Aristoteles' »Nikomachische Ethik«. Ein systematischer Kommentar - Andree Hahmann - E-Book

Aristoteles' »Nikomachische Ethik«. Ein systematischer Kommentar E-Book

Andree Hahmann

0,0
9,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nur wenige philosophische Werke genießen einen solchen Klassiker-Status wie die "Nikomachische Ethik", behandelt sie doch zwei der wichtigsten Fragen überhaupt: Worin besteht das menschliche Glück und wie lässt es sich realisieren? Der vorliegende systematische Kommentar zeichnet den Gedankengang und die Abfolge der Argumente minutiös nach und gibt Hinweise auf Deutungstraditionen und Fortleben des grundlegenden Textes – eine unverzichtbare Verständnishilfe für Lehrende und Studierende.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 402

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andree Hahmann

Aristoteles’ Nikomachische Ethik

Ein systematischer Kommentar

Reclam

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962074-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014301-8

www.reclam.de

Inhalt

Warum ein systematischer Kommentar?

Das Gut des Menschen (Buch I.1–13)

I.1 Das höchste Gut (1094a1–1095a13)

I.2 Glück als höchstes Gut (1095a14–1095b13)

I.3 Drei glückliche Leben (1095b14–1096a10)

I.4 Die Form des Guten als innere Ursache des Guten (1096a11–1097a14)

I.5 Zwei weitere Kriterien zur Bestimmung des höchsten Gutes (1097a15–1097b21)

I.6 Das eigentümliche Werk der Menschen (1097b22–1098a20)

I.7 Die angemessene Vorgehensweise der Untersuchung (1098a20–1098b8)

I.8 Bestätigung der Position durch die Ansichten der Vorgänger (1098b9–1098b22)

I.9 Einteilung der Güter (1098b22–1099b8)

I.10 Quelle des Glücks (1099b9–1100a9)

I.11 Abhängigkeit des Glücks von äußeren Faktoren (1100a10–1101b9)

I.12 Lobenswerte und verehrungswürdige Dinge (1101b10–1102a4)

I.13 Rationale und ethische Tugenden (1102a5–1103a10)

Der Begriff der Tugend (Buch II.1–9)

II.1 Ausbildung der ethischen Tugend (1103a14–1103b25)

II.2 Lust als Gegenstand der Ethischen Tugend (1103b26–1105a16)

II.3 Kunst und Tugend (1105a17–1106b18)

II.4 Die Gattung der Tugend (1105b19–1106a13)

II.5 Tugend als eine Art Mitte (1106a14–1106b35)

II.6 Definition der Tugend

II.7 Tafel der Tugenden

II.8 Tugend und Laster

II.9 Praktische Anleitung zum Erreichen der Mitte

Handlung und Charakter (Buch III.1–8)

III.1 Kriterien für unfreiwilliges Handeln: 1. Gewaltanwendung und Zwang (1109b30–1110b17)

III.2 2. Unwissenheit (1110b18–1111a21)

III.3 Bestimmung des Freiwilligen (1111a22–1111b3)

III.4 Entscheidung (1111b4–1112a17)

III.5 Überlegung (1112a18–1113a14)

III.6 Wunsch (1113a15–1113b2)

III.7 Zur Freiwilligkeit der Laster (1113b3–1114b25)

III.8 Ergebnis (1114b26–1115a3)

Die Ethischen Tugenden (Buch III.9–15 und IV. 1–15)

III.9 Tapferkeit (1115a4–1115b6)

III.10 Ausübung und Verfehlungen der Tapferkeit (1115b7–1116a9)

III.11 Verwandte Formen der Tapferkeit (1116a10–1117a28)

III.12 Lust und Schmerz in der Tapferkeit (1117a29–1117b22)

III.13 Besonnenheit (1117b23–1118b33)

III.14 Besonnenheit als richtige Mitte (1119a1–1119a20)

III.15 Feigheit und Zügellosigkeit (1119a21–1119b18)

IV.1 Freigiebigkeit (1119b22–1120a23)

IV.2 Das Geben und Nehmen der Freigiebigen (1120a23–1121a7)

IV.3 Verschwendungssucht und Geiz (1121a8–1122a17)

IV.4 Großzügigkeit (1122a18–1122b18)

IV. 5 Großzügige Taten (1122b19–1123a19)

IV.6 Protzerei und Kleinlichkeit (1123a19–1123a33)

IV.7 Hochgesinntheit (1123a34–1124a20)

IV.8 Die wahre Überlegenheit der Hochgesinnten (1124a20–1125a16)

IV.9 Kleinmütigkeit und Eitelkeit (1125a16–1125a35)

IV.10 Die Mitte bei kleinen Ehren (1125b1–1125b25)

IV.11 Mittlerer Umgang mit Zorn (1125b26–1126b10)

IV.12–15 Soziale Tugenden und Scham (1126b11–1128b35)

Die Tugend der Gerechtigkeit (Buch V.1–14)

V.1 Disposition der Gerechtigkeit (1129a3–1129a26)

V.2 Zwei Arten der Gerechtigkeit (1129a26–1129b11)

V.3 Universale Gerechtigkeit (1129b11–1130a13)

V.4 Mehrhabenwollen (1130a14–1130b5)

V.5 Allgemeine und partikulare Gerechtigkeit (1130b6–1131a9)

V.6 Gleichheit bei der Verteilungsgerechtigkeit (1131a10–1131b9)

V.7 Ausgleichende Gerechtigkeit (1131b9–1132b20)

V.8 Reziproke Gerechtigkeit (1132b21–1133b28)

V.9 Gerechtigkeit als Mitte (1133b29–1134a16)

V.10 Ungerechte Handlungen (1134a17–1136a9)

V.11 Unrechtleiden (1136a10–1136b14)

V.12 Unrechttun und Unrechtleiden (1136b15–1137a4)

V.13 Gerechte Handlungen und die gerechte Disposition (1137a4–1137a30)

V.14 Billigkeit (1137a31–1138a3)

V.15 Man kann sich selbst kein Unrecht tun (1138a4–1138b14)

Die Verstandestugenden (Buch VI.1–13)

VI.1 Das rationale Urteil (1138b18–1138b34)

VI.2 Wahrheit im theoretischen und praktischen Denken (1138b35–1139b13)

VI.3 Wissenschaft (1139b14–1139b36)

VI.4 Kunst (1140a1–1140a23)

VI.5 Klugheit (1140a24–1140b30)

VI.6 Vernunft (1140b31–1141a8)

VI.7 Weisheit (1141a9–1141b8)

VI.8 Klugheit und politisches Wissen (1141b8–1141b33)

VI.9 Die Klugheit als leitende Tugend des Handelns (1141b33–1142a30)

VI.10 Wohlberatenheit (1142a31–1142b33)

VI.11 Verständigkeit und Einsicht (1142b34–1143a24)

VI.12 Vergleich der intellektuellen Dispositionen (1143a25–1143b17)

VI.13 Klugheit und Weisheit (1143b18–1145a11)

Unbeherrschtheit und die Ursachen der Lust (Buch VII.1–15)

VII.1 Gegenstand und Methode des siebten Buches (1145a15–1145b7)

VII.2 Sechs Phänomene (1145b8–1145b20)

VII.3 Sechs Schwierigkeiten (1145b21–1146b4)

VII.4 Plan der Untersuchung (1146b6–1146b24)

VII.5 Der Grund der Unbeherrschtheit (1146b24–1147b19)

VII.6 Der Gegenstand der Unbeherrschtheit (1147b20–1149a20)

VII.7 Sich Ereifern (1149a21–1150a8)

VII.8 Verwandte Dispositionen im Umgang mit der Lust (1150a9–1150b28)

VII.9 Zügellosigkeit im Vergleich mit Unbeherrschtheit (1150b29–1151a28)

VII.10 Beherrschtheit (1151a29–1151b22)

VII.11 Beherrschtheit und Besonnenheit (1151b23–1152a36)

VII.12 Meinungen über das Wesen und den Wert der Lust (1152b1–1152b24)

VII.13 Widerlegung der Argumente gegen die Lust als höchstem Gut (1152b25–1153a35)

VII.14 Das richtige Maß für die Lust (1153b1–1154a21)

VII.15 An sich und in akzidenteller Weise gut (1154a22–1154b34)

Freundschaft (Bücher VIII.1–16 und IX.1–12)

VIII.1 Die Notwendigkeit der Untersuchung der Freundschaft (1155a3–1155a31)

