Häftlinge, weil die Eiweiß-Präparate teilweise Verunreinigungen von Zellstoffteilchen enthielten. Geplant war bei "Großversuchen" der Einsatz von solchen Eiweißsurrogaten in den Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen sowie als Hungerration für Zwangsarbeiter. Allein für diesen Zweck sollten ab 1. Januar 1945 täglich 5 000 Tonnen Mycel-Eiweiß in Deutschland synthetisch produziert werden. Auch in der österreichischen Zellwolle Lenzing AG, deren jüdische Vorbesitzer enteignet worden waren. Das kündigte der für die KZ verantwortliche Chef des SS-Verwaltungshauptamtes an. Ungeheuerlich!

Soweit zur „Vergangenheit“ der Mycel-Wurst aus nationalsozialistischer Zeit. In der Nachkriegszeit waren andere Eiweißpräparate in Großkäsereien und der Fleischwarenproduktion begehrt. Denn für die Eiweiß-Erzeugung - so der Stand der Wissenschaft - konnte man auch Melasse aus Zuckerfabriken oder Molke aus den Milch verarbeitenden Betrieben nutzen. Zumal Molke nicht in die städtischen Abwässer geleitet werden durfte. Von diesen Erkenntnissen ließen sich Chemiker mit diesem Wissen leiten. Auch die spätere Tierernährung nutzte ähnliche Verfahren.

Als Fleischmann dem Arnstädter Handwerksmeister seine Idee vortrug und um eine Anstellung bat, stimmte dieser sofort zu. Essen, noch dazu mit Wurst-Geschmack, war knapp und gefragt. Die Idee von der "Arnschter Mietzel-Worscht", wie sie dann unter der Bevölkerung hieß, war geboren.

Nun brauchte man dazu die entsprechenden technischen Anlagen. In den Räumen der Gaststätte "Roter Hirsch" gegenüber der Fleischerei in der Rosenstraße wurden Behälter für diesen chemischen und biologischen Prozess installiert. Sie hat Schlossermeister Langenhan aus der Siedlung zusammengeschweißt. So gab es acht Behälter mit 1,20m Durchmesser und 2,50m Höhe, die wie ein Bioreaktor arbeiteten. Die Pläne dazu stammten vom Chemie-Experten. Er hatte sich neben diesen Räumen ein kleines Labor eingerichtet. An der Tür stand: "Zutritt nur für unterwiesenes Personal!"

Arno Langenhans Sohn Helmut, damals sieben, acht Jahre alt, konnte immer wieder mal beim Aufbau dieser Produktionsanlagen zusehen. Ihn hat diese Arbeit, bei der er auch gelegentlich ein Schweißgerät mit kleiner Flamme in beide Hände nahm ("Helmut, willst du auch mal schweißen?"), wohl so gefallen, dass er später im Pionierhaus am Südbahnhof eine technische Arbeitsgemeinschaft belegte und sich mit 14 Jahren in der Chema Rudisleben als Schlosser-Lehrling bewarb. Heute ist der Diplom-Ingenieur im Ruhestand. Zuletzt war er Leiter Technik des DDR-bekannten Waschmittelherstellers VEB DOMAL Stadtilm.

All diese Kindheitserinnerungen erzählte mir Helmut. Jedenfalls konnte er sich noch sehr detailliert an viele Einzelheiten in dieser Produktionsstätte erinnern: Zuerst wurden die gelernten Fleischer aufgrund der knappen Belieferung mit Schweinehälften und Rindervierteln zu technischen Mitarbeitern "umfunktioniert". An jedem Behälter stand nun ein Mann. Neben Otto Herda leitete sie für die stündliche technische Kontrolle dieser Verfahren auch Meister Langenhan an.

Der Chemie-Doktor, wie zu Institutszeiten in Schwarza mit Krawatte an der Arbeit, wachte darüber, dass die Belegschaft alle Anweisungen hinsichtlich der vorgegebenen Temperaturen und Zeiten einhielt. Diese Genauigkeit entschied darüber, ob die wachsenden Pilze (Mycel) die entsprechende Qualität erreichten. Die Molke vom Milchhof Arnstadt, aus Großliebringen und anderen Orten wurde in einem 10000-Liter-Behälter herangeschafft. Und anschließend durch eine amerikanische Filteranlage gepumpt.

Das Filtrat war ein Magerquark. Dieser wurde in die Behälter gefüllt, von Fleischmann mit einem Pilz "geimpft". Die Behälter hat man mit einem Wasserbad erwärmt und konstant auf einer Temperatur von 38 Grad Celsius gehalten. Nach etwa 20 bis 26 Stunden waren die Behälter voll, weil sich unter diesen Bedingungen der Inhalt vermehrt hatte. Die Masse wurde dann weiterverarbeitet.

