Arendt als politische Philosophin - Hans-Martin Schönherr-Mann - E-Book

Arendt als politische Philosophin E-Book

Hans-Martin Schönherr-Mann

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Beschreibung

Angesichts von Herausforderungen wie massiven Gefährdungen der Demokratie durch Expertokratien steigt Arendts Denken zur gegenwärtig wegweisendsten politischen Philosophie auf. Aus der Erfahrung des Antisemitismus, von Vertreibung und lebensgefährlicher Flucht geboren, fußt es auf der Analyse des Totalitarismus, der sich im normalen gehorsamen Menschen realisiert. Das entlarvt die Normenethik als Untertanenethik und ruiniert Arendts Ruf: Welches politisches System stützt sich nicht auf den Untertan! Das reiht sie neben Sartre, de Beauvoir, Foucault, Derrida und Butler unter die bösen Philosophinnen ein, die Diktatur, gelenkter, repräsentativer oder ökologischer Demokratie die Mündigkeit der Bürgerinnen entgegenstellen. So heißt denn Politik für Arendt Kommunikation in der Öffentlichkeit, die von den Bürgerinnen ausgeht, die in die öffentlichen Angelegenheiten eingreifen. Das führt zu einem partizipatorischen Verständnis von Demokratie als Involution, keinem elitären, entsteht Macht nicht durch Gewalt, sondern Kommunikation. Da die Bürgerinnen einzigartig sind, was jeder Gesellschaft eine pluralistische Struktur verleiht, kann es keine festen ethischen und politischen Orientierungen mehr geben. Vielmehr braucht die Bürgerin Vorstellungs- Reflexions- und Urteilskraft, worüber die Gehorsamen gemeinhin nicht verfügen. Ergo geht es um politische Freiheit, die heute umso gefährdeter erscheint.

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Zum Buch: Angesichts von Herausforderungen wie massiven Gefährdungen der Demokratie durch Expertokratien steigt Arendts Denken zur gegenwärtig wegweisendsten politischen Philosophie auf. Aus der Erfahrung des Antisemitismus, von Vertreibung und lebensgefährlicher Flucht geboren, fußt es auf der Analyse des Totalitarismus, der sich im normalen gehorsamen Menschen realisiert. Das entlarvt die Normenethik als Untertanenethik und ruiniert Arendts Ruf: Welches politisches System stützt sich nicht auf den Untertan! Das reiht sie neben Sartre, de Beauvoir, Foucault, Derrida und Butler unter die bösen Philosophinnen ein, die Diktatur, gelenkter, repräsentativer oder ökologischer Demokratie die Mündigkeit der Bürgerinnen entgegenstellen. So heißt denn Politik für Arendt Kommunikation in der Öffentlichkeit, die von den Bürgerinnen ausgeht, die in die öffentlichen Angelegenheiten eingreifen. Das führt zu einem partizipatorischen Verständnis von Demokratie als Involution, keinem elitären, entsteht Macht nicht durch Gewalt, sondern Kommunikation. Da die Bürgerinnen einzigartig sind, was jeder Gesellschaft eine pluralistische Struktur verleiht, kann es keine festen ethischen und politischen Orientierungen mehr geben. Vielmehr braucht die Bürgerin Vorstellungs-Reflexions- und Urteilskraft, worüber die Gehorsamen gemeinhin nicht verfügen. Ergo geht es um politische Freiheit, die heute umso gefährdeter erscheint.

Hans-Martin Schönherr-Mann ist Prof. für Politische Philosophie an der Univ. München, Gastprof. seit 2004 häufig an der Univ. Innsbruck, Eichstädt, Regensburg, Venice International Univ, Torino; Bücher: Nietzsche – Leben und Denken, Römerweg 2020; Dekonstruktion als Gerechtigkeit – Jacques Derridas Staatsverständnis und politische Philosophie, Nomos 2019, Michel Foucault als politischer Philosoph, Innsbruck University Press 2018; Untergangsprophet und Lebenskünstlerin – Über die Ökologisierung der Welt, Matthes & Seitz Berlin 2015; Albert Camus als politischer Philosoph, IUP 2015; Was ist politische Philosophie, Campus Studium 2012; Die Macht der Verantwortung, Karl Alber 2010; Der Übermensch als Lebenskünstlerin – Nietzsche, Foucault und die Ethik, MSB 2009; Miteinander leben lernen – Die Philosophie und der Kampf der Kulturen, Piper 2008; Simone de Beauvoir und das andere Geschlecht, dtv 2007; Hannah Arendt – Wahrheit, Macht, Moral, C.H. Beck 2006; Sartre – Philosophie als Lebensform, C.H. Beck 2005

Für Irmi

INHALT

Vorwort: Arendt und die politische Philosophie

I.

Kapitel Wahrheit und Urteilskraft im politischen Handeln: Herodot und Kant

Tatsachenwahrheiten und totalitäre Ideologien

Die Wahrheit im Angesicht des Antisemitismus

Wahrheit und Macht jenseits der Gewalt

Politik als öffentliche Kommunikation

Die Notwendigkeit der Urteilskraft

Macht und die Tugend der Wahrhaftigkeit

II.