VIII.2 Das geliebte Objekt (1155a32–1156a5)

VIII.3 Drei Arten der Freundschaft (1156a6–1156b6)

VIII.4 Vollkommene Freundschaft (1156b7–1156b32)

VIII.5 Ähnlichkeit zur vollkommenen Freundschaft (1156b33–1157a36)

VIII.6 Das Zusammenleben der Freunde (1157b1–1157b24)

VIII.7 Disposition und Affekt (1157b25–1158a36)

VIII.8 Gleichheit und Ungleichheit in Freundschaften (1158b1–1158b28)

VIII.9 Liebe und Ausgleich (1158b29–1159a33)

VIII.10 Gleichheit und Dauer der Freundschaft (1159a33–1159b24)

VIII.11 Freundschaft und Gerechtigkeit (1159b25–1160a30)

VIII.12 Die Formen der Gemeinschaft (1160a31–1161a9)

VIII.13 Freundschaft in den politischen Verfassungen (1161a10–1161b10)

VIII.14 Freundschaft in der Familie (1161b11–1162a33)

VIII.15 Streit und Ausgleich in Freundschaften (1162a34–1163a23)

VIII.16 Streit und Ausgleich in ungleichen Freundschaften (1163a24–1163b28)

IX.1 Vergütung von erbrachten Wohltaten (1163b32–1164b21)

IX.2 Verhaltensregeln in Konfliktfällen (1164b22–1165a35)

IX.3 Auflösung von Freundschaften (1165a36–1165b36)

IX.4 Selbstliebe als Grund der Freundschaft (1166a1–1166b29)

IX.5 Wohlwollen (1166b30–1167a21)

IX.6 Eintracht (1167a22–1167b16)

IX.7 Wohltätigkeit (1167b17–1168a27)

IX.8 Selbstliebe (1168a28–1169b1)

IX.9 Die Freunde der Tugendhaften (1169b2–1170b19)

IX.10 Anzahl der Freunde (1170b20–1171a20)

IX.11 Hilfe der Freunde (1171a21–1171b28)

IX.12 Wahrnehmung und Zusammenleben der Freunde (1171b29–1172a15)

Die höchste Lust des Menschen (Buch X.1–10)

X.1 Die Wichtigkeit der Behandlung der Lust (1172a19–1172b8)

X.2 Meinungen über die Lust (1172b9–1174a12)

X.3 Lust als vollkommene Bewegung (1174a13–1174a14)

X.4 Lust macht die Tätigkeit vollkommen (1174b14–1175a17)

X.5 Hierarchie der Lüste (1175a18–1176a29)

X.6 Lust und Spiel (1176a30–1177a11)

X.7 Beantwortung der Frage nach dem menschlichen Glück (1177a12–1178a8)

X.8 Überlegenheit des philosophischen Lebens über das politische (1178a9–1178b32)

X.9 Das richtige Maß an äußeren Gütern (1178b33–1179a32)

X.10 Die Notwendigkeit der Gesetzgebung (1179a33–1181b23)

Verzeichnis der verwendeten Siglen

Aristoteles

Platon

Ausgewählte Literatur

Textausgaben und Übersetzungen

Übersetzungen einzelner Bücher mit Kommentaren

Kommentare

Monographien und Sammelbände zur Aristotelischen Ethik

Literaturangaben zu den einzelnen Kapiteln

Zu Kapitel 1 – Das Gut des Menschen (Buch I)

Zu Kapitel 2 – Der Begriff der Tugend (Buch II)

Zu Kapitel 3 – Handlung und Charakter (Buch III.1–8)

Zu Kapitel 4 – Die Ethischen Tugenden (Buch III.9–15 und IV. 1–15)

Zu Kapitel 5 – Die Tugend der Gerechtigkeit (Buch V. 1–14)

Zu Kapitel 6 – Die Verstandestugenden (Buch VI.1–13)

Zu Kapitel 7 – Unbeherrschtheit und die Ursachen der Lust (Buch VII)

Zu Kapitel 8 – Freundschaft (Bücher VIII.1–16 und IX.1–12)

Zu Kapitel 9 – Die höchste Lust des Menschen (Buch X.1–10)

Danksagung

Einleitung

Warum ein systematischer Kommentar?

Aristoteles beginnt seine Untersuchungen oft mit dem Hinweis auf die Bedeutung der behandelten Thematik. Solches dürfte sich im Fall der Nikomachischen Ethik erübrigen. Nur wenige philosophische Werke nehmen eine so herausragende Stellung unter den Klassikern der Philosophie ein (was nicht zuletzt auch durch den festen Platz belegt wird, den die Nikomachische Ethik in den Vorlesungsverzeichnissen der philosophischen Seminare dieser Welt einnimmt).

Das Interesse an der Nikomachischen Ethik ist dabei nicht nur historischer Natur. So gehört die Schrift zu den aktuellsten Büchern der Antike, und liefert auch heute noch mehr als nur bedenkenswerte Anregungen für moderne Debatten. Vor allem in den letzten Jahren hat es eine Konjunktur neo-aristotelischer Ansätze in der Ethik gegeben. Diese Entwicklung ist zugleich erstaunlich, bestehen doch signifikante sachliche Unterschiede zwischen antiker und moderner Moralphilosophie (ein eher oberflächliches Problem besteht hingegen darin, dass zahlreiche Begrifflichkeiten anders verwendet werden, etwa »Liebe«, »Freundschaft« oder »Lust«. Dieses Problem sollte jedoch nicht dadurch behoben werden, indem man andere Übersetzungen für die Begriffe wählt. Auf diese Weise stellen sich nur neue Schwierigkeiten ein und wird die Arbeit mit den Texten zusätzlich erschwert).

Klassisch ist jedenfalls die zentrale Frage des Buches zu nennen: Worin besteht das menschliche Glück und wie lässt es sich realisieren? Allerdings fällt die Beantwortung anders aus als bei modernen Philosophinnen und Philosophen, die bereitwillig das Glück der Moralität untergeordnet oder streng zwischen der Moral im eigentlichen Sinn und dem menschlichen Glück unterschieden haben.

Exemplarisch für einen solchen Ansatz steht natürlich Kant, der zwar die Notwendigkeit des menschlichen Strebens nach Glück anerkennt, die Erfüllung des Wunsches aber in eine jenseitige Welt verlegt, in der Gott dem Menschen das Glück proportional zum sittlichen Verdienst zuteilen wird. Natürlich ist das Spektrum möglicher Ansätze breit und weicht ihrerseits teils erheblich von der kantischen Position ab. Doch sind zwei Punkte wichtig:

1. Kant hat einen fundamentalen Einfluss auf fast alle nachfolgenden moralphilosophischen Ansätze ausgeübt. Entsprechend hat sich die kantische Trennung zwischen Moral und Glück durchgesetzt.

2. Die meisten Moralphilosophinnen und -philosophen der Gegenwart sind davon überzeugt, dass moralische Überlegungen einen besonderen Stellenwert verdienen.

Aristoteles’ Ethik ist anders (und man spricht im Fall der Nikomachischen Ethik gar nicht erst von Moralphilosophie, sondern bleibt näher am griechischen êthos, also dem Charakter oder der Sinnesart des Menschen). Die heute weit verbreitete Vorstellung, dass Moral genauso wie Recht egalitär sein müsse, d. h. dass moralische Ansprüche unterschiedslos auf alle Menschen angewandt werden, findet sich nicht nur bei Aristoteles nicht, sondern er behauptet geradewegs das Gegenteil: Seiner Ansicht nach sind wir in erster Linie unseren Freunden und unserer Familie verbunden. Eine moralische Pflicht allen Menschen gegenüber bleibt ihm hingegen genauso fremd wie die Idee einer unveräußerlichen Würde des Menschen. Für Aristoteles geht Würde mit Verdienst einher. Deshalb fordert er die Menschen auch dazu auf, sich der Liebe und Anerkennung würdig zu machen. Wo andere von Sollen und Müssen reden, da spricht Aristoteles von Lust und Freude. Werte, die heute unhinterfragt oder a priori und apodiktisch mit universaler Geltung versehen werden, müssen sich bei Aristoteles erst einmal bewähren und letztlich auch genau das leisten, was gesucht wird, nämlich zum Glück des Menschen beizutragen.

Hier deutet sich bereits an: Aristoteles’ Antwort ist wunderbar erfrischend und mit Blick auf viele liebgewonnene moralische Überzeugungen im höchsten Maße kritisch. Für freie Geister gibt es somit viel zu entdecken in diesem Text, vorausgesetzt man nimmt die Mühe auf sich, das Buch mit Offenheit zu studieren.

