Arbeit mit dem Inneren Team bei Krebs und anderen Erkrankungen (Leben Lernen, Bd. 307) - Dagmar Kumbier - E-Book

Arbeit mit dem Inneren Team bei Krebs und anderen Erkrankungen (Leben Lernen, Bd. 307) E-Book

Dagmar Kumbier

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Beschreibung

Die plötzliche Konfrontation mit einer schweren Erkrankung löst auch bei psychisch stabilen Menschen nachhaltige Erschütterungen aus. Wir alle verlieren in dieser Situation die Sicherheit, mit der wir uns bisher durch unser Leben bewegen konnten. Im Bild des »Inneren Teams« gesprochen, drängen nun ängstliche, wütende, verzagte oder pessimistische Anteile in den Vordergrund und dominieren die psychische Verfassung. Die Autorin zeigt an zahlreichen erprobten Interventionen, wie durch Würdigung und Akzeptanz aller Anteile mit einem aus der Balance geratenen Inneren Team wirksam gearbeitet werden kann. Krebserkrankungen stehen als die häufigste der lebensbedrohlichen Diagnosen im Zentrum des Buches, doch die positiven Ergebnisse der Inneren-Team- Arbeit zeigen sich auch bei anderen schweren Krankheiten wie zum Beispiel Multiple Sklerose oder Parkinson. Dieses Buch richtet sich an - PsychotherapeutInnen aller Schulen - Psycho-OnkologInnen - Schwer erkrankte Menschen, die nach einem hilfreichen Weg durch ihre Krankheit suchen

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Seitenzahl: 384

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Dagmar Kumbier

Arbeit mit dem Inneren Team bei Krebs und anderen Erkrankungen

Methoden- und Praxisbuch

Zu diesem Buch

Die plötzliche Konfrontation mit einer schweren Erkrankung löst auch bei psychisch stabilen Menschen nachhaltige Erschütterungen aus. Wir alle verlieren in dieser Situation die Sicherheit, mit der wir uns bisher durch unser Leben bewegen konnten. Im Bild des »Inneren Teams« gesprochen, drängen nun ängstliche, wütende, verzagte oder pessimistische Anteile in den Vordergrund und dominieren die psychische Verfassung. Die Autorin zeigt an zahlreichen erprobten Interventionen, wie durch Würdigung und Akzeptanz aller Anteile mit einem aus der Balance geratenen Inneren Team wirksam gearbeitet werden kann. Krebserkrankungen stehen als die häufigste der lebensbedrohlichen Diagnosen im Zentrum des Buches, doch die positiven Ergebnisse der Inneren-Team-Arbeit zeigen sich auch bei anderen schweren Krankheiten wie zum Beispiel Multipler Sklerose oder Parkinson.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Impressum

Leben Lernen 306

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Umschlag: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von © Dagmar Kumbier

Abbildungen: Dagmar Kumbier © der Abbildungen bei der Autorin

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89243-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11543-7

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20406-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Geleitwort

Einführung

Kapitel 1

Krankheit als Schicksalsschlag

1.1 Existenzängstliche, trauernde und wütende Anteile

1.2 Die Schutzmannschaft

1.3 Vorverletzte Anteile und deren Wächter

1.4 Schuldgefühle

1.5 Lebensfrohe Anteile und das Phänomen des ›Response Shift‹

1.6 Weise Anteile und Posttraumatisches Wachstum

1.7 Das Oberhaupt

1.8 Fazit

Kapitel 2

Psychosomatische Perspektiven

2.1 Warum bekommen wir Krebs? Ein Krankheitsmodell

2.2 Hat die Psyche einen Einfluss auf Krebs? Empirische Befunde

2.3 Psychosomatische Krankheitstheorien

2.4 Sinn und Risiken psychosomatischer Krankheitstheorien

2.5 Was folgt daraus?

Kapitel 3

Krankheit und Partnerschaft

3.1 Typische Innere-Team-Mitglieder des Partners oder der Partnerin

3.2 Veränderte Rollen

3.3 »Du musst deinen Weg finden – und es geht mich was an!«

3.4 Die Notwendigkeit zu sprechen

Kapitel 4

Wie Krankheit die therapeutische Beziehung verändert

4.1 Mitmenschliche Begegnung auf Augenhöhe

4.2 Voraussetzungen aufseiten des Therapeuten

4.3 Wenn die Therapeutin schwer erkrankt

4.4 »Willst du mich, darf ich dich wollen?« Besonderheiten bei der Weiterbehandlung von Patienten erkrankter Kolleginnen (Alexia Glaveris)

Kapitel 5

Stabilisierende Arbeit

5.1 Welche Krankheitsgeschichten erzählen wir uns?

5.2 Gebrauchsanweisung: Zum Umgang mit Methoden und Übungen

5.3 Innen wie außen: es geht um Kontakt

5.4 Das Oberhaupt stärken

5.5 Kraftorte finden

5.6 Schützende und stärkende Teile einladen

Kapitel 6

Den eigenen Weg finden

6.1 Die Teile zusammenrufen

6.2 Weise Anteile und innere Heiler einladen

6.3 Zukunftsprojektion

Kapitel 7

Vertiefende Arbeit

7.1 Unterstützende Bilder bei belastenden Behandlungen finden

7.2 Vorverletzungen bearbeiten

7.3 Arbeit mit psychosomatischen Phantasien

7.4 Umgang mit Schmerzen

7.5 Rezidiv und gravierende Verschlechterungen

7.6 Bilder von Krankheit, Leben und Tod entwickeln

7.7 Zurück ins Leben finden

Kapitel 8

»Alle Teile sind willkommen.« Erfahrungen während einer Krebserkrankung (Johanna)

Zum Schluss

Dank an . . .

Literatur

für Stefan

Geleitwort

Menschen mit schweren körperlichen Erkrankungen geraten in eine äußere und innere Welt, die viel Fremdartiges enthält: Sie werden mit kaum verständlichen Diagnosen konfrontiert, die das beschreiben sollen, was so lebensgefährlich von ihnen Besitz ergriffen hat. Sie werden Behandlungen ausgesetzt, deren Nebenwirkungen sich häufig eingreifender ausnehmen als die Krankheit selbst. Sie müssen sich mit einem Gesundheitssystem auseinandersetzen, dessen Regeln und Protagonisten zuweilen als wenig hilfreich, sondern als unzulänglich und selbst gefährlich eingeschätzt werden. Dennoch bewältigen die meisten Betroffenen diese Herausforderungen erstaunlich gut mit eigenen – mehr oder weniger eleganten – Mitteln. Nur ein kleinerer (aber bedeutsamer) Teil der Schwerkranken gerät in schweren psychosozialen Distress oder entwickelt psychische Störungen im engeren Sinne. Insofern sind wir als Begleiter gut beraten, auf Anzeichen ernster psychischer Dekompensationen zu achten, zugleich aber alles Mögliche dafür zu tun, der äußeren und inneren Welt unserer Patienten nicht mit einer interventions- und störungsfokussierten, sondern einer grundsätzlich menschlichen, das Leid würdigenden Haltung zu begegnen.

Psychoonkologie ist – nach einem guten halben Jahrhundert Entwicklung – heute ein ausgearbeitetes Fach, das national und international über eigene Qualifikationscurricula, Fachverbände, Lehrstühle und wissenschaftliche Fachzeitschriften verfügt. Differenziert ausgearbeitete Leitlinien auf hohem Evidenzniveau leiten die Arbeit und vermitteln den Patienten, dass sie einen Anspruch auf gute Versorgung im stationären und ambulanten Sektor haben. Hochspezialisierte Krebszentren sind heute verpflichtet, ausreichende psychoonkologische Versorgung vorzuhalten, Angehörige und Selbsthilfegruppen mit einzubeziehen und auch für die Überlebenden da zu sein.