Kapitel Der Anfänger als Chance außerinstitutioneller Politik: Arendt und der Existentialismus

Der Totalitarismus angesichts der Conditio humana

Das Individuum als politischer Anfänger

Politisches Handeln in einer kontigenten Welt

Vom Anfänger über die Freiheit zum Widerstand

Revolte und die Verantwortungslosigkeit des Untertan

Sartre, Arendt und Foucault

III.

Kapitel Politisches Engagement und Emanzipation: Arendt und Butler t

Geschlecht als Performativum

Verantwortung im Sinn von Lévinas

Macht als Produkt freiwilliger Teilhabe

Das Recht auf gemeinsames Leben auf der Erde

Die traditionelle Normenethik als Untertanenethik

Die Reflexion in der Politik als Konflikt

IV.

Kapitel Gewalt und Macht bei Arendt und Benjamin

Die Stärke des Kapitalismus

Von der Revolution zur Involution

Erzeugt der gehorsame Untertan wirklich Macht?

Die Gewalt der bürokratischen Herrschaft

Die Unkontrollierbarkeit der Gewalt

Ende oder Anfang des Handelns

Gewalt als Eingriff Gottes bzw. als Wunder

Von der Kommunikation zur Dekonstruktion

V.

Kapitel Die politische Rolle der Philosophie bei Jaspers, Heidegger, Arendt und Habermas

Widerständiges „Denken ohne Geländer“

Heideggers Einheit von Ontologie und Ethik

Denken als Handeln: die Performanz

Politik als Mnemosyne des naturgemäßen Lebens

Kommunikation zwischen Vernunft und Glauben

Politik als kontingenter Prozess

VI.

Kapitel Metaphysik und Politik bei Rawls, Leo Strauss und Arendt

Die liberale Trennung des Gerechten vom Guten

Politischer Liberalismus und Metaphysik

Das gute Leben als naturgemäß

Die Metaphysik der Herrschaftsbedürftigkeit

Das Böse als Ende der Metaphysik

Das Gute rings um Gut und Böse herum

Nachwort Arendt und die Zivilgesellschaft

Literatur

Personenregister

„Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“ (Hannah Arendt)

VORWORT

ARENDT UND DIE POLITISCHE PHILOSOPHIE

Eine politische Philosophin zu sein, lehnte Arendt ab, wollte sie lieber politische Theoretikerin genannt werden. Politische Theorie beschränkt sich auf den politischen Diskurs, der mit Platons Politeia und der Politik des Aristoteles anhebt, dessen wichtigste Stationen Machiavellis Il Principe, Hobbes Leviathan, Lockes, Second Treatise of Government, Rousseaus Du contrat social, Hegels Rechtsphilosophie und John Rawls A Theory of Justice sind. Dabei geht es um die Legitimität des Staates, um die Technik von Herrschaft und um die politische Freiheit des Individuums.

Das sind natürlich auch Themen der politischen Philosophie, so dass man die politische Theorie als eine Art Subdisziplin bezeichnen kann. Die politische Philosophie stellt zudem Bezüge zu praktisch allen anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereichen her. Genau das aber hat Arendt mit ihren Werken unternommen, beschränkt sie sich gerade nicht auf den engen Bereich der politischen Theorie.

Mit ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes verbindet sie das politische Denken mit der Epistemologie, der Erkenntnistheorie und der philosophischen Anthropologie. Das Werk ist zugleich das Pendant zu Vita activa, in dem sie zwischen Ökonomie, Technikphilosophie und der politischen Philosophie vermittelt. Ihr politisch philosophischer Ausgangspunkt, der ihr gesamtes Werk durchzieht, bleibt die Rolle von Kommunikation sowohl in der Zwischenmenschlichkeit als auch in der Politik.

Ihr wegweisendstes Buch verbindet die politische Philosophie mit der Ethik, nämlich Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Es hat ihr nicht von ungefähr überall den Ruf verdorben, denn nicht nur dass sie die Normenethik als Untertanenethik entlarvt, brauchen doch praktisch alle politischen Strömungen den Untertan, den sie durch die Normenethik motivieren wollen, die aber nicht als Untertanenethik erscheinen sollte. Vielmehr soll sie als freiwillig verstanden werden, wie sie sich Kant auch ursprünglich vorstellte. Doch aus Pflicht als etwas Freiwilligem machte das militarisierte 19. Jahrhundert einen Zwang. Ähnlich wie Machiavelli verrät, wie die Technik von Herrschaft funktioniert, nämlich dadurch dass sie den Bürgern Angst macht, um sie zu lenken – das wirft ihm Leo Strauss vor –, so verrät Arendt das Geheimnis der politischen Ethik, nämlich dass sie gerade nicht der Freiheit entspringt, vielmehr diese zerstört und die Unfreiheit als Freiheit ausgibt.

Es verwunderte mich nicht, dass ich 2015 auf einer Wiener Tagung mit Ágnes Heller, Schülerin von Georg Lukács aneinander geriet, die das Eichmann-Buch disqualifizierte. Wer vom Marxismus kommt, muss sich noch lange nicht mit der liberalen Mündigkeit der Bürgerinnen arrangiert haben. Und Heller lehnt auch Arendts philosophisches Spätwerk ab, das in vieler Hinsicht die philosophische Begründung ihrer Ethik-Kritik liefert, d.h. auch dafür, dass der Untertan nicht denkt, was man natürlich als Diskriminierung empfinden kann, wenn man Pflicht als Zwang für vernünftig hält, weil die Menschen ja angeblich so unvernünftig sind und auf die wissenschaftlichen Experten einfach nicht hören.