An sich betrachtet handelt es sich bei der Nikomachischen Ethik um keinen sonderlich schwierigen Text. Im Gegensatz zu anderen aristotelischen Schriften, wie etwa De anima oder der Metaphysik, werden die Leserinnen und Leser nur selten mit komplizierten und ohne weitere Kenntnisse kaum nachvollziehbaren Argumenten konfrontiert.

Das soll natürlich nicht bedeuten, dass die Lektüre dieses kanonischen Werkes nicht besondere, eigene Schwierigkeiten aufwirft, vor allem dann, wenn man zum ersten Mal eine aristotelische Schrift studiert. Die meisten Probleme lassen sich in zwei Gruppen einteilen:

1. Aristoteles’ philosophische Methode unterscheidet sich erheblich von modernen Ansätzen. Dem ersten Anschein nach handelt es sich oft um eine Anreihung nur lose miteinander verbundener Beobachtungen, wobei der Autor scheinbar willkürlich vor- und zurückspringt, Probleme bezeichnet, die dann aber nicht behandelt werden, Definitionen aufstellt, die nicht verwandt werden, Schlüsse zieht aus Prämissen, die nicht eigens genannt werden, und immer wieder von vorne anzufangen scheint. Das alles macht es den Leserinnen und Lesern nicht sehr leicht, diesen verschlungenen Pfaden zu folgen und das Ziel der Abhandlung im Blick zu behalten.

2. Genau hier liegt die zweite Hauptschwierigkeit, die viele mit dem Text haben. Immer wieder entsteht der Eindruck, Aristoteles hätte das, was besonders wichtig ist, gerade nicht gesagt. Anders formuliert: Die Erwartung, die man an den Text hat, weicht am Ende erheblich von dem ab, was Aristoteles tatsächlich liefert. Um nur einige Punkte zu nennen, deren Diskussion die umfangreiche Sekundärliteratur zur Nikomachischen Ethik beschäftigt und mit immer neuen Abhandlungen anfüllt:

Wieso gibt Aristoteles keine konkreten Handlungsvorgaben und Inhalte der praktischen Vernunft?

Warum behandelt er nicht moralische Konflikte?

Welchen konkreten Beitrag liefern die unterschiedlichen Güter zum Glück?

Warum geht Aristoteles so ausführlich auf die sozialen Praktiken und Tugenden ein, wenn das Glück des Menschen letztlich in einer philosophischen Kontemplation bestehen soll?

Als eine Konsequenz dieser offenen Fragen besteht in der modernen Forschung die von vielen geteilte Vermutung, dass es sich bei der Nikomachischen Ethik um kein einheitliches Werk handeln kann, sondern bestenfalls um ein unfertiges Buchfragment oder aber eine Kompilation verschiedener Abhandlungen oder Aufsätze zu unterschiedlichen Themen, die vielleicht sogar von einem späteren Herausgeber zusammengestellt wurde.

Befeuert wird diese Debatte durch den Umstand, dass uns aus der Antike drei unterschiedliche Schriften mit ethischen Inhalten unter dem Namen des Aristoteles überliefert wurden.

Das wirft natürlich zahlreiche Fragen über die Autorschaft und das Verhältnis der Schriften auf. Cicero hat in De finibus die Vermutung geäußert, dass nicht Aristoteles, sondern dessen Sohn Nikomachos die Nikomachische Ethik verfasst habe.1

Diese Ansicht hat nicht viele Anhänger gefunden und wurde in der Neuzeit an prominenter Stelle lediglich von Friedrich Schleiermacher aufgegriffen. Aspasios vermutet hingegen, dass die Eudemische Ethik nicht authentisch sei. Und seit der Renaissance wurde immer wieder betont, dass die Magna Moralia kein Werk des Aristoteles sein könne.

Die Mehrzahl der Interpretinnen und Interpreten geht heute davon aus, dass die Nikomachische und die Eudemische Ethik von Aristoteles verfasst wurden. Unklar ist jedoch, in welchem Verhältnis die beiden Schriften zueinander stehen. Es liegt nahe, eine Entwicklung zwischen den Texten anzunehmen. Man betrachtet entweder die Nikomachische Ethik als zeitlich früher entstanden oder man nimmt an, dass die Eudemische Ethik das Frühwerk und die Nikomachische das reifere Spätwerk ist. Fest steht jedenfalls, dass beide Schriften einen gemeinsamen Teil haben: Den Büchern IV bis VI der Eudemischen Ethik entsprechen die Bücher V bis VII der Nikomachischen Ethik.

Ich werde diese Fragen im vorliegenden systematischen Kommentar nicht einfach nur ausblenden, sondern in gewisser Hinsicht unterlaufen. Die Beantwortung dieser Fragen fällt nicht in den Aufgabenbereich eines systematischen Kommentars, der eine besondere Haltung zu seinem Bezugstext einnimmt. Diese Eigenschaft zeichnet den systematischen Kommentar gegenüber anderen Arten von Kommentaren aus. Was bedeutet das für den Umgang mit diesem Buch?

Der richtige Umgang mit dem vorliegenden Kommentar erfordert, kurz auf die Eigenarten eines systematischen Kommentars aufmerksam zu machen und diese Form von anderen Kommentarformen zu unterscheiden. Als Kommentar bezeichnet man allgemein solche Texte, die zwischen einem Bezugstext und der Leserin bzw. dem Leser vermitteln. Sie liefern eine Hilfestellung für die Auslegung des Originaltextes. Dabei bleibt der Bezugstext nicht nur inhaltlich, sondern auch in formal-struktureller Hinsicht entscheidend für den Aufbau des Kommentars. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass Kommentare in Form von Anmerkungen zum Haupttext oder aber als Anhang auftreten. Der Kommentar stellt in dieser Form zusätzliche Informationen bereit, beleuchtet Hintergründe der Entstehung, erschließt den Kontext und weist auf Hauptschwierigkeiten der Auslegung hin.

Diese spezifische Form weisen vor allem Stellenkommentare oder historisch-philologische Kommentare auf. Zur Nikomachischen Ethik sei besonders auf den umfangreichen Kommentar von Dorothea Frede verwiesen, der den älteren Kommentar von Franz Dirlmeier ersetzt. Für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den antiken Texten ist die Benutzung eines Stellenkommentars oft unerlässlich, da die Erschließung des argumentativen Kontextes erhebliche Ressourcen erfordert. In dieser Hinsicht liefern Stellenkommentare die notwendige Grundlage für die Beschäftigung mit dem Text in Forschung und Lehre.

Einen ganz anderen Ansatz verfolgen hingegen kooperative Kommentare sowie Kommentare in der Form von Werkinterpretationen. Der Form nach sind diese beiden Ansätze einander ähnlich, insofern ein eher der Interpretation zugeneigter Weg gewählt wird, sich dem Text zu nähern. Eine Interpretation ist sachlich eng verwandt mit dem Kommentar. Die genaue begriffliche Abgrenzung zwischen beiden Zugangsweisen ist zum Teil schwierig und abhängig von dem vorausgesetzten Verständnis von Interpretation. Ohne auf die Details der in vielen Punkten bislang nicht genauer erforschten Beziehungen einzugehen,2 sollte jedoch klar sein, dass diese Kommentarformen erheblich von einem Stellenkommentar abweichen: Werkinterpretationen und kooperative Kommentare zeichnen sich dadurch aus, dass oft eine eher problematisierende Perspektive auf den Text gewählt wird, kritisch Stellung zum Inhalt bezogen wird und Schwerpunkte in der Behandlung des Textes abhängig von den Interessen der aktuellen Forschung oder den subjektiven Vorlieben der Kommentatorin gesetzt werden. In gewisser Hinsicht verfahren diese Kommentare auch systematisch, denn sie orientieren sich an solchen Fragestellungen, die unter sog. systematischen Aspekten als relevant eingeschätzt werden und/oder sie wurden selbst im Gegensatz zu den Stellenkommentaren systematisch verfasst. Ihre formale Gliederung folgt zwar meistens dem Originaltext, sie treten aber getrennt vom Text und nicht als Anmerkungen oder Anhang auf. Kooperative Kommentare und Werkinterpretationen sind nun ihrerseits so aufgebaut, dass sie auch unabhängig vom Bezugstext gelesen werden können.