Fast alles für dieses technische Verfahren musste nicht nur improvisiert werden. Vor allem das Zusammenschweißen der Behälter und der Rohrsysteme. Um den nötigen Dampf für alle Behälter zu erhalten, wurde aus einer stillgelegten Produktionsstätte im Landkreis eine Dampfmaschine aufgekauft und auf dem Hof eingerichtet. Flüssiges Fett aus weiteren lokalen Entsorgungsquellen diente der ständigen Befeuerung. Mit den langjährigen Berufserfahrungen machte hier Arno Langenhan, inzwischen auf „Du und Du“ mit Chef Herda und einem besseren Lohn als am Arbeitsplatz zuvor, wohl sein zweites „Meisterstück“.

Jetzt wurde noch Darm für die Mycel-Wurst gebraucht. Aber auch dabei machte die Not - es gab ja keine Natur- und Kunstdärme - erfinderisch: In der benachbarten Handschuh-Fabrik entstand eine Anlage, in der das vorhandene Packpapier über Beizbäder zu einer Art Pergamentpapier umgewandelt und dann getrocknet wurde. Die Schneiderei an der Ecke Rosenstraße/Krappgartenstraße erhielt nun den Großauftrag „Darmherstellung“ und nähte aus dem kochfesten Papier so etwas wie Kunstdärme. Jeder Darm war etwa 25 Zentimeter lang, sah aus wie ein kleiner Sack. Zur Verpackung der frischen Wurst im Laden wurde Pergamentpapier aus Hamburg beschafft.

In die Papierdärme füllte man dann bei Herda die Mycel-Wurst. Es gab sie mit „Leberwurst-Geschmack“ und als „Rotwurst“. Aus Mangel an Blut wurde dazu die Masse gefärbt und in „Speckwürfel“ geschnitten. All das geschah unter den Bedingungen einer Brühwurst-Abteilung. Als Gewürze dienten meist Salz und Ersatzpfeffer sowie noch ein paar nachgemachte „Edelgewürze“, wie sie sonst bei der traditionsreichen Thüringer Wurst verwendet wurden. In diesen Jahren allgemeinen Hungerns schmeckte dann die Mycel-Wurst bestens. Man musste sie aber, weil es noch keine elektrischen Kühlschränke in den Haushalten gab, in spätestens zwei Tagen verzehrt haben.

Ein weiterer Leckerbissen war zu dieser Zeit der "Leberkäse", ebenfalls aus Mycel hergestellt. Mehr als hundert viereckige Behälter dazu hatte Arno Langenhan gefertigt. In einer Bäckerei unweit vom Herda-Geschäft wurde der Inhalt „gebacken“. Alles in allem produzierte so der Fleischer-Handwerksbetrieb mit Industrieanlagen pro Woche etwa 6t Mycel-Wurst. Wenn dann wöchentlich auf einem LKW mit Holzvergaser etwa 2t davon nach Leipzig gebracht wurden, um die Versorgung der Messestadt ein klein wenig zu verbessern, war der junge Helmut immer wieder mal der Beifahrer.

Natürlich hat der Fleischermeister mit seiner Mycel-Wurst in diesen bitteren Jahren seinen Beitrag dazu geleistet, dass in Arnstadt hungernde Menschen, wenn schon kein Fleisch und keine Wurst vorhanden, sich doch hin und wieder den Ersatz für diesen Geschmack leisten und wenigstens tageweise sättigen konnten. Wie oft habe ich bis 1950 lange Warteschlangen vor seinem Geschäft gesehen. Und nicht wenige Senioren erinnern sich noch heute an diese Zeit, als "Schmalhans" in den Familien Küchenchef war, ganz besonders an diese Produkte. Mein Jugendfreund: "Unsere Familie wurde dank meines Vaters in dieser schweren Zeit damit gut versorgt."

Als ich dann während meiner Lehrzeit bis 1958 in der Fachkunde vom Obermeister der Arnstädter Fleischer-Innung unterrichtet wurde, spielte diese Wurst keine Rolle mehr. Inzwischen gab es wieder Schweinefleisch, auch aus China, oder Rindfleisch, das oft aus Argentinien stammte. Diese Importe waren gefroren, deshalb schwer zu verarbeiten. Wir konnten in der Konsum-Fleischerei am Südbahnhof - wie auch Arnstädter Handwerksbetriebe - jedenfalls „richtige“ Wurst herstellen. Und heute ist die aus Thüringen wieder in ganz Deutschland ein Begriff - wegen ihrer Qualität bei der Masse und im Geschmack mit Originalrezepturen.