Gegenüber dem Marxismus, der keine originäre politische Philosophie entwickelt, sondern eine politische Ökonomie, grenzt sich Arendt dadurch ab, dass sie der Ökonomie gerade keinen Primat einräumt, sondern der Politik, die sie nicht als Technik der Herrschaft versteht, sondern als partizipatorische Kommunikation in öffentlichen Angelegenheiten. Damit ebnet sie, ohne es zu ahnen, jenen politischen Bestrebungen in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts den Weg, für die Demokratie nicht eine verbreiterte Legitimation von Elitenherrschaft bedeutet, sondern demokratische Teilhabe von Bürgerinnen, die von den politischen Institutionen ausgeschlossen werden. Soweit hat Arendt noch nicht gedacht. Mit der Bürgerrechtsbewegung oder den protestierenden achtundsechziger Studentinnen stand sie eher auf Kriegsfuss.

Doch durch dieses Demokratieverständnis und durch ihre pluralistische Auffassung vom Menschen, den sie als einzigartig entwirft, distanziert sie sich vom konservativen Mainstream der politischen Philosophie im 20. Jahrhundert, der grundsätzlich davon ausgeht, dass das Volk herrschaftsbedürftig ist und dass gebildete Eliten dieses lenken müssen – so bei Leo Strauss und Eric Voegelin – oder wie Carl Schmitt von der Gewaltlastigkeit der Politik, bei der es weniger um Bildung als vielmehr darum geht, dass die politische Führung in der Lage ist, durch Gewalt Macht zu entfalten. Genau davon distanziert sich Arendt, so dass sie sich konservativ nicht eingemeinden lässt. Wenn man sie besonders aus dieser Ecke als Antikenromantikerin kritisiert, dann disqualifiziert man gleichzeitig alle Bemühungen um Partizipation der Bürgerinnen an der Politik genauso wie deren Ansprüche auf Mündigkeit, was man heute als Emanzipation bezeichnen kann.

Gewissermaßen ist sie dem Liberalismus nicht fern, jedenfalls soweit dieser sich nicht primär um Ökonomie kümmert, sondern um die Entfaltung der Individuen, und selbstredend nicht nur der Reichen. Aber natürlich gehört es auch in ihrer Generation zum guten Ton, sich vom Liberalismus zu distanzieren. Doch Arendt rekurriert weniger auf die Gemeinschaft wie viele Antiliberalen. Freilich folgt sie auch nicht den formalistischen Ansätzen bei liberal-sozialen Denkern wie John Rawls oder Jürgen Habermas, wiewohl sie deren Ansinnen gerade in kommunikativer Hinsicht bestimmt nicht so fern steht. Stattdessen ist sie wie der Liberale Richard Rorty Denkerin der Kontingenz, eines sozialen Pluralismus und der Gewaltenteilung – man denke an Odo Marquard.

Ich zähle sie ins Lager des Existentialismus, dessen politische Philosophie bisher nur am Rande wahrgenommen, wenn nicht gar verdrängt wurde. Denn wie Arendt den Untertan von der Freiheit und vom Denken abgrenzt, entdeckten Camus, de Beauvoir und Sartre, dass der Mensch frei, d.h. mündig und verantwortlich ist. Das wurde ihnen nach dem Ende der Résistance übel genommen. Während man Camus von konservativer Seite zum Philosophen der Allgemeinmenschlichkeit verhimmlischt, avancierten die beiden anderen zu Les Enfants terribles bzw. zu den bösen Philosophen (Philipp Blom), zu denen in naher Verwandtschaft auch Arendt zählt, wiewohl sie sich von diesen eher distanzierte.

Auf Grund des Eichmann-Buches und des Spätwerks ist sie auch der politischen Philosophie des Poststrukturalismus nicht so fern, wenn Lyotard Politik als sprachlichen Konflikt entwickelt, der späte Foucault dem Menschen den Anspruch auf Mündigkeit attestiert, die nicht nur das politische Leben als eine Ästhetik der Existenz entwirft, oder man Derridas Dekonstruktion als eine Intensivierung reflexiven Urteilens versteht, der ja beinahe aristotelisch – und damit Arendt nicht so fern – die Politik auf die Freundschaft gründet. Arendt liebte kein Volk, sondern nur ihre Freunde. Wie soll man auch ein Volk lieben!