Beispiele für kooperative Kommentare und Werkinterpretationen zur Nikomachischen Ethik sind in deutscher Sprache der von Otfried Höffe herausgegebene Band Aristoteles: Die Nikomachische Ethik in der Reihe Klassiker Auslegen oder die Werkinterpretation von Ursula Wolf Aristoteles’ ›Nikomachische Ethik‹. Vor allem kooperative Kommentare erfreuen sich im englischen Sprachraum großer Beliebtheit, und entsprechend bieten alle größeren Verlage eigene Handbücher und Anthologien zur Nikomachischen Ethik an.

Der vorliegende systematische Kommentar unterscheidet sich der Art nach sowohl vom Stellenkommentar als auch von den eher interpretativen Ansätzen. Wesentlich für einen systematischen Kommentar ist eine dezidiert nicht problematisierende systematische Unterstellung an den Bezugstext, die weiter reicht als der Anspruch nach argumentativer Kohärenz. Unterstellt wird im konkreten Fall, dass es sich bei der Nikomachischen Ethik um ein argumentativ geschlossenes Werk handelt, das in einem kohärenten philosophischen System verortet ist.

Mit dieser Unterstellung sucht der systematische Kommentar den größtmöglichen Abstand zu einer genetischen Herangehensweise an den Text (genetisch meint, dass die einzelnen Schriften sowie das ganze Werk unter dem Aspekt ihrer zeitlichen Entstehung betrachtet werden; entscheidend für genetische Ansätze sind daher Fragen der zeitlichen Reihenfolge der Schriften bzw. die Umstände ihrer Entstehung).

Diese eigentümliche Vorgehensweise des systematischen Kommentars hat zahlreiche Konsequenzen für die Gestalt des Kommentars. Im Folgenden soll kurz auf die negativen Konsequenzen hingewiesen werden, d. h. also auf all das, was ein systematischer Kommentar nicht leistet und folglich von den Leserinnen und Lesern von ihm auch nicht erwartet werden sollte:

So werden keine oder nur eingeschränkt Informationen gegeben, die nicht unbedingt zum Verständnis der Argumentation erforderlich sind. Das betrifft gleichermaßen den historischen Kontext wie Sachanmerkungen zu Personen, die Aristoteles nennt, oder Gegebenheiten, auf die er verweist.

Außerdem wird nicht auf vermeintliche Versäumnisse des Autors eingegangen. Es wird also nicht spekuliert, dass Aristoteles einen bestimmten Sachverhalt oder eine gewisse Theorie nicht beachtet oder übergangen habe.

Auch werden keine oder nur in einem sehr begrenzten Umfang alternative Lesarten oder Interpretationen vorgestellt.

Es findet auch keine ausführliche Diskussion der in der Sekundärliteratur vorgestellten Probleme statt, wie überhaupt keine oder kaum Problematisierungen des Textes vorgenommen werden (es wird allerdings zu Beginn jedes Kapitels ein kurzer Überblick über einige der Hauptschwierigkeiten gegeben, die in der Forschung gesehen werden, und zwar nicht aus dem Grund, um sich explizit mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, sondern als sachliche Orientierung der Leserinnen und Leser).

Das persönliche Urteil über den Text wird so weit wie möglich zurückgenommen. Daraus folgt, dass man auch Vermutungen über den Textzustand, Schlüsse über die vermeintliche Vollständigkeit, den Überarbeitungsstatus der Texte oder die Reihenfolge der Bearbeitung in einem systematischen Kommentar vergeblich suchen wird.

Positiv ergibt sich aus der systematischen Unterstellung an den Text, dass alle Teile des Buches gleichermaßen Beachtung finden:

Es wird also keine Auswahl getroffen zwischen solchen Passagen, die aus heutiger Perspektive eher wichtig für die übergeordnete Intention erscheinen, und anderen, die vernachlässigt werden können, weil es sich etwa um nicht ausgearbeitete Textfragmente handeln könnte.

Vielmehr wird der Versuch unternommen, den systematischen Ort auch solcher Kapitel zu bestimmen, die für gewöhnlich kaum Beachtung finden. Exemplarisch sei hier etwa auf Aristoteles’ Kritik an Platon im ersten Buch (I.4) verwiesen, die als integraler Bestandteil der übergeordneten Argumentation aufgefasst wird, oder die zweite Hälfte des fünften Buches zur Gerechtigkeit, die oft bloß als lose Sammlung von Fragestellungen behandelt wird.

Gegebenenfalls werden weitere aristotelische Schriften als gleichrangige Textzeugnisse zur Erläuterung der Ethik herangezogen, um eine systematische Rekonstruktion des philosophischen Argumentes zu gewährleisten.

Wie gesagt, handelt es sich hierbei um eine bewusste Unterstellung: Der Text wird also so behandelt, als ob es sich um ein einheitliches Werk handelt. Diese exegetische Unterstellung wird ihrerseits als solche nicht philologisch abgesichert. Es wird also nicht mit dem Anspruch aufgetreten, den Nachweis zu erbringen, dass es sich tatsächlich um ein abgeschlossenes Buch handelt. Der systematische Kommentar folgt damit den klassischen antiken sowie mittelalterlichen Kommentierungen der aristotelischen Schriften.3

Was für Vorteile verspricht ein systematischer Kommentar gegenüber anderen Kommentaren bzw. interpretativen Ansätzen? Es wurde bereits angedeutet, dass der systematische Kommentar einen ausführlichen Stellenkommentar nicht ersetzen kann. Das Verhältnis zum Stellenkommentar sollte eher komplementär aufgefasst werden. Die Beziehung des systematischen Kommentars zu problematisierenden oder interpretativen Kommentarformen ist hingegen propädeutischer Natur: Der systematische Kommentar richtet sich in erster Linie an Leserinnen und Leser, die sich den Text erstmalig erschließen. Das bedeutet natürlich nicht, dass nicht auch fortgeschrittene Studierende der aristotelischen Philosophie oder sogar Expertinnen und Experten Gewinn aus der Lektüre eines systematischen Kommentars ziehen können, da der spezifische Blickwinkel zu teils originellen Perspektiven auf den Text führt, die unter Umständen in der bisherigen Forschung nichtbeachtete Interpretationsmöglichkeiten freilegen.

Doch ist der systematische Kommentar in erster Linie auf die philosophische Lehre ausgelegt und schließt auch in dieser Hinsicht an die antike Tradition der Kommentierung an. So ist das Verhältnis zwischen philosophischem Kommentar und philosophischer Lehre traditionell sehr eng. In der Forschung wurde bemerkt, dass die Existenz eines Kommentars bereits Grund zur Annahme liefert, dass der Bezugstext zum Unterricht genutzt worden ist.4 Kommentare spielen seit der Antike eine besondere Rolle in der philosophischen Ausbildung. Die heute vorliegenden spätantiken Kommentare zu Platon und Aristoteles sind vor allem das Ergebnis des philosophischen Unterrichts oder wurden in diesem Kontext an den antiken Schulen verfasst. Anders ausgedrückt: Die antiken Kommentatoren hatten häufig Studenten (weniger Studentinnen) als Publikum ihrer Kommentare im Sinn.5 Bereits im dritten Jahrhundert n. Chr. gab es in der platonischen Schule in Athen und an anderen Orten, an denen damals Philosophie gelehrt wurde, einen strukturierten Lehrplan, der eine festgelegte Reihenfolge von Texten enthielt, die von den Schülern in ihrer Ausbildung bewältigt werden mussten.

Der Vorlesungsplan gliederte sich nach einer didaktischen Ordnung, die eine Hierarchie zwischen bestimmten aristotelischen und platonischen Schriften widerspiegelte. Die Systematisierung der einzelnen Texte wurde von den Kommentatoren mit Blick auf die Aufnahmefähigkeit der Studenten konzipiert. Die Eignung des Lesers wird von den antiken Philosophen häufig in den Vorworten ihrer Kommentare thematisiert. Diese reflektieren damit eine aus den aristotelischen Schriften selbst bekannte Vorgehensweise. Auch in der Nikomachischen Ethik spricht Aristoteles die Qualitäten des anvisierten Publikums an, ein Aspekt, der in der Auslegung der Schrift oft nicht zureichend berücksichtigt wird.

