Arte factum - Franz Rieder - E-Book

Arte factum E-Book

Franz Rieder

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Beschreibung

Arte factum ist eine Liebestragödie in Romanform. Drei wesentliche Erzählstränge tragen den Roman. Einer webt die Verbindung zwischen der griechischen Mythologie und der Gegenwart. Der zweite konstruiert eine Beziehung zwischen den Idealen griechischer Kunst und den modernen Kunstmärkten. Hier treffen der Handel mit geraubten Kulturgütern über Galerien, digitalen Plattformen und börsennotierten Unternehmen in einem tödlichen Konflikt auf die beiden Protagonisten des Romans: Kiki und Ulysses. Es beginnt eine Reise in die Mythen der griechischen Antike und durch die Kunst- und Kulturgeschichte, in der ihre leidenschaftliche Liebe, die, von Idealen der romantischen Ästhetik getragen, mehr und mehr sich mit Macht, Gewalt und Tod verschränkt und beide Protagonisten die endlose Tragik der Liebe am eigenen Leib erleben läst. Der dritte Erzählstrang umfasst das gesamte Roman Geschehen. Die Fragen: Hat eine "große" Liebe heute noch eine Chance sich zu verwirklichen? Findet die moderne Liebe zwischen zwei Menschen, unter Männern und in Freundschaften noch einen tragenden Grund als ein stabiles Fundament, das Krisen, Machtphantasien und Gewalt überwinden kann? Der Zusatz Titel: Tragödie suggeriert eine negative Antwort. Aber selbst in todtragender Negativität verwebt die Liebesgeschichte im Roman einen aufscheinenden Glanz individueller und kultureller Positivität im Nihilismus des Zeitgeschehens. "Alles Leben will Schönheit, jedes Kunstwerk ist ihr Ausdruck, verkörpert und verherrlicht sie. Alle negative Kunst protestiert gegen den Mangel an Schönheit in unserem Leben". (Agnes Bernice Martin (* 22. März 1912 in Macklin, Saskatchewan, Kanada; † 16. Dezember 2004 in Taos/New Mexico, USA).

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Seitenzahl: 774

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die deutschsprachige Originalausgabe ist unter dem Titel:

Arte factum

Erstmals 2025 erschienen im Selbstverlag.

Das Buch ist reine Fiktion.

Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte

und Ereignisse entstammen entweder der Fantasie des Autors

oder wurden auf fiktionale Weise verwendet.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen,

mit Ereignissen und Orten wäre rein zufällig.

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe 2025 durch

Franz Rieder, Nievenheimer Str. 17, 40221 Düsseldorf

E-Mail: [email protected]

Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Vorbemerkung Wer seine Reisen gerne selbst plant und seine Planungen gerne perfekt durch die Ebenen von Raum und Zeit führt, wird in diesem Buch wohl nicht sehr weit kommen.

Das Buch hat sich auf Schwingen gesetzt, die es durch die phantastischen Ebenen von Raum und Zeit, in denen nichts vorgeplant ist, getragen hat. Fallen wir im Laufe der Geschichte in endlose Tiefen oder steigen in unerreichte Höhen, man weiß es nicht, nicht, ob wir genau dahin zurückkehren werden, von wo aus wir gestartet sind und ob wir überhaupt jemals wieder zurückkehren.

Wir schwingen uns in die Welten, die uns überlassen worden sind von Autoren wie Homer und Hesoid, von Aischylos, Shakespeare bis James Joyes, von Dante Alighieri und Heinrich von Kleist, Goethe, natürlich. Viele der Schwingen sind explizite nicht erwähnt, einige schnell zu erkennen, andere wiederum bestimmen, wie etwas gesagt und gemeint ist, ihren Sinn. Das alles nennen wir Kultur, die aus so vielen einzelnen Geschichten, Vorhandenem und Verborgenen besteht, dass weder ein Mensch noch ein Autor sie erfahren und verarbeiten könnte. Wer kennt alle Philosophen und den Sinn ihrer Werke? Wer die Musiker, die Maler und Bildhauer, die Architekten der Bauwerke und ganzer Städte, wer die Literaten und die Schöpfer virtueller Werke?Bildende Künste gehören als sichtbare Werke ebenso zu unserer Kultur wie die darstellenden Künste, von denen wir oft nichts wissen, deren Zugang uns unmittelbar versperrt erscheint, gleichwohl ihre einstige Flüchtigkeit und Lebendigkeit in uns ebenso vorhanden ist, wie die materielle Welt der Verganheit. Wir haben für beide, die bildende und die darstellende Kunst zusammen ein Wort, die Seele. Sie gibt uns die Gewissheit, dass unsere Kultur die unsere ist, und lässt uns gleichzeitig immer wieder aufbrechen in andere, in fremde Länder, zu neuen Horizonten. Auf den Schwingen der Kultur bereisen wir unsere Vergangenheit und unsere Zukunft, fliegen wir in die Welten der alten Griechen, der Ägypter, der Römer und der Kelten leichten Herzens und nehmen mit, was wir tragen und behalten können, für morgen und in die Zukunft. Wie schwer wiegt dann, was wir tragen, unser kulturelles Gepäck, sozusagen? Wie können wir etwas behalten, was so flüchtig ist wie der Wind und das Wasser, welches uns durch die Finger rinnt?

Alle Bauwerke, Denk- und Mahnmäler zusammen wiegen nicht schwerer als unsere Vorstellungen vom Leben früher und vom Leben in der Zukunft. Den Künsten zu folgen, heißt, sich ihnen mutig zu überlassen, sich im Vertrauen auf ihre kulturelle Integrität die größten Unsicherheiten und Risiken einzugehen. Was ist wirklich schön, was ist gut, was wahr? Solche Fragen stellen sich beide, die bildenden und die darstellenden Künste, und besonders die kulturelle Wirklichkeit mit ihren Einschlüssen aus den darstellenden Künsten bringt uns vor alles, was wichtig ist für unsere Zukunft. Besonders das Theater hat hierbei den größten Einfluss auf die Seelen der Menschen ausgeübt, als es noch reine Darstellungskunst war und sein Libretto allein im gesprochen Wort und der Überlieferung lag.Überliefert sind nicht nur die großen Dramen, Tragödien und die Komödien in den alten Schriften, Zeichen und den fremden Sprachen, sie bilden auch in anderen Formen der Darstellung eine Tradition, der wir in unserem Leben unvermittelt und mittelbar begegnen. Es sind die Ideen, diese ganz und gar immateriellen Güter unseres Bewusstseins, die die Bedingung überhaupt abgeben, dass wir eine Zukunft haben. Die Ideen sind wie die Sprachen und die Vorstellungen von jener Art von Flüchtigkeit, die ihre angestammten Plätze im kulturellen Raum und der Zeit der Geschichte nur zu gerne verlassen, wenn man sie einlädt zu sich, sodann schwingen sie sich als Seelenverwandte hinüber zu unseren Seelen und wohnen dort, manchmal für lange Zeit, bis sie wieder davonfliegen zu unseren Nächsten, den lebenden wie den noch ungeborenen. In alten Zeiten waren vornehmlich die Kunst der Sprache, die Darstellungen im Theater und die Musik die Museen der Kultur. Die alten Museen hatten keine Mauern, keine Räume, umso freier verbreiteten sich die Ideen aus der Vergangenheit in die Zukunft. Ihre Formulierungen kosteten fast nichts, für die Besten gab es Honorar. Ihre Wege waren mautlos, ihre Bewegungsenergie kam aus ihnen selbst heraus und war kostenlos. So schafften sie aus sich selbst heraus die größtmögliche Öffentlichkeit, einen kulturellen Raum von Beständigkeit und Aufbruch fortwährend. Die Künste zogen frei durch die Welt bis an ihre Grenzen, wo sie zurückgeworfen oder abgewiesen wurden, wo sie Mauern überwanden und einige einrissen, zu Fall brachten. Der Flug der Ideen begegnete fortlaufend fremden aus anderen Kulturräumen, ein Austausch fand nicht selbstverständlich statt. Da aber, wo sich die universellen Ideen offen begegneten, blühte die Kultur auf, wo ihnen der Eintritt verwehrt wurde, herrschte Stillstand, nicht selten Krieg.

Wo Gewalt und Krieg herrschen, sind die Seelen tot, die Künste verfolgt. Heraklit irrte, wenn er meinte: „Der Krieg ist aller Dinge Vater.“ Er vergaß dabei, dass der Krieg seine Kinder frisst und die schrecklichsten aller Vorstellungen hinterlässt wie die Bilder Goyas im spanischen Prado belegen. So irrte auch der große Thukydides, der später den Krieg als einen „gewalttätigen Lehrer“ bezeichnete, dabei vergessend, dass seine Lehre der radikalste Nihilismus ist. Dessen Ziel ist zuallererst die totale Vernichtung der Kultur der Besiegten, die Wahrheit und die Künste, die die Sieger durch ihre ersetzen. So wird das Imperium zum expansiven Kulturraum der Sieger und versucht den der Besiegten aus der Öffentlichkeit zu verbannen; nicht immer gelingt das für eine längere Zeit. Das meint die Rede von der revolutionären Entwurzelung aus allem, bisherigen Leben und der Kultur, dass keine Rückkehr aus sich heraus in eine neue, eine eigene Zukunft mehr möglich ist. Dazu bedürfte es einer neuen Kultur, die alle Konsequenzen aus der Viehlzahl inkommensurabler Erfahrungen zwischen Sieger und Besiegten gezogen hätte, aber wo wäre dies je in Imperien, Kolonien und Zwangsfrieden geschehen? Tyrannen und Diktatoren heute, selbst solche, die es nur in ihren phantasmatischen Anmaßungen sind und weniger in politischer Art und Weise, behaupten alle mehr oder weniger, sie folgen in ihren Handlungen ausschließlich einem göttlichen Drehbuch. Aus ihrem Drehbuch Gottes heraus lesen sie eine bevorrechtigte Einsicht, Erkenntnis und prophezeite Wirklichkeit, die ihr Erscheinen auf der Scena des Theatrum mundi vorhersagt. So waren und sind sie alle, die großen Klerikalen, die ebensolchen Feudalen, die modernen politischen Potentaten, dass sie ihr Erscheinen der Wahl Gottes und nicht der eines Volkes verdanken (donald t.: Bin von Gott gerettet worden, der Amerika wieder groß werden lassen wollte“). Selbst einge neureiche Granden meinen, auch sie seien im curriculum vitae der göttlichen Regieanweisungen der Menschheit gesandt worden; Quelle drôle d'idée!