I. KAPITEL

WAHRHEIT UND URTEILSKRAFT IM POLITISCHEN HANDELN: HERODOT UND KANT

2003 vor dem Krieg gegen den Irak behaupteten die britische Regierung wie die der USA, das Regime Saddam Husseins verfüge über Massenvernichtungswaffen. Schon die UN-Waffeninspekteure vermochten das nicht zu bestätigen. Danach verstärkte sich der Verdacht, es habe sich um eine politische Lüge gehandelt, die den Krieg rechtfertigte. George Bush und Tony Blair erklärten daraufhin unisono, der Krieg habe die Welt sicherer gemacht und einen üblen Diktator gestürzt. Braucht sich die Politik also um Wahrheit nicht zu kümmern? Geht es in der Politik nur um Macht, der offenbar die Lüge eher als die Wahrheit nützt? Oder man denke heute an die Verachtung, die Trump oder Orbán wissenschaftlichen Erkenntnissen entgegenbringen, die sich somit um wissenschaftliche Wahrheiten gar nicht mehr kümmern. Ja, Fake-News, Lügen helfen der Politik Trumps mehr als die Wahrheit. Sich politisch auf die Wahrheit, welche auch immer, zu verlassen, sollte man daher besser nicht.

Arendt bemerkt dagegen 1963 in ihrem Vortrag Wahrheit und Politik im Bayerischen Rundfunk: „Am Ende der zwanziger Jahre (. . .) wurde Clemenceau von einem Vertreter der Weimarer Republik gefragt, was künftige Historiker wohl über die damals sehr aktuelle und strittige Kriegsschuldfrage denken werden. ‚Das weiß ich nicht’, soll Clemenceau geantwortet haben, ‚aber eine Sache ist sicher, sie werden nicht sagen: Belgien fiel in Deutschland ein.’“1 Interessanterweise behaupteten dann die Nazis, sie hätten am 1. September 1939 zurückgeschossen. Fake-News! Warum wohl?

Gibt es trotzdem Wahrheiten, denen die Politik nicht entgeht, mag sie sich noch so sehr anstrengen, um die Welt nach dem eigenen oder dem gewünschten Bilde zurecht zu malen? Das gespannte Verhältnis von Politik und Wahrheit durchzieht Arendts Werk. Sie will sich nicht damit anfreunden, dass Politik als der Ort, wo die Menschen sich gemeinsam, somit kommunikativ um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern, primär auf Lüge, Manipulation und Täuschung aufruht.

1. Tatsachenwahrheiten und totalitäre Ideologien

Aber hat Wahrheit in der Politik überhaupt eine Bedeutung? Logische oder mathematische Wahrheiten nennt Arendt Vernunftwahrheiten, die sich heute gegenüber der Politik weitgehend neutral verhalten. Als politisch gefährlicher wie gefährdeter erweist sich dagegen die Tatsachenwahrheit vom Schlage jener Feststellung: 1914 fiel Deutschland in Belgien ein. Für den, der die deutsche Kriegsschuld dementieren möchte, sah sich Deutschland dazu gezwungen. Aber bleibt eine Tatsache nicht eine Tatsache? Das Geschehene lässt sich doch nicht rückgängig machen! Arendt bemerkt: „Politisch aber ist (. . .) die Scheidung der Tatsachenwahrheiten von der Vernunftwahrheit von großer Bedeutung. Wir brauchen nur an solch anspruchslose Richtigkeiten zu denken wie, dass ein Mann namens Trotzki in der Russischen Revolution eine gewisse Rolle gespielt hat, die in keinem sowjetrussischen Lehrbuch erwähnt wird, um gewahr zu werden, dass keine Vernunftwahrheit es mit der Tatsachenwahrheit an Gefährdung aufnehmen kann. Und da ja Tatsachen und Ereignisse, die unweigerlichen Ergebnisse menschlichen Zusammenlebens und –handelns, die eigentliche Beschaffenheit des Politischen ausmachen, müssen wir in diesem Zusammenhang an Tatsachenwahrheiten primär interessiert sein.“2

Arendt weist nämlich auf ein Paradox hin: Einerseits sind Tatsachenwahrheiten zwar politisch nicht widerlegbar. Es sind schlichte Fakten, Ereignisse, wie sie eben stattgefunden haben. Aber man kann anders als bei Vernunftwahrheiten dafür keine weiteren einsichtigen Gründe angeben, warum die Ereignisse stattgefunden haben. Dass zwei mal zwei nicht fünf ist, das kann man beweisen, unabhängig davon, wo es vielleicht mal fünf gewesen sein soll.

Dagegen bleiben Tatsachen in ihrer unumstößlichen Faktizität Produkte des Zufalls, hätten sie immer anders stattfinden können. Somit bedürfen sie der Zuschauer als Zeugen und Berichterstatter, z.B. Homer, der in seiner Ilias den trojanischen Krieg beschreibt. Zeugen aber können sich widersprechen oder lügen. Indizien kann man fälschen oder anders interpretieren. Trotzdem gibt es keine Tatsachen, wenn sie niemand bezeugt, brauchen Politiker wie deren Taten eine Öffentlichkeit, die diesen Beachtung schenkt, Journalisten und Historiker, die das festhalten, was am politischen Geschehen wegweisend historisch ist. Arendt schreibt in ihrem philosophischen Spätwerk Vom Leben des Geistes: „Der Zuschauer und nicht der Akteur hält den Schlüssel zum Sinn der menschlichen Angelegenheiten in der Hand.“3

Das eröffnet zahlreiche politische Eingriffsmöglichkeiten. Tatsachen, die beispielsweise das Licht der Öffentlichkeit noch gar nicht erblickt haben, wenn es keine Zeugen gibt oder diese schweigen, und die man daher nicht kennt, solche Tatsachen, das ist nach wie vor gängige Praxis, werden gerne vertuscht oder gefälscht, wenn es opportun erscheint. Auch eine ernsthafte Zusammenarbeit mit den Terroristen um Osama bin Laden konnte man dem Regime Saddam Husseins nicht nachweisen. So schreibt Arendt sehr treffend: „Das eigentliche Gegenteil der Tatsachenwahrheit (im Unterschied zur Vernunftwahrheit) ist nicht Irrtum oder Täuschung, sondern die absichtliche Lüge.“4 Eben Fake-News.

