Armut - Daniela Brodesser - E-Book

Armut E-Book

Daniela Brodesser

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Beschreibung

Über Armut wissen wir nichts. Warum? Weil die Betroffenen schweigen – aus Scham, Angst, Schuldgefühl. Daniela Brodesser hat den Teufelskreis aus Stigmatisierung und sozialer Entfremdung erlebt, der mit Armut einsetzt, kennt die guten Ratschläge von Wohlmeinenden, die beschämend wirken. Eindringlich schildert sie, welche Verwüstungen Armut hinterlässt und zeigt, was finanziell und menschlich geboten ist, um sie nicht zur Sackgasse für Betroffene werden zu lassen.

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Armut

Daniela Brodesser

Inhalt

Was immer noch schmerzt

Was wir nicht wissen: Was ist Armut?

Was wir leugnen: Der Weg in die Armut

Was schwer zu erklären ist: Leben in Armut

Was nicht selbstverständlich ist: Der Weg aus der Armut

Was zu selten diskutiert wird: Wie es gehen kann

Danke

Anmerkungen

Was immer noch schmerzt

Eine Zeitlang war Fotografieren meine ganz persönliche Belohnung. Raus in die Natur, Sonnenuntergänge mit der Kamera einfangen und zu Hause bearbeiten. Vorwiegend für mich. Es war mein Hobby, meine Leidenschaft. Das, was mich am Laufen gehalten hat. Bis zu dem Tag, an dem die Androhung der Stromsperre kam. Ja, die hatte ich tatsächlich übersehen. Heute würde ich sagen: Okay, kann passieren. Soll nicht, aber kann. Weil ich heute die Möglichkeit habe, die Rechnung einfach zu begleichen.

Damals war das anders. Als ich den Brief geöffnet hatte, stand ich unter Schock. Woher jetzt wieder die 250 Euro nehmen? Ich hab sie nicht. Wir haben sie nicht. Fällig in drei Tagen. So schnell bekomme ich nicht einmal einen Termin bei einer Sozialberatungsstelle.

An diesem Tag habe ich meine Kamera auf eine Onlineplattform gestellt. Sie war innerhalb einer Stunde verkauft. Am Abend kam der Käufer vorbei, bezahlte bar, und weg war sie. Der Strom wurde nicht abgedreht, aber mein Lebenselixier war weg.

Ich habe während der Zeit der Armut sehr viel Demütigung erlebt, noch mehr Scham gespürt, täglich an mir gezweifelt. All das war noch irgendwie zu stemmen. Doch der Verlust der einzigen Belohnung, die ich mir immer selbst machen konnte, der einzigen ganz persönlichen Freude, das hat mir zu dem Zeitpunkt den Boden unter den Füßen weggezogen.

Eigentlich wollte ich in den letzten Jahren versuchen, mich dem Thema Armut auf rein struktureller Ebene zu nähern, doch daran scheitere ich immer wieder. Warum? Weil unsere Gesellschaft nur dann aufmerksam zuhört, wenn sie Geschichten und Schicksale vorgeführt bekommt. Wenn sie nachempfinden kann, ohne je selbst in der Situation gewesen sein zu müssen.

Ich werde in diesem Essay die ganz persönliche Geschichte meiner Familie erzählen. Wie wir, eine nicht reiche, aber durchschnittliche Mittelklasse-Familie, eines Tages begriffen, dass Armut nicht nur die anderen trifft, sondern tatsächlich auch uns. Wie wir ausgegrenzt und stigmatisiert wurden und ich schließlich dachte, ich sei selbst daran schuld.

Unsere Geschichte ist kein bedauerliches Einzelschicksal, sondern eine von vielen: Ganze 17 Prozent der Bevölkerung in Österreich sind armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.

Was wir nicht wissen: Was ist Armut?

Musstet ihr schon mal stundenlang in der Kälte warten, weil es keine Möglichkeit gab, nach Hause zu kommen? Ist nicht schön, oder? Normalerweise setzt man sich mit den Kindern in ein Café, wärmt sich bei Tee oder heißer Schokolade auf, bis die Mitfahrgelegenheit da ist. So aber versuchst du drei, vier Stunden zu überbrücken, und es darf nichts kosten. Also gehst du spazieren. Bei halbwegs schönem Wetter ist das ja noch erträglich, bei Regen, Schnee oder eiskaltem Wind wird es zur Belastungsprobe. „Aber ich geh mit meinen Kids bei jedem Wetter raus“, werden jetzt viele sagen. Ja, haben wir auch gemacht. Der Unterschied ist, ob man warm genug angezogen, mit gut gefütterten Winterstiefeln, freiwillig rausgeht, um Schneemänner zu bauen und Spaß zu haben, oder ob man gezwungen ist, immer wieder Wartezeiten zu überbrücken, weil einfach das Geld fehlt, um mit dem Bus nach Hause zu fahren.