Das große Drehbuch der Menschheit ist in den großen Kapiteln der Kulturen geschrieben. Ein Kapitel darin ist das, was wir ein wenig denkfaul die Kultur des Abendlandes oder des Westens bezeichnen. So wird vereinheitlicht, was geradezu tausende von kulturellen Unterschieden, Gegensätzen, Beeinflussungen und Adaptionen quer durch Kriege, Seuchen und Katatstrophen beinhaltet. Trotzdem, wir kennen und wissen um die kulturelle Didaktik und die kulturellen Rückmeldungen, die unser Leben mit so vielen anderen und Kulturen verbindet. Wäre ohne dieses großartige und zugleich beschämende Feedback der Kulturen im Laufe der Zeit unser Dasein verständlich, sogar überhaupt möglich? Was wären wir ohne die großen griechischen Ideen, ohne den muslemischen, den indischen und den partiellen Einfluss der ganzen Welt auf unsere Kultur? Es dauerte fast ein Jahrtausend, bis in Kontinentaleuropa das Rechnen mit einer Null zum mathematisch selbstverständlichen Repertoire gehörte. Die Null kam in unsere systemische Mathematik nicht aus dem Fundus der Griechen, sondern über dem Weg der muslemischen Kultur aus dem indischen Fundus. Sie flog auf dem Land- und Seeweg in den vorderen Orient, über Nordafrika und Südspanien schließlich über die Mauern des Katholizismus und dessen Weltbild in unsere Vorstellungen von einer neuen Welt, in der der Mensch seinen kosmischen Ausstieg aus seinen selbstverschuldeten Kulturgrenzen versuchte; einiges gelang, vieles nicht. De te fabula narrator.

Wir verzichten aus Sorge um Sinn und Verständnis des Textes auf übermäßig gegenderte Formulierungen.

Farewell

Schweres Wetter zog auf aus nordwestlicher Richtung. Der Meltemi kommt immer sehr schnell herauf mit vierzig Beauforts und mehr, aber noch merkte Ulysses nicht viel davon, etwas mehr Druck auf den Segeln seiner Oyster 49, aber kaum mehr Krängung, das Boot lag stabil im leicht aufschäumenden Wasser der östlichen Ägäis. Als er die ersten Anzeichen sah, diese unverkennbaren Wolkenformationen in tausend bis zweitausend Metern Höhe, die der südliche Sommer-Sturmwind der Ägäis, dem schon so viele Schiffe in antiker Zeit wie auch heute immer noch zum Opfer gefallen sind und fallen, erinnerte er sich sofort an die Radiodurchsage vor ein paar Stunden, die er nicht sehr ernst genommen hatte, zumal er bereits Kurs Richtung Batsi Marina auf der Insel Andros eingeschlagen hatte.

Vielleicht ein Schlag von sechs Stunden ergaben seine Berechnungen, da der Wind zu dieser Stunde stetig aus Nordost blies und er bequem mit halbem Wind rechnen durfte. Nun wurde ihm klar, er musste wohl doch gegen den Wind ankreuzen und, was erschwerend hinzukam, auch gegen die Strömung. Noch war die See kabbelig, kein schönes Segeln mehr, aber die Oyster glich die meisten Schläge gegen ihren Rumpf geschmeidig aus. Mit zunehmendem Wind würde das anders werden, das war ihm klar. Und wie der Meltemi stetig seiner Yacht näher rückte, stieg auch Besorgnis langsam in ihm auf. Würde er es überhaupt bis zur Marina schaffen, bevor der Sturm ihn eingeholt hatte? Wie wäre sein Kurs überhaupt zu halten, wenn er gezwungen wäre, ständig gegen anzukreuzen und wo waren die Feuer und Seezeichen, die das Fahrwasser zur Marina anzeigen? Ulysses Kariakis war zwar kein Profi mit allen Wassern gewaschen, aber ein zu erfahrener Segler, um nicht ein aufsteigendes Unbehagen zu verspüren. Er wusste, mit dem Meltemi war nicht zu spaßen, schon deshalb nicht, weil er, als Einhandsegler unterwegs, seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit wohl für das Schiff und die Segel einsetzen würde müssen und die notwendig ständigen Positionsbestimmungen und Kursberech-nungen würde kaum erledigen können. Auf den Autopiloten konnte er sich jedenfalls bei schwerer See nicht blind verlassen. Das wäre Leichtsinn.

Er beschloss, die verbleibende Zeit zu nutzen und die Seekarten noch einmal genau zu studieren und sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Er verließ das Steuerrad und wollte gerade die Treppe hinunter ins Schiff steigen, da erfasste die erste Böe die Yacht und holte eine Welle über. Nun war es aber an der Zeit, die Segel zu reffen und den Zeitplan, noch vor Sonnenuntergang den schützenden Hafen zu erreichen zu verabschieden. Er setzte das Groß auf das dritte Reff durch und ließ die Fock bis auf ein Fünftel des Tuchs eindrehen; die Sturm-Fock zu setzen schien ihm nicht notwendig, wäre auch jetzt schon zu schwierig geworden.

Die meist präzisen Einträge in der Seekarte beunruhigten ihn etwas. Sollte er den Hafen nicht mehr bei Tageslicht erreichen und die See schwerer werden, so warteten eine große Anzahl von Untiefen östlich wie westlich des Fahrwassers auf ihn und seine Oyster. Ein leichter Schlag einer Welle backbord querab erinnerte ihn daran, nicht allzu viel Zeit unter Deck zu verlieren und rasch nach Alternativen zu suchen: sollte er den anrollenden Sturm lieber draußen auf See abwettern? Als einigermaßen erfahrener Segler wusste er, dass für sein Schiff und damit auch für ihn die Lage in Hafennähe wegen der Untiefen und der zu erwartenden Kreuzsee recht ungemütlich, ja sogar gefährlich werden könnte. Distanz zu halten vor den gefährlichen Wellenschlägen vor der Südküste von Andros bei Sturm und starkem Wellengang war eine Option, die ihm durch den Kopf schoss und die er durchaus in die Wahl zog. Oder sollte er seinen Kurs und sein Ziel nicht besser ganz aufgeben und eine geschützte Bucht leeseitig von Tinos ansteuern und dort die Nacht vor Anker gehen?

Er scannte die Seekarte auf solche Buchten ab und fand auch eine geeignete, die ihm selbst bei unvorhersehbar schlechteren Wetterver-hältnissen erreichbar schien. Er spürte, wie sein Geist klarer wurde, sein Herzschlag ruhiger als die nächste Welle, nun schon heftiger, die Backbordseite seiner Yacht traf und das Schiff ordentlich auf die Seite drückte. Das leere Champagnerglas, das auf dem Tisch stand, fiel herunter und zerbrach. Noch keine drei Stunden war es her, als er in größter Selbstzufriedenheit auf sich angestoßen hatte, war es ihm doch endlich gelungen, diese Plastik von Giacometti zu erwerben, die er lange schon seinem Freund und Kunden Willfinger versprochen hatte. Sicher, bei dem Erwerb kamen ihm vor allem seine guten Beziehungen durchaus entgegen, so, dass andere Bieter eher weniger Chancen auf den Erwerb der Plastik hatten, aber, so sind nun mal die Gewichte im Kunstmarkt verteilt, dachte er genüsslich, und schaltete auf die Frequenz des Seewetterberichts von Mytilini.

Bereits die ersten Meldungen des Seefunks machten Ulysses Kariakis unmissverständlich klar, dass an eine sichere Ankunft in der Marina von Batsi überhaupt nicht zu denken war. Der nächste Wellenschlag war so heftig, dass er blitzartig den Kartentisch verließ und seinen Körper mit beiden Händen kraftvoll die Treppe heraufzog und instinktiv das Steuerrad ergriff, die Instrumente ablas, während er gleichzeitig die Segelstellung überprüfte und das Wellenbild in sich aufnahm.