Die Vorteile der systematischen Herangehensweise an den Text werden vor allem in der philosophischen Lehre deutlich. So soll die systematische Rekonstruktion der aristotelischen Argumentation es den Studierenden ermöglichen, die Schwierigkeiten der Lektüre dieses klassischen Textes besser zu meistern und sich den Text durch den argumentativen Nachvollzug zu erschließen. Die Leserinnen und Leser werden nicht durch zusätzliche Problematisierungen und die Vorstellung unterschiedlicher Lesarten verwirrt, sondern erhalten eine konzentrierte Anleitung zum Verständnis des Textes. Damit soll auch eine Grundlage geschaffen werden für die selbstständig fortgeführte Beschäftigung mit der Schrift. Zu diesem Zweck weist das ausführliche Literaturverzeichnis auf weitergehende problematisierende Interpretationen hin. Der systematische Kommentar erfüllt auf diese Weise, wie gesagt, eine propädeutische Funktion für die interpretative Auseinandersetzung mit der Schrift.

Somit wären das allgemeine Ziel, die besonderen Eigenschaften und die intendierte Leserschaft eines systematischen Kommentars zur Nikomachischen Ethik benannt.

Der Kommentar hat einen bestimmten Aufbau und sollte auf eine bestimmte Weise benutzt werden: Dieser Kommentar ist so aufgebaut, dass sich das Buch ohne parallele Lektüre des Originaltextes lesen lässt. Der Kommentar soll eine Hilfe für den Einstieg in den Originaltext liefern. Dabei wurde zwar auch an den interessierten Laien gedacht, doch der Erstkontakt mit der aristotelischen Philosophie geschieht vor allem im Rahmen einer Lehrveranstaltung. Die Gliederung des Kommentars orientiert sich deshalb insbesondere an den Erfordernissen, die ein philosophisches Seminar stellt. Zunächst wurde weitgehend auf die Verwendung von Fachtermini und Fremdworten verzichtet. Griechische Begriffe werden, wenn nötig, in lateinischer Umschrift angeführt. Die Terminologie ist insgesamt möglichst einfach gehalten. Vorkenntnisse in der Antiken Philosophie werden nicht erwartet. Die Kapitel des Kommentars folgen mit zwei Ausnahmen der Bucheinteilung der Nikomachischen Ethik. Dabei muss man wissen, dass genauso wie die Einteilung der Nikomachischen Ethik in zehn Bücher auch die Kapitelgliederung nicht auf Aristoteles selbst zurückgeht, sondern von späteren Herausgebern vorgenommen wurde. Im Gegensatz zur Bucheinteilung, die vermutlich durch den ersten antiken Herausgeber Andronikos von Rhodos erledigt wurde, erfolgte die Kapiteleinteilung sehr viel später im 15. und 16. Jahrhundert. Die in Deutschland gebräuchliche Ordnung geht ihrerseits auf Theodor Zwinger zurück. In den meisten Übersetzungen wird diese Ordnung mit arabischen Ziffern wiedergegeben. Im englischsprachigen Raum hat sich hingegen die ältere Einteilung erhalten, die durch römische Ziffern angezeigt wird. Das ist oft verwirrend, wenn man gleichzeitig mit einer deutschen und englischen Übersetzung bzw. englischen Kommentaren arbeitet. Die Verwirrung lässt sich am besten vermeiden, indem man sich in erster Linie an der Seitenzählung nach Becker (in zwei Spalten a und b) orientiert, die beide Ausgaben übernommen haben. Die Einteilung und Verweise des Kommentars verwenden die Kapiteleinteilung nach Zwinger und zusätzlich die Seiten und Zeilenangaben nach Becker. Das soll es ermöglichen, den Text auch in anderen Ausgaben und Übersetzungen zu überprüfen.

Den einzelnen Kapiteln des Kommentars wird jeweils eine kurze Einleitung vorangestellt, die auch einige der Hauptschwierigkeiten benennt, die in der Forschung gesehen werden. Hierbei handelt es sich um nicht mehr als eine erste thematische Verortung der Diskussion, die die Leserinnen und Leser auf den Text vorbereitet und ihre Aufmerksamkeit vorab auf einige Fragen lenkt, die nach allgemeiner Ansicht eine besondere Beachtung verdienen oder zumindest eine vorsichtige Lektüre erfordern.

Im Anschluss wird ein knapper Überblick über die von Aristoteles behandelten Fragestellungen gegeben.

Den Großteil des Kapitels nimmt die detaillierte systematische Rekonstruktion der aristotelischen Argumentation ein.

Weiterführende Literaturangaben, eingeteilt nach den Kapiteln des Kommentars, finden sich am Ende des Buches und orientieren sich dabei vor allem an der Verwendung in philosophischen Seminaren (aus diesem Grunde wird auch nach Möglichkeit eher deutschsprachige Literatur aufgeführt). Daneben werden nur englische Titel berücksichtigt (die Annahme, dass Studierende auch französische oder italienische Literatur verwenden, ignoriert die Realität an deutschen Universitäten).

Textgrundlage des Kommentars ist der griechische Text in der Ausgabe von Ingram Bywater. Die beiden Übersetzungen, von denen zum großen Teil Gebrauch gemacht wurde, sind die ebenfalls bei Reclam erschienene Übersetzung von Gernot Krapinger sowie die Neuübersetzung von Dorothea Frede. Die Zitate sind fast ausschließlich aus Krapinger entnommen, Abweichungen werden explizit als solche vermerkt. Wichtige Terminologie wird zusätzlich in lateinischer Umschrift des griechischen Originals angegeben. Leider weichen die meisten deutschen Übersetzungen gerade bei den zentralen Begrifflichkeiten oft erheblich voneinander ab.6

Kapitel 1

Das Gut des Menschen (Buch I.1–13)

Wie bei anderen aristotelischen Abhandlungen übernimmt auch das erste Buch der Nikomachischen Ethik sowohl eine grundlegende als auch eine einführende Funktion. Aristoteles stellt die die Untersuchung leitende Fragestellung vor, betont die Bedeutung der Untersuchung, führt methodische Überlegungen an, diskutiert allgemein angenommene Meinungen und Positionen seiner Vorgänger, entwickelt die Probleme, mit denen sich die nachfolgende Untersuchung beschäftigen wird, und stellt erste Definitionen der gesuchten Sache heraus. Hinzu kommt die ebenfalls für die Einführung typische Beschreibung des Publikums.

Das erste Buch wird in der Forschung besonders kontrovers diskutiert. Sehr viel Aufmerksamkeit hat das umfangreiche erste Kapitel auf sich gezogen, das mit der axiomatischen Feststellung beginnt, dass alle menschlichen Handlungen auf ein bestimmtes Gut abzwecken. Im Anschluss erklärt Aristoteles die Natur des Guten abhängig vom menschlichen Streben.

Vor allem diese Gleichsetzung hat viele Leserinnen und Leser irritiert. Es wurde vermutet, Aristoteles sei einem logischen (wahlweise auch einem naturalistischen) Fehlschluss aufgesessen und habe die Existenz des Guten aus dem Vorliegen des menschlichen Strebens geschlossen. Als problematisch werden auch Aristoteles’ Überlegungen zur Bestimmung des menschlichen Glücks eingeschätzt. Insbesondere seine Argumentation zur Bestimmung des spezifischen Werkes des Menschen (das sog. Ergon-Argument) wird kontrovers diskutiert. In Frage gestellt wird sowohl die Möglichkeit, das Wesen des Menschen ausgehend von dessen Werk zu ermitteln, als auch die Notwendigkeit dieses Vorgehens, um die Frage nach dem menschlichen Glück zu beantworten.

Das erste Buch gliedert sich (nach Zwinger) in 13 Kapitel, die im Folgenden zuerst im Überblick dargestellt und im Anschluss argumentativ rekonstruiert und systematisch aufeinander bezogen werden.

(1094a1–1095a13) An den Anfang der Untersuchung stellt Aristoteles die bei jeder Handlung vorausgesetzte Feststellung, dass alle menschlichen Aktivitäten auf ein bestimmtes Gut abzwecken. Auf dieser Grundlage errichtet Aristoteles eine Hierarchie der Güter, abhängig vom Grad ihrer Vollendung, und hebt die Bedeutung eines abschließenden höchsten Gutes hervor.

(1095a14–1095b13) Aus dem zweiten Kapitel wird deutlich, dass es sich bei diesem höchsten Gut um das Glück handeln muss. Die erste Bestimmung des Glücks, entsprechend der es sich um ein gutes Leben und Wohlbefinden handeln muss, wird von allen gleichermaßen anerkannt. Wie genau das gute Leben allerdings beschaffen ist, wird von den Menschen abhängig von ihrer Bildung und ihrem sozialen Stand beschrieben. Im Gegensatz zu den meisten Menschen sind die Gebildeten der Ansicht, dass es neben den vielen Gütern noch ein Gut an sich gibt, das ursächlich für die anderen Güter ist.