Die Autorin dieses Bandes bezeichnet sich explizit nicht als »Psychoonkologin«. Sie arbeitet nur von Fall zu Fall mit Krebspatienten. Sie ist auch nicht im Krankenhaus oder Hospiz mit Schwerkranken tätig. Dennoch legt sie ein Buch über die psychotherapeutische Arbeit mit Schwerkranken vor, das aus meiner Sicht außerordentlich empfehlenswert ist und für Neulinge wie für Erfahrene von großem Nutzen sein kann. Gründe dafür sind: Dagmar Kumbier verfügt als approbierte Psychotherapeutin über intensive Erfahrungen in der Arbeit mit dem Inneren Team. Sie war jahrelang wissenschaftliche Mitarbeiterin von Friedemann Schulz von Thun, hat das Konzept des Inneren Teams substanziell weiterentwickelt und bietet seit Langem Fortbildungen zum Inneren Team an. Zum Zweiten: Die Autorin war selbst an Krebs erkrankt und hat zudem als Angehörige Erfahrungen mit chronischer Erkrankung machen müssen. Schließlich lässt sie sogar eine enge Freundin zu Wort kommen, die ebenfalls – und rezidiviert – an Krebs erkrankt ist. Die persönliche Betroffenheit und die Tiefe der konzeptuellen und praktischen Durcharbeitung merkt man dem Werk an. Es ist ein sehr authentisches Lehrbuch, das durch die Echtheit und Unvermitteltheit die Leserin und den Leser auf einen Lernweg mitnimmt.

Die Arbeit mit dem Inneren Team lässt sich in vielfältigen Feldern, wie der Beratung oder dem Coaching einsetzen. Besondere Bedeutung erhält sie in der Psychotherapie mit traumatisierten Menschen. Es gibt Übergänge der Inneren-Team-Arbeit zu der mit Ego-States oder Ich-Anteilen, wie sie z. B. Luise Reddemann in ihrer Psycho-Imaginativen Traumatherapie (PITT) vorgestellt hat. Eine traumatheoretisch und -therapeutisch inspirierte Vorgehensweise erscheint nicht selten in der Arbeit mit körperlich Schwerkranken angezeigt. Denn das Sich-Einnisten des malignen Fremdlings im Körper der Patientin bietet viele Dissoziationsangebote: Das, was da in mir so bösartig verborgen ist, gehört – bitte – nicht zu mir. Meine innere Stimme, die sich nach Heilung sehnt, droht angesichts aggressiver Zumutungen onkologischer Therapien zu verstummen. Fortgesetztes chronisches Leiden kann die Intaktheit meiner Person beschädigen. Meine Lebensläufe werden unterbrochen, aktuelle Entwicklungsaufgaben infrage gestellt. Überall kommt es zu Brüchen, Verschiebungen, Verrückungen, Gräben entstehen, nahe Menschen entfernen sich, und die Kakophonie der inneren Stimmen droht unerträglich laut zu werden.

Wie wohltuend und folgerichtig, dieses innere Chaos und Auseinanderfallen freundlich zu ordnen und der Vielstimmigkeit ein Gesicht, ein Bild, einen Namen zu geben: Da sind die vielen, meine inneren Anteile, mein Inneres Team, das kennenzulernen sich lohnt, das ich mit einem haltenden Gegenüber besser kennen- und vielleicht auch nutzen lernen kann. Die von der Autorin mit leichter Hand gezeichneten Stellvertreter dieses Inneren Teams laden uns ein, uns auf diese Reise zu begeben: Von der Konfrontation mit lebensbedrohlicher Krankheit über das Hören der Stimmen des inneren Chores bis zum Beginn einer Komposition. Das Entscheidende wird dabei nicht ein möglicher Wohlklang (den kann es angesichts realer Lebensbedrohung selten geben), sondern eine persönliche Wiederaneignung des inneren Raumes sein.

Ich wünsche dem Buch, das eine Brücke zwischen Psychoonkologie und der Arbeit mit dem Inneren Team schlägt, eine interessierte Leserschaft und viel Erfolg!

Frank Schulz-Kindermann, Hamburg1

Einführung

Ich kenne den Tod schon lange,

doch jetzt kennt der Tod auch mich.

Benedikt Wells Vom Ende der Einsamkeit

»Es war schlimm – und es ist vorbei.« Diesen Satz können wir unseren Klienten in der Traumatherapie in aller Regel sagen. Wenn wir Klienten durch lebensbedrohliche oder chronische körperliche Krankheiten begleiten, dann gilt dieser Satz nicht. Hier ist das Schlimme nicht vorbei, hier müssen Klienten mit der Möglichkeit rechnen, dass die Krankheit bleibt, voranschreitet oder wiederkommt, dass die Krankheit oder deren Behandlung ihren Körper beschädigt, dass sie daran sterben werden.

Das verändert nicht nur das, was der Klient oder die Klientin vom Therapeuten braucht und erwartet, es verändert auch das Verhältnis zwischen Therapeut und Klient grundlegend. Denn das, was dem Klienten hier widerfährt, kann jederzeit auch dem Therapeuten widerfahren: Krankheiten gehören zu unserem Alltag. Ebenso wie andere Menschen haben auch Therapeuten Angst, dass sie selbst oder Menschen, die sie lieben, schwer erkranken könnten. Der Therapeut oder die Therapeutin ist daher hier sehr viel stärker als bei anderen Themen mit eigenen Ängsten konfrontiert. Vielleicht ist das der Grund dafür, warum das Thema »Psychotherapeutischer Umgang mit lebensbedrohlichen und chronischen Erkrankungen« in der psychotherapeutischen Aus- und Fortbildung kaum eine Rolle spielt. Es wird an die Psychoonkologie delegiert und ausgelagert. Das wird der Vielfältigkeit und Relevanz des Themas in der alltäglichen therapeutischen Praxis nicht gerecht.

Für mich hat das Thema »Krankheit« seit jeher eine wichtige Rolle gespielt. Ich machte früh die Erfahrung, dass auch junge Menschen lebensbedrohlich und chronisch erkranken können, dass der Tod auch Jugendliche, Kinder und Babys holt. Da mein Mann zwei chronische Erkrankungen hat, gehört das Leben mit Krankheit seit vielen Jahren zu meinem Alltag. Daher fühlte ich mich im psychotherapeutischen Umgang mit Klienten, die körperlich schwer krank waren, kompetent und unbefangen und hatte das Gefühl, vielen von ihnen helfen zu können.

Dennoch änderte sich mein Blick auf Krankheit grundlegend, als ich selbst 2015 an Krebs erkrankte. Manche Irritationen, auf die ich in der Arbeit mit schwer erkrankten Klientinnen und Klienten gestoßen war, erkannte ich nun als meine eigenen Grenzen. Nicht die Klienten hatten sich an bestimmten Punkten nicht weiter vorgewagt, sondern ich. Und erst im Umgang mit meiner eigenen Erkrankung wurde mir klar, mit welcher Selbstverständlichkeit ich zuvor (wider mein bewusstes Denken) ein Leben mit Krankheit als beschnittenes Leben angesehen hatte und wie sehr mir diese unbewusste Überzeugung dabei im Weg gestanden hatte, Klienten darin zu unterstützen, ihre Krankheiten anzunehmen und in ihr Leben zu integrieren.

Auf der Suche nach einem Weg durch meine Erkrankung veränderte sich mein Bild von Krankheit und vom Leben mit Krankheit tief greifend – und ebenso änderte sich mein Verständnis dessen, was Menschen in schwerer Krankheit an Unterstützung brauchen. Da ich psychotherapeutisch intensiv mit dem Inneren Team arbeite (Schulz von Thun 1998, Kumbier 2013 & 2016), lag es nahe, während meiner Krankheitszeit Unterstützung in dieser Arbeitsweise zu suchen. Ich hatte das Glück, ein wunderbares Netzwerk dafür zu haben, nämlich meine Intervisionsgruppe und Tom Holmes (Holmes 2010). Die Stunden mit meinen Kolleginnen und mit Tom waren kostbar und unterstützend für mich. Zugleich arbeitete ich intensiv mit mir selber, las über Ansätze in der Arbeit mit Krebspatienten und fand heraus, was mir hilfreich war und was nicht.