Bis zum Horizont hatte sich eine dichte, tiefe und bedrohlich graue Wolkendecke gebildet, die keinerlei Differenzierung mehr für das Auge abgab; weder waren da Licht und Schatten auseinander zu halten noch irgendeine Spur des eben noch so strahlenden Blaus des Himmels. Der Druck auf dem Ruderblatt nahm stetig zu und die Oyster legte sich nun auch schon deutlich auf die Seite und, obwohl fast alles an Tuch gerefft und eingeholt war, machte er bereits elf Knoten Fahrt. Der letzte Rest Stoff an der Fock sirrte mit hoher Frequenz und die Schoten schlugen wild gegen den Mast. Und immer, wenn er recht voraus oder querab der herannahenden Gischt und der kräuselnden Oberfläche der auflaufen-den Welle gewahr wurde, war die Böe auch schon da, erfasste die Yacht und mit der Welle hob sie sich steil aus der See, die Böe erfasste nun auch den Rumpf und drückte ihn zusätzlich mit großer Kraft auf die Seite. Da der Sturm scheinbar aus allen Richtungen gleichzeitig zu blasen schien, wurde die Handhabung des Ruders auch immer schwieriger. Versuchte er, der einfallenden Kraft einer Böe auszuweichen, indem er das Schiff leicht in den Wind drehte, erfasste ihn schon die nächste, die ihn sofort zwang, das Manöver zu korrigieren. Obwohl die Wellen noch nicht sonderlich hoch waren, hatte seine Yacht schon derart viel Krängung, dass er mit seinem Rücken an die Polstersitze der Plicht gepresst wurde, die nun in Nackenhöhe fast senkrecht aufstanden. Seine Füße suchten Halt, er presste sie fest an den Ruderkasten, hielt das Ruder Rad fest im Griff und versuchte, so viel Fahrt wie es nur ging aus dem Schiff herauszunehmen. Kurshalten war jetzt nicht mehr möglich und es war ihm klar, dass er längst schon jede Navigation verloren hatte.Den Autopiloten musste er jetzt abschalten, da der nur noch in akustischen Serien von schrillen Warntönen die kurz aufeinanderfolgenden Abweichungen vom eingegebenen Kurs anzeigte. Er prüfte den Sitz und Halt seiner Rettungsweste und den Live-Belt, schaute auf seine Uhr, die vier Uhr anzeigte, obgleich das Licht schon so schwach war, wie um sieben und die Sicht nunmehr immer schlechter wurde. In immer kürzeren Abständen schnitt der Bug unter die anrollenden Wellen und die kamen immer höher über das Boot. Als holte die See tief Luft, sog ein Wellenberg den nächsten an und türmte ihn auf, so dass nun nicht mehr nur die Gischt, sondern die Kämme der Wellen selbst gegen sein Gesicht schlugen. Angst, gar Panik hatte Ulysses nicht, aber mulmig war ihm zumute, sehr mulmig. In einen Meltemi war er als Segler noch nicht geraten, nicht in einen dieser Kraft, dieser unbändigen, wilden Stärke.

Er erinnerte sich, vor ein paar Jahren war es auf der Überfahrt von Limnos nach Lesbos, auf einer riesigen Autofähre, da war er in einen dieser schlimmen Saisonstürme geraten. Es war an einem Freitag, fast um Mitternacht, als die Fähre bei bestem Wetter ablegte, nur leise flüsterte der Landwind über das Deck. Die Fähre war voll besetzt. LKWs füllten das untere Deck, die Ladung für das Wochenende und die nächsten Tage auf die bekannte und gut besuchte Ferieninsel Lesbos brachten, ein paar wenige PKWs parkten in den markierten Backbord-Boxen. Das Hauptdeck war voll mit schwarz gekleideten griechischen Frauen, die wohl auf der Heimfahrt zu ihren Familien waren. Diese Fähre geht immer nachts, um im Morgengrauen Lesbos zu erreichen und damit keine wertvolle Zeit für die Reisenden an Bord verloren geht. Die griechischen Passagiere saßen eng zusammen, aßen ruhig die mitgebrachten Speisen und tranken ihren heimischen Wein dazu. Alsbald hob eine der fast schon antik erscheinenden Frauen an zu singen und schnell war das ganze Hauptdeck erfüllt mit den Gesängen der Weiber, die freitags immer allein, ohne ihre Männer reisten. Gesängen, die eher an klagende Weiber, an die typischen Totengesänge trauernder Mütter und Ehefrauen um den Tod ihrer Geliebten erinnerten. Wenige hatten Kinder mitgebracht, aber die schliefen schon fast alle. Oben auf dem Sonnendeck saß Ulysses und um ihn herum eine Handvoll Rucksack-Touristen, die alle die Sternennacht der nördlichen Ägäis genießen und bewundern wollten. Doch Sterne sahen sie keine. Und nicht einmal eine ganze Stunde war seit der Abfahrt vergangen, da kam erste Gischt über das Sonnendeck, so viel, dass rasch alle ihre Decken und Matten eingerollt hatten und dem Gesang unter Deck entgegenstrebten.

Ulysses wunderte sich über das Spritzwasser, dachte erst sogar an einen Regenschauer, aber das einsetzende Rollen des Schiffes zeigte deutlich, dass schwere See und nichts anderes hierfür verantwortlich zeichnete. Es fiel ihm schwer zu glauben, was er deutlich auf seinem Gesicht spürte, zumal es eindeutig nach Salz schmeckte; es war doch erst so kurze Zeit seit dem Auslaufen aus dem Hafen auf See vergangen und die Fähre mit mehr als zehn Metern Höhe über der Kiellinie nicht gerade eine der kleineren.

Der Gang über die Treppe zum Hauptdeck fiel allen schon schwerer, wie überhaupt niemand auf seinen Beinen mehr in flüssigen Bewegungen sich hinunterbewegte. Die Frauen sangen unentwegt weiter, die Besatzungen an den Bars und den Buffets hatten mangels zahlenden Publikums sich mehrheitlich um Kartenspiele und einen Fernseher versammelt, oder lagen einfach auf den freien Sitzreihen und einige hielten bereits Nachtruhe. Und dann begann das Schiff kräftiger zu rollen, bald rollte es nicht mehr nur in Fahrrichtung, sondern krängte unkontrolliert über Backbord und Steuerbord hin und her. Und dann hörte man die ersten Schläge der Brecher gegen den Rumpf des Schiffes, das erst leicht, dann mehr und spürbar erzitterte und plötzlich, ganz abrupt hörte der Gesang der Weiber auf. Und niemand sang mehr diese ganze Nacht. Alle hatten ihre Plätze nun innerhalb des Hauptdecks eingenommen, bis auf jene, die sich längst schon in ihre Kabinen begeben hatten.

Die Kellner hatten alle Hände voll zu tun, heißen Mokka und griechischen Ouzo auszuschenken, Essen bestellte kaum jemand. Das Schiff rollte nun scheinbar in alle Richtungen, der Stahl ächzte, der dumpfe, schwere Wellenschlag gegen den Bug mischte sich als Kontrapunkt in den Takt der Maschine, die immer lauter zu werden schien. Mit dem anschwellenden Konzert der hart arbeitenden Technik klangen die Stimmen der Passagiere zunehmend leiser und nach einer weiteren Stunde waren sie ganz verstummt. Nur noch das Stampfen des Diesels war zu hören und das gleichmäßige Geräusch der Antriebswelle wurde durch das Tosen der Wellen unregelmäßig durchbrochen, so, als käme es von irgendwo außen, am Stahl des Schiffskörpers gebrochen, als leises Echo ins Innere zurück.

Nach zwei Uhr morgens, Ulysses erinnerte sich noch genau an die Zeit, hatte selbst die hart gesottene Besatzung des Mitteldecks alle Aktivitäten und alles Reden eingestellt, nachdem sie die Passagiere mit Spuckbeutel – manch einer verlangte gleich nach zweien oder dreien davon – und Tafelwasser versorgt hatten. Die Passagiere hatte alle ihre Plätze verlassen und saßen, die meisten lagen bereits lang ausgestreckt an den Seiten des Decks oder auf den Treppen. Dorthin hatte sich auch die Besatzung gesellt, geteilt in der Not des gemeinsamen Befindens.

Tief beugte sich die Yacht nun bei jeder Welle ins Wasser, das aus der Plicht gar nicht so schnell ablaufen konnte, wie das Schiff erneut Wasser nahm. Die Rettungsweste behindert Ulysses etwas bei dem Versuch, alles an Tauwerk, was er in der Backs-Kiste und in Reichweite greifen konnte, am Schiff fest zu vertäuen und achterlich über Bord zu werfen. Er musste unbedingt Fahrt herausnehmen und eine stabilere Schiffslage erreichen und das war eine bekannte und bewährte seglerische Kunst in solch einer Situation, von der er wusste und nun auch glaubte, dass sie noch einige Stunden, vielleicht sogar die ganze Nacht über andauern konnte.

Allmählich registrierte er, leicht verwundert, dass von unten aus der Pantry Musik zu ihm hoch drang. Die Konzentration auf die vielen Handgriffe und die seemännischen Abläufe in dieser Notsituation hatten ihn daran gehindert, überhaupt etwas anderes wahrzunehmen als sein Schiff, das Meer und die notwendigen Verrichtungen eines Einhandskippers in schwerer See. Wie gut, dachte er noch, dass er das alles gründlich gelernt hatte, geübt und auch schon in Maßen bei mittleren Windstärken selbst anwendet hatte. Deutlich war die Musik aus dem Bordradio zu hören. Er konnte es einfach nicht glauben, dass sie ihm erst jetzt auffiel. Und außerdem war es ihm völlig unverständlich, dass er wohl bei seinem letzten Aufenthalt in der Pantry das Radio angestellt hat. Eine sinnlose Aktion. Seltsam. Und wieder fiel ihm die Stille in der Fähre ein. Diese gespenstische Stille. Es war dieses Verstummen des Gesangs der Weiber und der menschlichen Kommunikation. Kein Kind schrie mehr, selbst das TV-Gerät, das auf griechischen Fähren immer unterhält, war seit geraumer Zeit ausgeschaltet. Warum eigentlich?