Umgekehrt stoßen Lügen manchmal auf allzu offene Ohren, wenn nämlich Menschen sich nur zu gerne die Fakten verdrehen lassen, nur das anhören, was die eigenen Vorurteile bestätigt, und alles leugnen, was den eigenen Interessen zuwiderläuft – man denke an die antisemitische Rede von der jüdischen Weltverschwörung. Warum erliegen so viele Menschen den rassistischen Manipulationen? Warum bemühen sie sich nicht um Einsicht in die Tatsachen, sondern lassen sich lieber von Lügen und von Heilsversprechen blenden?

Arendt diagnostiziert im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein weit verbreitetes Gefühl der Verlassenheit, wenn die Menschen mit den modernen Lebensumständen nicht zurechtkommen. In ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, mit dem sie 1951 berühmt wird, stellt sie fest: „Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. Es ist, als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so dass jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlass ist.“5 Die Entwicklung der Industriegesellschaft zwingt die Menschen in entfremdende eintönige Arbeitsformen. Zudem werden ständig Berufe überflüssig, droht den Menschen Arbeitslosigkeit und Verarmung. Zur permanenten Mobilität gezwungen zerbrechen Familien und Freundschaften, so dass auch dadurch viele Menschen vereinsamen. Angesichts solchen Fortschritts und ungewohnter Konfliktsituationen in den Demokratien zweifeln viele an den Erfolgen der Moderne.

Daher suchen sie Schutz und Geborgenheit in totalitären Bewegungen, die ohne Rücksicht auf unangenehme Tatsachen ihnen mit Ideologien wieder Heimat und Heil verheißen. Wenn das technisch noch naive deutsche Volk der Stimme im Volksempfänger wirklich glaubt, dass alle Welt dem langjährigen Nazi-Kanzler zujubelt, so sucht es in diesem kindlichen Vertrauen die Wärme der Gemeinschaft. Wenn man heute im Internet Gleichgesinnte findet, bestärken diese sich in ihren Vorurteilen wie in ihrem Hass. Dass Menschen auf ihrem eigenen Irrsinn stur beharren, ist kein neues Phänomen. Durch das Internet werden diese nicht nur mündlich, sondern schriftlich und vor allem bildlich eingebunden, selbst wenn ihre gleichgesinnten Freunde weit entfernt wohnen. Viele glauben latent oder manifest an Autoritäten und einzige Wahrheiten, die ihnen gemeinhin natürlich als Vorteil erscheinen und die ein charismatischer Führer durchsetzen soll.

Da solche Illusionen leicht enttäuscht werden und die Faszinationskraft eines Führer schnell verblasst, vertragen diese Sehnsüchte auch keine Kritik und keinen Widerspruch, wie sie in jeder Demokratie gang und gäbe sind, wo von allen Seiten der neue Hoffnungsträger unter Beschuss genommen wird, so dass sich seine Lügen und leeren Versprechungen bald entlarven. Die vom Gefühl der Verlassenheit – und man möchte ergänzen: der Benachteiligung – überwältigten Menschen folgen nicht nur begeistert einem großen Führer, sie ordnen sich daher auch bereitwillig dem totalitären Zwang unter, der sie vor den Zweifeln der anderen schützen soll. Arendt schreibt: „Das eiserne Band des Terrors, mit dem der totalitäre Herrschaftsapparat die von ihm organisierten Massen in eine entfesselte Bewegung reißt, erscheint so als ein letzter Halt.“6 Nur wenn alle dasselbe Opfer bringen müssen – und zwar letztlich ihr Leben oder ihre Gesundheit –, dann, so hoffen die Menschen, lässt sich ihre Verlassenheit überwinden, finden sie in einer Gemeinschaft Halt durch gemeinsame Unterordnung und Hingabe. Nur wenn alle anderen Lehren bekämpft und unterdrückt werden, lässt sich eine solche Einheit herstellen, in der keine Frage mehr gestellt werden darf. Die Frage ist der Feind, wie es Carl Schmitt bemerkte.

Damit keiner aus der Reihe ausschert, damit keiner durch seine Kritik den illusionären Charakter der Gemeinschaft entlarvt, gipfelt die totalitäre Herrschaft nicht alleine im Terror der Geheimpolizei, sondern im Konzentrationslager, das für Arendt zum Symbol des Totalitarismus schlechthin avanciert. Wer nicht spurt wie kritische Intellektuelle oder Bohemiens kommt ins Konzentrationslager zur Freude der Nachbarn. So kann der Terror durch Allgegenwart drohen: Jeder kann jederzeit inhaftiert werden – ohne Anklage, ohne Gerichtsverfahren, ohne zeitliche Begrenzung: „Das Wesen totalitärer Herrschaft in diesem Sinne ist der Terror, (. . .)“,7 den die neuen Rechten ebenfalls fleißig verbreiten, der – ob sie an der Macht sind oder nicht – denn nicht nur nach außen, sondern auch nach innen wirkt.

Dabei beruft sich der Totalitarismus regelmäßig auf die modernen Wissenschaften, sei es auf die der Geschichte, der Wirtschaft oder auf eine unwissenschaftliche Rassenlehre, die aber alle zusammen vorgeben, einen natürlichen Zweck zu vollstrecken. So geht es der totalitären Herrschaft um eine vermeintliche gesellschaftliche und politische Einheit, die eigentlich von selber entstehen sollte, wenn alles ausgemerzt ist, was diese stören könnte: „Das eiserne Band des Terrors konstituiert den totalitären politischen Körper (. . .). Dem Terror gelingt es, Menschen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht im Plural, (. . .) als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automatisch notwendigen Natur- oder Geschichtsprozesses mit absoluter Sicherheit und Berechenbarkeit einfallen. (. . .) Praktisch heißt dies, dass Terror die Todesurteile, welche die Natur angeblich über ‚minderwertige Rassen‘ und ‚lebensunfähige Individuen‘ oder die Geschichte über ‚absterbende Klassen‘ und ‚dekadente Völker‘ gesprochen hat, auf der Stelle vollstreckt, ohne den langsameren und unsicheren Vernichtungsprozess von Natur oder Geschichte selbst abzuwarten.”8

Derart proklamieren totalitäre Ideologien zwar eine Wahrheit, um ihren Illusionen Gewicht zu verleihen – will niemand auf die Wahrheit verzichten. Aber sie fragen nicht nach ihr. Sie bedienen sich wissenschaftlicher Erkenntnisse, solange diese die eigenen Zwecke und Ziele fördern. Tatsachenwahrheiten können von staatlichen Institutionen mit deren ganzer Macht verändert oder verfälscht werden: Fake-News. Totalitäre Regime finden ihre wissenschaftlichen Helfershelfer, die die ideologischen Wahrheiten untermauern, so wie sie immer gewissenlose Wissenschaftler auftreiben, die unmenschliche Experimente durchführen. Man denke an Trofim Lyssenko, der sowjetische Landwirtschaft unter Stalin ruinierte.

Jegliche Zweifel, die zu den modernen Wissenschaften so originär gehören wie zum Begriff der Wahrheit, werden verbannt. Doch Wahrheit, seit sie Sokrates ausgiebig diskutierte, erfüllt ihre Ansprüche nur, wenn sie immer wieder überprüft und in Frage gestellt wird. Sie mündet in einen unendlichen Prozess, der sich niemals abschließen lässt. Wer Wahrheit für absolut erklärt, oder letzte bzw. definitive Wahrheiten verkündet, verdreht den Sinn der Wahrheit, lässt ihren Anspruch auf. Unter dem Deckmantel solcher angeblich sicherer Wahrheiten soll sich der Terror legitimieren. Arendt beruft sich auf einen Satz Lessings: „Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen!“9

Eine fiktive, ideologische Welt lässt sich auch nicht widerlegen. Grundsätze, die als letzte Wahrheiten unterstellt werden, sperren sich gegenüber jeder Diskussion, führen, um mit Karl R. Popper, dem anderen großen Kritiker des Totalitarismus, zu sprechen, in eine geschlossene Gesellschaft. Daher kann man – so Arendt – die totalitäre Propaganda weder mit Gegenpropaganda noch einfach mit der Wahrheit bekämpfen. So bedürfen manche sehr sensible Tatsachenwahrheiten wie der Holocaust auch eines juristischen Schutzes, obwohl man gerne vorschnell meint, das vertrüge sich weder mit dem demokratischen Recht auf Meinungsfreiheit noch mit dem Wesen der Wahrheit, dass Wahrheit nur dann wirklich Wahrheit ist, wenn sie sich ohne Hilfe durchsetzt. Aber warum sollte Wahrheit so stark sein? Für Arendt beherbergt sie vielmehr eine unvermeidliche Schwäche.

1 Hannah Arendt, Wahrheit und Politik (1964); in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Übungen im politischen Denken I (1968), 2. Aufl. München 2000, 339

2 Ebd., 331

3 Arendt, Vom Leben des Geistes (1973-75): Das Denken – Das Wollen, 2. Aufl. München 2002, 101

4 Arendt, Wahrheit und Politik (1964), 354

5 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), 4. Aufl. München, Zürich 1996, 729

6 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), 729

7 Ebd., 711

8 Ebd., 714

9 Arendt, Menschen in finsteren Zeiten (1968), 2. Aufl. München 1989, 48

2. Die Wahrheit im Angesicht des Antisemitismus

Das Schicksal des europäischen Judentums, das Arendt selbst erlitt, antizipierte sie in ihrer Studie Rahel Varnhagen – Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, von der elf Kapitel noch vor 1933 in Deutschland geschrieben wurden und nur zwei Kapitel 1938 in Paris. Arendt, 1906 in Hannover geboren und im ostpreußischen Königsberg aufgewachsen, musste nach einer Verhaftung durch die Gestapo 1933 aus Deutschland fliehen. Ausgebürgert und staatenlos arbeitete sie bis 1940 für jüdische Organisationen in Paris. Aus der Internierung entkam sie im Chaos des französischen Zusammenbruchs. Sonst wäre sie im Holocaust ermordet worden. Unter hoch gefährlichen Umständen gelang ihr 1941 die Flucht vor den Nazis in die USA. In New York lebte sie schließlich eingebürgert bis zu ihrem Tode 1975. Man sollte mal untersuchen, wie viele Flüchtlinge auf ihrer Flucht vor den Nazis ums Leben kamen, natürlich auch jene mit einem deutschen Migrationshintergrund? Arendt muss unendlich glücklich gewesen sein, als sie endlich in den USA in Sicherheit war.

Die durch ihren Berliner Salon berühmt gewordene Rahel Varnhagen, geborene Levin, versuchte sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, in der sich um 1800 gerade der Judenhass massiv verbreitete. Nach zwei gescheiterten Verlobungen ging Varnhagen 1808 im Alter von 37 Jahren mit ihrem späteren Mann Karl August Varnhagen eine Beziehung ein. Bei Goethe lernte sie, dass man an seiner Situation etwas ändern muss. So vertraute sie schließlich auf die Kraft der Namensänderung, die ihr wie ein Kleid eine neue Hülle bieten und endlich zu gesellschaftlicher Anerkennung verhelfen sollte. 1810 änderte sie ihren Namen in Rahel Robert. 1814 ließ sie sich taufen und heiratete. Jetzt hieß sie Antonie Frederike Varnhagen. Der Integrationsprozess einer Jüdin schien als Assimilation erfolgreich abgeschlossen.

Aber kann man seine Herkunft und Vergangenheit einfach abstreifen? Was ist die Wahrheit der eigenen Person? Bald bemerkte sie, dass man dem Judentum nicht dadurch entgeht, dass man zum Christentum konvertiert. Woran muss man sich anpassen, wenn man ein angeblich normaler Mensch und keine Jüdin sein will? Rahel Varnhagens macht eine grausame Entdeckung: „Denn will man sich wirklich assimilieren, so kann man sich nicht von außen aussuchen, woran man sich assimilieren möchte, was einem gefällt und was einem missfällt; dann darf man das Christentum so wenig auslassen wie den zeitgenössischen Judenhass. Beides sind integrierende Bestandteile der geschichtlichen Vergangenheit der europäischen Menschheit und lebendige Elemente der damaligen Gesellschaft. Es gibt keine Assimilation, wenn man nur seine eigene Vergangenheit aufgibt, aber die fremde ignoriert. In einer im großen Ganzen judenfeindlichen Gesellschaft – und das waren bis in unser Jahrhundert hinein alle Länder, in denen Juden lebten – kann man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliert.“10 Assimilation verlangt von den Juden, die Frage nach der Wahrheit der eigenen Herkunft, nach eigenen Tatsachen des Lebens aufzugeben, indem man diese wie der Antisemit hassen lernt.

Spielt die Frage nach der Wahrheit in Arendts Studie über Rahel Varnhagen eine biographische und soziale Rolle, so nimmt sie in der Prozessanalyse Eichmann in Jerusalem politisch hoch dramatische Züge an. Der SS-Führer Adolf Eichmann organisierte ab 1942 die Deportation von Millionen von Juden in die Vernichtungslager. Nach Kriegsende tauchte er unter, bis ihn 1960 der israelische Geheimdienst in Buenos Aires enttarnte, entführte und nach Israel verfrachtete. 1961 wurde gegen ihn in Jerusalem der Prozess eröffnet und ein Jahr später wurde er hingerichtet.

Die Zeitschrift The New Yorker schickte Arendt als Berichterstatterin zum Prozess. Sie schrieb darüber fünf Essays, die in der Zeitschrift erschienen, ohne großes Aufsehen zu erregen. Erst als sie diese 1963 in einem Buch versammelt und unter dem o.a. Titel veröffentlichte, löste sie damit vor allem in Israel und bei jüdischen Intellektuellen Entsetzen und Empörung aus. Vor allem Arendts Wort von der Banalität und Alltäglichkeit der Persönlichkeit Eichmanns, was alles Dämonische der grausamen Taten entzaubert, stieß auf absolutes Unverständnis, wenn Arendt schreibt: „In Eichmanns Mund wirkt das Grauenhafte oft nicht einmal mehr makaber, sondern ausgesprochen komisch. Komisch ist auch Eichmanns heldenhafter Kampf mit der deutschen Sprache, in dem er regelmäßig unterlag (. . .) Je länger man ihm zuhörte, desto klarer wurde einem, dass diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft war. Das heißt hier, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgendetwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.“11 Genau das kann man heute der neuen Rechten attestieren, gerade auch deren Sprechern, nämlich eine Unfähigkeit zu denken, noch genauer, erst recht nicht an der Stelle eines anderen zu denken. Das ist die Voraussetzung für Mitgefühl wie für Kommunikation überhaupt.