Nach meiner Genesung erprobte ich das, was ich gelernt hatte, in meiner Praxis als Psychotherapeutin und Lehrende. Der Drang, die Konzepte auszuarbeiten und aufzuschreiben, war groß. Zugleich hatte ich Scheu davor, ein Buch zu diesem Thema zu veröffentlichen. Denn ich wusste, dass Bücher Anfragen von Klienten nach sich ziehen, und ich wusste auch, dass ich nicht als Psychoonkologin arbeiten will. Das schien mir zu nah an meinen eigenen Themen. Und so prägend meine Krankheit auch für mich und mein Leben war, ich wollte und will diese nicht zu einem Mittelpunkt meiner Identität machen. Natürlich werde ich Klienten, die während oder nach der Therapie bei mir erkranken, begleiten, aber ich will keinen Praxisschwerpunkt daraus machen. Dennoch ertappte ich mich dabei, wie ich gewissermaßen hinter meinem eigenen Rücken an dem Manuskript weiterarbeitete. Zugleich wurde ich in Fortbildungen immer wieder nach Veröffentlichungen zu just diesem Thema gefragt. Das Buch wollte und sollte also offenbar zur Welt kommen, und so entschied ich mich dafür, meine Erfahrungen schreibend und lehrend zugänglich zu machen.

In den ersten drei Kapiteln werde ich Krankheiten aus der Perspektive des Inneren Teams beleuchten. Welche Wirkung hat es auf das Innere Team, wenn eine lebensbedrohliche oder chronische Krankheit in das Leben einbricht? Und hat umgekehrt die Psyche einen Einfluss auf die Entstehung schwerer Krankheiten? Ich werde davor warnen, Krankheiten per se psychosomatisch zu deuten, und ich werde der Frage nachgehen, wie mögliche psychosomatische Perspektiven behutsam und respektvoll erkundet werden können – und wann man die Finger davon lassen sollte. Da Partnerinnen, Partner und Kinder von schwer erkrankten Menschen ebenfalls stark durch die Erkrankung belastet sind, werden wir anschließend einen Blick auf das Innere Team von Familienangehörigen werfen. Vor welchen Herausforderungen stehen Paare, wenn ein Partner schwer erkrankt ist, und wie können diese Herausforderungen gut bewältigt werden?

Wie verändert es die therapeutische Beziehung, wenn ein Klient oder eine Klientin körperlich schwer erkrankt ist? Diese Frage steht im Mittelpunkt des vierten Kapitels. Das Gelingen oder Misslingen einer Therapie entscheidet sich nicht an den verwendeten Methoden, sondern am Kontakt: Kern jeder Psychotherapie ist die therapeutische Beziehung. Was ist also in der psychotherapeutischen Arbeit mit schwer erkrankten Menschen wichtig? Einigkeit besteht darüber, dass sie »ressourcenorientiert« sein sollte – aber was ist Ressourcenorientierung? Ich werde darstellen, dass Ressourcenorientierung mehr und anderes ist als die Konzentration auf das Heile und Hilfreiche, denn in der Arbeit mit schweren Erkrankungen kommen wir um die Beschäftigung mit Angst, Verzweiflung und Verletzung nicht herum. Wie kann also ein ressourcenorientierter Umgang mit dem Schweren aussehen? Und was bedeutet es schließlich für den therapeutischen Prozess, wenn die Psychotherapeutin schwer erkrankt? Wie können wir als Psychotherapeuten im Umgang mit unserer eigenen Krankheit uns selbst und unseren Klienten gerecht werden und was bedeutet es, als Psychotherapeut Klienten erkrankter Kollegen zu übernehmen?

In Kapitel fünf bis sieben breite ich den Handwerkskoffer aus. Welche methodischen Möglichkeiten stellt das Innere Team für die Arbeit mit lebensbedrohlichen und chronischen Krankheiten zur Verfügung? Wie kann das Innere Team schwer erkrankte Menschen dabei unterstützen, sich zu stabilisieren, mit schwer erträglichen Gefühlen umzugehen, Vorverletzungen zu bearbeiten, psychosomatische Phantasien zu erkunden und hilfreiche innere Bilder für belastende Behandlungen und für den Umgang mit der Lebensbedrohung zu entwickeln? Im achten Kapitel schließlich schildert eine Kollegin, die selbst chronisch an Krebs erkrankt ist, ihren Weg durch die akute Krankheitsphase und die Rolle, welche die Arbeit mit inneren Anteilen dabei gespielt hat.

Das Buch wendet sich einerseits an Kolleginnen und Kollegen, die therapeutisch mit Menschen arbeiten, die schwer körperlich erkrankt sind. Manche Interventionen setzen Grundlagenwissen und Erfahrung in der Arbeit mit inneren Anteilen voraus, andere nicht. Wer sein Grundlagenwissen zur psychotherapeutischen Arbeit mit dem Inneren Team vertiefen möchte, sei auf mein Basisbuch zu diesem Thema verwiesen (Kumbier 2013). Zugleich wendet sich das Buch an erkrankte Menschen und ihre Angehörigen, die auf der Suche nach einem Weg durch ihre Krankheit oder mit ihrer Krankheit sind. Auch wenn sicherlich nicht alle Methoden zur Selbstanwendung geeignet sind, gehe ich davon aus, dass Beschreibungen, Fallbeispiele und die Haltung, die sich im Buch vermitteln, hilfreich sein können.

Es wird in diesem Buch viel um Krebserkrankungen gehen. Da Krebs eine häufige Erkrankung ist, wurde der psychotherapeutische Umgang mit dieser Krankheit besonders gut erforscht, und deshalb ist man als Psychotherapeutin mit Krebs häufiger konfrontiert als mit anderen Erkrankungen. Aus diesen Gründen und natürlich auch wegen meiner eigenen Erkrankung wird das Thema ›Krebs‹ besonders viel Raum einnehmen. Daneben werde ich jedoch immer wieder Beispiele von Klienten mit anderen Erkrankungen einflechten. Und ich vermute, dass sich viele Fragen, vor denen Krebskranke stehen, auch Menschen mit beispielsweise Parkinson, Multipler Sklerose, HIV, Rheuma oder Diabetes stellen und dass die Umgangsweisen, die ich darstellen werde, in ähnlicher oder abgewandelter Weise auch für sie hilfreich sein können.

Das Innere Team lebt von Geschichten, und so enthält auch dieses Buch viele Fallbeispiele. Nach langem Überlegen habe ich mich entschieden, auch eigene Beispiele beizusteuern. Ich habe niemanden so kontinuierlich begleitet wie mich selber und keinen Prozess so hautnah und differenziert erleben können (und müssen) wie meinen eigenen. Ich hätte es sehr bedauerlich gefunden, auf diese Ernte zu verzichten.

Alle Menschen, die ich erreichen konnte, haben der Veröffentlichung zugestimmt und die Darstellung autorisiert. Ich danke ihnen allen für die Erlaubnis, ihre Geschichten erzählen zu dürfen! Manche Menschen, deren Geschichte mir erzählenswert erschien, konnte ich aus verschiedenen Gründen nicht erreichen. Hier habe ich häufig verschiedene reale Geschichten zusammengefasst und verdichtet. Ich hoffe, dass die Darstellung auch in diesen Fällen im Sinne der Betreffenden wäre. Wie immer habe ich alle biographischen Details so anonymisiert und verfremdet, dass Ähnlichkeiten mit realen Personen reiner Zufall wären.