Ulysses öffnete die Tür, die zur Treppe führte, auf der man die Schlafdecks erreichen konnte und wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. Er sah, wie das Bullauge, durch das er schaute, tief ins gurgelnde Wasser eintauchte und wie von einer unbändigen Kraft gezogen, wieder daraus auftauchte und sich hoch über ihn in die schwarze Nacht aufrichtete, wie anklagend sich gegen den Himmel wandte. Er hielt sich mit aller Kraft am Treppengeländer fest und gewahrte, dass hier, nahe an der Außenseite der Schiffswand, der Wellengang sich ungleich spürbarer auf das Schiff übertrug und die Rollbewegungen umso verstärkter waren. Und wieder tauchte das Bullauge ein und es schien ihm, als hörte dieser Vorgang nie auf, als sänken sie alle auf den Grund der Ägäis, bis endlich mit Gurgeln und Zischen das Bullauge aus den Tiefen wieder auftauchte. Die linke Schulter schmerzte etwas, wahrscheinlich war er doch durch die ungeheure Kraft des schwankenden Stahlriesen gegen die Stahlhaut der Fähre gedrückt worden. Aber weiter schaute er gebannt auf dieses tragische Wasserballett draußen vor dem Bullauge und es schien ihm, als sänge dort jemand.Und mehr und mehr verspürte er Angst an dieser Stelle des Schiffes und verlies seinen Standort wieder Richtung Mitteldeck. Er wusste nicht, wie lange er wohl dem Spiel der Kräfte zwischen Schiff und Meer zugeschaut hatte, aber als er die Schwingtüre zum Hauptdeck durchschritt, stoppte ihn jäh der Gestank von Erbrochenem. Die Menschen lagen hilflos auf dem Boden, einige hielten andere an den Schultern fest, lagen in den Schößen ihrer Mitreisenden oder halfen, so gut es ging, in diesem Stadium der Seekrankheit, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass der Lebenswille bereits langsam aus dem Körper weicht. Er konnte dorthin nicht gehen, nicht dorthin. Ein erstes Würgen und dieses spontane Zusammenkrampfen des Magens verspürte er jetzt auch. Er war vielleicht der Einzige, der noch nicht von der Seekrankheit befallen war, dachte er bei sich, und wandte sich wieder zurück zur Schwingtür.

Eine Böe mit mindestens acht Beauforts fasste die Yacht und riss sie nach Backbord. Er hielt das Ruder so kraftvoll wie es ihm möglich war gegen den Druck, der vom Ruderblatt auf das Rad übertragen wurde, schüttelte das Salzwasser aus dem Gesicht, spuckte die Brühe aus dem Mund und drehte leicht die Yacht in die Richtung, aus der er die nächste Attacke der Elemente erwartete. Und dabei hörte er Musik. Es war Verdi, Aida. Es war nicht wahr. Es konnte nicht sein. Aber er hörte doch deutlich die Stimmen aus dem Äther. Zweifellos. Er musste lachen. Obwohl ihm gerade jetzt gar nicht zum Lachen zumute war. Denn er brauchte jetzt seinen ganzen Verstand, sein ganzes Können und seine ganze Konzentration. Wie war ungefähr die Position seines Schiffs? Welchen groben Kurs segelte er? Er musste das ungefähr wissen, wollte er überhaupt eine Chance haben, einen Hafen, eine schützende Bucht, wann immer auch noch in dieser Nacht zu erreichen. Zumindest musste er sich klar halten von den hoch frequentierten Verkehrswegen zwischen Syros und Naxos. Sollte er gar im Seegebiet zwischen Tinos, Syros und Mykonos segeln, dann: „oh, hilf Poseidon“ fiel es ihm schmunzelnd aus seiner Schulzeit in Athen ein. Aber so weit vom Kurs abgekommen... Nein, das konnte nicht sein.

Die Oyster war zwar unsinkbar, aber was heißt das schon? Eine Kollision übersteht sowieso kein Segelschiff und bei dieser Sicht hatte er keine Chance, einer Kollision auszuweichen. Sähe er ein Schiff auf Kollisionskurs, wäre es auch schon nach Sekunden zu spät. Krach, und das war’s, wurde ihm schlagartig bewusst. Während er die Szenarien und möglichen seemännischen Optionen erwägte, ging eine Welle nach der anderen über das Schiff, begleitet von Verdis dramatischen Gang aus dem Radio. Irgendwie beruhigte ihn die Musik. So wenig er sich vorstellen konnte, wann und warum er das dumme Radio angeschaltet hatte, so wenig wollte er die Oper nun missen. Irgendwie beruhigend, dachte er. Und irgendwie rätselhaft. Er schweifte ab. Zeitweise schien es ihm, als hörte er nur Musik, nicht mehr dieses überlaute Getöse des Sturms und das noch viel nervenaufreibendere Geschrei der Wellen. Wie oft schon war er in der Oper von Athen oder an anderen Orten der Welt bezaubert von diesem hellen Gesang der nubischen Prinzessin, wenn sie ihre Liebe zu Radames besingt. Es war dieser Gesang fest verwoben mit seiner Erinnerung an den ersten Tag, als er seine Frau Kyriaki zum ersten Mal sah, damals, als die Fähre in Lesbos angelegt hatte, dieses Totenschiff, und er auf dem kürzesten Weg in die Taverne des kleinen Hafens eilte, um die Nacht mit Mokka und Ouzo vergessen zu machen.

Irgendetwas führte ihn abwärts. Es war nicht der Gestank und das Stöhnen, dieses röchelnde Würgen an leeren Mägen, dieses bizarre und ekelerregende Bild schierer menschlicher Existenz und gebrochenem Lebenswillen, das eine kollektive Seekrankheit malt. Es war etwas anderes, dass er jetzt auf seiner Yacht wieder spürte. Und er fragte sich, ob dieses Todesverhängnis, welches die meisten sterblichen Menschen in der Mitte des Lebens erfahren, etwas Spezifisches mit der Seefahrt verbindet? Gefahr war ihm nicht fremd. Gefahren hatte er durchlebt, ja manchmal sogar gesucht. Ihm war das Risiko stets eher Freund, denn furchteinflößend. Hier wie damals auf der Fähre, inmitten des weithin wogenden Meeres aber war es anders, hier zählte seine Stärke nicht, nur sein Können. In Grenzen, das wusste er.

Er passierte das Bullauge, das Geländer fest im Griff, und sah kurz dem Ein- und Auftauchen des Schiffes im Focus des winzigen Ausgucks ins offene Weltmeer zu. Die Furcht nicht, nicht die Angst, aber das Verhängnis des Todes hat eine Ästhetik, hat seine eigene Schönheit, seinen Rhythmus und Klang wie der Chor, der den Weg der Gefangenen und Todgeweihten an ihr Ziel begleitet. Schicksal kann zum besten aller möglichen Freunde werden, zum wahren Begleiter...da schauderte er erschreckt bis ins Mark zurück. Er hatte die erste Türe zu einer der vielzähligen Schlafkabinen geöffnet und was er sah und wahrnahm verschlug ihm den Atem und traf ihn wie ein Hammer. Waren das noch Menschen, oder waren das bereits Wesen, aus denen alles Menschliche gewichen war, wo der Tod bereits die Bühne beherrschte. Er dachte an Hieronymus Bosch, an die Sixtinische Kapelle, ihm schossen die Bilder durch den Kopf, als Truppen des Diktators seines Landes die Übungen der Demokratie auf den Straßen Athens erledigt hatten. Er schlug die Tür zu, um dem Gestank zu entgehen, öffnete sie gleich danach sanft und entschuldigte sich höflich, ohne eine Regung der Angesprochenen zu entdecken.

Es zog ihn weiter abwärts, dorthin wo die LKWs standen. Er sah nur schwankende Formen von Blech, Stahl, Aufschriften und Ketten. Lange Ketten und kurze Ketten, starke Stahlketten, die beidseitig die schweren Fahrzeuge halten sollten. Mehrere dieser simplen, doch technisch ungemein hochentwickelten Werkzeuge menschlicher Intelligenz, die allesamt wie lächerliche Gummifäden ihm hier auf hoher See erschienen, konnten nicht verhindern, dass die Fahrzeuge unter ihren Gewichten hin und her schwankten. Die Ketten schienen sich wie Expander zu dehnen. Jederzeit könnte eine davon brechen und dann war die Katastrophe unvermeidlich. Das sah er, ohne zu denken. Nur eine, wenn reißt, dann schiebt sich das ganze Gewicht des einen LKWs auf den nächst stehenden und unweigerlich müssen dort die Ketten brechen; eine Kettenreaktion wäre unausweichlich, die auch größere Fähren wie diese in den Abgrund ziehen könnte. Und irgendwie glaubte er, schon den Sog des Wassers zu spüren. Hier, inmitten des untersten Decks, glaubte er sich rettungslos verloren dem Grund im Wasser entgegenschweben.

Das metallische Schlagen der Ketten und das quietschende Vibrieren der Federn der LKWs klangen wie Dominanten einer Todesfuge. Hier, ganz nahe am Orchestergraben des Schiffes, konnte er den verlockenden Gesang des ewigen Meeres hören, der die Todesfuge klangvoll überdeckte und hätte fast seinen Frieden gemacht mit seinem Leben, mit seiner bedrängenden Vergangenheit. Er schüttelte sich, rieb sich die Augen und kam wieder zurück in seine Gegenwart. Hastig stieg er die Treppen wieder hoch, schaute auf die Uhr; noch drei Stunden auf diesem Schiff, wie sollte er das aushalten?