(1095b14–1096a10) Die philosophische Untersuchung fängt entweder bei dem uns Bekannten oder dem der Sache nach Wesentlichen an. Im ersten Buch der Nikomachischen Ethik beginnt Aristoteles mit dem uns Bekannten und führt daher im dritten Kapitel drei verschiedene Leben ein, die die Frage nach dem höchsten Gut unterschiedlich beantworten. In der dialektischen Auseinandersetzung mit ihnen (also in der Aufnahme und im kritisch prüfenden Durchgang ihrer Positionen) entwickelt Aristoteles die Kriterien zur inhaltlichen Bestimmung des höchsten Gutes. So soll das Gute frei, vollendet, den Menschen eigentümlich und relativ sicher gegenüber Unglücksfällen sein. Diesen Kriterien genügen weder das Leben der Lust noch das politische Leben der Ehre.

(1096a11–1097a14) In methodischer Umkehrung des bisherigen Vorgehens geht Aristoteles im vierten Kapitel nicht von dem uns eher Bekannten aus, sondern thematisiert das der Sache nach Wesentliche und fragt, ob es ein Gut gibt, das als innere Form für die einzelnen Güter ursächlich ist.

(1097a15–1097b21) Nachdem die vorausgehenden Kapitel die Frage des höchsten Gutes eher dialektisch beantwortet haben, beginnt das fünfte Kapitel eine am Wesen der Sache orientierte Untersuchung. Aristoteles stellt als Kriterien des höchsten Gutes Vollkommenheit und Selbstgenügsamkeit heraus. Beide Kriterien erfüllt nur das Glück.

(1097b22–1098a20) Das sechste Kapitel gibt eine erste inhaltliche Bestimmung des Guten auf Grundlage des eigentümlichen Werkes des Menschen, das laut Aristoteles in der Tätigkeit der Vernunft besteht. Es zeichnet folglich den guten oder glücklichen Menschen aus, gut und nach bestem Vermögen gemäß der Vernunft zu handeln.

(1098a20–1098b8) Im siebten Kapitel ordnet Aristoteles die Ergebnisse des sechsten Kapitels in den übergeordneten Zusammenhang der Untersuchung ein.

(1098b9–1098b22) In den folgenden Kapiteln bestätigt er diesen Befund. Im achten Kapitel zeigt er, dass das Gesagte mit den allgemein angenommenen Ansichten über das Gute übereinstimmt.

(1098b22–1099b8) Das neunte Kapitel präzisiert die Perspektive auf die Vorgänger mit Blick auf die vorgeschlagenen Leben der Tugend und der Lust als glückliche Lebensformen.

(1099b9–1100a9) Das zehnte Kapitel diskutiert die möglichen Quellen des menschlichen Glücks. Neben den äußeren Gütern scheint auch der Zufall nicht unerheblich zu sein. Dagegen betont Aristoteles noch einmal die Tugend als Grundlage des Glücks.

(1100a10–1101b9) Das elfte Kapitel geht tiefer auf die Frage der Abhängigkeit des Glücks von den äußeren Umständen ein und hebt in Übereinstimmung mit dem Vorhergehenden hervor, dass das Glück vor allem in der Ausführung der tugendhaften Handlungen besteht.

(1101b10–1102a4) Im zwölften Kapitel betont Aristoteles, dass das Glück zu den verehrungswürdigen Dingen gerechnet werden muss, wohingegen die Tugend lobenswert ist.

(1102a51–1103a10) Das dreizehnte Kapitel schließt die Diskussion der Frage, was Glück ausmacht, ab und bereitet die Diskussion dessen, was Tugend ist, vor. Auf der Grundlage der vorgeschlagenen Definition des Glücks leitet Aristoteles die entscheidende Einteilung zwischen rationalen und ethischen Tugenden aus der Natur der Seele ab.

I.1 Das höchste Gut (1094a1–1095a13)

Aristoteles beginnt seine Untersuchung mit der axiomatischen (hier: nicht weiter begründbaren) Feststellung, dass alle menschlichen Tätigkeiten um eines zu erstrebenden Guten willen geschehen (agathou tinos, I.1, 1094a2). Daraus folgt, dass das Gute dasjenige ist, »worauf alles abzielt« (I.1, 1094a3; siehe auch Top.III.1, 116a19–20, Rhet.I.6, 1362a21–23; Ph.II.3, 195a23–26).

Damit ist freilich weder ein Beweis für die Existenz des Guten geliefert, noch wird gesagt, dass es nur ein einziges Gut gibt. Vielmehr ermittelt Aristoteles wenig später in Anwendung dieser Bestimmung zahlreiche Güter, die von den Menschen erstrebt werden. Hierbei handelt es sich nicht unbedingt um objektive Güter. Oft sind damit Güter gemeint, die den Handelnden jeweils als wertvoll erscheinen (III.6, 1113a16–17; III.7, 1114a31–b25; VIII.2, 1155b24–26). Axiomatisch ist die Feststellung, dass alle nach dem Guten streben, deshalb, weil sie nicht widerlegt, aber auch nicht weiter bewiesen werden kann. Jede einzelne Handlungsentscheidung setzt dieses Axiom voraus, weshalb Aristoteles die Erklärung zum Ausgangspunkt seiner Ethik macht.

Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die jeweils verfolgten Ziele, die sich teils erheblich voneinander unterscheiden. Wichtig ist Aristoteles hierbei der Unterschied zwischen »Tätigkeiten« (energeiai) und »Werken« (erga, I.1, 1094a4–5). Beide können in gewisser Hinsicht Ziele abgeben.7 Immer dann, wenn die Wirkung bzw. das Produkt von der Aktivität abweicht, steht das Produkt als bezwecktes Gut über der Aktivität, da die Aktivität wegen dem Gut ausgeführt wird. Mit anderen Worten: Die Ziele sind jeweils besser als die zur Verwirklichung verwandten Mittel (Top. III.1, 116b22.). Hieraus ergibt sich ein erstes Kriterium zur Anordnung der Güter: Je vollkommener das Ziel ist, umso besser wird es sein. Da es aber viele unterschiedliche Tätigkeiten, Künste und Wissenschaften gibt, die alle jeweils eigentümliche Ziele verfolgen, erhält man unzählige Güter (I.1, 1094a6–7). Auch wenn sich für einzelne Güter nach dem Kriterium der Vollkommenheit übergeordnete Ziele feststellen lassen, auf die die jeweiligen Tätigkeiten abzielen (so ist die Sattlerei der Reitkunst unterstellt), ist fraglich, ob es auch ein bestes oder vollkommenstes Gut gibt. Von diesem Gut müsste gelten, dass es um seiner selbst willen erstrebt und keinem weiteren Ziel untergeordnet wird. Außerdem müsste alles Übrige seinetwegen erstrebt werden. Hierbei hätte man es folglich mit dem besten oder höchsten Gut zu tun (I.1, 1094a18–22).

Anzunehmen, dass es kein letztes Ziel des menschlichen Strebens gibt, so dass das Streben insgesamt leer oder vergeblich wäre, würde einer grundsätzlichen aristotelischen Annahme widersprechen (so soll die Natur nichts umsonst tun, Pol.I.2, 1253a9). Diese Tatsache unterstreicht die besondere Bedeutung der Untersuchung ähnlich wie der anschließende Hinweis auf den immensen praktischen Nutzen, den diese Erkenntnis für die Einrichtung des menschlichen Lebens hätte. Denn auf diese Weise wäre ein übergeordneter Zielpunkt für das Handeln der Menschen gegeben, was Aristoteles mit dem Beispiel des Bogenschützen verdeutlicht (I.1, 1094a23–24). In der Eudemischen Ethik ergänzt Aristoteles, dass ein »Leben ohne Hinordnung auf ein bestimmtes Ziel großen Unverstand verrät« (EE, I.2, 1214b10–11). Damit ist freilich noch nichts über die genaue Beschaffenheit dieser Hierarchie der Güter gesagt. Ob und wie einzelne Güter zu diesem Ziel beitragen, wird von Aristoteles an dieser Stelle offen gelassen.