Arm, das sind nicht nur die Wohnungslosen auf unseren Straßen, hungernde Kinder in anderen Ländern. Ja, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern geht es uns hier vergleichsweise gut. Da liegt auch schon der erste Fehler, der gern bei der Debatte passiert, vor: Armut länderübergreifend zu vergleichen. Armut misst sich immer am Standard der Gesellschaft, in der man lebt. Und der ist in Österreich oder Deutschland ein wesentlich anderer als zum Beispiel in Rumänien, Eritrea oder Indien. Dafür, was es heißt, in einem reichen Land arm zu sein, fehlt oft das Verständnis.

Wer Kinder hat, kennt sie, die berühmten Kurzmitteilungen im Elternheft: „Bitte bis morgen 4 Euro für Werken mitgeben“ oder „Wir möchten wichteln, und jedes Kind sollte ein Geschenk bis max. 5 Euro besorgen“, aber auch „Bitte bis morgen 17 Euro für den Ausflug am Freitag mitgeben“ und „Sie sind nächste Woche für die gesunde Jause eingetragen, bitte entweder selbst die Zutaten für die Klasse einkaufen“ – Bioware selbstverständlich – „oder 35 Euro bis morgen mitgeben“. Normale Mitteilungen. Eigentlich. Früher hatte ich mir darüber nie Gedanken gemacht. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem „die paar Euro“ eben nicht mehr leistbar waren. Dem Zeitpunkt, an dem ich im Haushalt nirgends 35, 17 oder auch nur 4 Euro herumliegen hatte. Das kann man sich, solange Armut kein Thema ist und einen nicht selbst betrifft, nur schwer vorstellen. Das wurde mir an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal wirklich einem unserer Kinder sagen musste, ich habe das Geld nicht, schmerzlich bewusst. Am nächsten Morgen rief ich die Pädagogin an, im Glauben, Verständnis zu bekommen. Stattdessen bekam ich ein „Aber Frau Brodesser, die paar Euro hat man doch immer zu Hause!“ zu hören.

Es folgte eine ausführliche Belehrung ihrerseits darüber, wie verantwortungslos sie Eltern finde, die nicht vorausschauend genügend Geld für solche „minimalen Beiträge“ zur Seite gelegt hätten. Ihrer Erfahrung nach haben Eltern zwar immer genug Mittel für Handys und allerlei Krimskrams, aber nie für die Kinder. Ich denke, man kann verstehen, warum ich in Zukunft in solchen Situationen eher nicht mehr das Gespräch mit der Schule gesucht habe.

Wie diese Pädagogin wissen die meisten Menschen kaum etwas über Armut. Das hat vor allem damit zu tun, dass Menschen, die Armut nie selbst erlebt haben, so gut wie nie mit Armutsbetroffenen in Berührung kommen. Wir leben in komplett unterschiedlichen Welten. Das beginnt bei der Wohnung. Armutsbetroffene Menschen leben in anderen Stadtteilen als reiche, oft in solchen, die weniger gut vom öffentlichen Nahverkehr erschlossen sind. Auch im Job begegnet man sich selten, denn Armutsbetroffene sind meist chronisch krank, pflegen, betreuen oder sind prekär beschäftigt.

„Sie wirken aber gar nicht arm!“

Was bedeutet Armut eigentlich? Nähern wir uns zunächst über ein paar Zahlen an: Die Armutsgefährdungsschwelle liegt aktuell für einen Einpersonenhaushalt bei einem Einkommen von 1.371 Euro, bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern bei 2.880 Euro.1 Das entspricht 60 Prozent des Medianeinkommens.

Einer Erhebung aus dem Jahr 2021 zufolge sind 14,7 Prozent der österreichischen Bevölkerung (1.292.000 Menschen) armutsgefährdet, das heißt, sie haben ein Einkommen unter der Armutsschwelle. In Deutschland lag die Armutsgefährdungsquote im Jahr 2021 bei 16,6 Prozent.2

Ein Einkommen über der Armutsschwelle zu haben, bedeutet aber noch nicht, dass man sich das tägliche Leben problemlos leisten kann, denn die tatsächlichen Ausgaben liegen um einiges darüber. Das Referenzbudget, das die Schuldnerberatung erstellt hat, um die tatsächlichen alltäglichen Lebenshaltungskosten – wie Miete, Heizung, Schulkosten, Kleidung, soziale und kulturelle Teilhabe – abzubilden, liegt für einen Einpersonenhaushalt in Österreich bei 1.487 Euro, in Deutschland bei 1.291 Euro,3 für ein Paar mit zwei Kindern bei 3.8194 bzw. 3.784 Euro.