Hochaufbrausend war die See, die unaufhörlich auf die Yacht zulief. Die Brecher kamen wild rauschend über, es schien, als wäre die Oyster mehr unter als über Wasser. Das Tageslicht war längst schon nach einer kurzen Phase des Zwielichts dem einbrechenden Dunkel der Nacht gewichen. Seine Sicht betrug nicht mehr als vielleicht noch hundert Meter. Seine Füße schmerzten, langsam wich auch die Kraft aus seinen Armen, er begann zu frieren. Wie schön wäre jetzt ein starker, heißer Mokka? Er schaltete die automatische Schiffsirene ein, die mit einem Intervall von je einem langen und einem darauffolgenden kurzen Ton das Signal: Manövrierunfähigkeit in die Nacht aussandte. Eigentlich war sein Schiff ja nicht manövrierunfähig, aber war das jetzt wichtig. Kleinlich, dachte er, aber ein markantes Signal sollte es doch sein. Die Positionsleuchten hatte er bereits vor einer Stunde gesetzt, er kontrollierte sie mit einem umschweifenden Blick. Alles in Ordnung. Die Oper strebte ihrem dramatischen Finale zu und wie aus einer Echo Wand schallte die Schiffssirene zurück in die vielstimmige Szene des vierten Aktes.

Ihm war es, als hörte er gelegentlich die dumpfen Sirenen einiger anderer entgegen-kommender Schiffe aus allen Klangfarben heraus. Nein, nicht hier, während eines kurzen Vergnügungstrips, wollte er sein Leben verlieren. Mit größter Mühe und Anstrengung löste er zuerst die Befestigungen des Bootshakens und fixiert mit ihm das Steuerrad, indem er den Bootshaken zwischen Steuerrad und Ruderkasten verklemmte. Er löste den Life Belt aus dem Schäkel, denn nun war er überzeugt davon, dass diese Sicherung bei einer Kollision ihn überhaupt nicht schützten würde, im Gegenteil. Da die Verbindung zwischen ihm und dem Schiff viel zu kurz war, würde er unweigerlich und schnell bei einer Havarie mit einem anderen Schiff oder beim Durchkentern unter seine Yacht geraten und müsste sich mühsam losmachen vom Life Belt, um an die Wasseroberfläche zu gelangen. Er musste sich, wie schwer das auch im Moment zu bewerkstelligen war, am Mast festbinden, und zwar mit so viel Tau, dass er mindestens 20 Fuß weit von der Yacht entfernt in der Rettungsweste schwimmen oder treiben konnte. Selbst wenn sein Schiff kentern und hernach kieloben treiben würde, er hätte so viel Tau, dass dies alles geschehen könnte, ohne ihn selbst unter Wasser zu ziehen, oder in seinen Bewegungen zu behindern.

Er brauchte eine unendlich lange Zeit, so schien es ihm, um sich an der Reling entlang ziehend die zwanzig Fuß bis Höhe Mast zurückzulegen. Mehr hängend als stehend zog er kriechend sich am Oberdeck seiner Oyster entlang und in Masthöhe hinauf. Dort hing er kurz für ein paar Sekunden, erschöpft, durchnässt und so sehr in Gischt und Wellen, dass seine Augen schmerzten und er kaum sehen konnte. Er richtete mühsam ganz sich auf, sich kaum haltend gegen den Wasserschlag auf glitschigem Deck. Einmal, zweimal, dreimal schlug er das Tauwerk um den Mast und dann das andere Ende ebenso oft um seinen Oberkörper und schloss das Ende fest mit einem Palstek. Eine Welle traf ihn frontal und er wäre fast von Deck geschwemmt worden, hätte er nicht im letzten Augenblick eine der Großschoten zu fassen bekommen, an die er sich nun festkrallte.

Das Wellental gab seinen Blick frei auf eine Reihe von vier Blauschnäbel-Schiffen, die ruhig mit kraftvollen Ruderschlägen an ihm vorbeizogen. Er sah die langgestreckten Boote ganz deutlich, obwohl Bug und Heck jedes einzelnen seine Konturen im fahlen Licht verloren. Es waren schöne Boote, reich verziert mit schöngeglätteten Rudern, besetzt mit jeweils drei oder vier lieblich gelockten Wesen, deren Gestalt er in dem düsterblauen Gewölk, das sie umgab, nicht deutlich genug zu erkennen vermochte. Mit jeder neuen Welle, die gegen ihn anrollte, verschwanden die Gestalten und deren Stimmen, um umso deutlicher mit dem nächsten Wellental ihm wieder zu erscheinen, als wäre darin eine Partitur eingeschrieben. Näher und näher kam ihm das Gefühl eines törichten Verlangens, den Wesen nachzueilen. Unweigerlich nahm er ihren Kurs auf. Rings umhüllt vom tosenden Meer führten ihn die hellen, klaren, etwas süßlich klingenden Stimmen durch Kamm und Tal und mit heißem Herzen segelte er ihnen hinterher. Ihre schönen Gesänge waren ihm wie klare Signale, die die Richtung seines Schiffes bestimmten: „Komm’ rüber zu uns, Ulysses. Löse das Seil, komm rüber zu uns!“

Er lauschte konzentriert in die Richtung der Stimmen, sie verklangen sanft, um aus dem stürmenden Wind alsbald umso klarer und verlockender wieder aufzusteigen. Die sehrenden Stimmen beschlichen ihn umso mehr und drängender, als das Spiel des auf- und absteigenden Gesangs anhielt. Und mit jedem Satz wurde ihre Schönheit noch strahlender, noch bezaubernder und ihm war, als klängen die Stimmen aus ihm selbst heraus, hätten von ihm bereits Besitz genommen. Er hatte ganz vergessen, woher er gekommen war und wohin er wollte. Nein, es war keine Täuschung mehr. Er war hier, er war ihr Eigentum. Es gab keine Erinnerung mehr, die Zeit war zerronnen, nur mehr dieser beständige Taumel, der wie ein leises und sanft klingendes Karussell aus Kindertagen sich drehte und drehte um seine zunehmende selige Ohnmacht im Reigen herum.

In diesem Rausch war er wie neu-, wie wiedergeboren, erlebte er die heiteren Tage seiner Kindheit und all’ die wunderschönen Sommer seiner scheinbar endlos währenden Jugend, Unbeschwertheit, Unbekümmertheit, Vertrautheit wie er sie längst vergessen hatte. Und das Licht des Herbstes über der Oberstadt von Athen, oder im Sonnenuntergang der griechischen Inseln, die er so oft mit seinem Vater besucht hatte. Immer wollte er den Stimmen lauschen, ihre sehrende Süße nicht missen.

Er nahm allein Platz an einem der kleinen Tische der Taverne, die selbst zu solch früher Stunde von einigen Hafenarbeitern und Handwerkern schon gut besucht war. „Einen doppelten Mokka und einen Ouzo, auch doppelt, bitte,“ sagte er mit leiser Stimme der Kellnerin und bemerkte, wie seine Schulter immer noch etwas schmerzte. Er saß da in dieser Taverne und es kam ihm irgendwie seltsam vor. Er hatte schlicht vergessen, dass er noch vor nicht allzu langer Zeit eine Vielzahl von Ängsten durchlebt hatte, die, seit der vierten Stunde auf See, sich alle in die eine Todesangst ergossen hatten. Er wusste nichts mehr von allen seinen Eindrücken und Wahrnehmungen, von dem Gestank vom Erbrochenem der Mitreisenden, von dem Schlägen der Wellen gegen den Rumpf und die Seiten der Fähre, von dem Tosen des Windes, dem schweren, monotonen Stampfen des Schiffs, dem metallischen Schlagen der Ketten im Unterdeck. Er saß hier in der Taverne und hatte dies alles vergessen, im Gegenteil, er verspürte ein Gefühl, welches er lange schon nicht mehr erlebt hatte: er fühlte sich leicht, unbeschwert, ja, er fühlte sich frei und glücklich.

„Ihr Mokka und ihr Ouzo, bitte sehr. Ich hoffe, es bekommt ihnen zu dieser frühen Stunde. Jamas.“ Sie stellte noch ein Glas Tafelwasser auf den Bistro-Tisch, verteilte etwas Gebäck darauf und ging zurück zur Bar. Er hatte die Fähre inmitten der Reihe der Mitreisenden leichten Schritts verlassen. Vielleicht war er ein wenig irritiert, sein Schritt nicht sicher auf der Treppe, die ihn und alle Mitreisenden an Land brachte. Aber schon nach ein paar Schritten am Anlege Kai kehrte diese Sicherheit zurück, mit der er und alle anderen, die mit ihm von Bord gegangen waren, gewohnt waren, durchs Leben zu gehen.

Er nahm den Ouzo zuerst und zog einen guten Schluck davon und gleich wurde ihm klar, was die Bemerkung der Kellnerin bedeutet hatte. Er war gut eingeschenkt, stark, unverdünnt. Ulysses trank den Rest des Glases und machte der Kellnerin, die ihre Augen die ganze Zeit nicht von ihm abgewendet hatte, mit seiner Hand das Zeichen: noch einen, bitte. Während er den Zucker in den Mokka rinnen ließ, nahm er zum ersten Mal die Frau wahr, die ihm diesen gutgemeinten Drink serviert hatte. Er sah nun aufmerksamer auf ihr Gesicht, auf ihre Gestalt, die Konturen ihres Körpers, der sich ihm rückseitig zuwandte, sah, wie sie die Flasche aus dem oberen Regal der Hochprozenter herunternahm, öffnete, und ihm fielen dabei ihre langen, zarten Finger auf und wie sie in einem runden, sicheren Armschwung das Glas füllte, welches, bei näherer Hinsicht, diese Wölbung des flüssigen Inhalts über den Rand hinaus zeigte, die nur jene Menschen erzielen können, die ihrem Beruf mit Leidenschaft nachgehen, sei es die Leidenschaft am Gaste oder die Leidenschaft des Könnens.