Nach wie vor kann sich meine innere Sprachästhetin nicht mit dem großen Binnen-I anfreunden, und konsequent beide Geschlechter zu nennen, macht den Text schwerfällig. Um dennoch beide Geschlechter sprachlich einzubeziehen, wechsle ich unsystematisch zwischen männlichen und weiblichen Formen.

Kapitel 1

Krankheit als Schicksalsschlag

Eine schwere Krankheit reißt uns aus unserem Leben heraus – manchmal wie aus heiterem Himmel. Manchmal merken wir im Nachhinein, dass sie sich schon lange angeschlichen hat, und erkennen im Rückblick ihre Vorboten: die Erschöpfung, das veränderte Körpergefühl, die latenten Schmerzen, die Angst und manchmal die Depression, mit der wir schon auf das reagiert haben, was wir bewusst noch gar nicht wahrgenommen hatten. Zum Schock der Diagnose kommt dann womöglich noch das Erschrecken hinzu, nicht eher gemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmt.

Die Zukunft ist nun mit einem Fragezeichen versehen: Wird sie überhaupt stattfinden, jedenfalls mit mir? Wovon muss ich mich verabschieden, für jetzt oder unwiederbringlich? Werde ich mit dieser Krankheit dem Leben gewachsen sein? Was bisher Halt und Stabilität gegeben hat, steht ebenso infrage wie die eigene Identität. Wer bin ich noch – ohne meinen Beruf, ohne meine Haare, ohne die Kraft oder die Schönheit meines Körpers, ohne meine Brust oder meine Potenz, mit eingeschränkter Konzentration? Worauf kann ich mich verlassen? Was wird mit meinen Beziehungen passieren? Kann ich denen vertrauen, denen zu vertrauen ich keine Wahl habe?

Die Sozialpsychologin Ronnie Janoff-Bulman beschreibt, dass wir in unserem Alltag davon ausgehen, dass die Welt uns wohlwollend gegenübersteht und dass die Welt verstehbar, beherrschbar, vorhersehbar und gerecht ist. Da wir uns selber für anständige und achtbare Menschen halten, gehen wir unbewusst davon aus, dass uns also nichts wirklich Böses passieren wird (Janoff-Bulman 1992 & 2004). Der Traumaforscher Stephen Joseph bringt diese unbewusste Grundannahme auf den Punkt: »Nicht, dass wir glauben würden, es würde nichts Schlimmes passieren: Vielmehr glauben wir, uns würde nichts Schlimmes passieren.« (Joseph 2015, 96) Wir halten uns selber für unverletzbar. Und je jünger ein Mensch ist und je weniger er in seinem Leben bislang mit Schicksalsschlägen konfrontiert war, umso ungebrochener ist dieser Glaube an die eigene Unverletzbarkeit.

Diese Grundannahmen schützen uns vor der Angst, die das Bewusstsein unserer Verletzlichkeit und Sterblichkeit und die Frage nach dem Sinn unserer Existenz in uns auslösen können (Yalom 1989). Ein gravierender Schicksalsschlag wie die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung stellt diese unbewussten Grundüberzeugungen infrage und erschüttert uns damit bis ins Mark. Darin liegt das »traumatische Potential« schwerer Erkrankungen (Schulz-Kindermann 2013, 112): Nicht nur, dass sich unser Leben auf einmal grundlegend ändert und wir gravierende Probleme bewältigen müssen – wir verlieren auch die Sicherheit, mit der wir uns bislang in der Welt bewegen konnten. Die Krankheit konfrontiert uns unvermittelt mit unserer Verletzlichkeit und unserer Sterblichkeit.

Wie spiegelt sich all das im Inneren Team?

Im Modell des Inneren Teams gehen wir von der Vorstellung aus, dass jeder Mensch viele verschiedene innere Anteile hat (Schulz von Thun 1998, Schwartz 1997, Kumbier 2013 & 2016). Dabei verstehen wir die innere Dynamik in Analogie zur Dynamik in äußeren Teams oder Familien.

Innen wie außen gilt, dass es dem System nur dann gut gehen kann, wenn alle seine Mitglieder sich respektiert und gewürdigt fühlen, wenn ein gedeihliches Klima herrscht, in dem jeder seinen Platz hat und jeder mit seinen Anliegen und Bedürfnissen gesehen und anerkannt wird. Innen wie außen braucht es dafür Führung. Es braucht eine Instanz, die sich dafür zuständig fühlt, dieses Team zu moderieren und zu leiten, dominante Teile des Teams zu bremsen und dafür zu sorgen, dass auch schwache Teammitglieder und Teammitglieder, die als ›schwierig‹ empfunden werden, zu ihrem Recht kommen. Im Inneren Team nennen wir diese Führungsinstanz »Oberhaupt« (Schulz von Thun 1998, 79 ff., Kumbier 2013, 30 ff.). Es ist wichtig, dass wir als Oberhaupt unseres Inneren Teams zu jedem unserer Teammitglieder einen Draht haben und nicht manche Teammitglieder ablehnen und versuchen, diese aus unserem Inneren Team zu exkommunizieren. Auch hier gilt: innen wie außen. Wer sich ausgeschlossen fühlt, wird sich trotzdem bemerkbar machen – dann vielleicht in Form von Verweigerung und Blockaden. Wer nicht gehört wird, kann auch nicht integriert werden. Und im Gegensatz zu äußeren Teams können wir Mitgliedern des Inneren Teams nicht kündigen: Sie bleiben ein Teil von uns, und es bleibt unsere Aufgabe, mit ihnen umzugehen.

Alle Mitglieder des Inneren Teams verdienen Würdigung und Respekt – auch und gerade die Teammitglieder, die wir als schwierig erleben, weil sie beispielsweise sehr viel Angst haben oder weil sie uns attackieren oder entwerten. Bei der Arbeit mit dem Inneren Team gehen wir von der Überzeugung aus, dass auch diese Teammitglieder gute Gründe für ihr Verhalten haben. Häufig liegen diese Gründe nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit. Dann können wir diese Teammitglieder nur vor dem Hintergrund unserer Biographie verstehen.

Eine schwere Krankheit wirbelt die Aufstellung unseres Teams, mit der wir bislang durchs Leben gegangen sind, vollkommen durcheinander. Wir sind mit extremen Gefühlen konfrontiert, und unsere bisherige Art, mit Gefühlen umzugehen und uns in der Welt zu verorten, wird radikal infrage gestellt und funktioniert häufig nicht mehr. Hier ist es von besonders hoher Bedeutung, wie wir mit den unterschiedlichen Mitgliedern unseres Inneren Teams umgehen. Je mehr es uns gelingt, die unterschiedlichen Teammitglieder in ihrem Erleben und in ihrer Reaktion wahrzunehmen und zu akzeptieren, umso besser werden wir die Krankheit bewältigen können. Auch und gerade im Ausnahmezustand einer schweren Erkrankung gilt also, dass alle Teammitglieder in ihren sehr unterschiedlichen Reaktionen auf die Diagnose ein Daseinsrecht haben und Platz brauchen.

Mit welchen Teammitgliedern müssen wir dabei typischerweise rechnen?

1.1 Existenzängstliche, trauernde und wütende Anteile

Die Diagnose einer lebensbedrohlichen oder chronischen Erkrankung wie Krebs, HIV, Multipler Sklerose, Parkinson oder Rheuma löst massive Gefühle aus. Diese Gefühle sind so stark, dass sie uns zumeist erst einmal überfluten und es schwer ist, sie einzelnen Mitgliedern des Inneren Team zuzuordnen. Denn das würde eine Distanz zu diesen Gefühlen voraussetzen, die wir gerade zu Beginn oft nicht haben.