Arendt konnte oder wollte die Rolle nicht verstehen, die der Eichmann-Prozess für Israel spielte, wenn sich dabei ein Volk seiner Geschichte zu versichern versucht, so die renommierte Harvard-Professorin Seyla Benhabib. Sie stellt noch im Jahr 2000 „einen erschreckenden Mangel an Augenmaß, Feingefühl und Besonnenheit“ in Arendts Eichmann-Bericht fest.12 Aber für Arendt verschenkte der Prozess die historisch einmalige Chance, eine nicht nur unparteiliche, sondern auch noch juristisch abgewogene Einsicht in den wahren Verlauf der Geschichte des Holocaust zu gewinnen. Diesen Anspruch Arendts allerdings sollte man schon ernster als viele ihrer Kritiker nehmen. Denn sie erkennt in dieser Maxime eine allgemeine Grundbestimmung des abendländischen Menschentums, von der man vielleicht nicht mal angesichts der überaus verständlichen Interessen der Opfer des Holocaust einfach absehen darf, nämlich die Frage nach der Wahrheit zu stellen und zwar genau dort, wo die Wahrheit immer wieder missachtet oder gar mit Füßen getreten wird, nämlich in der Politik und besonders vom Totalitarismus. Arendt forderte dementsprechend vom Jerusalemer Gericht, was es gerade nicht einhielt: Gerechtigkeit „verlangt äußerste Zurückhaltung und den Abbruch aller Beziehungen zur Öffentlichkeit, sie erlaubt gerade noch die Trauer, aber nicht einmal den Zorn, und sie diktiert schließlich strengste Enthaltsamkeit gegenüber allen Verlockungen, sich durch Scheinwerfer, Kameras und Mikrophone ins Rampenlicht zu spielen.“ 13 Es ist doch erstaunlich, wenn Benhabib das nicht versteht, gerade wenn sich die mediale Welt heute noch weiter intensiviert hat. Allerdings findet heute jeder Prozess von öffentlichem Interesse unter den Augen der Öffentlichkeit statt, so dass man Arendts Kritik andererseits auch als überholt betrachten muss. Berechtigt bleibt sie trotzdem.

3. Wahrheit und Macht jenseits der Gewalt

Indes, zeigt nicht die Geschichte des Totalitarismus und gerade der Holocaust, dass es in der Politik nicht auf Wahrheit ankommt, sondern auf Macht und Gewalt? Welche Wahrheit half den Opfern des Holocaust? Offenbar keine. Welche Macht rettete aber die Überlebenden von Auschwitz und Bergen-Belsen? Die militärische Gewalt der alliierten Armeen! Doch eine solche Antwort würde im Sinne Arendts die Komplexität der Zusammenhänge zwischen Wahrheit und Macht bloß reduzieren. Mit ihrem Essay Macht und Gewalt versucht sie 1970 im Angesicht des Vietnamkrieges und der Studentenunruhen diese eng miteinander zusammenhängenden Begriffe zu entflechten, gerade weil das politische Denken beide meistens vermischt, die Gewalt zumeist nur als extreme Äußerung der Macht versteht.

Carl Schmitt definiert die politische Spitze aus ihrer Fähigkeit, mit Gewalt gegen die Bürgerinnen vorzugehen. Dazu braucht es keine demokratische Legitimation. Er schreibt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“14 Die Anwendung der Gewalt selbst legitimiert die Macht bzw. die Gesetze, die der Staat erlässt, eben weil er sie gewaltsam durchsetzt. Ohne diese Gewaltsamkeit gäbe es keine Gesetze, so dass sie sich nicht auf irgendeine Form der Wahrheit oder der Gerechtigkeit berufen müssen, geschweige denn dass sie der Zustimmung oder des Konsenses bedürften. Schmitt notiert den berühmten Satz: „Auctoritas, non veritas facit legem.“15

Dagegen stellt Gewalt für Arendt nur eine reine Anwendung von Stärke oder Kraft dar. Jeder Stärkere kann einem Schwächeren seinen Willen gewaltsam aufzwingen. Doch das ist offenbar nicht legitim oder gar gerecht. Den berühmten Spruch Mao Zedongs, dass die Macht aus den Gewehrläufen käme, widerlegt jeder Banküberfall, bei dem Gewalt zwar Gehorsam erzwingt, aber offenbar keine Macht verleiht. Gewalt mag durchaus im Dienst einer politischen Macht stehen und dabei helfen, diese durchzusetzen. Aber sie erzeugt nie Macht oder legitimiert diese gar. Arendt definiert sie daher folgendermaßen: „Gewalt schließlich ist (. . .) durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet. Sie steht dem Phänomen der Stärke am nächsten, da die Gewaltmittel, wie alle Werkzeuge, dazu dienen, menschliche Stärke bzw. die der organischen Werkzeuge’ zu vervielfachen.“16

Das bleibt nicht ohne Konsequenzen für das Verhältnis von Gewalt und Wahrheit. Wer sich in der Politik gewaltsam durchsetzt wie der Totalitarismus, nimmt dabei auf die Wahrheit der Tatsachen gerade keine Rücksicht. Ja, die Gewalt befreit nicht nur den Totalitarismus davon, auf solche Wahrheit achten zu müssen. Ermöglicht die Gewalt nicht auch der Macht eine solche Rücksichtslosigkeit? Will Macht die Wahrheit der Tatsachen, also die Umstände in der Welt, wie sie sind, nicht immer gewaltsam übergehen?