Er leitet aus diesen Überlegungen die Aufgabe der nachfolgenden Untersuchung ab, so »muss man versuchen, wenigstens im Umriss zu erfassen, was es [das letzte Ziel, A. H.] denn ist und zu welcher Wissenschaft […] es gehört« (I.1, 1094a25–26). Bei dieser Wissenschaft handelt es sich, »wie es scheint« (phainetaiI.1, 1094a28), um die politische Wissenschaft. Dabei ist mit dem Begriff freilich mehr als Politikwissenschaft im modernen Verständnis gemeint, da sie sowohl eine ordnende als auch eine architektonische Funktion für die menschliche Gemeinschaft und innerhalb der Wissenschaften einnimmt: Ihr unterstehen die anderen Wissenschaften des Staates, da sie darüber bestimmt, was studiert oder ausgeführt werden soll. Wenn der politischen Wissenschaft aber alle anderen Tätigkeiten untergeordnet sind (der Grund dafür, dass ihr Ziel auch die Ziele dieser Tätigkeiten umfasst), dann hat sie es auch mit dem höchsten Gut als letztem Ziel der Menschen (in der staatlichen Gemeinschaft) zu tun. Setzt man zugleich voraus, dass das Gut der Gemeinschaft nicht nur besser als das Gut des Einzelnen ist, sondern auch das Gut des Einzelnen beinhaltet, dann erklärt sich, warum es sich bei der nachfolgenden Untersuchung um eine politische Untersuchung handeln muss (I.1, 1094b11).

Fest steht somit der gesuchte Gegenstand der Untersuchung (nämlich die inhaltliche Bestimmung des höchsten Gutes) sowie die zugehörige Wissenschaft. Daraus leitet sich nun auch die angesetzte Methode und der besondere Kreis der Zuhörer ab. Beides bestimmt sich für Aristoteles abhängig vom gesuchten Gegenstand ebenso wie die zu erwartende Genauigkeit der Ergebnisse. Die politische Wissenschaft hat es mit menschlichen Angelegenheiten zu tun. Da das menschliche Handeln prinzipiell dem Bereich des Zufälligen angehört, können auch die Ergebnisse der Untersuchung nicht notwendig im strengen Sinn sein. Es verhält sich nur meistens so (epi to polu I.1, 1094b21), aber nicht immer auf dieselbe Weise. Dieselben Handlungen können – abhängig vom Zeitpunkt, den ausführenden Charakteren und anderen Faktoren – sowohl edel als auch beschämend sein. Ein Depositum, also eine hinterlegte Sache, zurückzugeben, ist eben nicht immer und unter allen Umständen geboten, sondern nur dann, wenn es die Verfassung des Eigentümers sowie die zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten zulassen.

Das ist vielleicht ein Grund dafür, dass die meisten Menschen glauben, das Gerechte beruhe ausschließlich »auf Konvention und nicht auf der Natur« (I.1, 1094b16). Dieser Schluss ist jedoch nicht zwingend. Offensichtlich sind auch die menschlichen Güter nicht immer oder unter allen Umständen gut. Daraus folgt aber nicht, dass nicht auch einige Güter an sich gut sind.

Aristoteles mahnt daher zur Vorsicht in den Urteilen: Es ist der Sache angemessen und ausreichend, zu erfassen, was meistens zutrifft. Die Abhängigkeit der Untersuchung von ihrem Gegenstand sieht nur derjenige ein, der selbst über eine gewisse Vorbildung verfügt. Hierbei handelt es sich um eine wichtige aristotelische (ursprünglich platonische) Bedingung, die oft nicht hinreichend beachtet wird: Die jeweilige philosophische Untersuchung richtet sich nämlich auch nach dem Kenntnisstand des angesprochenen Publikums. Nicht alle sind gleichermaßen für jede Erörterung geeignet. Aristoteles greift diese Grundthese Platons mit der kurzen Bemerkung auf, dass jeder ein guter Richter nur in solchen Angelegenheiten ist, in denen er selbst Experte ist (I.1, 1094b27–28). An anderer Stelle erinnert Aristoteles daran, dass es ein Zeichen von Bildung sei, zu erkennen, wo Beweise gefordert werden müssen und wo nicht (Met.IV. 4, 1006a6–8). Deshalb sind Kinder und Jugendliche in politischen Fragen keine guten Richter. Ungeeignet für eine solche Aufgabe sind aber auch alle anderen, die sich so unreif wie Kinder verhalten.

I.2 Glück als höchstes Gut (1095a14–1095b13)

Der Anfang des zweiten Kapitels ist bemerkenswert: Aristoteles greift nicht nur die Ausgangsfrage des höchsten Gutes erneut auf, sondern er liefert auch die Antwort auf die Frage: So sind sich die meisten Menschen einig darin, dass es so etwas wie ein höchstes Gut gibt und dass es sich hierbei um das Glück (eudaimonia8) handelt (I.2, 1095a18).9 Einigkeit besteht sogar in der ersten inhaltlichen Bestimmung des Glücks: »gut leben und sich wohl befinden« (I.2, 1095a19). Was genau damit gemeint sein könnte, ist jedoch unklar und wird von den Menschen jeweils abhängig von ihrer Vorbildung und ihrem sozialen Stand unterschiedlich beantwortet.

Nach Aristoteles lassen sich zwei prinzipiell verschiedene Ansätze voneinander unterscheiden: Für die breite Masse ist das Glück »etwas Handgreifliches und Offenkundiges, wie Lust, Reichtum oder Ehre« (I.2, 1195a22–23). Diese Ansicht führt zu widersprüchlichen Einschätzungen: Der Kranke wählt die Gesundheit, der Arme den Reichtum, usw. Die Gebildeten bevorzugen daher eine andere Antwort: Ihrer Ansicht nach gibt es »neben diesen vielen Gütern noch ein anderes Gut an sich« (I.2, 1095a26–28). Dieses Gut an sich soll auch für die anderen Güter ursächlich für deren Güte sein.

Bevor Aristoteles die Vorschläge inhaltlich weiter diskutiert (siehe unten I.3 und 4), erinnert er an das methodisch richtige Vorgehen. Man sollte nicht alle Vorschläge gleichermaßen beachten, sondern nur solche, die »einigermaßen vernünftig« (I.2, 1095a30) sind. Wichtig ist, im Blick zu behalten, wie für diese Positionen argumentiert wird. So kann die Beweisführung entweder von Prinzipien ausgehen, d. h., von gegebenen Ursachen auf die Wirkungen schließen. Oder die Prinzipien werden von den Wirkungen abgeleitet.

An dieser Stelle wird eine grundlegende aristotelische Unterscheidung relevant: Denn Dinge können auf zwei Arten besser bekannt sein, und zwar für uns oder an sich (An. post.I.2, 71b33–72a5). Dem Menschen besser bekannt ist das sinnlich Erfassbare und Zusammengesetzte. An sich besser erkennbar ist jedoch die Sache selbst, die einfach und ohne sachfremde Zusätze erfasst wird.10

In der vorliegenden ethischen bzw. politischen Untersuchung ist es angemessen bei dem anzufangen, was bereits bekannt ist. Man muss also von den Wirkungen auf die Prinzipien schließen und nicht anders herum (I.2, 1095b3–4). Eine wichtige Konsequenz hieraus besteht darin, dass man in der Untersuchung des Guten bereits über eine richtige Meinung bezüglich des Guten verfügen muss.

Damit kommen wir auf andere Weise zurück zur obigen Bemerkung über die richtige Beschaffenheit des Publikums, denn dieses muss schon auf eine bestimmte Weise beschaffen oder ausgebildet sein, um die Untersuchung zuallererst in Gang bekommen zu können.

I.3 Drei glückliche Leben (1095b14–1096a10)

Das dritte Kapitel nimmt die Überlegungen zur inhaltlichen Bestimmung des Glücks wieder auf und geht in Übereinstimmung mit der zuvor erklärten Absicht dazu über, die »einigermaßen vernünftigen« (I.2, 1095a30) Vorschläge zu behandeln.

Wir haben gesehen, dass eine Beweisführung entweder von Prinzipien ausgehen kann oder aber versucht, auf diese Prinzipien zu schließen, und zwar im Ausgang von dem, was durch die Erfahrung bekannt ist. Entsprechend leiten die meisten Menschen das Glück aus ihrer Lebensführung ab (I.3, 1095b15–16). Aristoteles identifiziert drei Arten der Lebensführung, die unterschiedliche Güter im Blick haben, und zwar 1. Lust, 2. Ehre und 3. Erkenntnis. Auffallend ist, dass die zuvor diskutierte breite Liste möglicher Güter hier bereits auf drei Güter reduziert wird, die entscheidend für die jeweilige Lebensweise sind. Im Leben der gewöhnlichen Menschen soll die Lust das höchste Gut sein (I.3, 1095b16–17). Mit Lust meint Aristoteles an dieser Stelle solche Lüste, die aus den erhaltenden Aktivitäten des Körpers hervorgehen, d. h. die Lust am Essen und Trinken (notwendig zur Erhaltung des Individuums) sowie die Lust am Sex (notwendig zur Erhaltung der Gattung). Das sind zwar alles natürliche Lüste, doch diese sind an den Körper gebunden und können auch von Tieren erfahren werden. Das lässt diese Lebensweise als tierisch und, aufgrund ihrer Bindung an äußere Bedingungen, irgendwie als sklavisch erscheinen (I.3, 1095b19–20).

Als zweites führt Aristoteles das von kultivierten Menschen bevorzugte politische Leben an – eine Lebensweise, die ein scheinbar doppeltes Ziel verfolgt:

An erster Stelle steht die Ehre. Doch ist dies problematisch, da es sich beim Glück um etwas dem Menschen Eigentümliches handeln soll und sich deshalb nur schwer von ihnen trennen lässt (I.3, 1095b25). Das trifft aber nicht zu, wenn die Ehre in den Handlungen der Ehrenden liegt und deshalb auch in ihrer Macht.

Außerdem wird man »wegen der eigenen Tugend« geehrt (aretê11I.3, 1095b29).

Das letzte Ziel des politischen Lebens ist also nicht die Ehre, sondern die Tugend. Beim höchsten Gut soll es sich aber um etwas handeln, was nicht um eines anderen willen gesucht wird. Die Ehre wird aber nur deshalb erstrebt, weil man die eigene positive Meinung durch das Urteil anderer bestätigt haben möchte. In Wirklichkeit will man für die eigene Tugendhaftigkeit geehrt werden.

Die Tugend wäre somit das eigentlich in der politischen Lebensweise erstrebte Gut (I.3, 1095b26–27). Das wirft für Aristoteles zwei weitere Probleme auf:

1. Unter der Voraussetzung, dass das Glück eine Art Vollkommenheit ist, kann Glück nicht im bloßen Besitz von Tugend bestehen. Manchmal liegt die Tugend in einer unvollendeten Form vor, sobald sie nämlich nicht aktiv ausgeführt wird. Wer schläft, kann zwar im Besitz der Tugend sein, er handelt aber nicht tugendhaft. Denkbar ist auch, dass Menschen zwar im Besitz einer Tugend sind, aber aus Mangel an Gelegenheit nicht aktiv werden können, wie etwa ein verarmter großzügiger Mensch aus Mangel an materiellen Gütern nicht wohltätig sein kann.

2. Auch tugendhafte Menschen können »Übel und Unglück erleiden« (I.3, 1096a1). Das macht wiederum deutlich, dass die Tugend etwas anderes als das Glück sein muss.

Die dritte Lebensführung besteht in der theoretischen Betrachtung (theôrêtikos, I.3, 1096a4). Aristoteles verweist an dieser Stelle auf eine spätere Behandlung (s. X.7–9) und beschließt an Stelle dieser Diskussion das Kapitel mit einem kurzen Blick auf die Natur des Geldes:

Geld kommt zwar nicht als wirklicher Kandidat für das höchste Gut in Frage, doch sehen einige in ihm das höchste Gut. Zweifellos handelt es sich um ein nützliches Gut. Doch gerade wegen seines Charakters als Mittel zur Erlangung anderer Güter kann das Geld selbst nicht Endzweck sein. Außerdem geschieht der Gelderwerb laut Aristoteles unter Zwang, und das widerspricht ebenfalls der Natur des Glücks, denn das Glück ist Ziel freiwilliger Tätigkeiten.

Als Ergebnis erhalten wir somit eine erste inhaltliche Annäherung an die Bestimmung des menschlichen Glücks. Denn Lust, Tugend und theoretische Betrachtung werden im Gegensatz zum Reichtum »um ihrer selbst willen geschätzt« (I.3, 1096a8–9). Es handelt sich also um Güter an sich, die damit ein zuvor geliefertes Kriterium für den gesuchten Endzweck erfüllen, weil sie um ihrer selbst willen gesucht werden.

Trotzdem ist das gesuchte letzte Ziel keines dieser Güter, weil sie den weiteren Kriterien nicht genügen: Das Glück sollte nicht tierisch oder sklavisch sein, in der Macht der Handelnden stehen (es zu erreichen und zu erhalten), den Menschen eigentümlich sein und in einer (freiwilligen) Aktivität liegen. Außerdem wird eine gewisse Sicherheit gegen »Übel und Unglück« erwartet.

I.4 Die Form des Guten als innere Ursache des Guten (1096a11–1097a14)

Zur Erinnerung: Bisher hat Aristoteles zwei Strategien in der Beantwortung der Frage des Glücks skizziert:

1. Die eine Seite geht in ihrer Suche nach dem Prinzip von dem uns eher Bekannten aus, woraus sich drei Lebensweisen ergeben haben.

2. Möglich ist aber auch der entgegengesetzte Weg, also den Ausgang beim Prinzip selbst zu nehmen. Aristoteles deutet an, dass dieses Vorgehen von den Gebildeten bevorzugt wird. Sie sind der Ansicht, es gebe so etwas wie »ein […] Gut an sich, das auch für alle diese [Güter] die Ursache dafür sei, dass sie gut sind« (I.2, 1095a27–28). Wir erfahren nun, dass es sich bei diesen gebildeten Zeitgenossen um »befreundete Männer« handelt, »die die Ideen eingeführt haben« (I.4, 1096a13).

Ob Aristoteles damit seinen Lehrer Platon meint oder andere Mitglieder der Platonischen Akademie, ist ungewiss, wenig später wird jedenfalls Speusippos (der Neffe und Nachfolger Platons als Schuloberhaupt) genannt. Für uns ist das jedoch unerheblich. Wir müssen sehen, was genau Aristoteles kritisiert: Man sollte ihn besser nicht so verstehen, als argumentiere er gegen die Existenz eines abgetrennten Gutes. An anderer Stelle behauptet Aristoteles selbst genau das (Met.XII.10, 1075a11–15).

Ihm scheint es im vierten Kapitel vielmehr um Schwierigkeiten bei der Anwendung der gewählten Methode zu gehen. Zuvor hatte er mit Zustimmung auf Platon verwiesen, der die Bedeutung dieser Fragestellung erkannt hatte (I.2, 1095a32). Aristoteles bestreitet auch nicht, dass beide Methoden (also bei dem Bekannten an sich oder bei dem Bekannten für uns anzufangen) zum Ziel führen können. Problematisch ist hingegen die Annahme, die Idee des Guten als innere Form ursächlich für die einzelnen Güter anzusehen.12 Er weist diese Vorstellung mit einer Reihe von Argumenten zurück:

1. Zunächst erinnert er an eine platonische Voraussetzung. So soll es keine gemeinsame Idee von Dingen geben, die gegeneinander in ein Prioritätsverhältnis gesetzt, die also der Sache nach in ein »Vorher und Nachher« (I.4, 1096a18) unterschieden werden. Da das Gute aber in den unterschiedlichen Kategorien ausgesagt wird (also in den Kategorien von Substanz, Qualität, Quantität, Relation), die Substanz jedoch der Sache nach vor den Akzidenzen liegt, kann es keine gemeinsame Form geben, die sowohl für die Güte der Substanz als auch für die Güte der Akzidenzen verantwortlich ist. Als Beispiel für das Gute in der Kategorie der Substanz nennt Aristoteles die Güte Gottes oder die Vernunft (nous).13 Dies bestätigt zugleich, dass es für Aristoteles auch ein substantielles Gut gibt. Für die gute Qualität steht die Tugend, die ihren Besitzer gut macht. In der Quantität ist das Gute der Mittelwert, der in allem herrscht, das dem Maß unterliegt, usw. (I.4, 1096a17–23).

2. Der zweite Einwand variiert den ersten Einwand und zielt darauf ab, dass es von solchen Dingen keine Idee als innere Form bzw. Natur geben kann, die unterschiedliche Naturen haben. Was aber nicht eindeutig (Aristoteles spricht von »auf vielfache Weise«, so etwa Met.VII.1, 1028a10 oder Phys.VIII.4, 255a31) ausgesagt wird, hat auch nicht eine einzige Natur (I.4, 1096a23–29).