Das stärkste Gefühl dabei ist Angst. Auf einmal geht es um Leben und Tod, auf einmal geht es um meine ganze Existenz. Werde ich an dieser Krankheit sterben – und wann? Werde ich leiden? Wird mein Körper beschädigt werden? Was passiert mit mir während der Behandlungen, welche Nebenwirkungen werden diese haben? Treffe ich die richtigen Entscheidungen? Woran soll ich mich orientieren, wem soll ich vertrauen – und was passiert, wenn ich den falschen Weg gehe? Werde ich weiterhin arbeiten können, werde ich meine Arbeit verlieren, werde ich verarmen? Wer wird für mich da sein? Werde ich sterben und meine Kinder allein zurücklassen müssen? Was wird dann aus ihnen?

Die Ängste, welche diese Fragen auslösen, haben eine Qualität, die wir in unserem sicheren Alltag ansonsten nicht kennen. Sie sind stärker, existentieller, oft auch körperlicher. Sie überfluten uns in einem Maße, wie wir es sonst nur aus traumatischen Situationen kennen, sie können uns phasenweise vollkommen außer Gefecht setzen. Die Wucht dieser Ängste macht zusätzlich Angst: Kann ich diese Gefühle bewältigen, kann ich mich beruhigen und handlungsfähig bleiben oder werde ich darin untergehen? Der Umgang mit der Angst, welche eine Krankheit wie Krebs auslöst, ist eine der drängendsten und schwierigsten Aufgaben, vor die sich ein schwer erkrankter Mensch gestellt sieht. Entsprechend werden wir uns später ausführlich damit beschäftigen, wie ein guter und heilsamer Umgang mit dieser Angst aussehen kann (vgl. S. 159 – 187).

Schwere Krankheiten beschädigen unseren Körper und womöglich auch unser Selbstbild und unser soziales Netz. Sie fügen uns Kränkungen zu. Diese Kränkungen sind umso schmerzhafter, je mehr das, was uns die Krankheit raubt, zum Kern unserer Identität gehört: wenn ich mich beispielsweise als bislang sportlicher Mensch in meiner Kraft und Stärke beschädigt sehe (siehe dazu S. 191 ff.) oder wenn ich fürchten muss, dass durch die Krankheit die Klarheit meiner Wahrnehmung oder meines Denkens beeinträchtigt werden könnte. Auch die Erfahrung, dass sich manche Menschen von uns zurückziehen, wenn wir schwer krank werden, kann sehr kränkend sein, gerade wenn es dabei um Menschen geht, denen wir uns verbunden glaubten.

Diese Kränkungen lösen bei vielen Menschen auch Wut aus: Wut über die Ungerechtigkeit, dass mich wie aus heiterem Himmel ein solcher Schicksalsschlag trifft. Mich – obwohl ich nicht geraucht und gesund gelebt habe. Mich – obwohl ich noch jung bin, obwohl ich Kinder habe und gebraucht werde, obwohl ich gerade ein neues Kapitel im Leben begonnen habe. Mich – und nicht jemand anderen. Wut ist eine angemessene Reaktion auf eine solche Zumutung und auf das Zerbrechen unseres Vertrauens auf eine berechenbare und gerechte Welt. Auch diese Wut ist oft sehr körperlich und sehr viel extremer als die Wut, die wir im Alltag erleben.

Aber auf wen sollen wir wütend sein? Manchmal findet die Wut Adressaten: Menschen, die uns im Stich lassen oder die unsensibel und destruktiv reagieren. Gott – wenn wir denn gläubig sind. Oder den Arzt, der eine Fehldiagnose gestellt, der (tatsächlich oder vermeintlich) falsch behandelt hat, wodurch kostbare Zeit verstrichen und alles noch schlimmer geworden ist. Manchmal macht die Wut uns auch ungerecht, dann besteht die Gefahr, dass Partner oder Partnerin, Kinder, das Pflegepersonal oder unsere Ärzte diese Wut abbekommen.

Womöglich setzen Krankheiten manchmal auch eine Wut frei, die vorher schon geschlummert hat. Die Krankheit macht klar, dass unsere Zeit begrenzt ist, und konfrontiert uns mit der Frage, wie wir mit dieser kostbar gewordenen Lebenszeit umgehen wollen. Das sensibilisiert für Dinge, die uns nicht guttun, und senkt die Bereitschaft dazu, Dinge weiter auszuhalten. Viele Menschen beschreiben, dass sie sich als Reaktion auf eine schwere Krankheit klarer abgrenzen, deutlicher wählen, was sie wollen und was nicht, und sich klarer gegen Zumutungen abgrenzen.

Ein weiteres Gefühl, mit dem wir im Verlauf einer schweren Krankheit häufig konfrontiert werden, ist Trauer. Diese meldet sich in aller Regel nicht beim ersten Aufprall der Krankheit zu Wort. Zunächst stehen wir unter Schock und können noch gar nicht ermessen, was diese Krankheit für uns bedeuten wird. Schritt für Schritt wird dann deutlicher, was wir durch die Krankheit verlieren, was sie uns kosten wird. Vielleicht eine Brust – oder die Potenz. Vielleicht verlieren wir dauerhaft unsere Gesundheit, müssen mit empfindlichen Einschränkungen unserer Leistungsfähigkeit leben und uns von Dingen oder Möglichkeiten verabschieden, an denen unser Herz hing: Sport treiben und wandern gehen; auf den eigenen Beinen laufen können; beruflich weit vorne mitspielen können, Kinder bekommen können; zu erleben, wie die Kinder erwachsen werden; unabhängig leben können. Vielleicht müssen wir auch realisieren, dass manche Beziehungen, die uns wichtig waren, nicht tragen: dass die Freundin, auf die wir glaubten uns verlassen zu können, sich monatelang nicht meldet, manche Bekannte sich zurückziehen, dass der Partner sich als überfordert erweist.

Dabei ist es wichtig, nicht nur die gravierenden großen Verluste ernst zu nehmen, sondern auch kleinere Verluste, deren Bedeutung von außen nicht immer nachzuvollziehen ist.

Ich habe den Verlust meiner Haare während der Chemotherapie zwar schlimm gefunden, er fiel aber angesichts der Umstände gewissermaßen nicht so auf. Ich stand noch unter dem Schock der Diagnose, und der Verlust meiner Haare schien mir nicht das größte Problem zu sein, vor dem ich stand.

Wirklich schlimm wurde der Verlust meiner Haare, als ich in meinen Alltag zurückkehrte. Meine Haare waren noch so kurz, dass mir die Krankheit gewissermaßen auf den Kopf geschrieben war. Im Schutzkokon der Krankheit war das nicht so schlimm gewesen. Ich sah krank aus, und ich war ja auch krank, mein Aussehen war also gewissermaßen in Deckung mit meinem Zustand. Aber als ich diesen Kokon wieder verlassen musste und wollte, fühlte ich mich nackt.

Dazu kam, dass ich nicht mehr aussah wie ich selber. Ich hatte immer lange Haare gehabt, und sie waren sehr schön, ich hatte nichts an meinem Aussehen so geliebt wie meine Haare. Die Frau mit den kurzen Haaren, die mir aus dem Spiegel entgegenblickte, war mir zugleich vertraut und fremd. Ich beneidete eine Kollegin, die sehr kurze Haare gehabt hatte, weil sie viel schneller wieder aussah wie sie selber. Und es stellte sich heraus, dass meine Haare zwar wiederkamen – aber sie kamen anders wieder. Sie waren nicht mehr so schön wie vor meiner Krankheit, und es sieht so aus, als würde das auch so bleiben.

Es war ein Trauerprozess, mich vom alten Bild meiner selbst zu verabschieden und zu akzeptieren, dass die Chemotherapie mir etwas genommen hat, das mir kostbar war. Auch wenn ich weiß, dass ich der Chemo mein Überleben verdanke, bleibt das ein schmerzlicher Verlust.