„Bitte sehr, zum Wohl“, sie stellte den Ouzo ab, füllte aus einer Karaffe noch etwas Tafelwasser nach. Das Gebäck hatte Ulysses bisher nicht angerührt, wohl weil sein Magen noch keine Signale abgab, etwas aufnehmen zu wollen.

„Wie heißen Sie?“ Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, biss er sich, ob der, in dieser Situation, plumpen, unpassenden Frage, auf die Unterlippe. Kaum, dass er etwas sagen konnte, was gewiss die Situation nicht gerettet, sondern wahrscheinlich eher verschlimmert hätte, antwortete sie leise und doch deutlich: Kyriaki, mein Herr“, und lächelte ihn offen und freundlich an, während sie sich dem Nachbartisch elegant zuwandte, an dem mehrere see- und salz-gegerbte Männer saßen und weitere Getränke bestellten. Es wurde laut und leidenschaftlich diskutiert über die anstehenden Arbeiten, den Zeitplan, die ungerechten Löhne und selbstverständlich immer wieder über die Touristen und ganz besonders dabei über die blonden Frauen, die, ohne Begleitung von Männern, allein, manchmal auch zu zweit, oder in kleinen Gruppen Lesbos besuchten. Ulysses aber hatte nur noch Augen für Kyriaki. Welch’ schöner, geheimnisvoller Name und wie schön sie war, wie leicht und anmutig ihre Bewegungen. Sie ist sehr freundlich zu allen Gästen, dachte er, ohne jedoch ihre kleine, aber bestimmte Distanz zu den Gästen jemals ganz aufzugeben. Mehrmals schien sie seine konzentrierte Beobachtung ihrer Arbeit zu bemerken, wenn ihre Augen sich scheinbar zufällig trafen. Sie wich seinem Blick nicht aus, im Gegenteil, sie warf Ulysses ihrerseits einen kleinen freundlichen Blick zurück, der ihm wie eine stille, magische Bestätigung seines Interesses erschien. Manchmal verschwand sie in einem Raum hinter der Bar und wenn er sie für seine Begriffe jetzt vermeintlich länger nicht sah, drängte es Ulysses fast, hineinzugehen und nachzusehen, was mit ihr ist. Sie hatte ihr schönes, dichtes, schwarzes Haar zu einem Zopf zusammengeflochten, was ihrem Gesicht eine ganz besondere Note gab, zumal, da jüngere griechische Frauen dies wohl zu jener Zeit als gänzlich unmodern, unchick, ja als very old fashioned, wie man in England sagt, abgetan hätten.

Er aber empfand ihr Aussehen ganz und gar nicht old fashioned. Vielmehr war er von dieser mutigen, selbstbewussten Verletzung des modernen ästhetischen Klischees weiblicher Schönheit fasziniert. Und von Klischees und der Bedeutung ihrer Verletzungen verstand er ja was. Immerhin war er als Kunsthändler, als einer der bedeutendsten Kunsthändler in Griechenland und wahrscheinlich auch weit darüber hinaus, so sinnierte er, mit den Darstellungen der weiblichen Schönheit in der Kunst durch alle Genres und Richtungen einigermaßen vertraut. Es war auch ihre Kleidung, bemerkte er jetzt, die nicht präzise dem modischen Geschmack der Saison entsprach. Die Farben, so viel wusste er gerade noch, stimmten mit denen der aktuellen Mode überein, aber sonst war ihm, ohne, dass er das hätte genau differenzieren und benennen können, als hätte sie ein ganz individuelles Spiel mit den modischen Vorgaben gespielt. Ihm war nur klar in diesem Moment, dass sie ihn sinnlich und auch erotisch äußerst anzog und unbewusst zeigte er das wohl auch, denn sie hinterlegte ihre Blicke, die sie ihm vermehrt zusandte, mit vorsichtig auffordernden Gesten. Wenn sie sich umdrehte, von ihm weg, dann drehte sie sich nicht einfach weg, sie schwang vielmehr ihren Kopf in die andere Richtung und ihr Körper schwang hinterher. Ihre Gesten wurden allmählich etwas ausladender, nicht viel, nicht aufdringlich, aber Ulysses nahm das sehr wohl wahr und, obwohl er mit seinen bisherigen Bestellungen bereits mehr als ausreichend bedient war, bestellte er mit einem deutlichen Handzeichen einen weiteren Mokka, allein, um sie wieder an seinen Tisch zu bewegen. „Kiki, so nennen mich meine Freunde. Bitte sehr, mein Herr.“ Und dabei lächelte sie ihn lange und eindringlich an. Es war an der Zeit, dass auch er ihr seinen Namen nannte: “Ulysses, ich heiße Ulysses. Eine so schöne Kurzform wie ihr Vorname hat meiner leider nicht gefunden, Kiki.“

Sie stellte den Mokka ab, ein Gast rief: “Kiki, bitte!“

„Sie sehen, so ist es jeden Morgen in der Saison. Ich muss...“ und wandte sich dem rufenden Gast zu und ging zu dessen Tisch. Ulysses war nicht enttäuscht, schaute er ihr doch allzu gerne weiterhin bei ihren ihn geradezu aufregenden Bewegungen zu. Und er konnte sie ja jederzeit mit einer weiteren Bestellung wieder an seinen Tisch holen. Perfekt, dachte er, dreh dich, Kiki. Und sie tat ihm den Gefallen, denn so wie die Hafenarbeiter und Handwerker die Taverne verließen, traten mehr und mehr Reisende und ältere Bewohner der Hafengegend von Lesbos in den großen Raum, der bis zur Augenhöhe mit weißen Kacheln belegt und von der Decke in hellblauer Farbe direkt auf den Putz gestrichen war, ein. Kyriaki war die einzige Bedienung und hatte nun auch schon alle Hände voll zu tun. Die ersten Gäste bestellten schon kleine Speisen, kalte Vorspeisen aus der Vitrine, die täglich frisch zubereitet wurden, was auch und zu den ersten Verrichtungen am frühen Morgen von Kiki gehörte, waren sehr beliebt, auch bei einigen Anwohnern. Sie spielten Karten oder Domino, einige unterhielten sich angeregt und die Touristen bestellten Karten von Lesbos bei Kiki, breiteten diese über die Tische aus und nach geraumer Zeit riefen sie nach Kyriaki, um sich ihre Ortskenntnisse dienstbar zu machen. Sie fragten sie nach Orten und wie sie dorthin kämen, nach Unterkünften und deren Preisen, nach den typischen Gerichten der Gegend, wo man am besten Wein und Käse, Hammel und Fisch kauft, warum die Insel diesen Namen trägt und wie sich die Einwohner mit den Türken im Osten und überhaupt vertrugen, sie fragten einfach alles und Kiki fand, dass viele einfach nur reden wollten, ihr meist dürftiges Englisch oder ihre noch viel dürftigeren Kenntnisse der griechischen Sprache, die sie in dreiwöchigen Sprachkursen der Volkshochschulen zuhause erworben hatten, in der konkreten Praxis zu erproben. Meistens störte sie das nicht, aber wenn der Betrieb und die Bestellungen zu sehr zunahmen, die Einheimischen rüde Bemerkungen über die Reisenden losließen, dann zog sie sich auch schon mal genervt hinter die Bar und in den angrenzenden Vorratsraum zurück. Oder sie verschwand einfach für ein paar Minuten nach hinten in den kleinen, kühlen Hof und rauchte eine Zigarette, bevor sie, nicht mehr so freundlich den Gästen entgegenkommend, wieder erschien.

Heute aber kam Ulysses voll und ganz auf seine visuellen Kosten. Kiki hatte alles im Griff, vollkommen ruhig schien sie mühelos zehn Dinge gleichzeitig zu erledigen. Kein Gast fand Grund, sich für zu langes Warten, lückenhaft ausgeführte Bestellungen oder gar über das Essen zu beschweren. Ulysses bemerkte, wie Kiki durch ihre souveräne Art und durch ihre gezielten Freundlichkeiten, ihre, den Gästen jederzeit zugewandte Art, diese ausgelassene Zufriedenheit, die sich im ganzen Raum und an jedem Tisch ausgebreitet hatte, erzeugte. Sie war der Geist dieses Raumes, sein Spiritus loci. Sie erfüllte ihn mit dem entwaffnenden Charme ihrer Person. Und dabei warf sie ihm ihre schönsten Blicke aus tiefgründigen, braunen Augen, die so groß waren wie Kastanien wie ihm schien, zu. Je mehr sie von den Gästen gefordert wurde, um so elastischer wurden ihre Bewegungen. Sie lief nie, sie hastete nie. Sie tanzte durch die Taverne.

Mein Gott, dieser Körper, diese unendlich langen, schlanken Beine und Arme, diese Hände mit solch’ langen, feingliedrigen Fingern, wie er sie noch nie gesehen hatte. Bei jeder Gelegenheit, die sie ihm bot, wanderte sein Blick von einer Stelle dieses wunderbaren Körpers zur anderen und wenn sie für kurze Zeit mal aus seinem Blick verschwand, blieb das zuletzt Gesehene so lange in seinem Kopf, bis sie wieder zurück war und er seine visuellen Wanderungen wieder aufnehmen konnte. Er tastete sie mit seinen Augen ab, er scannte sie gewissermaßen in allen ihren einzelnen Körperteilen und –regionen und ihm war auch klar, dass dieses doch sehr männliche Unterfangen etwas sehr Privates war, was man tunlichst Frauen nicht mitteilen sollte, nicht einmal non-verbal. Aber dies war nun mal seine Art, eine Frau kennen zu lernen, gewissermaßen seine Art Erstkontakt. Weil sie nicht nur einfach dasaß wie ein Aktmodell, weil sie sich im Raum bewegte, tanzte, schenkte sie ihm nicht nur unzählige Eindrücke, sondern ebenso unzählige Perspektiven ihrer Schönheit.

Ihr Po war eine völlig neue, andere Impression, sah er ihn von hinten oder von der Seite. Noch beeindruckender waren die Ansichten ihres Busens und ihres Gesichts, welches von der Seite gesehen ihm einen ganz anderen Eindruck hinterließen als von vorne, oder aus der Halb-Perspektive. Sie war eine dieser Frauen, ja dieser Musen-Wesen, die die antiken Bildhauer im Sinn hatten, Wesen mit zwei Gesichtern, die die alten Künstler so sehr herausgefordert hatten. Eins des Menschen, des irdischen Wesens, und ein rätselhaftes der Gottheit des Schönen. Bis hin zur wohl berühmtesten Darstellung eines Frauengesichtes, der Mona Lisa, folgten seine Assoziationen, die ihm dann aber auch ein wenig überspannt und geschmacklos vorkamen und er bestellte mal wieder einen Mokka.

Ulysses stand wie gebannt am Ruder seiner Yacht, das Seil um seinen Körper gebunden, übermannt von den Eindrücken und Erlebnissen der letzten Stunde. Nur langsam klarte sich sein Verstand wieder etwas auf, wie auch der Sturm langsam nachließ. Er rieb sich wieder und wieder das Salz aus den Augen, die darufhin noch mehr als zuvor brannten, seine Begleitung war hinter dem nächsten, hoch anbrausenden Wellenkamm verschwunden. Immer leiser verhallte der Singenden Lied und Stimme: „Komm rüber zu uns, Ulysses“, klang es ihm wieder und er wusste nicht, kam es von unter Deck aus dem Radio, oder hinter der Welle über das Wasser zu ihm her: ...rüber zu uns, Ulysses, löse das Seil!“ Und als die Welle seine Yacht überrollt hatte, war ihm, als sähe er die Ruderer noch im Dunkel verschwinden und es blieb ein Gefühl in ihm zurück, als hätte er den Tod, den andere nur einmal im Leben nahen empfinden, heute zum zweiten Mal im Salz der Wellen auf seinem Gesicht, auf seinen Lippen geschmeckt.

Das Meer beruhigte sich zunehmend, der Meltemi hatte, so rasch er heraufgezogen war, sich urplötzlich wieder beruhigt. Obwohl die See noch lange ihr wildes Gesicht behielt, die Wellen unvermindert gegen sein Schiff liefen, wich die Überspannung aus seinem Körper und er begann, seine Situation hier ganz allein auf seinem Boot klarer wahrzunehmen. War ihm die Oyster bislang immer die Verbindung zur konkreten Welt gewesen, dieser dünne Schiffskörper zwischen ihm und dem Abgrund ins Jenseits sein fester Boden in stürmischer See, so hatte er heute wohl und mehr noch als damals auf der Fähre diesen Boden unter sich verloren. Mit jeder Sekunde, die der Sturm nachließ, verblassten auch die Eindrücke, die ihn eben noch ganz besetzt hatten. Sein Gehirn arbeitete wieder rational, er überprüfte die Instrumente: Windstärke sechs Beauforts, Geschwindigkeit elf Knoten, Kurs Nord-Nord-West 350 Grad. Beschädigungen konnte er auf dem ersten flüchtigen Blick nicht feststellen, sein Bootshaken hatte sich wahrscheinlich selbständig gemacht, jedenfalls war er nicht mehr zu sehen. Das Fock-Segel, welches er zur besseren Steuerung seiner Yacht minimal gesetzt gehalten hatte, war ordentlich zerfetzt und vorsichtig gab er den Motor der Rollfock frei und ließ etwas Tuch durchlaufen, um die Navigationsfähigkeit des Schiffs wieder zu verbessern. Wo war sein Standort? Das war jetzt seine dringlichste Frage, wiewohl die Gefahr einer möglichen Kollision auch weiterhin ihn sehr beunruhigte. Er löste das Tau von seinem Körper, schaltete den Autopiloten ein und ging unter Deck, um seine derzeitige Position zu bestimmen. Das Schiff hatte zwar so gut wie kein Wasser genommen, aber so ziemlich alles, was nicht fest mit dem Schiff verbunden war, hatte sich von seinem Platz entfernt und lag nun weit verstreut in Pantry und Kajüte herum. Geschirr, Besteck, ein paar Lebensmittel aus den Einbauschränken, der Champagner-Kübel und die leere Flasche, die, da aus Glas als einziges Inventar in tausend Stücken zerbrochen auf dem Boden lag, seine Navigationsgerätschaften und Karten vom Kartentisch. Aber der Laptop befand sich zum Glück noch genau an seinem Platz. Er schaltete den Bordstrom wieder ein und der Rechner bootete auch gleich, als wäre nichts geschehen. Der Satellitenempfang war auch rasch wieder hergestellt und die elektronische Seekarte zeigte nach nicht allzu langer Berechnungszeit seine Position an. Er befand sich etwa acht Seemeilen nordwestlich von Gavrio. Er staunte nicht schlecht, er war lediglich etwas über das Ziel hinausgeschossen. Eben noch hätte er jede Wette gehalten und gedacht, seine Position wäre nach diesem Sturm viel weiter vom Ziel entfernt ausgekommen, aber, nun gut, hier war er nun. Er musste auf seinem Kurs hierhin durch eben jenes Seegebiet gesegelt sein, durch das ein reger Fährverkehr gerade jetzt in der Saison führt. Von Rafina, etwa eine Autostunde östlich von Athen, fahren zu dieser Jahreszeit allein drei Fähren täglich nach Andros und nicht zu vergessen die Schnellfähren von Andros nach Naxos, Paros und Santorini, aber wahrscheinlich war der Fährverkehr frühzeitig eingestellt worden, denn gesehen oder gehört hatte er keine unterwegs hierhin. Er beschloss, sein ursprüngliches Ziel, den Hafen von Batsi anzusteuern, obwohl der bei diesen See- und Windverhältnissen knapp eine Segelstunde weiter östlich lag. Aber was machte das schon für diese Nacht? Immerhin bräuchte er dann nicht am nächsten Tag noch einmal Segel zu setzen und war wenigstens zum Morgengrauen wieder in einer bekannten und von ihm sehr geliebten Umgebung.

Vor allem an Wochenenden wird Batsi gerne von Athenern besucht, die mit Fähren und Yachten vielzählig dort auftauchen. Batsi ist ein sehr schöner, kleiner Ort, pittoresk liegen seine Häuser gedrängt beieinander an einem steilen Hang gebaut. Das äußerst lebendige Nachtleben ist vor allem auf griechisches Publikum eingestellt und besonders unten am Meer befindet sich ein großer Platz mit Cafés, urigen Tavernen und Bars im typischen Stil der Kykladeninseln, wo Ulysses viele schöne, entspannte Stunden und leidenschaftliche Nächte auf seiner Yacht mit Kiki verbracht hatte. Er wendete sein Schiff, was bei diesen Windstärken gewiss ein kleines Kunststück war, nahm Kurs auf Batsi, setzte noch etwas mehr Segel an der Fock und auch das Großsegel auf das zweite Reff durch und überließ seine träumerischen Gedanken dem Kurs seiner Yacht durch das Meer.

Segeln war zwar nicht Kikis Leidenschaft, aber sie war sehr gerne mit ihm auf der Yacht unterwegs. Einmal sogar hatte er sie davon überzeugen können, mit ihm eine Regatta auf Martinique mitzusegeln. Sicher, zwar außer Konkurrenz, aber immerhin ging es auf einer gecharterten Beneteau quarante-quatre von Le Marin auf Martinique an den “Pitons” von St. Lucia vorbei, dem vielleicht bekanntesten Wahrzeichen der Karibik, mit dem Dorf Soufrière zu Füssen, am Hafen von Castries vorbei und von dort weiter in Richtung Grenadas schöner Hauptstadt St. Georges, die wie eine Kulisse eines Säbel- und Degenfilms alter, guter Hollywood-Zeiten, malerisch auf zwei Seiten eines Hügels mit den zwei Forts, Fort George und Fort Frederick an höchster Stelle liegt. Danach in nord-östlicher Richtung nach Barbados und von dort zurück nach Martinique. Es war ein wunderschöner Törn in ausgezeichnet guten karibischen See- und Windverhältnissen. Ulysses erinnerte sich daran, wie Kiki manchmal einfach darauf bestand, ein Bad zu nehmen, obwohl der Passat aus bester Richtung stetig blies und die Beneteau gute Fahrt machte, mit der Ulysses durchaus eine Chance gehabt hätte, auf einem der vorderen Plätze die Regatta zu beenden. Kiki jedoch nahm ein Bad, ausgiebig und ausgelassen und er nahm es ihr damals nicht übel, im Gegenteil. Es waren heitere, unbeschwerte Tage voller Liebe, voller Leidenschaft und Kiki so ausgelassen beim Baden zuzuschauen, wie sie dann das Boot wieder bestieg und sich vom Salzwasser abtrocknete, ihr Haar nach hinten warf und zusammendrehte waren Bilder, die ihm weitaus wertvoller waren als die berühmten Gemälde, die er aus Museen oder durch Auktionen in London, Hong Kong oder irgendwo sonst in der Welt gesehen hatte.

Sie liefen als Vorletzte aller teilnehmenden Regatta-Teams in Le Marin wieder ein, doch sehr verwundert darüber, dass ihnen jemand den sicher geglaubten letzten Platz doch noch hatte streitig gemacht. Sieben jungen Amerikanerinnen war das Kunststück gelungen, noch nach ihnen die Ziellinie zu überfahren und es war ein äußerst heiterer Abend, den sie mit den großen Verliererinnen an einem Tisch in der Marina verbrachten. Das Siegerteam und auch die folgenden Plätze zwei und drei nahmen natürlich französische Crews ein, die das ganze Spektakel doch sehr ernst nahmen. Und das hatten die beiden glorreichen Verlierer-Teams gemeinsam, ein durchaus gespaltenes, leicht befremdliches Verhältnis zu ihren erfolgreicheren Konkurrenten. Für die Franzosen waren Amerikaner, Männer wie Frauen, in vielerlei Hinsicht eher Barbaren und auch gegenüber Griechen war deren Einstellung nicht gerade von großem Respekt oder gar Zuneigung geprägt, die der Franzose, der seine Erziehung und Ausbildung in und um Paris empfangen hatte, ja selbst seinen südlicheren oder gesellschaftlich weniger angesehenen Landsleuten landesweit schwer nur entgegenzubringen vermag.

Kiki und Ulysses liebten, wie sich schnell herausstellte, ebenso wie die lebhafte Clique durchaus reizender und hübsch anzuschauender junger Frauen aus Massachusetts an vorderster Stelle die französische Küche, in der die, mit den Belangen an Geselligkeit zusammenhängenden Tugenden, eher auf den hinteren Rängen auf der Skala der Sympathie-werte rangierten. Durchaus wurden sie von den an ihrem Tisch vorbeigehenden Siegertypen wahrgenommen, selbstverständlich widmeten sie den Damen, vor allen anderen Kiki, hingebungsvolle Gesten. Ulysses störte das wenig, hatte er in seinem Leben den gespaltenen Charakter der gallischen Hauptstädter schon einige Male erfahren müssen. Ihn störte mehr, dass sich diese Klasse der Grande Nation im gegenwärtigen Alltag und Geschäft über die griechische Kultur hinweg zu setzten vermochte, als gründete sie in sich selbst und nicht in den antiken Werten und Idealen des alten Athens.

Er sah in seiner Erinnerung an jene Tage mit Kiki, wie sie, es war ihr erster Besuch auf Martinique, die Insel erkundeten, von Marigot Bay aus, die einst die tropische Kulisse des Films “Dr. Doolittle” bildete, den sie beide so mochten, den vielleicht, außer den Franzosen selbst, alle Menschen auf der Welt mochten. Und dass Kiki und er sich damals hatten durchaus blenden lassen von den Prospekten, die sie vielzählig in Athen nach allem, was Frankreichs schöne, karibische Tochter zu bieten hatte, durchsucht hatten. Im Prospekt sind Martiniques Strände alle weiß. Aber das stimmt nicht, das war schon der erste Betrug. Feiner Sand allemal, aber nicht weißer Muschelkalk wie etwa auf Barbados. Und dann die Architektur, für die, und das durchaus zurecht, der derzeit lebende Grieche in ganz Europa belächelt wird, aber, abgesehen von den historischen Monumentalbauten, derer es in Griechenlands Städten gewiss auch sehr viele und beeindruckende gibt, dort aber, wo sich auf Martinique der französische Architekt und Städteplaner den idealen Urlaubsort, zum Beispiel im ursprünglichen Stil der kreolischen Residents vorstellt, fehlt es entweder an Talent oder an jedweder kulturellen Vorstellungskraft, die etwa mit der Architektur, und da war sich Ulysses ganz sicher, derer der Inseln der Ägäis mithalten hätte können. Soviel der Franzose zur europäischen Kultur auf allen Gebieten der Künste auch beigetragen hat, nicht wenig, wie man zuhause zurecht betont, so wenig hat er wie alle Kolonialisten in den Übersee Departments Gutes an Kultur und Kunst hinterlassen.

Trois-Ilets war so ein Beispiel eines missglückten Versuchs, der modernen Architektur, kreolischen Charakter zu verleihen. Aber kreolisch war dort nichts, absolut gar nichts. Das war eine schiere Beleidigung der Einheimischen, so empfand Ulysses das als eine Beleidigung seines ästhetischen Empfindens, die übrigens, wie oft in Frankreich, auch in der Öffentlichkeit ihrer karibischen Insel nicht gerne gesehen sind, an den Rand gedrängt ihren Joint rauchten, für exotische Drinks in den Bars sorgten und auch sonst die Arbeiten erledigten, die sonst keiner gerne machte, schon gar kein echter Franzose. Ja, was Martinique an manchen Stellen im Süden auf schlechte Art und Weise mit der französischen Vorzeigestadt und deren arroganter Mentalität ähnlich machte, war, dass den coloured people der Aufenthalt in den Zentren des öffentlichen Lebens nachhaltig erschwert wurde. Auch das war Martinique, nicht Gottes Inselparadies. Aber wie die Geschichte zeigte, hatte Gott immer ein Einsehen mit den gallischen Barbaren und sandte ihnen Francois Villon, Victor Hugo, die deutschen Idealisten, Malreaux, die Revolution - und Vincent.

So war dem einst heiser krähenden, etwas unterernährten 'Hahn' die geistig-kulturelle Gnade von höchster Stelle gewährt und das Volk dankte es mit alltäglicher Leidenschaft; nein, weniger in der Liebe oder im Moulon Rouge mit Cancan, sondern am Topf, genauer dem kochenden, an dem der Franzose sowohl sein schlechtes Gewissen gegenüber all denen, die er in die koloniale und kulturelle Pfanne gehauen hat und weiterhin haut, als auch gegenüber Gott und seinen kulturellen Gaben nun täglich Abbitte leistet - und das auf so ausgefeilte Art, dass er nicht ganz zu Unrecht meinen mag, er sei ein Kind des Himmels. So steht er nun da an all den Pfannen, Schalen, Töpfen und Tellern und kreiert mit höchster Verve und auch Begabung die subtilsten Gaumenfreuden, immer in der Sorge, Gottes Gnade könnte ihn wieder verlassen und ins triste Zeitalter des Coque aux nix zurückschicken. Ach, übrigens, was würden Sie denn machen, wenn Sie täglich zur Mittagsstunde mit dem Besuch des Himmlischen rechnen müssten? Genau, Sie würden kochen wie der Teufel. Aber sicher! Und deshalb haben unsere irdischen Mägen es auch so gut beim Franzosen, denn nicht nur die Speise adressiert den höchsten Gourmet, auch die Getränke sind von allerhöchster Hochachtung gegenüber dem Gast. Deshalb sehen die Strände auf Martinique, jedenfalls die, wo die Franzosen sich aufhalten, allesamt ab Clock 12.00h so aus wie am Pte de Salines zur Mittagszeit. Wie auf ein geheimes Zeichen, einen für andere Nationalitäten unhörbaren Ruf eines lukullischen Muezzins, leert sich der Strand Punkt Zwölf schlagartig und die gallische Community verschwindet geschlossen für mindestens zwei Stunden in den Restaurants, um in großer Runde der versammelten Strandpopulation wahrhaft göttlich zu speisen. Und das nicht nur in Ste-Anne z. Bsp. wo man wirklich wie Gott in Frankreich die heiße Mittagszeit verbringen kann, sondern so ist es fast überall auf Martinique, high noon in der Stunde der göttlichen Mahlzeit.

Als Ulysses die Mole von Batsi erreichte, war es bereits spät nach Mitternacht. Er fuhr sehr langsam und vorsichtig unter Motor in den Hafen ein und suchte einen Anlegeplatz und fand endlich, nach einigem Suchen, einen geeigneten, der sich aber ganz im hinteren Teil der Molen und damit weit von den Hafengebäuden entfernt befand. Niemand war mehr zu sehen, der Hafenmeister, so es überhaupt einen gab, der sich regelmäßig um den Verkehr im Hafen kümmerte, war nicht zu sehen, andere Segler waren wohl schon seit langem in den Bars und Tavernen verschwunden, sogar die Hafenbeleuchtung war, bis auf ein paar schummrige Notbeleuchtungseinheiten, ausgeschaltet. Mit dem Tosen der Brandung und der spärlichen Beleuchtung erhielt die Szene am Anleger so tief in der Nacht einen fast gespenstischen Charakter. Das Anlegen einer vierundfünfzig Fuß langen Yacht ist auch nach vielzähligen gelungenen Versuchen immer wieder eine kleine Herausforderung für den Skipper. Glücklicherweise hielt die weit geschlossene Hafenmole das meiste des enormen Wellengangs vom Hafenbecken fern, so dass die Mühe sich für Ulysses in Grenzen hielt. Während er das Schiff vertäute und da es auch schon sehr spät war, beschloss er, keine der Tavernen mehr aufzusuchen, sondern den Rest der Nacht auf seiner Yacht zu verbringen.