2,4 Prozent der österreichischen Bevölkerung und 2,6 Prozent der deutschen Bevölkerung sind „erheblich materiell depriviert“, haben also ein so geringes Einkommen, dass wesentliche Güter oder Lebensbereiche nicht leistbar sind – z.B. Waschmaschine und Handy, oder auch, die Wohnung angemessen warm zu halten, einmal im Jahr auf Urlaub zu fahren und unerwartete Ausgaben zu tätigen.

Besonders von Armut gefährdet sind Kinder, Frauen im Alter, Alleinerzieherinnen, Langzeitarbeitslose und Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Mit großen Problemen sind Menschen mit chronischer Erkrankung konfrontiert. Fast ein Viertel aller Armutsund Ausgrenzungsgefährdeten sind Kinder. Von in Ein-Eltern-Haushalten lebenden Kindern ist sogar fast die Hälfte armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.5

Obwohl ein so hoher Prozentsatz der Bevölkerung von Armut betroffen ist, bekommen die meisten Menschen in ihrem Alltag davon kaum etwas mit. Denn dass jemand unterhalb der Armutsgrenze lebt, ist nicht unbedingt sichtbar. Vor einigen Jahren hat mir der Satz „Aber Sie wirken doch gar nicht so, als wären Sie arm!“ noch geschmeichelt, weil ich dachte: Okay, ich kann mich, obwohl ich weit unter der Armutsgrenze lebe, so präsentieren, als wäre ich ganz „normal“. Inzwischen ärgern mich solche Aussagen nur noch, denn sie implizieren: Wer arm ist, kann sich nicht „normal“ kleiden oder müsse ungepflegt sein. Ich laufe heute übrigens öfter in legerer Kleidung herum als noch während der Zeit der Armut. Weil es mir inzwischen egal ist. Weil ich mich nicht mehr rechtfertigen muss. Weil ich nicht das Gefühl habe, etwas verstecken zu müssen.

Beschämung beginnt klein, unauffällig. Ich habe sie zumindest in der ersten Zeit nicht einmal wahrgenommen. Wahrscheinlich wollte ich sie nicht sehen. Wollte nicht, dass die Sätze auf mich zutreffen. Armut trifft mich doch nicht, denn ich bin weder faul noch ungebildet noch eine Schmarotzerin. Also können diese Sätze, diese Zuschreibungen, doch gar nicht für mich gemeint sein!

Noch immer war ich selbst in diesem Denken gefangen, dass Armut „die anderen“ sind. Die, die faul vorm Fernseher sitzen, die ja wirklich nichts ändern möchten. Ja, auch ich habe einmal so gedacht.

Oder passe ich etwa doch in diese Schublade, und sehe es nur nicht? Je öfter man Vorurteile zu hören bekommt, desto tiefer setzen sie sich fest. Und bleiben. Und stechen. Ist womöglich etwas Wahres dran? Suche ich nur Ausreden? Bin ich zu wenig bemüht?

Doch bis man die Beschämungen selbst glaubt und übernimmt, vergeht noch einige Zeit, in der man an seinem alten Leben festhält und versucht mitzuhalten. Zumindest den Anschein zu wahren, man würde mithalten können. Vor allem wegen der Kinder.

Im Jahr 2008 waren wir fast so etwas wie die typische Durchschnittsfamilie. Nette Wohnung in einer Familiensiedlung, zwei Autos, Urlaub, Ausflüge, Essen gehen, Kinobesuche, Kindergeburtstage mit vielen Freund*innen. Kein Luxusleben, aber auch keine wirklichen Probleme. Eine defekte Waschmaschine war zwar ärgerlich, aber kein Grund, sich nächtelang in den Schlaf zu weinen. Mein Mann und ich wollten übrigens seit Beginn unserer Beziehung im Jahr 2002 immer eine große Familie. Und so war ich 2008 mit unserem dritten gemeinsamen und meinem vierten Kind schwanger. Er hatte immer Vollzeit gearbeitet, war nebenbei noch selbstständig tätig, und ich hatte mit geringfügigen Jobs das Haushaltseinkommen etwas aufgebessert.