Der Psychoonkologe Frank Schulz-Kindermann weist darauf hin, dass für manche Frauen der Haarverlust eine »psychische Katastrophe« ist, unter der sie zuweilen stärker zu leiden scheinen als unter der Krebserkrankung. Das gelte vor allem dann, wenn die eigenen Haare ein wichtiges Merkmal der eigenen Identität und der eigenen Weiblichkeit gewesen seien. »Alle Versuche, an das (meist) Vorübergehende sowie an Möglichkeiten der Camouflage zu appellieren, schlagen hier ebenso fehl wie die Versicherung, dass die Betroffene ›so eine schöne Kopfform hat‹. Auch hier handelt es sich um ein Verlusterlebnis, das betrauert werden muss und das unsere ›Trauerbegleitung‹ erfordert. Notwendig ist dazu zunächst, den Verlust umfassend anzuerkennen und nicht den Fehler zu begehen, vorschnell pragmatische Vorschläge zu machen (›die wachsen ja bald wieder . . .‹)« (Schulz-Kindermann 2013, 265).

Was wichtig ist und was durch die Krankheit unwichtig geworden ist, das wird bei jedem Menschen anders sein, das wird sich auch im Verlauf der Krankheit ändern. Damit Verluste verarbeitet und integriert werden können, müssen sie betrauert werden können. Beispielsweise hat der Verlust einer Brust nach einer Brustkrebserkrankung eine sehr unterschiedliche Bedeutung. Manchen fällt es leicht, sich von einer Brust zu trennen, wenn sie dafür ihr Leben gewinnen. Andere trauern intensiv darum und brauchen lange, um ihren neuen Körper schrittweise von innen und von außen zu erkunden und zu akzeptieren (Schärer 2013). Erst wenn dieser Prozess Raum hatte, kann eine Entscheidung reifen, ob die Narbe fortan zum eigenen Körper gehört oder ob die Brust wiederaufgebaut werden soll. Für diese Trauerprozesse braucht es Menschen, welche die Verluste anerkennen, ohne zu werten oder vorschnell zu trösten.

Gefühle sind während einer schweren körperlichen Erkrankung sehr viel heftiger, existentieller und körperlicher. Sie sind direkter, schwieriger in Worte zu fassen, archaischer und dadurch ängstigender. Häufig ist es daher zu Beginn schwer, diese Gefühle einzelnen Teammitgliedern zuzuordnen. Zugleich kann es eine entlastende Wirkung haben zu klären, wer denn da Angst hat, wütend oder traurig ist, wer sich einsam oder überfordert fühlt. Es ist hilfreich, genau zu klären, wovor wir uns fürchten, was uns so zornig macht und worum genau wir trauern. Gefühle, die wir verstehen, sind weniger ängstigend und leichter zu akzeptieren.

Abbildung 1: Teammitglieder mit existentiellen Gefühlen

Psychoonkologen betonen, wie wichtig es ist, die extremen Gefühle von Krebskranken nicht zu pathologisieren, sondern diese als situationsadäquate emotionale Reaktion auf eine existentiell erschütternde Situation zu betrachten (Herschbach & Heußner 2008, 14, Schulz-Kindermann 2013, 15, 112, 148). Die Gefühle sind eine Reaktion auf die Erschütterung unserer Weltsicht durch die Krankheit. Und es ist wichtig, dass wir die Teammitglieder, die mit diesen Gefühlen reagieren, kennenlernen und lernen, sie zu versorgen. Dafür müssen wir sie zunächst einmal finden, denn zuweilen sind sie gut versteckt.

1.2 Die Schutzmannschaft

Die Schutzmannschaft im Inneren Team versucht, den Aufprall der Gefühle abzumildern und uns vor deren Wucht zu schützen. Sie wirkt wie ein psychischer Airbag und sorgt dafür, dass wir Auszeiten vom Schrecken nehmen können. Zu dieser Schutzmannschaft können unterschiedliche Teammitglieder gehören.

Verleugner

Ein verleugnendes Teammitglied sorgt dafür, dass wir schlechte Nachrichten nicht hören oder diese umdeuten. Unter seinem Einfluss blendet ein Mensch das, was der Arzt sagt oder was er irgendwo liest, schlicht aus, hört nur das Positive oder deutet Aussagen in ihr Gegenteil um. Die schlechte Prognose existiert nicht, es ist sonnenklar, dass man selber zu denen gehört, die überleben werden. Verleugner können sehr hartnäckig sein und auch offensichtlich schlechte Entwicklungen vollständig ausblenden.

Sabine Böhmer ist schwer an Krebs erkrankt. Keine Behandlung hat geholfen, es ist klar, dass sie auf den Tod zugeht. Da sie erhebliches Vermögen hat, heiratet sie in dieser Phase ihren langjährigen Lebensgefährten. Ihre Kollegin Erika besucht sie ein letztes Mal und erschrickt über ihre Veränderung: sie sieht eine Sterbende vor sich. Als Erika fragt, wie denn die Hochzeit gewesen sei, antwortete Sabine: Eigentlich hätten sie ja nie heiraten wollen, und im Grunde fände sie es auch jetzt nicht nötig. »Aber man weiß ja nie, was passiert.« Im Gespräch mit Sabines Mann wird deutlich, dass Sabine es geschafft hat, Vorsorge für ihren Mann zu treffen und zugleich auszublenden, dass sie stirbt.

Ablenker

Ablenker schaffen Reize, welche die Aufmerksamkeit so stark in Anspruch nehmen, dass Angst, Schmerz oder andere unangenehme Gefühle und Gedanken nicht mehr wahrgenommen werden. Dazu kann gehören, normale Freizeit- und Alltagsaktivitäten aufrechtzuerhalten (kochen, mit den Kindern spielen, putzen, ins Kino gehen, im Garten arbeiten, Reisen, Freunde treffen, . . .) oder weiter arbeiten zu gehen. Dazu können auch Tätigkeiten gehören, die es erlauben, über längere Zeit in eine andere Welt abzutauchen, wie Computer spielen oder Serien gucken.

Ich selber schaue normalerweise fast kein Fernsehen. Während der Zeiten von Chemotherapie und Bestrahlung jedoch habe ich mit Begeisterung das Seriengucken entdeckt. Nicht nur, dass ich auf einmal sehr viel Zeit und mangels Wohlbefinden wenig Möglichkeit hatte, aktiv zu sein. Ich lernte auch die Möglichkeit schätzen, über Stunden und Tage hinweg in die Alltagswelten anderer Menschen einzutauchen und die aktuelle Plagsal meiner eigenen Welt für diese Zeit zu vergessen. Darüber hinaus lassen einen gute Serien im Zeitraffer daran teilhaben, wie andere Menschen in Krisen geraten, diese überwinden und daran wachsen. Ich tauchte also ein in die Welt von Downton Abbey, Borgen und (Achtung, kontraphobische Abwehr!) Doctor House und wurde nicht nur abgelenkt, sondern bekam auch dosierte Zuversicht verabreicht, dass das Leben nach Krisen weitergeht.

Aktivisten

Ein anderer Weg, mit Unsicherheit und Angst umzugehen, ist Aktivität. Aktivisten im Inneren Team sorgen dafür, dass der Kranke sich informiert und dadurch mitentscheiden kann, welche Behandlung er für richtig hält und für sich will. Sie recherchieren im Internet nach Studien, lassen sich beraten, bringen alternative Behandlungsstrategien in Erfahrung, legen Diäten fest, stellen Bewegungspläne auf, beteiligen sich an Selbsterfahrungsgruppen und Schminkkursen. Manchmal versuchen sie auch herauszufinden, warum die Krankheit gekommen ist und verlieren sich in niemals endenden Grübelschleifen. Ihr Ziel ist, dass der Kranke alles tut, was ihm möglich ist, um wieder gesund zu werden. Damit erhöhen sie womöglich die Chance, dass die Krankheit einen guten Verlauf nimmt. Zugleich arbeiten sie gegen die Hilflosigkeit an, die mit schweren Erkrankungen verbunden ist, und versuchen, die Angst zu bannen.