Übrigens: Derzeit geht es aus ganz anderen Gründen (Stichwort: Veganer) um Fleischersatz. Dann, bitte schön, aber rein pflanzlich. Laut Gesundheitsexperten wächst der Markt für Fleischersatzprodukte oder Fleischimitate "jährlich im zweistelligen Bereich". Dabei seien den Phantasien der Lebensmitteldesigner "offensichtlich keine Grenzen gesetzt", heißt es. Aus Sicht der Vollwert-Ernährung müsse man diese Entwicklung "durchaus skeptisch sehen". Es ist schon beeindruckend, wie sich die fleischlosen Zeiten verändert haben. (2015 erschienen)

Die vom Niederrhein im Arnstädter Boxring

Mein Vater, der Fleischer Rudi Heinze (1911-1957), hat sich in Arnstadt nicht nur in den Nachkriegsjahren als Wirt der Gaststätte „Zur Deutschen Eiche“ in der Klausstraße und mit seiner Rossschlächterei einen Namen gemacht. Schon vor dem Krieg war er über die Stadtgrenzen hinaus bekannt - als Amateurboxer der obersten Gewichtsklasse.

Wenn wir später gemeinsam durch die Stadt gingen oder fuhren und er im Landkreis zu einer Notschlachtung gerufen wurde, grüßten ihn viele Leute, die den Sportsmann von einer der Veranstaltungen des Boxclubs Arnstadt kannten. Solche lokalen Ereignisse mit Amateurboxern in einer Halle oder unter freiem Himmel zogen immer Hunderte von begeisterten Zuschauern in ihren Bann. Sie fanden gewissermaßen im Schatten der großen Profikämpfe von Max Schmeling statt, vor allem seines grandiosen Sieges 1936 in New York vor 42000 Zuschauern über den „Braunen Bomber“ Joe Louis mit einem k.o. in der 12. Runde. Laut Zeitzeugen „die größte Sensation der Box-Geschichte“.

Seine Karriere begann Rudi Heinze im Alter von 17 Jahren. Da machte der Fleischergeselle, ein Nichtraucher und Anti-Alkoholiker, das erste Mal auf sich aufmerksam: Er beteiligte sich am 15. Juli 1928 in Apolda am Jugendturnier des Mitteldeutschen Amateur-Box-Verbandes. Für seine guten Leistungen erhielt er zum Schluss eine Urkunde. Ein Jahr später wurde ihm anlässlich des 1. Thüringer Jugendturniers 1929 in Erfurt ein Diplom „in Anerkennung besonderer sportlicher Leistungen zum Ansporn für weiteres Streben" ausgehändigt.

Im Jahr darauf schaffte er es bei den Thüringer Boxmeisterschaften, die am 23. November 1930 in Ilmenau stattfanden, zum 2. Sieger im Schwergewicht. Diese Ehrenurkunde fand bei uns in der Wohnung ebenfalls einen würdigen Platz.

Dann folgten 39 weitere Wettkämpfe. Darüber geben der Mitglieds-Pass und die Start-Karte Nr.15800 des Deutschen Reichsverbandes für Amateur-Boxen e.V. mit der Geschäftsstelle in Berlin genaue Auskunft. Die Karte - „Gültig für das ganze Reich!“ und „Gut und sauber aufbewahren!“ - war zu jedem Start vorzuzeigen. „Durch den Protokollführer der Veranstaltung ist sofort nach dem Kampf das Kampfresultat einzutragen“, heißt es weiter darin. Dann folgten die jeweiligen Wettkämpfe. Zuerst wurden die Veranstalter genannt, hier aus Arnstadt, Apolda, Erfurt, Nordhausen und andernorts.

Erwähnung fanden natürlich die Namen der Gegner. Sie stammten aus Pößneck, Gera, Schweinfurt, Weimar, Erfurt, Halle, Weißenfels, Stuttgart, Apolda, Coburg, Ilmenau. Daneben die Spalten: „gew./ verl./ unen./ in Runde“ sowie „durch k.o., Aufgabe oder nach Punkten“. Ich habe hier 22 Siege gezählt, die meisten „d.k.o.“, also durch Knockout.

Keine nähere Auskunft gibt ein solches persönliches Handbuch über Vorbereitungen der Sportler auf die Wettkämpfe und deren Verlauf. Vom 14:2-Erfolg der Arnstädter Box-Abteilung des TV 1849 über die Boxfreunde Erfurt las man dann in der Zeitung: „In Bezug auf sportliche Leistung reihte sich der Klubkampf den Vorangegangenen würdig an, man kann sogar behaupten, es war ein großer Erfolg für die vorwärts strebenden Arnstädter Boxer, die unter der Betreuung des erfahrenen Artur Ermisch (Leiter und Trainer der Boxabteilung des TV 1849) wesentliche Fortschritte bekundeten. Der Erfolg der Arnstädter Mannschaft ist nicht, wie man annehmen könnte, auf Unfähigkeit des Gegners zurückzuführen, sondern lediglich allein durch den Kampfeswillen jedes einzelnen Kämpfers ermöglicht worden, einen so hohen Sieg über die ‚Boxfreunde’ von Erfurt, die hier erstmalig starteten und einen guten Eindruck hinterließen, zu erzielen…“

„Für den Hauptkampf hatte man das Revanchetreffen Heinze-Arnstadt – Narr-Erfurt angesetzt. Durch Nichterscheinen von Narr, der angeblich verletzt sein soll, hatte der Kampf der Schwergewichte nicht mehr das erforderliche Interesse erweckt, zumal der Ersatzmann Herzer-Erfurt unzureichend war. Doch sollte man dem ausgefallenen Kampf nicht nachtrauern. Wenn der Ersatzmann auch keine Größe war, so zeigte er doch besseres Boxen als der Meister selbst. Für Heinze gab es an diesem Abend kein Halten. Vom Gong weg versuchte er Schlagwechsel. Der Gast hielt tapfer mit, nachdem er aber den ersten Volltreffer eingesteckt hatte, ließ sein Widerstand merklich nach. Nach mehrmaligem Niederschlag musste er sich in der 2. Runde endgültig als geschlagen bekennen.“

Nach dem Sieg der Arnstädter über Fortuna Ilmenau mit 16:2 las man ein anderes Mal: „An jenem Abend (11. Oktober 1930) schlug Rudi Heinze den auf der Höhe seines Könnens stehenden Sternkopf-Ilmenau in der ersten Runde k.o.“

Als ein „Box-Großkampfabend, auf den alle warten!“ wurde 1936 ein besonderes Ereignis angekündigt: „Nach den Ostpreußen, Schwaben, Saarländern und Reichshauptstädtern nun ‚Die vom Niederrhein’ im Arnstädter Boxring!“ Eine Pressestimme: „Und nun hat es Freund Ermisch von den Boxern Arnstadts, der den Laden schmeißt, fertig gebracht, uns die aus Elberfeld und Barmen am Sonnabend (15. Mai 1936) im Arnstädter Ring vorzustellen. Es ist beileibe nicht so einfach, einen solchen Kampfabend aufzuziehen. Es gehört Mut und Ausdauer dazu, und den haben Gott sei Dank unsere Boxer noch, obwohl sie schwer zu kämpfen haben. Arnstadt ist auf boxsportlichem Gebiet im Thüringer Land mitführend…“

„Es ist alles zur Stelle. Wir brachten gestern die Paarungen und konnten aus den Rekorden der rheinischen Gäste ersehen, dass man dort unten am Niederrhein eine gute Faust schlägt. Wir lasen von Heinze, unserem Schwergewichtler, dass man wieder mit ihm rechnen kann.“ Und am Schluss: „Wer kann da widerstehen und dieser ‚großen Sache’ fernbleiben? Wohl keiner! Arnstädter Sportfreunde, zeigt einmal den Gästen aus dem Rheinland, dass man auch in unserer Kleinstadt sportfreundlich ist.“ Und unter dem Foto des eigenen Schwergewichtlers stand: „Wird es Heinze schaffen?“ Wie ich dem Startbuch entnehmen kann, schaffte er es nicht. Mein Vater verlor nach Punkten. Auf ihrer Thüringen-Reise hatte die Staffel vom Niederrhein zuvor einen Rückkampf in Erfurt.

Nach dem Krieg, den mein Vater in der Wehrmacht an der Ostfront überstanden hatte, ging er noch einige Male in den Ring. Wie ich mich erinnere, verlor er dabei im vollen Chema-Klubhaus in Arnstadt einen Kampf. Ich hatte ihn an der Seite meiner Mutter vom Rang aus verfolgt, war dann aber sehr traurig. Später wirkte er kurzzeitig als Trainer und betreute in der Turnhalle am Wollmarkt junge Boxsportler.

Hin und wieder schaue ich mir seine Urkunden an, lese die damaligen Presseberichte über den Arnstädter Boxsport. Wenn ich in Erfurt an der Thüringenhalle vorbeifahre, denke ich oft daran, dass hier mein Vater vor großem Publikum Wettkämpfe bestritten hat. (2014)

Meine Jugendliebe – ein Rennrad

Wer denkt nicht gern an seine jungen Jahre und die erste Jugendliebe zurück. Sicherlich Jungs wie Mädchen. Auch mir geht es so. Es war Liebe auf den ersten Blick! Und ich, damals gerade mal so etwa 12 Jahre alt. Doch was bei mir das Herz höher schlagen ließ, war noch keines der vielen Fräuleins, die Tag für Tag durch unsere Straße zur Mädchenschule liefen, die "Schule der Nationalen Front" hieß. Früh hin, mittags zurück. Denen machte ich erst später schöne Augen. Oder versuchte es jedenfalls.