Rationalisierer

Ein Rationalisierer arbeitet mit sparsameren Mitteln. Er trennt schlicht die Gefühle von den Themen ab und bleibt ganz auf der Sachebene. Unter dem Einfluss eines Rationalisierers können Menschen scheinbar ungerührt über die neuesten Untersuchungsergebnisse, die bevorstehende Operation oder einen Behandlungsrückschlag sprechen. Wenn jemand nachfragt, wie es dem Erzähler damit denn gehe, erntet er einen erstaunten Blick: Wieso, das sei doch jetzt nun mal nötig. Rationalisierer finden sich häufiger im Inneren Team von Männern.

Galgenhumorige und Sprücheklopfer

Meine persönliche Lieblingsabwehr während der harten Phasen meiner Krankheit war schwarzer Humor. Er setzt eine gewisse Vertrautheit voraus (denn wenn es schiefgeht, kann man ziemlich im Fettnäpfchen landen) und geht besonders gut mit anderen Betroffenen. Einige Monate nach mir erkrankte auch meine Kollegin und Freundin Johanna erneut an Krebs (siehe S. 259 – 273). Wir schrieben uns lange E-Mails, die ebenso von Angst und Verzweiflung wie von Flapsigkeit und Galgenhumor geprägt waren. Hinter den Sprüchen (»Und, was macht das Haustier?«) verbarg sich das Wissen darum, wie schwer alles ist. Diese Art schwarzer Humor war hilfreich und entlastend.

Indem Sprücheklopfer dem Schrecklichen immerhin noch Komik abgewinnen, machen sie dieses leichter. Sie vermitteln implizit die Botschaft: Solange wir noch Witze machen, kann es so schlimm nicht sein, solange wir Witze über sie machen, hat die Krankheit uns noch nicht im Sack, solange wir Witze machen, sind wir immerhin noch nicht tot.

Abbildung 2: Häufige Mitglieder der Schutzmannschaft

Diese Schutzmannschaft ist wichtig. Sie macht den Aufprall der Krankheit und das Leben mit der Krankheit erträglicher und manchmal überhaupt erst aushaltbar. Sie dosiert die Gefühle, verschafft uns dringend notwendige Auszeiten und unterstützt uns dabei, trotz fraglicher oder schlechter Prognosen ins Leben hinauszugehen.

Daher sollten wir diese Schutzmannschaft als Betroffene, Angehörige und auch als Therapeuten würdigen. Das gilt auch und gerade für die Verleugnung, die unter Psychotherapeuten sonst keinen guten Ruf genießt. Psychoonkologen weisen darauf hin, dass Verleugnung im Umgang mit einer Krebserkrankung als ein »positiver Schutzmechanismus« (Herschbach & Heußner 2008, 26) zu sehen sei, mit dessen Hilfe sich der Kranke »eine andere, eine bessere, eine überhaupt zu ertragende innere Wirklichkeit« schaffe und dem »Unglück Zeit abtrotze« (Lenz 2014, 46 und 53). Im Unterschied zu anderen Situationen geht es hier also therapeutisch nicht unbedingt darum, Verleugnung zu konfrontieren. Im Gegenteil, es kann sogar sinnvoll sein, den Kranken dabei zu unterstützen, sich mithilfe von Verleugnung stabil zu halten, dem Leben selbstvergessene und glückliche Momente abzuringen und mit der Krankheit ein gutes Leben zu führen.

Schwierig kann die Schutzmannschaft dann werden, wenn sie zu rigide ist und Teammitglieder blockiert, die für den Kranken ebenfalls wichtig sind. So kann Verleugnung zum Problem werden, wenn

sie so stark ist, dass der Mensch lebenswichtige Untersuchungen nicht wahrnimmt oder Behandlungen abbricht,

dauerhaft keine emotionale Selbstfürsorge mehr möglich ist, weil jedes Gefühl von Angst oder Traurigkeit abgewehrt wird und der Erkrankte eine depressive oder eine Angstsymptomatik entwickelt,

massive Kommunikationsprobleme in der Familie daraus resultieren, wenn beispielsweise beim Nahen des Todes kein Abschied möglich ist und alle Familienmitglieder in ihrer Trauer isoliert bleiben,

wichtige Probleme nicht gelöst werden können, der Erkrankte also beispielsweise keine Verfügungen für den Tod trifft, obwohl es darum gehen würde, Vorsorge für die Familie zu treffen und zu regeln, wer zukünftig die Kinder versorgen soll (Herschbach & Heußner 2008, 27).

Ebenso kann ein eifriger innerer »Aktivist« zwar die Chancen erhöhen, dass die Krankheit einen guten Verlauf nimmt, weil der Kranke unter seinem Einfluss alles tut, was er selber zu einem guten Verlauf beitragen kann. Je stärker Aktivisten allerdings daran arbeiten, Gefühle von Hilflosigkeit und Angst gar nicht erst aufkommen zu lassen, desto rigider werden ihre Strategien und Überzeugungen. Sie können dann sehr dogmatisch davon überzeugt sein, dass eine bestimmte Diät, eine positive Grundhaltung oder eine bestimmte Behandlungsform der einzige Weg zur Genesung ist, und den Kranken innerlich sehr unter Druck setzen oder ihm Schuldgefühle einpflanzen, wenn er angeblich etwas ›falsch‹ macht (siehe S. 40 ff.).

Es geht also um eine Balance zwischen der notwendigen Abwehr der Gefühle und einer Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen (Broeckmann 2002, 143). So wichtig die Schutzmannschaft auch ist, sie sollte Raum dafür lassen, dass andere Teammitglieder mit dringlichen Anliegen zu Wort kommen können. Wie eine gute Balance jeweils aussieht, das wird nicht nur von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein, sondern auch beim einzelnen Menschen je nach Krankheitsphase, Verfassung und Umgebung variieren. Der Maßstab für das, was passt, ist dabei höchst subjektiv und liegt allein beim Kranken und seiner Familie.

1.3 Vorverletzte Anteile und deren Wächter

Extreme Gefühle sind im Angesicht einer lebensbedrohlichen oder chronischen Krankheit also normal. Zugleich gilt, dass wir Krankheiten vor dem Hintergrund unserer Lebensgeschichte verarbeiten, sie fallen auf den Boden früherer Erfahrungen (Schulz-Kindermann 2013, 101, 125). Die durch die Krankheit ausgelösten Gefühle haben die Farbe der eigenen Biographie. Und so kann die Diagnose einer schweren Erkrankung besonders heftige Reaktionen auslösen, wenn sie auf Vorverletzungen trifft, wenn die Erkrankung oder deren Behandlung einen Menschen also an schwierige frühere Erfahrungen erinnert, zum Beispiel an

verstörende Erlebnisse mit Ärzten, Kliniken oder Operationen

Erfahrungen mit (eigener und fremder) Krankheit

schwierige Erfahrungen mit Sterben und Tod

körperliche Angriffe und Verletzungen

Erfahrungen von Abhängigkeit und Ohnmacht

Gefühle von Wertlosigkeit oder Scham

Situationen des Ausgeschlossen-Seins.

Vom Inneren Team her gesehen bedeutet das: Krankheiten haben das Potential, verletzte, verstörte und traumatisierte Anteile zu aktivieren und die Wächter zu alarmieren, die diese verletzten Anteile schützen (Kumbier 2013, 46 ff.).

Wenn Menschen verstörende oder traumatische Erfahrungen machen und niemanden haben, der ihnen hilft, diese zu verarbeiten, dann frieren innere Anteile in dieser Situation ein. Der Anteil erstarrt in der damaligen Situation, diese ist für ihn ewige Gegenwart. Im Inneren Team findet sich dann beispielsweise ein fünfjähriges Mädchen oder ein fünfjähriger Junge, der sich noch genauso verloren, einsam und verzweifelt fühlt wie früher, wenn der Vater wieder einmal gewalttätig wurde. Wenn der Erwachsene dann später Erfahrungen macht, die sich ähnlich anfühlen (beispielsweise wenn jemand laut wird oder ihn kritisiert), dann wird dieser Teil geweckt und überflutet ihn mit den alten Gefühlen.

Um dies zu verhindern, entwickeln sich Wächter im Inneren Team. Die Wächter beschützen den verletzten Anteil und versuchen zu verhindern, dass dieser erneut verletzt wird. Zugleich schützen sie auch das System vor den Gefühlen dieses verletzten Anteils, denn die alten Gefühle von Angst, Schmerz, Hilflosigkeit und Verzweiflung machen uns angreifbar und sind daher gefährlich. Die Wächter sperren den verletzten Anteil also zu seinem eigenen Schutz und zum Schutz des ganzen Menschen ein und versuchen, seine Gefühle zu bändigen. Sie entstammen der gleichen Zeit wie die damalige Verletzung, und das heißt: Auch die Wächter sind häufig Kinder. Sie hatten nicht das Wissen und die Lebenserfahrung eines erwachsenen Menschen, sondern konnten nur auf kindliche Logik und kindliche Strategien zurückgreifen. Je früher im Leben wir verstörende Erfahrungen machen, je länger diese gedauert haben, je höher deren traumatisches Potential war und je mehr wir uns mit diesen Erfahrungen allein gelassen gefühlt haben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Wächter auf rigide und extreme Strategien zurückgreifen mussten, um die alte Erfahrung eingrenzen zu können.

Kein Lebensweg verläuft reibungslos und ohne Verletzungen. Und so können wir davon ausgehen, dass eine schwere Erkrankung bei sehr vielen oder sogar den meisten Menschen frühe Lebensthemen und vorverletzte Anteile weckt. Das ist anstrengend und belastend und birgt zugleich die Chance, diese Teile anders wahrzunehmen und sie zukünftig besser integrieren zu können. Schwierig wird es dann, wenn die alte Dynamik verhindert, dass ein Mensch sich auf seine Erkrankung einstellen und diese angemessen verarbeiten kann.

Mark Kleine kommt aus einer sehr leistungsorientierten Familie. Alle Familienmitglieder sind Akademiker, und die Eltern gehen mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, dass auch ihre Kinder studieren und beruflich erfolgreich sind. Bislang hat Mark diesen Erwartungen entsprechen können. Kurz vor dem Examen erkrankt er an einer seltenen Autoimmunerkrankung. Infolge dieser Krankheit und ihrer Behandlung leidet Mark an Konzentrationsstörungen und ist oft müde. Er nimmt sich diese Müdigkeit sehr übel, findet, er dürfe die Krankheit »nicht als Entschuldigung benutzen«, und treibt sich extrem an. Er ist überzeugt davon, dass »alles nur eine Frage der Disziplin« sei, und es fällt ihm schwer, sich auf die mit der Krankheit verbundenen Leistungseinschränkungen einzustellen. Wenn er merkt, dass er seinem Anspruch, wie bislang zu den Besten im Studium zu gehören, nicht mehr genügen kann, zieht er sich zurück und hadert damit, ein »Versager« zu sein.

Elisabeth Hansmann reagiert auf ihre Brustkrebserkrankung mit Depressionen und extremer Angst. In der Therapie wird deutlich, dass Krankheit und Behandlung eine alte Traumatisierung triggern. Elisabeth ist als 11-Jährige mit vorgehaltenem Messer vergewaltigt worden. Sie hatte diese Vergewaltigung im Rahmen einer Traumatherapie erfolgreich bearbeitet und sich danach stabil gefühlt. Aber die Erfahrung, dass erneut etwas gegen ihren Willen in ihren Körper eindringt und sie mit dem Tod bedroht, aktiviert die alte Erfahrung, und Elisabeth versinkt in altem und neuem Schrecken.

Peter Clausen bekommt mit Anfang 30 Diabetes. Er ist Extremwanderer, gewohnt, sich auf sich selber verlassen zu können. Solange er denken kann, wollte er von nichts und niemandem abhängig sein. Sein Elternhaus war von der Alkoholkrankheit beider Eltern geprägt. Peter hat früh angefangen, für sich und die beiden jüngeren Geschwister zu sorgen, und gelernt, wie wichtig es ist, stark und von niemandem abhängig zu sein. Den Diabetes ignoriert er so gut wie möglich. Er kontrolliert zwar morgens und abends seine Blutzuckerwerte, weigert sich aber, der Krankheit »die Kontrolle über sein Leben zu geben«. Dadurch hat er seinen Blutzucker nicht gut genug im Blick, und es kommt immer wieder zu dramatischen Unterzuckerungen; Peter ist schon mehrmals bewusstlos geworden. Erst als seine Ehefrau sich weigert, die Kinder weiterhin mit ihm Auto fahren zu lassen, und auch die Kinder deutlich machen, dass sie Angst haben, mit ihm alleine zu sein, ist Peter dazu bereit, sich seinen Umgang mit seiner Krankheit anzusehen.

Bei Mark, Elisabeth und Peter löst ihre jeweilige Erkrankung Reaktionsmuster aus, die in prägenden früheren Erfahrungen wurzeln.

Ein kindlicher ängstlicher Teil in Marks Innerem Team ist von der Angst beherrscht, nichts wert zu sein, wenn er nichts leistet. Ein ehrgeiziger »Antreiber« und ein »Perfektionist« versuchen, diesen Anteil zu schützen, indem sie Mark zu Höchstleistungen antreiben. Bislang war diese Teamaufstellung erfolgreich, Mark konnte Schule und Studium gut bewältigen, war erfolgreich und hat die alte Wunde nicht gespürt. Seine Krankheit zerschlägt jedoch die bisherige Teamaufstellung und erschüttert die bislang bewährte Abwehr. Mark kann nicht mehr wie gewohnt ›performen‹. Damit bricht das, woraus er bislang sein Selbstbewusstsein ziehen konnte, zusammen. Die alte Angst kann nicht mehr beruhigt werden und tritt offen zutage, und die Strategie der Wächter, Mark anzutreiben, wirkt nicht mehr als Schutz, sondern verstärkt die Angst. Mit dieser Teamaufstellung kann Mark seine Krankheit nicht bewältigen und gerät in eine depressive Krise.

Abbildung 3: Wert durch Leistung

Bei Elisabeth wiederum wird der durch die frühe Vergewaltigung traumatisierte Anteil wieder geweckt. Trotz der zunächst erfolgreichen Traumatherapie kommt es zu einer Retraumatisierung, und Elisabeth wird von Angst überflutet, wobei alte und aktuelle Angst nicht mehr unterscheidbar sind.

Abbildung 4: Retraumatisierung durch Krankheit

Peter schließlich hat früh die Erfahrung gemacht, sich auf niemanden verlassen zu können als auf sich selber. Vor diesem Hintergrund hat sich in seinem Inneren Team ein »Kontrollfreak« entwickelt, der erlebt hat, wie Peters Eltern in ihrer Sucht in beängstigender und destruktiver Weise die Kontrolle über sich verloren haben. Der Kontrollfreak sorgt dafür, dass Peter so etwas nie passieren soll. Neben diesem Kontrollfreak gibt es einen »Fürsorger« in Peters Innerem Team, der früh die Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernommen hat. Gemeinsam sorgen diese beiden Teammitglieder dafür, dass Peter die Angst vor der Verlassenheit und der überfordernden Verantwortung nicht mehr spürt. Sie stehen dafür, dass Peter alles im Griff hat, dass er der Starke in der Familie ist, auf den sich alle verlassen können und der selbst niemanden braucht.

Abbildung 5: