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"Der Seele Grenzen kannst du durchwandernd nicht ausfindig machen, auch wenn du jeden Weg abschrittest, einen so tiefen Logos hat sie." So schrieb dereinst Heraklit, und auch dieses Buch wird nur soweit kommen, wie es uns möglich ist, aber nicht bis ganz zum Ende des Wegs. Wir suchen die Seele nicht in neuronalen Netzen, in Gehirnregionen oder sonst wo in seiner Herzgegend oder näher an Magen und Darm; alles schon passiert. Wir finden die Seele der Menschen im Streben nach Unendlichkeit, nach Grenzenlosigkeit, im Streben, Raum und Zeit, ja sogar die eigene Endlichkeit und Vergänglichkeit zu überwinden. Weil die Menschen eine Seele haben, haben sie uns die Künste geschenkt wie die Vielfältigkeit unserer Kulturen, beide gibt es seit Menschen existieren als Wesen mit einer Seele. Der Titel: De Anima verweist bewusst und in aller Bescheidenheit des Autors dieses Buches auf das großartige, gleichnamige Werk des Aristoteles, der der Seele im Sinne der Entelechie ein eigenes Sein attestiert hat. Die Seele kann seither verstanden werden als Energeia, als Wirklichkeit des Strebens des Menschen und als dessen Vollendung, wobei nicht entschieden ist, ob die Vollendung in eine gute oder eine falsche Richtung verläuft. Läuft sie in eine falsche Richtung, in den Nihilismus des unbedingten Willen zur Macht, sprechen wir von einer seelenlosen Zeit, von Menschen, ohne Seele. Da stehen wir heute wieder und deshalb hat dieses Buch auch keine Schwierigkeiten mit den empirischen Tatsachen.
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Seitenzahl: 784
Veröffentlichungsjahr: 2025
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De Anima – Soziopathie des modernen Menschen.
Texte: © Copyright by Franz Rieder
Umschlaggestaltung: © Copyright by Franz Rieder
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Der Titel: De Anima verweist bewusst und in aller Bescheidenheit auf das großartige gleichnamige Werk des Aristoteles, der der Seele im Sinne der Entelechie ein eigenes Sein attestiert hat. Die Seele kann seither verstanden werden als Energeia als Wirklichkeit und Vollendung, wobei nicht entschieden ist, ob die Vollendung in eine gute oder eine falsche Richtung verläuft.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1: Vor dem Kampf
Aus der Transzendenz in die Immanenz
Vor dem Sinn des Ganzen
Die Sorge ums liebe Vieh
Der Revisionismus der Sorge
Elemente und Mechanismen der Verleugnung
Kampfbereit
Das Gleichgewicht der Kräfte
Die Antagonisten Mensch und Natur
Der Kampf ums Überleben
Die Lust an der Zerstörung
2. Kapitel: Vom Nutzen der Natur
Die schmerzhafte Entdeckung der Kränkung
Die Wut der Gekränkten
Das andere Gesicht der Wut
Das andere Gesicht der Destruktion
Das wahre Gesicht der Zerstörung
Schwankende Balance of Power
Ordo politicus – ordo naturae
Memento mori – carpe diem
Das neue Ungleichgewichtsmodell
Privat – Nicht-Privat
Der Optimismus menschlicher Produktivität
Der Pessimismus menschlicher Produktivität
Parakonsistente Folgen
Das Sein der anderen
Das Sein des Anderen ungeschehen machen
Kapitel 3: Die Laster der neuen Tugenden
Areté – der Tugend unterstellte Tüchtigkeit
Die Skalenwerte der Tugenden
Komm ins Offene, Freund.
Die Tugend des Begehrens
Auf der Wohlstandsskala
New Financial Harakiri
Kapitel 4: Hallo Mr. Unknown
Fraktale Empirie
Chaotische Verhältnisse
Schamanismus
Chaos und Gleichgewicht
Chaotische Politik
Gesellschaftsvertrag
Vertraglich nicht vereinbart: Armut
Kapitel 6: Die Entropie der Moderne
Das erste Opfer der neuen Freiheit war die Vernunft
Der Absturz ins Phantasma
Kommt zur Vernunft
Verspannte Vernunft
Entspannte Vernunft
Fading out
Differenzverlust
Zweifellos unschuldig
Im Kognitiven verzerrt
Zwick mich – ich glaube ich träume
ScheinLibertär paternalistisch
Paternalismus im Gesetz
Der Unterschied in der Vernunft
Eine Ontologie der Moderne
Zerbrochene Ontologien
Ontologie-Perversionen
Das Fremde in uns
Das Absolute
Zu einer Phänomenologie der Ideen
Seobiseu juseyo
Korrumpierte Moral
Korrumpierter Geist
Kapitel 7: Die Kampfkraft des Chaos
Harmodios und Aristogeiton
Emerging Intelligence
Das Ende generativer Selbstregulation
Kollektive Intelligenz
Wer sieht da was?
Differenz ohne Identität
Selbstverständlichkeit
Zum Schluss - Zurück zur Natur
Die anthropozene Produktion
Von Gewinnern und Verlierern
Das unersättliche Bedürfnis der Menschen
Krieg und Frieden
Produktivkräfte des Machterhalts
Charons Fahrt ins Totenreich Duat
Denn Sie wissen nicht, was sie tun.
Die Rückkehr des bürgerlichen Universums
Das neureiche Grossbürgertum
Das Paradigma der Zeitenwende
Gerechtigkeit
Am Ende der Spaltung
Am Ende ist alles fragwürdig
Vom wechselseitigen Nutzen
Das Zwangsnutzen-Axiom
Das taumelnde Streben nach Neuem
Das atemlos habituelle Hysterie-Axiom
Schluss
Antinomien wohin man nur schaut
Das Geviert der Moderne
Der Verlust von Maß und Menge
Was kann staatliche Macht in Demokratien heute noch?
English spoken?
Schuld und Sühne der Ökonomie
Literaturliste
15.03.2023
Soziopathie klingt ein wenig wie eine Krankheit, das meint es auch. Gleichwohl wir unsere Beiträge nicht auf eine Krankheitsform verengen möchten, geht es doch nicht, ohne an eine schwere Erkrankung zu denken. Die Erkrankung, um die es hier bei allen unvermeidlichen Assoziationen geht, ist eine Krankheit zum Tode. Wir haben überhaupt nichts dagegen, wenn unsere Gedanken zu einer langanhaltenden Krankheit der Menschheit mit Søren Kierkegaard1 assoziiert werden, zumal auch wir nicht ganz ohne eine Replik auf das Christentum auskommen und eine existenzielle Verzweiflung feststellen müssen. Sie zeigt sich nicht als solche, als Verzweiflung an sich, sondern tritt in vielfältigen Form von Aggressivität und Gewalt auf.
Schauen wir auf Gewalt, wie sie uns lange Zeit als Normalfall begegnete. Bei den überwiegenden Erscheinungsformen von Aggressivität und Gewalt reicht zur Erkenntnis das Bürgerliche- und das Strafgesetzbuch. Im allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches lesen wir wie Veränderungen der Moral und des gesellschaftlichen Zusammenlebens sich rechtlich niederschlagen. So wurden neue Straftatbestände wie z. B. „Geldwäsche“ (seit 1992), Jugendpornografie (seit 2008) und sexuelle Belästigung (seit 2016) aufgenommen, der sogenannte „Abtreibungsparagraph“ §218 deutlich modifiziert. Das StGB lebt; leider, oder glücklicherweise?
Was heute als strafbewährt gilt, war Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende in der Vernunft des Rechts nicht enthalten. Es galt vielleicht nicht im Sinne der Moral und der Ethik als erlaubt oder vernünftig im Sinne einer höheren Ordnung oder eines höheren Zweckes, aber es blieb strafunbewährt. Sexuelle Belästigung und Geldwäsche sind heute zwar unschwer im juristischen Sinne nachzuweisen, bleiben aber in der Mehrzahl der Fälle ungeahndet. Es ist heute, wie in der langen Zeit der Geschichte so, dass Vergehen gegen die Vernunft des Gesetzes geleugnet werden, geleugnet werden dürfen und können. Dabei steht in unseren westlichen Rechtsauffassungen dem Täter durchaus das Recht zur Leugnung seiner Taten zu, allein die Allgemeinheit muss dem nicht folgen, kann aufdecken, was geleugnet wird und dann die freigelegten Straftaten ahnden.
Kein Gesetzt gibt es gegen die größte und umfassendste Formen der Verleugnung der Vernunft des Rechts, die staatliche Aggression in Form von Krieg. Es gibt bis heute kein Gesetzt, welches Puhdn2 für seinen Angriffskrieg verurteilen könnte; bis heute am 14.03.2023 nicht. Während in einigen Teilen der Welt darüber nachgedacht wird, wie ein solches Gesetz aussehen könnte und wer schlussendlich dem Recht auch zur Geltung verschaffen könnte, reiten Despoten, Diktatoren und Tyrannen – alles Synonyme für den unbedingten Willen zur Macht - mit nacktem Oberkörper durch irgendeine unberührte Natur, baden in eiskalten, glasklaren und reinen Fluss- oder Seewasser, fangen einen kapitalen, gesunden Riesenfisch mit ihren bloßen Händen und verspeisen ihn roh in seinem natürlichen Zustand, nachdem sie ihn mit einem gezielten Biss in den Nacken wie ein nordamerikanischer Grizzly fast schmerzfrei und in Sekundenschnelle getötet haben; was für ein Bild der Einheit von Mensch und Natur.
Das Bild eines uneingeschränkten Herrschers in der Natur war nie das eines Beschützers, stets aber das eines Besitzers; das mag im Vorgriff auf Späteres jetzt reichen zur Anregung. So verwundert auch wenig, wenn die ultimative Vernunftlosigkeit des Gesetzes uneingeschränkter Herrschaft in der Totale der Zerstörung sich findet. Das ist der Atomkrieg. Die Konfrontation diktatorischer Herrschaft kann nur ultimativ mit dem Sieg beider enden und die ist zugleich auch deren beider Auslöschung im Weltuntergang. Wir sehen, es geht hier nicht um „Peanuts“; im Gegenteil, es geht ums Ganze. Und wie es dazu kein Gesetz, so gibt es bis dato dazu keine adäquate „Vernunft“; wir versuchen das zumindest als ein Thema für ein nächstes Buch oder einen noch unbekannten Autor zu umreißen.
Falsch wäre es zu schließen, wo es kein Gesetz gibt, herrscht rohe Gewalt bis zur Selbstvernichtung. Das geht in wunderlicher Art und Weise auch mit dem Gesetz. Das macht die Angelegenheit schwierig und wir müssen uns um viele Anleihen in unserer Geschichte bedienen. Dazu gehören natürlich auch die Aufarbeitungen der Gesetzgeber selbst, wenn Strafbarkeitslücken geschlossen werden. Aber reicht das zum Verständnis? Wir müssen das verneinen, denn es geht doch um erheblich mehr, selbst wenn es um die Einführung oder die Aufhebung der Todesstrafe geht wie in der Fassung des deutschen Strafgesetzbuches im Jahr 1953. Geht es um mehr als um einzelwissenschaftliche oder ontologische Erkenntnisse, so wenden wir uns stets hoffnungsfroh an die Epistemologie, also an die Erkenntnistheorie in ihren historischen Ausprägungen, die uns hoffentlich ein Bewusstsein davon vermittelt bzw. anheimstellt, wie wir etwas erkennen noch bevor wir es erkennen.
Allein schon deshalb müssen wir die Frage, wie wir etwas erkennen, noch vor die Frage setzen, was wir erkennen, denken wir an unsere Zeit, deren eines von vielen neuen Merkmalen es ist, Ontologie und Epistemologie zu fusionieren. Wie in einem „Schnellen Brüter“ konvertieren unsere rein theoretischen Betrachtungen traditioneller Fragen nach dem Sein und dessen Struktur umweglos in unser Dasein und dessen Strukturen. Was einst so ungemein beruhigend die Differenz, quantitativ wie qualitativ, zwischen Theorie und Praxis trug, ist spätestens seit der Entdeckung der Quantenphysik epistemologisch wie ontologisch ungültig. Beide, Epistemologie und Ontologie sind ein Verhältnis eingegangen, welches wir in Anlehnung an die Quantenphysik „komplementär“ nennen wollen.3 Die Verschränkung von Sein und Erkenntnis, was etwas völlig anderes ist als die Einheit beider, die uns die Quantenphysik lehrte, ist heute ubiquitär.
Der viel beklagte sogenannte „Enkeltrick“ ist in eine neue Dimension getreten. Heute werden die Omas angerufen von einer Stimme, die die ihres Enkels ist. Künstliche Intelligenz (KI) lernt alle Facetten der Stimme z. B. über ein paar kleine, kurze Stimmproben aus YouTube-Videos und dass die Telefonnummer in Zeiten der Digitaltelefonie manipuliert werden kann, dürfte bekannt sein. Die Stimme des Enkels ist weder von der Oma noch von dem Enkel selbst als manipuliert rechtskräftig nachweisbar und so ist auch die Strafführung a priori gescheitert, wenn niemand beweisen kann, dass diese Stimme nicht die des Enkels ist. Man stelle sich nur vor, was wahrscheinlich in weniger als zwölf Monaten schon stattfinden kann, dass der Enkel sogar einen Dialog mit der Oma führen kann über die gesamte Familiengeschichte, die der "Bot" über ChatGBT trainiert hat und die so gut ist, wie keine Oma und kein Enkel sie selbst jemals gekannt hat.
Das uralte und leidige Thema aller Ontologien ist, dass Ontologie nicht nur sich mit dem beschäftigt, was ist, sondern auch behauptet, behaupten musss, es gäbe einen Zugriff auf das, was real ist und sie, die Ontologie, kenne diesen. So meinen die modernen Naturwissenschaften, ihr Zugang, den sie empirische Evidenz nennen, also auf sinnlich erfahrbare Methoden basierendes Faktenwissen, wäre ein sicherer Weg zur Realität. Aber was, wenn die heute so viel diskutierte Möglichkeit, eine Maschine zu bauen, die herausfinden soll, was die Stimme des Enkels ist und wie wurde sie erzeugt, oder welcher Beitrag in Schule und Studium ist durch ChatGBT oder einem „realen“ Autor, einem Schüler bzw. Studenten4 verfasst? Nun, da eben genau das stattfindet, dass zur Wirklichkeit wird, wovon wir Menschen zeitlebens geträumt haben, einen direkten Zugang zur Wirklichkeit zu finden, mithin Wahrheit und Glück, mindestens Zufriedenheit, Freiheit und Gerechtigkeit möglich ist, wird ad ultimo konterkariert.
Aber was, wenn sich gar nichts geändert hat? Was, wenn wir immer noch auf demselben Tripp sind, mit derselben Hybris, derselben Gewalt gegenüber dem anderen in unserer Menschheitsgeschichte, derselben Ignoranz und Destruktivität gegenüber unseren Lebensgrundlagen, die wir kurz Natur nennen? Und wie geht das alles zusammen? Gewalt, Natur, Ontologie? Das wollen wir mit Mitteln der Philosophie behandeln, weil die Einzelwissenschaften, die Politik und auch die Religionen bislang keine befriedigende Antworten auf diese Fragen gefunden haben oder willens waren, solche Antworten zu finden. Wir müssen dabei natürlich auch im epistemologischen Sinne der Philosophie auf die Finger schauen und uns nicht in jede Denkfalle locken lassen, die auch die Philosophie uns allen geschaufelt bzw. aufgestellt hat. Vielleicht müssen wir am Ende sogar feststellen, weder Philosophie noch die empirischen Wissenschaften haben gute Antworten parat, also solche, mit denen wir arbeiten, sprich die Dinge auf einen neuen, besseren Weg setzen können. Aber dann wäre es wenigstens den Versuch wert gewesen. Wer bei einem solchen Versuch dabei sein möchte, ist herzlich willkommen mitzutun. Denn bloß Dabeisein ist eben nicht alles.
„Der Seele Grenzen kannst du durchwandernd nicht ausfindig machen, auch wenn du jeden Weg abschrittest, einen so tiefen Logos hat sie.“5 Einen besseren Satz zur Seele gibt es wohl nicht. Und doch lässt er uns weitgehend im Unklaren, viel weiter gehend, als wir gewohnt sind zu auszuschweifen über unser Leben hinaus. Wir bemühen daher einen weiteren Satz aus derselben Quelle zur besseren Aufklärung hinzu: „Der Seele ist der Logos eigen, der sich selbst mehrt.“6 Die Seele, so lesen wir bisher, hat keine Grenzen, ist also grenzenlos im Sinne unseres A-(alpha-) privativum. Wir gehen da mit Heidegger, der die absolute Verneinung, das Un- im Deutsche nicht als negativ bzw. Negation versteht, sondern als etwas Positives, als nicht- oder als Unverborgenheit, als aufgedeckt sein im Sinne von Wahrheit z. B. versteht. Wahrheit heißt Unverborgenheit, Unverdecktheit, im Griechischen ἀλήθεια, Aletheia. Grenzenlosigkeit gehört, das wissen wir seit Kant, wie Raum und Zeit nicht zu den Erfahrungsbegriffen. Grenzenlosigkeit entstammt somit nicht der sinnlichen, einer empirischen und damit auf der Grundlage wissenschaftlicher Rationalität evidenten Erfahrung, sondern entsteht innerhalb der reinen, intellektuellen Vorstellungskraft. Die Vorstellungskraft gehört also zur Seele wie übrigens auch die meisten der platonischen Ideen, etwa die Wahrheit, das Gute, das Schone sowie die Freiheit, die Gerechtigkeit usw., als sie ein eigenes Sein haben, was wir als etwas aus sich selbst heraus Hervorbringendes bestimmt haben7. Das kann sein, dass uns etwas beeindruck wie etwa die Schönheit und die Veränderungen in der Natur, also hat die Natur ein eigenes Sein. Mehr noch, das Sein der Natur umfasst das Sein der Menschen, die ein Teil des natürlichen Seins Prozesses sind; wir nennen das Verhältnis von Mensch und Natur komplementär8. Das können die schönen und auch die bildenden Künste sein, also gehören auch unsere Einbildungskraft und die Schöpferkraft – heute schnöd Kreativität genannt – zum Seelenleben.
Aber was ist mit der Kunst, die, ganz im zeitgenössischen Stile, Bilder in gestischer Spontaneität malt und dann den Farben allein ihre Wirkungen auf die Betrachter überlässt? Prima Vista könnte man meinen, hier geht es allein und primär um sinnliche Erfahrung; das ist richtig. Aber selbst bei dieser Art von Kunst ist die sinnliche Erfahrung nicht die einzige Erfahrungsdimension, um die es geht. Auch hier geht es um eine intellektuelle neben der sinnlichen Erfahrung. Wir dürfen den Erfahrungsbegriff uns nicht einengen lassen und die intellektuellen Erfahrungen gar als Erfahrungen zweiter Ordnung oder als nachrangig abqualifizieren wie manche dies in dem unsinnigsten aller Sätze über Kunst versuchen: die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Dann stirbt sie auch dort mit dem Ableben der Blöden; zum Glück stirbt dabei nur die Blödheit, was ja ganz gut ist. Auch in der Kunst geht es heute zunehmend um die Vorherrschaft wissenschaftlicher Erfahrung, wenn mit Röntgenmaschinen und Chemie die Werkprovenienz und Autorenschaft z. B. bestimmt werden. Die Unsterblichkeit der Idee des Schönen und damit der Kunst wird so nicht berührt.
Die Künste haben viele Jahre überdauert, viele Anfeindungen und Verbote, sogar grausame Verfolgungen überlebt, allein deshalb zählen die Künste zur Seele der Menschheit, weil sie unsterblich sind. Die Seele – wir können den Begriff Psyche dazu synonym benutzen – meint somit auch ein Prinzip, ein von den Werken Einzelner losgelöstes immaterielles Prinzip, und insofern dieses Prinzip des Schönen durch alle Zeiten und in allen Lebensräumen der Menschheit, ganz gleich welche Vorstellungen davon in den Werken realisiert werden, beständig ist, ist es auch unabhängig von der körperlichen Existenz der Künstlerinnen und Künstler, mithin also unsterblich. Der Tod ereilt dann die Kunst-Schaffenden, nicht die Kunst an und für sich. Engel und Teufel rangen im Werk eines katalanischen Künstlers um 1500 um die Seele eines verstorbenen Bischofs, in Goethes Faust wurde sie vom Teufel als Pfand akzeptiert und durch einige Wonnen, nicht zuletzt den libidinösen zeitlebens kapitalisiert. Man kann also seine Seele auch verkaufen und dies geschieht dem Volksmund nach viel öfter, als Moral und Sitte gemeinhin erlauben. Die schöne Seele erweist sich mitunter als ein gar unschönes Teufelszeug und ihre teuflische Infektion wurde früh schon als Krankheit der Seele verstanden, gleichgesetzt in der Rede von der Seele der Verdammten.
Verdammnis war der Preis, den die kranke Seele nach dem Tod für die Vergehen im Leben zu zahlen hatte, und wenn man eine leise Vorstellung von den Quälen der Verdammnis und den Tätern und ihren Vergehen bekommen möchte, lese man Dantes Göttliche Komödie. Dort erkennt man leicht, dass die Vergehen, die Schuld im religiösen Sinne, meist von Obrigkeiten und einflussreichen, reichen Bürgern begangen, Vergehen an einer Gemeinschaft waren. Habgier und Macht, in unserem Sinne als Vorstellungen von Reichtum und Macht bestimmt, waren nur zwei der oft komplementär auftretenden Motive in der Literatur jener Zeit, die weit bis in die bürgerliche Epoche der Neuzeit im 21. Jahrhundert hineinreicht. Unterwegs ins 21. Jahrhundert erfuhr die Seele eine Um- bzw. Neudeutung, die sowohl in der Philosophie, den Künsten, vor allem der Literatur und dem Theater, aber auch im alltäglichen Diskurs der Menschen ihre Spuren hinterlassen hat. Schiller noch bezeichnete die schöne Seele als Einklang von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, gleichwohl dieser Einklang kam mehr aufzufinden war. Dieser Einklang, wir sprechen lieber von Komplementarität, weil Sinnlichkeit wie Sittlichkeit erfahrbar, aber das eine auf das andere nicht reduzierbar ist, im Einklang somit stets ein nicht-identisches- ein asymmetrisches Element vorhanden sein muss. Hegel folgte Schiller, zumindest in seinen Jugendschriften, in dieser Vorstellung, und mochte zeitlebens nicht von der lassen, die eine Versöhnung selbst gegensätzlichster Erfahrungen ermöglicht, auch die Überwindung der asymmetrischen Verhältnisse zwischen Herrschaft und Knechtschaft in der Dialektik des Denkens, bei Hegel die absolute Idee.
Nietzsche brüllte es heraus, dass mit der schönen Seele auch Gott getötet worden ist, vom Menschen aus dem Motiv und der Vorstellung des unbedingten Willen zur Macht getötet worden ist. Die Zeit der positiven Dialektik war zu Ende gegangen. Und mit ihr das Andere im Denken, was eben noch die Sittlichkeit hieß und das Andere als solches und den Mitmenschen für sich, die Natur als an-und-für-sich usw. ansprach, genauer gesagt, die Menschen ansprachen. Aus der Ansprache des Menschen durch die Sittlichkeit im Umgang miteinander wurde die Moral, aus Vorstellungs- die Urteilskraft. So gewährt nach Max Horkheimer und der Theorie von einer negativen Dialektik von Theodor W. Adorno die bürgerliche Gesellschaft den Frauen ihre Existenz und ihren Zutritt in die Gesellschaft nur als Existenz und Teilnahmen resp. Teilhabe unter den Bedingungen patriarchaler Strukturen, die Bedingung sind für die Frau als Individuum wie als Weiblichkeit weltweit. Darin kann es keine positive, keine schöne Seele der Frau und des Weiblich geben, die Seelen der Frauen existierten fortan an gebrochene Seelen, gebrochen unter dem Patriarchat, ausgenutzt, wenn nicht ausgebeutet als Objekt der männlichen Begierde, seinem Sexualtrieb, als Mutter, Frau, Erzieherin, als sorgendes Weib, ökonomisch als unbezahlte produktive Arbeitskraft9 usw.
Da lagen sie nun die gebrochenen schönen Seelen auf der Couch des Sigmund Freud und mehr als ausreichend der Literatur kundig sah er in den Augen seiner Patientinnen die zahllosen literarischen Schicksale gebrochener Seelen sich wiederholen. Als gebildeter Bürger sah Freud noch die Verbindung zwischen einer erkrankten Seele und einer literarischen Parallelwelt, als Wissenschaftler suchte er den Grund der seelischen Erkrankung im Einzelfall. Er war auf gewisse Art und Weise selbst zum Opfer einer Episteme geworden, einer Sichtweise auf und eines Diskurses über die Neurosen seiner weiblichen Patientinnen, zu sehr Mann und Wissenschaftler in einer Tradition, die Diskriminierung bedeutete, ging es um Frauen generell, jedenfalls so lange, bis er seinen grundlegende Irrtum selbst bemerkte; das war die Phase vor der Veröffentlichung von Jenseits des Lustprinzips. Freuds Ideologie der Frau hängt zusammen mit dem auf das gesamte wissenschaftliche Denken der Neuzeit Einfluss nehmende Modell von René Descartes, der allem, was nicht vom Menschen ausgeht, eine Seele abgesprochen und in eine seelenlose res extensa verbannt hat. Seit Descartes wurden in der Wissenschaft der Seele die Flügel so sehr gestutzt, dass sie allein noch als eine Funktion des Denkens, der menschlichen Rationalität galt. Die Seele hatte das Fliegen verlernt. Genau genommen hat man ihr das Fliegen verboten und im Falle der Frau in einen goldenen Käfig gesperrt. So verlor sie ihr Wesen, von Blüte zu Blüten zu fliegen, zu bestäuben und ihren Nektar für ihre Spezies daraus zu ziehen. Nun war sie bar jeder res extensa zur res cogitans, zu einem flügelloses seelenlosen Objekt wissenschaftlicher Betrachtung geworden, in der allein der männliche Blick auf die Frau vorherrschte.
Freuds Psychoanalyse war gewissermaßen der Schlussakkord einer Symphonie, in der Orchester, Dirigent und Komponist der Mann war. Das männliche, das patriarchale Prinzip dirigierte nicht nur die Welt nach seiner Vorstellung von Harmonie, unter der die Frau gestellt war, es wurde auch zu einem Prinzip an und für sich für das ganze menschliche Dasein. Mit dem Wissenschaftsbegriff des René Descartes wurde es möglich, alles objektiv zu betrachten. Die res extensa lag nun da vor dem wissenschaftlichen Blick, sie war Objekt, war als Objekt Natur und Mensch ohne Seelen. Natürlich folgte aus der Trennung von Leib und Seele des Menschen die, zahllose Generationen von Philosophiestudenten enervierende Leib-Seele-Problematik, die es nicht gegeben hätte, hätten die empirischen Wissenschaften nicht an dieser Trennung festgehalten. Aber eine noch viel gewichtigere Folge dieser Trennung war, dass die nun zusammengestutzte, zutiefst verletzte Seele als Objekt wiederkehrte, als ein so betrachtetes, völlig gesundes Wesen, dem man seine Verletzungen nicht mehr ansah. Wenn alle Menschen nur noch mit einem Bein und einem Arm herumlaufen, wie soll man da auf ein Wesen mit je zwei Extremitäten schließen?
Also lehrte Zarathustra von den Krüppeln, von Menschen mit nur einem Bein, dem bei zweien die Laster durchgehen. Und wenn man dem Blinden seine Augen gibt, so sieht er zu viele schlimme Dinge auf Erden: also daß er den verflucht, der ihn heilte. Das ist mir aber das Geringste, seit ich unter Menschen bin, daß ich sehe: Diesem fehlt ein Auge und jenem ein Ohr und einem dritten das Bein, und andre gibt es, die verloren die Zunge oder die Nase oder den Kopf10. Ihm, Zarathustra, waren die vielen körperlichen und geistigen Versehrtheiten „das Geringste“, was aber kann noch weit über dem Panoptikum schwerster seelischer und körperlicher Erkrankungen rangieren? Wir antworten einmal mehr mit dem A-privativum der Unversehrtheit, der Unversehrtheit von Körper und Geist, zu der die Seele notwendig wie hinreichend gehört und die nicht mehr existiert. Seelische Unversehrtheit existiert nicht, wir nennen dies später Verleugnung von etwas, was existiert. Mit vollständig hinreichender Notwendigkeit wurde der moderne Mensch Objekt in der Ökonomie. Und dies in zweifacher Hinsicht. Er wurde Objekt in seiner Arbeitskraft und die wurde zum Objekt in der Ökonomik, der Wissenschaft der Ökonomie; so war der Mensch in seinem Dasein zweifach verleugnet. Einmal faktisch und zum zweiten im Diskurs. Betrachtet als Objekt, als Arbeitskraft, war der Mensch in der Ökonomie allen anderen arbeitenden Menschen gleichgemacht und als solcher war er obendrein auch noch gesund. Er hatte zwei Beine, zwei Arme, hörte und sah, was in und für seine Arbeit notwendig war, Verletzungen waren Einschränkungen seiner Arbeits- und Leistungsfähigkeit, sein Tod brachte seinen ökonomischen Wert auf null. Die Natur erlag dem gleichen Schicksalsschlag der wissenschaftlichen Ökonomie, sie verlor ihre Seele und stand nun der ökonomischen Verwertung ausgeliefert gegenüber. So nur noch Ressource für andere war sie an sich selbst nichts mehr und so sieht eine kranke Natur eben aus, wie sie heute aussieht.
Natur und Mensch wurden in der Wissenschaft der Ökonomie zu nebengeordneten Einheiten im homo faber. Das war mehr als nur ein Kategorienfehler, wie Gilbert Ryle11 richtig verstand. Man kann über intellektuelle Erfahrungen nicht sprechen wie über empirische Erfahrung, Mentales und Materielles sind keine getrennten Entitäten und als solche zu betrachten wie empirisches Geschehen und Ereignisse. So falsch verstanden, versucht die empirische Wissenschaft, neben dem Körper den Geist zu suchen, wähnt ihn im Gehirn und sieht ihn dort kunterbunt feuern. Neuronen feuern bis zu 500-mal pro Sekunde, wahrlich ist so der Geist ein wahres Feuerwerk, was für die Empfängerzellen heißt, dass jede Menge postsynaptische Potenziale entstehen und sich aufsummieren; eine gewaltige Summe. Rechnen wir mal 100 Milliarden Nervenzellen und ein Vielfaches davon an Kontaktpunkten pro Mensch und ein Feuerwerk von 30 000 der unterschiedlichsten Raketen und Böller pro Minute, das ist mindestens eine 3 mit 15 Nullen, versuchen Sie sich diese Zahl mal vorzustellen und was passiert, wenn dieses Feuerwerk mit anderen interagiert? Aber wenden wir uns ab von solchen Versuchungen und hin zu der Vorstellung auf die diese Berechnungen letztlich beruhen. Berechnen kann man nur Objekte, selbst Objekte in dynamischen Bewegungsprozessen mittlerweile, aber das Sein ist nicht berechenbar, kommt ja sein Sein in seiner eigenen, autonomen Art und Weise von ihm aus ins Spiel. Das ist das Wesen allen Seins, allein in der Form von Naturgesetzen berechenbar zu sein, Entstehung – Arche – und Ziel und Zweck des Seins – Telos – sind damit noch nicht hinreichend Teil von Berechnungen. Wir behalten, es sind Gesetze, ob solche der Ökonomie oder der Natur, die man berechnen kann und die, weil wir nichts anderes als Gesetzes berechnen können, uns als die Wesenheiten der Objekte erscheinen; das aber sind sie mitnichten.
Wir sprechen dann und notgedrungen von einer zweiten Realität, einer Ontologie ohne Seele. Sie kommt ins Spiel, wenn wir einer intellektuellen Erfahrung eine empirische Existenz zusprechen, wenn wir Ideen, Begriffe und intellektuelle Vorstellungen behandeln, als ob sie in eben der Weise existieren würden wie Begriffe und Vorstellungen innerhalb empirischer Erfahrungen. Nun sind wir inmitten der Debatte über die Identität und die Funktionalität von etwas. Und schwierig wird es, wenn dieses Etwas, dieses Objekt der Mensch ist. Wir haben angesprochen die Folgen, wenn Menschen in ihrer Identität aus ihrer Funktionalität betrachtet werden, wenn Menschen z. B. auf Arbeiter bzw. Arbeitskräfte reduziert werden. Sie wurden und werden bis heute in der Ökonomik, immerhin der weitreichendsten und bedeutendsten materiellen Ebene des Menschseins funktional reduziert und leider hat sich die Ökonomik bislang noch nicht ausreichend in der Debatte um die Struktur (Systemstruktur der Wirtschaft) reduktiver Beschreibungen und Begründungen gekümmert. Formalisiert meint dieser strukturelle Reduktionismus folgendes: Ansgar Beckmann12 verweist darauf, wollte man ein Phänomen X - etwa mentale Zustände wie Glücklichsein, Mitgefühl - auf ein Phänomen Y, etwa Gehirnzustände oder funktionale Zustände zurückführen, so müsse man alle Eigenschaften von X durch die Eigenschaften von Y verständlich machen können. Aber welche Eigenschaften hat ein System, ein neuronaler Prozess etc.? Glück, Schmerz, Leid, alle mentalen Erfahrungen werden von Menschen unterschiedlich erlebt, fühlen sich auf bestimmte Weisen unterschiedlich an, haben individuelle Qualität. Aber auch das Glücklichsein, der Schmerz und das Leid anderer Menschen, der Mitmenschen, werden qualitativ unterschiedlich miterlebt, dann sprechen wir von Mitgefühl, von Empathie. Kein Neurowissenschaftler, keine Neuropsychologe hat jemals Empathie im menschlichen Gehirn gesehen. Was sie sehen ist ein Feuerwerk an bestimmten Stellen; that’s it.
Erlebnisse, Erfahrungen, Selbsterfahrung und die Erfahrung mit und durch andere Menschen können weder in einer neurowissenschaftlichen noch in einer funktionalen Analyse erklärt werden. Reduktive Erklärungen des Mentalen müssen daher zwangsläufig scheitern. Vor die Erfahrung dieses Scheitern haben aber nicht nur die empirischen Wissenschaften, sondern auch die Geisteswissenschaften resp. die Philosophie ein ganze Quantum an Versuchen der Rettung vor dem Fall in die letzte Stufe von Dantes Hölle gesetzt. In den Theorien des Geistes geistern seither alle möglichen Vorstellungen einer neuen schönen, geheilten, einer einheitlichen Welt, ohne Reduktionen der Menschen auf funktionale Systeme umher. Man könnte zahllosen Theorien betrachten wie heilende Gegengiftgaben des Geistes an sich selbst zur Rettung einer gebrochenen, einer zerbrochene Seele. So muten die dualistischen, pluralistischen und vor allem die anti-ontologischen Theorien an wie Formen der Selbstheilung aus tiefster Melancholie und beginnender Depression. In schier Burnout-verdächtiger Menge entstanden in den letzten Jahrzehnten alle die Emergenz Theorien, in denen eine unsichtbare Hand zur Rettung aller Systeme, die biologischen Organismen vor allem, eingreift. Was vorher noch der Mensch in seiner Hände Arbeit, die Politik mit diplomatischem Geschick und der Kaufmann durch Wissen und Erfahrung auf den Märkten mehr oder weniger erfolgreich zu bewerkstelligen wussten, wird nun zur Eigenschaft der Systeme selbst. Emergenz meint eine, aus eigener subsidiärer Dynamik sich entfaltende qualitative Entwicklung, meint das Auftreten qualitativ neuer Eigenschaften, so genannter Systemeigenschaften (emergenter Eigenschaften) bei der Bildung eines Systems. So zeigt dieser Vorstellung nach jede biologische Organisationsebene emergente Eigenschaften, die auf einfacheren Organisationsebenen noch nicht vorhanden waren. War der Mensch vor nicht allzu langer Zeit noch ein Wesen aus Leidenschaft, so existiert er in reduzierter Form im Subsidiaritätsprinzip heute fort. Als Emergenz-psychologische Vorstellung ist der Mensch ein System, das aus einer sich selbst organisierenden Entwicklung von geordneten Strukturen aus Unordnung, aus Chaos entsteht. Systemtheorie hier, Chaostheorie dort, spiegeln den ewigen Riss zwischen res cogitans und res extensa wieder, heute nurmehr bereichert durch die Vorstellung von Phasenübergängen, die wie Marker auf der Entwicklungsgeschichte des Menschen sitzen und deren Qualität messbar machen. Lernentwicklung, soziale, psychologische aber auch die Entwicklung von Fertigkeiten, Kompetenzen wurden so aus einer zweiten zur ersten Realität, ohne die der Mensch im Chaos zurücksinkt.
Anstelle universeller Eigenschaften der Seele sind nun solche der Subsidiarität getreten. Aber verstehen wir das nicht falsch, es existiert hier keine universelle, dort eine subsidiäre Ordnung der Dinge, die subsidiäre ist so vollständig an die Stelle der universellen getreten, hat diese so vollständig verdeckt, dass sie als einzig wahre existent erscheint. Das spricht Patricia Churchland13 offen und ohne Scham aus, dass alles, was es in Wirklichkeit gibt, biologische Prozesse sind; und nennt die Vorstellung auch noch Neurophilosophie. Alles basiert auf Biologie wurde das neue Mantra der Naturwissenschaft vom Menschen, ein biologischer Reduktionismus sonders gleichen, in dem die Episteme der Selle aus der Antike bis heute ihre absolute Grenze gefunden hat. Nichts zählt mehr an alltäglicher Psychologie; weg damit. Nichts zählt dann mehr an Kultur, Literatur, Kunst und nicht-biologischen Diskursen. Und was bekommen wir dafür, wenn wir alles das wegschmeißen, unsere Kultur einfach verbrennen, mal abgesehen davon, dass auch nach der letzten von vielen Bücherverbrennungen vorher die Seele anscheinend doch nicht ganz zerstört worden ist? Das geistige Mahl, zu dem uns die Neurophilosophie – richtigerweise muss sie Neuropsychologie heißen – bittet ist bescheiden; große Teller mit ganz, ganz wenig drauf und äußerst schlecht zubereitet. Das schmeckt der Seele nicht, davon darf ausgegangen werden und da die Selle auch durch den Magen geht, dürfte sie sich bereits mehrfach übergeben haben. Angerichtet hat die Neuropsychologie eine Gericht, bestehend aus Kohlenstoffen in reinster, unverdaulicher Form und Qualität. Kohlenstoffchauvinismus nennt dies deshalb auch nicht ganz zu Unrecht und abschätzig die Kritik an der Vorstellung, dass das menschliche Bewusstsein an die Existenz eines Organs, eines organischen Systems wie das Gehirn gebunden sei.
Was Neuropsychologie mit ihrem Wissenschaftsaxiom aussagt ist aber nichts weiter als eine große Dummheit. Denn der Satz: alles ist Biologie ist in nichts außer in sich selbst begründet, ist somit eine Tautologie und darf deshalb auch als Dummheit bezeichnet werden. Wie dumm muss man werden, um einen solchen Reduktionismus für repräsentativ von allem zu halten? Es gibt Momente im Leben aller Menschen, in denen man die ganze Welt umarmen könnte, nicht nur bei der Ode an die Freiheit. Welcher Neurowissenschaftler ist in der Lage, im Angesicht des neuronalen Feuerwerks im Schädel der Betrachtung Beethovens Ode mitzusingen? Platon schon sah die individuelle Seele mit der Weltseele verschmelzen, den einzelnen Menschen als Teil der Menschheit und des Universums. Trennt man beide folgt einem das Universalien Problem auf dem Fuße. Wie Leib und Seele, so sind Mensch und Menschheit Komplementäre, die die Seele mühelos zu verbinden, zu umarmen vermag.
So steht auch in Analogie dazu die Geschichte von der Liebe in Platons Symposion14. Dort in der berühmten Aristophanes Rede lässt Platon den Komödiendichter vortragen, wie es sich mit dem Eros verhält, zumindest dies sollten auch moderne Theorien im Umkreis der Psychologie bedenken. Wie kann man im 21. Jahrhundert noch die Reduktion der Liebe auf eine rein biologische Funktion vertreten und sich damit der trüben Weltsicht einer fragwürdigen Religion unterwerfen? Aber selbst wenn man dem platonischen Konzept der Liebe, synonym mit der Liebe der Diotima, nicht folgen kann oder will, selbst der Besuch eines Freudenhauses, eine Puffs hat mehr Seele als die biologische Vorstellung von Lust und Leidenschaft.
Umso mehr müssen wir heute zur Kenntnis nehmen, dass die extrem übersteigerten Vorstellung des Kohlenstoffchauvinismus‘ ihren Weg in unsere Zeit gefunden haben und von dort nicht mehr wegzudenken sind. Die Seele ist ausgewandert, selbst noch aus den Kohlenstoff Arealen menschlicher Existenz. Aus den Menschen ist sie ausgewandert, genauer verbannt worden, über eine geheimnisvolle Kraft, die einst Marx und Smith noch als unsichtbare Hand diskutierten, hier die Moral, dort die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, ist sie ins Reich der maschinellen, mechanischen und in System-autonome Vorstellungen verbannt worden, wo Kohlenstoff Moleküle durch Silizium Moleküle ersetzt worden sind. Am besten erkennen wir Spur der Verbannten in der Entwicklung der AI15 (Artificial Intelligenz, KI, Künstliche Intelligenz, synonym verwendet). So sehr dies manchem auch seltsam erklingt, die Informatik sieht sich selbst als eine Verbindung von Ontologie, Softwareentwicklung, und materieller Entwicklung, Hardware. Sie sieht sich in Analogie zur Neuropsychologie als eine vollständige Alternative und bezeichnet diese Alternative als digitalen Funktionalismus. Da Software auf verschiedenen Rechenmaschinen läuft, auf Großrechnern, PCs, Turingmaschinen, Neurocomputern, und diese Maschinen auch in physikalischen und digitalen Netzwerken funktionieren, lässt sich die Arbeitsweise des Gehirns und die Kommunikation zwischen den Menschen nicht nur abbilden, sondern sogar um ein Vielfaches erweitern. Die Extensionen gehen heute über globale Netze, verbinden Funktionen analoger und digitaler Maschinen miteinander, beschleunigen weltweite Prozesse der Kommunikation, wie es sie bislang nicht gab überdies in Echtzeitfunktionen hinein.
Insofern im digitalen Universum Software durch funktionale Zustände, also in Bytes spezifiziert und durch vernetzte Systeme fast unendlich erweiterbar sind, sind digitale Systeme nicht nur wie mentale Systeme funktional abgebildet, im Gegenteil, das menschliche Gehirn gilt fortan nur als eine von unendlich vielen möglichen Realisierung. Mehr noch, in den global vernetzten Rechenmaschinen kann in Echtzeit kommuniziert werden, können Informationen ausgetauscht und verarbeiten werden und können innerhalb von Systemen der KI völlig neue Möglichkeiten eröffnen. So sagt es Daniel Dennett: „Ein bewußter menschlicher Geist ist mehr oder weniger eine seriale virtuelle Maschine, die – ineffizient – an der parallelen Hardware montiert ist, die die Evolution uns geliefert hat.“16
Nun haben wir, ganz im Sinne der Subsidiaritätstheorien, das Maximum an geistiger und materieller Entwicklung erreicht, Hegels absolute Idee seiht sich in der Form der Künstlichen Intelligenz verwirklicht. Und wie bei Hegel verbraucht sie bereits nur noch winzige Ressourcen ihrer materiellen Basis, aber auch die geistigen Tätigkeiten des Menschen, die für die Entwicklung und den Bau der Maschinen noch notwendig sind, werden bereits durch Maschinen ersetzt, und dies besser als durch menschliche Arbeitskraft. Ganz anders als er selbst es vermutet hat, ist die Vorstellung von Ernst Cassirer Wirklichkeit geworden: Eine Vorstellung von der Seele bilde sich erst langsam im Kulturprozess heraus. Damit es dazu kommen könne, müsse der Mensch erst die Trennung von Ich und Welt vollziehen, sich als Ich und Seele begreifen und aus dem Gesamtzusammenhang der Natur herauslösen. Die Vorstellungen von einer Seele als Einheit seien sowohl in der Religion als auch in der Philosophie erst späte Konzepte17. Cassirer hat Recht, ohne die Trennung von Ich und Seele – wir sagen von res cogitans und res extensa – Freud würde sagen von ICH und ES, Bewusstem und Unbewusstem, vom Mensch und Natur gäbe es den Diskurs über die Seele, wir sagen über die verletzte, verleugnete Seele nicht. Dass sie beschädigt ist, können wir im weiteren Verlauf ihrer Episteme erkennen. Ludwig Klages übernimmt den Part, der Seele ein ordentliches Grab zu schaufeln und darauf ein Denkmal zu errichten. So geschunden gerät die Seele in eine Gegnerschaft zum Geist, wie der Titel seines Hauptwerkes: Der Geist als Widersacher der Seele in Erinnerung bringt. Erinnert wird an Nietzsche, der, unermüdlich gegen den Geist aufzumarschieren, auf seinem Schlachtfeld eine sterbende Seele hinterließ, die nun selbst um die Gnade ihres Todes als Erlösung von ihren Qualen bittet. Der Geist der Moderne bringt ein System nach dem anderen in die Welt, aus Wissenschaft und Philosophie gleichermaßen wird das Lebensprinzip attackiert. Starr, statisch und wirklichkeitsfremd sind alle Systeme in der modernen Wissenschaft, auch der des Geistes. Sie errichten den Kerker des Lebens in ihrem grenzenlosen Nihilismus. Die Seele, so Klages in Analogie zu Nietzsches Übermensch hingegen wandle sich beständig und sei fähig, sich in tiefem Erleben der Wirklichkeit hinzugeben. Sie sei vergänglich und solle ihre Vergänglichkeit als „Gebot des Sterbens“ und Voraussetzung allen Lebens bejahen. Die Vorstellung einer unsterblichen Seele sei ein Produkt des lebensfeindlichen Geistes. Dass wir dem ganz fundamental widersprochen haben, dürfte deutlich geworden sein.
Wir gehen nicht dacore mit einer schuldigen, gar sündigen Seele, die aus Uneinsicht, aus zu viel Vernunft selbstverschuldet erkrankt; mea culpa. Wann endete das Zeitalter der Unschuld, müssen wir dann als Frage in den Raum stellen? Wenn zur Seele die Ideen der Grenzenlosigkeit, der Unsterblichkeit, der Unversehrtheit und der Universalität mindestens gehören, dann ist, so paradox es auch klingen mag, die Entwicklung der KI ein schlagender Beweis für deren Existenz sein. Und ein Beweis für eine zutiefst „kranke“ Seele. Wir sagen es mit den Worten von Kaiser Hadrian aber in ganz anderer Absicht:
ANIMULA VAGULA BLANDULAHOSPES COMESQUE CORPORISQUAE NUNC ABIBIS IN LOCAPALLIDULA RIGIDA NUDULANEC UT SOLES DABIS IOCOS.18
Das Buch handelt, wie Titel und Untertitel formulieren, über die Seele und die Krankheit des modernen Menschen. Dabei werden wir den Begriff Krankheit und dessen Bestimmungen nicht im engeren medizinischen Sinne verwenden, sondern in einem kollektiven, kulturellen Sinn, wohlwissend um das dünne Eis, auf das wir uns damit hinauswagen. Wir alle wissen um die Folgen in und an der Natur, die unsere Ökonomie hinterlässt, viele sind irreparabel. So stellt die neueste Studie von den p0lanetaren Grenzen fest, sechs von neuen planetare Grenzwerte sind bereits gerissen, drei werden gerade noch in ihren Grenzen gehalten19. Wir werden im Fortgang dieses Buches auch darauf eingehen, wie wir unseren Planeten in Analogie zu einem Menschen betrachten, wenn wir sagen: Der Erde geht die Puste aus. Sind solche diskursiven Analogieführungen nicht vielleicht selbst schon ein Teil der Krankheitssymptomatik? Und was bedeutet es, wenn wir angesichts der erschütternd katastrophalen Ergebnisse solcher Studien von einem „Weckruf“ sprechen, wo doch eher schon zum Totentanz gerufen sind?
Es sagt sich so schnell dahin: alles Leben ist ein Kampf. Aber so dachte man nicht immer, nicht zu allen Zeiten. Erinnern wir uns. Aristoteles schreibt: Ein Naturding ist ein jedes, welches „in sich selbst einen Anfang von Veränderung und Bestand [hat]“20. Stopp! An dieser Stelle müssen wir sogleich darauf hinweisen, dass, wenn wir von Erinnerung sprechen, es sich bei dem Gegenstand oder dem Inhalt nicht notwendig um eine Person oder ein Ereignis handeln muss. Wir können uns an alles Mögliche erinnern, wenn wir nur wollen und zur Hilfe eine Gedankenstütze, eine Eselsbrücke oder ein Post-it benutzen. Nichts können wir dagegen machen, dass wir etwas vergessen, das entscheiden wir nicht. Es gibt also in uns selbst so etwas wie einen Kampf ums Erinnern und Vergessen; sagen wir das einmal so in analogia. Aber zurück zu Aristoteles. Naturdinge oder die Natur als Ganze trägt ihren Anfang, „αρχή“ (arche – hier als der Anfang, nicht als Ursache) in sich. Das bezieht sich somit auf Veränderungen und insofern jede Veränderung auch Bewegung ist, sind allen Naturdingen eine Dynamis unterlegt, die sie ganz oder teilweise verändert.
So ist es nicht weit entfernt, von der Natur zu sprechen als einen Bereich des Denkens, dem ein inneres Bewegungsprinzip innenwohnt. Und halten wir fest, nach Aristoteles zählen Menschen mit zu den Naturdingen wie Tiere, Pflanzen und die „einfachsten unter den Körpern, wie Erde, Feuer, Luft und Wasser“21 zu den Naturdingen. Nun könnten wir vieles allein nur zu dieser Stelle der „Physik“ anmerken, verschieben dies aber auf später und halten bis hierhin nur folgendes fest: Im aristotelischen „Bewusstsein“, epistemologisch betrachtet, hat sich etwas vollzogen, was bei Platon noch in sich vereint war, in einer ψυχή τοῦ παντός psychḗ tou pantós, einer „Weltseele“ noch als ein einheitliches naturphilosophisches Konzept imponierte. Diese Konzept beruhte auf der Vorstellung einer Analogie, der Analogie zwischen dem Kosmos und jedem einzelnen Lebewesen, speziell jedem Menschen, was schließlich besagt, dass in allen Unterschieden Variationen und Varianten einer einzige Arche, der Weltseele, repräsentiert sind.
Universum oder Makrokosmos sind strukturiert analog zum Menschen, der als ein Mikrokosmos mit allen Lebewesen beseelt ist und diese Seelen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, haben alle ihren Ursprung, ihr bewegendes Prinzip in der Anima mundi.22 Streiten wir also um die Seelen. Bei Platon23 sind die Seelen noch nicht endgültig getrennt. Sie haben, ganz nach der platonische Idee ihr weltliches Analogon wie ein Original zu einer Kopie. Gleichwohl die Weltseele der individuellen Seele transzendent gedacht ist, transzendent insofern allein sie „selbstbewegt“ ist, so denkt dies Aristoteles so schon nicht mehr. Und das hat schon Einiges an Folgen. Waren bei Platon Transzendenz und Immanenz komplementäre Begriffe24, so stehen beide Begriffe bei Aristoteles getrennt zueinander, also in Relation. Nur so können Unterscheidungen bedeutsam werden, sind sie „aufgehoben“ bzw. logisch untergebracht in einem Allgemeinen wie Frau und Mann im Begriff Mensch. So sind Frau und Mann empirisch evident an festgesetzten Eigenschaften zu erkennen, der Begriff Mensch aber ist ein Unviversalbegriff oberster Ordnung, der als ein „Artefakt“ imponiert.
Sprechen wir im Zusammenhang mit dem aristotelischen Denken über Eigenschaften der Natur, mithin über „Naturbeschaffenheit“, dann kommt eben den Naturdingen die Eigenschaft der Naturbeschaffenheit an und für sich zu und steht somit im Gegensatz zu den Artefakten, denen diese Eigenschaft eben nicht an und für sich zukommt. Artefakte nach Aristoteles sind zufällig. Eine Eigenschaft kann einem Gegenstand in mehreren Hinsichten, in unterschiedlichen Ansichten, verschiedenen Ausprägungen zukommen. Einerseits kann die Eigenschaft dem Gegenstand „an und für sich“ (kat anton – hier: gemäß ihm selbst) zukommen. Dann spricht Aristoteles von einem Gegenstand mit Eigenschaften, die ‚selbst als dasjenige, was es wesentlich ist’ zukommen. Derartige Eigenschaften sind substantielle Eigenschaften, legen wir die lateinische Auslegung hier zugrunde. Andererseits kann eine Eigenschaft auf einen Gegenstand „nebenbei zutreffend“ sein (kata symbebekos – hier: was ihm zukommt). In diesen Fällen kommen dem Gegenstand die Eigenschaften „in irgendwie bestimmter Hinsicht zu“. Deshalb sind solche Eigenschaften nach Aristoteles akzidentieller Art.
Wir halten fest. Von dem Moment an, von dem aus wir essenzielle von akzidentiellen Eigenschaften unterscheiden, haben wir alle Eigenschaft in einem einzigen logischen Raum verortet, in einer Immanenz wie wir sagen. Darunter leidet die Seele. Die Weltseele unterscheidet nicht nach Immanenz und Transzendenz und auch nicht nach wesentlich und zufällig. Noch heute gibt es Menschen im Amazonas-Becken, in Afrika, Asien, Indonesien usw. ja selbst in Europa, die sich auf eine intime Art und Weise mit der Natur verbunden fühlen. Jeder Mensch ist verbunden mit jedem Baum, jeder Baum mit den Menschen. Wie anders könnte es Literatur, Theater, Malerei und Musik geben, wäre dies nicht der Fall? Natürlich sind die Beziehungen zwischen Mensch und Natur nicht von einfacher, empirisch positiver Art und auch der Begriff der Empathie reicht nur einigermaßen hinreichend daran. Und doch sind die Naturdinge und die Menschen beseelt. Kinder gehen nicht ohne ihren Teddy ins Bett, können nicht schlafen, ohne den abgegriffenen Stoffhasen, Erwachsene lieben ihr Auto, ihre BMW, Suzuki oder Harley Davidson. Der sogenannte Fetischcharakter der Waren25 ist nicht dasselbe wie Animismus und Weltseele, und die hat auch ihren Anfang nicht in frühkindlicher Erfahrung und Phantasie. Und die Anima mundi hat auch nichts zu tun mit den Archetypen, die der Schweizer Psychiater in den 1930er Jahren entwickelt hat. In seinem Konzept der „Seelenlehre“ beschreiben die Archetypen nicht „Anfänge aller Art“, was Archetypen ja eigentlich sein sollten, sondern universale Urbilder bzw. Urfiguren, die mit entsprechenden Emotionen, Eigenschaften und Zielen verbunden sein sollen. Gäbe es sie, wären die 12 Archetypen nach Jung zufälliger, nicht essenzieller Art, läse man sie mit und gegen Aristoteles, gleichwohl die Etymologie des Begriff mit dem Präfix „arche“ - aus griechisch archē, „Ursprung“ – analog zum aristotelischen Begriff verstanden werden kann.
Urbilder, Ursymbole oder Urformen, von denen ein Anfang im Sinne eines Ursprungs, also eine Bewegung aus sich selbst heraus ausgehen sollen, und da ist sich Aristoteles noch ganz eins mit Platon, werden mehr als schwer zugänglich sein. So haben die alten Griechen auch dafür eine Bezeichnung gefunden, das a privativum bzw. Alpha privativum (lateinisch, „beraubendes Alpha“)26, welches wir heute kennen als „Un“ im Sinne von Unmöglichkeit, Unwahrheit usw. Das a privativum ἀ oder ἀν- an wie in der Bezeichnung „anormal“ erscheint uns heute als ein Negationspräfix und so benutzen wir es auch und versehen es so. Aber Unmöglichkeit ist nicht die Abwesenheit von Möglichkeit, Unfreiheit nicht die Abwesenheit von Freiheit wie die Unwahrheit nicht die der Wahrheit. Wie Apathie nicht erschöpfend verstanden ist in der medizinisch-psychiatrischen Bedeutung von „Teilnahmslosigkeit“, mangelnde Erregbarkeit und Unempfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen, so weisen alle Alpha privativa heute nicht mehr auf ihre anfängliche Bedeutung; die ist transformiert worden. Transformiert wurde das, was Abwesenheit im Sinne einer Transzendenz dereinst bezeichnete zu einer Anwesenheit, eines Noch-nicht im Sinne eines Mangels, eines Weniger-als im Sinne einer Relation etc. Und mit dieser Form der logischen Umkehrung verbunden ist zugleich auch die Wirkungslosigkeit des nun so Bezeichneten. So blieb dies der Mangel z. B. bis Heidegger ihn zum grundlegenden ontologischen Existenzial erklärte und Lacan dies für die Psychoanalyse applizierte; dazu später mehr.
In der griechischen Philosophie waren der und das Andere stets angesprochen, standen in einer Beziehung zu und untereinander. Dies gilt auch mit Einschränkungen für die aristotelische Philosophie. Aber hier verordnen wir eine paradigmatische Transformation, als mehr und mehr Bereiche des Denkens auseinandertreten, um hernach zum besseren, im logisch-wissenschaftlichen Verständnis in Relation gebracht zu werden. So trennen sich in der antiken griechischen Philosophie Polis und Physik. Niemand im antiken Griechenland musste sich Sorgen machen um die Natur, nicht in einem ontologischen, also alle Griechen grundsätzlich betreffenden Sinne. Die Natur hatte ihr eigenes Telos, in dem alle von Natur aus gegebenen Möglichkeiten eingebettet sind und sich aus sich selbst heraus verwirklichten. So es die Natur betrifft, kann etwas sich zwar ändern, kann etwas besser oder schlechter werden, können Stürme aufziehen, die See zum Ungeheuer werden lassen, aber es kann nicht wirklich anders sein. Die Natur ist, was sie ist. Auch die Götter, damals höchst lebendige Artefakte, waren, insofern sie dem Reich der Transzendenz angehörten, so wie sie sind und sogar der Verwandlung in ein anderes Wesen wie Zeus in einen Stier fähig, aber sie waren nie anders, wurden nie zu Menschen. Dass Menschen andere Menschen als Götter anbeten, brauchte schon einen gewaltigen Schritt hinein ins Reich der Artefakte; soviel dazu jetzt.
Als die Natur noch sich selbst genügsam war, ein autonomer Prozess von Veränderung, Dynamis und Entelechie27, konnte konsequenterweise von einem Kampf zwischen Mensch und Natur nicht die Rede sein. Und was nicht zur Rede steht, steht auch nicht im Fokus der Philosophie, auch nicht der Metaphysik. Mit der Teleologie, der Lehre einer Ziel- und Zweckbestimmung, haben bereits lange vor Aristoteles Philosophen wie die der Ionier, von Empedokles, Anaxagoras, Sokrates u.a. auf eine Idee zurückgegriffen, die es ihnen erlaubte, Bewegung, Veränderung, Dynamis aus sich selbst heraus zu begreifen. Ein „jedes Lebewesen trägt Ziel und Zweck in sich selber und entfaltet sich dieser seiner inneren Zielstrebigkeit gemäß,“28 sodass es eine kausale Erklärung für die Entwicklung eines Lebewesens gebe. Nur wenn es sich entsprechend dieser natürlichen, vorbestimmten Veranlagung entfaltet, wird es ihm gelingen, Eudaimonia zu erlangen. Selbstverwirklichung ist also auch die Voraussetzung für ein glückliches, gelingendes Leben. Der Zweck eines Lebewesens besteht folglich darin, „sich im ganzen Umkreis seiner Möglichkeiten zu verwirklichen.“29
So fern uns dies auch erscheinen mag, es ist näher als es uns lieb sein kann. Wenn etwas mit Kausalität vonstattengeht, entlastet das den Menschen fundamental von seinem Wesen als Zoon politikon, also von den Möglichkeiten seiner politischen Handlungsfähigkeit und Verantwortung. Dann ist dies Physis und dem Menschen bleibt im Bereich der Polis, also des politisch Möglichen die Sache des Nous, des Denkens, wenn das Streben der Organismen nicht von außen eingebracht wird, sondern vielmehr in ihnen selbst ihren Ursprung hat und dort verankert ist. So schuldlos und ohne Verantwortung gegenüber aller Physik, ist die aristotelische Begründung dieser spezifischen Zwecklehre schnell zu einer apolitischen Handlungsmaxime geworden, alternativlos sozusagen, die den allgemeinen teleologischen Gedanken zur immanenten Teleologie weiterentwickelt hat. Was also von Natur aus gegeben ist, lässt sich nicht oder nur im Rahmen der Naturding-Bestimmungen, der Naturgesetze, ändern und dies gilt bedingt auch für den Mikrokosmos Mensch.
Natur und Politik bedingen sich als so voneinander getrennte Bereiche und in Beziehung stehende Relationen und sind allein im Bereich des Denkens, des Nous, zu verstehen und bedingt zu ändern. Weil in der antiken Philosophie besonders und spezifisch bei Aristoteles die Physis als vom Menschen und Nous getrennte und deshalb stabile Ordnung vorausgesetzt ist, kann Politik auch als Fortsetzung der grundlegenden Zwecksetzung der Natur betrachtet werden. Das tuen heute die empirischen Wissenschaften, die die facta bruta im empirisch positiven Realismus ihrer Methodenwissenschaften repräsentieren wollen. Alles darin ist in einem natürlichen Telos eingebettet und es kommt darauf an, die von Natur aus gegebenen Möglichkeiten selbstständig zu verwirklichen. Etwas kann besser oder schlechter sein, aber nicht wirklich anders; dieses Andere, das kennen die Antiken nach Platons Ideenlehre nicht mehr. Und wenn vieles, was von Natur aus gegeben ist, sich ändern (dynamis), aber niemals völlig anders sein kann wie die platonischen Ideen, werde diese zum ersten Opfer der naturwissenschaftlichen Frage nach der Wahrheit. Kultur und Techne sind Ausfaltungen einer vorgegebenen Ordnung, zu der sie im Verhältnis der Mimesis von Mikro- zu Makrokosmos stehen.
Halten wir fest: Betrachten wir die Natur als einen abgetrennten Bereich im Sinne der Physik von der Polis, dann entziehen wir dem Denken das Bewusstsein politischer Verantwortung in einem nicht moralischen oder ethischen, aber in einem grundsätzlichen, in einem epistemologischen Sinn. Betrachten wir verschränkte und komplexe Prozesse aus einem teleologischen Blickwinkel, dann finden wir auch unvermittelt Sequenzen, also Prozesse in einer Reihenfolge, sei es in der Natur, sei es in der Didaktik oder der Rhetorik. Ja, die Sequenzierung wird ebenso unvermittelt zu einer eigenen Sinnhaftigkeit, gibt sie uns ja empirisch und geistig nachvollziehbare Abläufe. Jahreszeiten, Wachstum und Vergehen in der Natur, die sinnvolle Vermittlung von Informationen, unsere Kommunikation, buchstäblich alles lässt sich nun in nachvollziehbaren, geordneten Vorgängen und in Graden von Wichtigkeit bzw. Gewichtungen innerhalb eines Prozesses verstehen und abbilden. Damit werden Prozesse, wird Energeia zu einer geordneten Dynamis30 und damit kalkulierbar, planbar und übertragbar. Übertragen wird diese Denkformation nun auf alles, was es gibt, insofern es Energeia und Dynamis repräsentiert und dies kann insgesamt als Ontologie formuliert werden. Sind einmal Prozesse sequenziert, in Reihenfolgen von Handlungsabläufen nacheinander, mithin somit in Zeitabfolgen unterteilt, bilden alle Prozesse eigene Ontologien und lassen sich alle möglichen Prozesse vom Menschen, später Maschinen steuern; die Grundlagen der Kybernetik sind gelegt.
Mehr noch als dies sind Prozesse fortan nicht nur plan- und steuer- und übertragbar, sie tragen in sich ein Feedback. Dieses Feedback ist die Messung bzw. Festlegung und Bestimmung von Zielen und Unterzielen und dieses Wissen um die Erreichbarkeit von Zielen oder Prozessabschnitten trägt den Triumpf, der in jeder Teleologie gleich mitgegeben ist. Der Sieg oder Teilsieg in einer Schlacht oder einem Krieg wird so zum Triumpf militärischer Strategie und Taktik. Lernstoff in einzelnen Lernschritten zu unterteilen lässt nicht nur die Didaktik sinnvoll erscheinen, sondern das eigene pädagogische Tun als Erfolg im anderen erscheinen. Die Reproduktion der Gesellschaft durch Arbeit fand bereits bei den antiken Griechen ausgebreitete Formen präziser Arbeitsteilung; nicht alles an Wohlstandsgewinnen gelang ihnen durch Krieg und Raub.
Das Rätsel von Mensch und Natur
Der Triumpf, etwas zu erreichen durch Planung und Steuerung erwuchs als ein kultureller Prozess. Die Natur, der Umgang des Menschen mit der Natur war darin kein Thema. Die antiken Griechen haben mit Aristoteles die „ordo universalis“ der platonischen Ideenlehre verlassen, haben sie zu einer „balance of power“ transformiert. Wir haben beschrieben, auf welcher Basis wir von einer Trennung zwischen Mensch und Natur sprechen dürfen und welche Folgen es hat, aus dieser Trennung heraus Mensch (Polis) und Natur (Physis) zu denken. Wir haben uns in Grundzügen den Bedingungen der Entpolitisierung des Menschen in der Immanenz seiner gesellschaftlichen Politisierung gewidmet und dabei gezeigt, dass zeitgleich mit der Entstehung der Polis im antiken Griechenland eine Denkrichtung sich ausgebreitet hat, die den Menschen in ontologischer Hinsicht ausschließlich betrachtet als denkendes Wesen, weniger als autonom handelndes, als politisches Wesen. Man sehe nur auf die Aussagen und Ausführungen der großen Philosophen zur Politik und werde ein kleines Lächeln nicht los. War das wirklich von ernsthaftem Umgang, wenn Philosophen zu „Königen“ Politik bestimmend aufgerufen werden? Oder wenn unter allen „Voll-Bürgern“ Athens31 jeder einmal die Politik mitbestimmen sollte und dies per Losglück entschieden werden sollte?
Nun ja, der Philosophie Sache war es nie, Prozesse ins Detail vorzustellen, aber dass diese Jahrtausend-Idee von der politischen Kontrolle der Macht dann in ihrer Umsetzungsvorstellung so dürftig, ja geradezu oberflächlich nur gelungen ist, lässt Gedanken aufkommen. Zuerst natürlich den, ob es denn tatsächlich ernst gemeint war mit der Demokratie. Sie fristete dann auch ein klägliches Dasein bis zur Epoche der Aufklärung, und das waren immerhin fast zweitausend Jahre in Kontinentaleuropa, lassen wir einmal die Zeit der „ersten Aufklärung“ im Süden Europa, in Al Andalus im Süden Spaniens durch die Mauren beiseite. Und es sei uns erlaubt, hier anzumerken, dass der Zustand der parlamentarischen Demokratie auch heute noch in mancherlei Hinsicht prekär erscheint, manchmal geradezu in einem zu belächelnden Zustand, ziehen wir Kriterien wie politisch-fachliche Entscheidungskompetenz, politische Kommunikationsfähigkeit und Weitsicht heran.
Gleichwohl; die epistemologischen Erfolge waren derart groß und vielfältig, dass nach etwa zwei Jahrtausenden etwa in Europa eine Renaissance dieses Denkens einsetzte, dessen Erfolge bis heute zählbar sind. Sie durchdringen unser Leben und Denken nach wie vor wie alternativlose Deckerinnerungen und starke Affirmationen, die ein anderes Denken und ein anderes Handeln kaum vorstellbar sein lassen; dies gilt fortan auch für unser modernes Denken, wenn von Ökologie die Rede ist. Aber halten wir hier ein und fokussieren wir ein zweites Element neben der Epistemologie, welches unbedingt notwendig ist für die Beschreibung wie die Erklärung des aktuellen Zustands, in dem Mensch und Natur sich befinden: die Bevölkerungsentwicklung. Die Bevölkerungsentwicklung war, wenn überhaupt eins, ein Randthema innerhalb der Philosophie, obwohl deren schmallippige Behandlung spätestens im 19. Jahrhundert hätte enden müssen.
Lebten im Jahr 500 v. Chr. nach aktuellen Schätzungen32 etwa 150 Mio. Menschen auf der Erde, so waren es im Jahr Null nicht mehr als 200 Millionen. In den Zeiten der griechischen Hochkultur war die Erde weder großartig bevölkert, noch gab es eine Notwendigkeit, die Erde als den Lebensraum des Menschen besonders ins begriffliche Denken zu setzen. Weder Metaphysik noch Ontologie waren angehalten, sich Gedanken darüber zu machen. Beachten wir bei diesem Phänomen der Entwicklung der Weltbevölkerung nicht nur, dass statistische Aussagen überhaupt erst notwendig werden, wenn genügen Nachfrage nach statistischen Daten vorliegen, sondern wenn sich Fragen aufdrängen. Wir erkennen, es gibt Fragen die anthropozentrisch sich stellen, also vom Menschen als Fragenden ausgehen, oder die universal sind, also von solchen Bedingungen ausgehen, in die der Mensch mit seinen Frage gestellt ist. Solche universellen Fragen, und das macht die Sache so unglaublich schwierig, sind natürlich auch Fragen, die der Mensch stellt und die wir aus der Philosophiegeschichte als die sogenannten „Quidditas-Fragen, Was-ist-Fragen“ kennen, etwa: was ist der Mensch? Solche Quidditas-Fragen sind in der Philosophie sogenannte „Letzt-Fragen“, Fragen nach Ursprüngen, Letztbegründungen, wie wir sie auch aus der Physik kennen, wenn diese sich die Frage nach dem Ursprung des Universums stellt.
Wir wollen nicht wiederholen was wir andernorts ausgiebig behandelt haben, nur so viel; Der Begriff der Natur als ein holistischer, ein universeller Begriff umfasst wesentlich mehr als den spezifischen Lebensraum von Völkern oder Staaten einerseits, wie andererseits auch mehr als die Polis, also die Mitglieder, Ein- oder Bewohner eines Rechtsgebildes wie Staat oder Nation. Mensch und Erde stehen zudem als komplementäre Begriffe zueinander, aber das mussten die antiken Griechen nicht bedenken. Wenn mehr als zweitausend Jahre später Heidegger den Begriff Erde als einen ontologischen Begriff, also wesensmäßig zum Dasein eines jeden Menschen eingeführt bzw. stärker als vorher bei allen anderen Philosophen gewichtet hat, dann hat das ganz wesentlich mit dem Bevölkerungswachstum im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu tun. Dass also die Erde und mit diesem Begriff die Natur in ihren ökologischen Bestimmungen aufkommen konnte, ist ganz zentral dem zu verdanken, was seitdem als „Bevölkerungsexplosion“ statistisch messbar wurde. Der kontinuierlich langsame der Bevölkerung, der bis weit ins Mittelalter in Europa stetig verlief, zeigt eine erste Dynamik Mitte des 19. Jahrhunderts, um ab dann exponentiell anzusteigen. Lebten um 1850 n. Chr. etwa 1,3 Mrd. Menschen auf der Erde, so waren es knapp einhundertfünfzig Jahre später bereits über 6 Mrd. Menschen und heute zählen wir etwa 8 Mrd. Menschen und erwarten in weniger als dreißig Jahren 10 Mrd. Menschen auf unserem Planeten.
Wir halten fest: epistemologisch war die Frage: was ist der Mensch? unlösbar verbunden mit dem Begriff Natur bzw. Erde, die nicht anders außer als große Projektion des menschlichen Verstandes im Kosmos bzw. in der Kosmologie zur Zeit der griechischen Antike vorgestellt wurde. Der Kosmos aber war weit weg von der Erde und es gab keine andere Notwendigkeit als die Quidditas, sich Gedanken darüber zu machen. Es gab die Erde nicht als Mangel. Feldzüge, See- und Landhandel waren Triumpfe oder Niederlagen, im Falle von Triumpfen und Handelsbeziehungen subsistenzielle wie kulturelle Erweiterungen des Daseins eines großen Teils der griechischen Bevölkerung; außer den Sklaven und Sklavinnen, die nicht daran partizipierten – die griechischen Frauen partizipierten lediglich indirekt. Es gab keinen Begriff von Ressourcen, weil die Erde als Lebensraum, in Heideggers Wort "zuhanden“ war. Wenngleich Heidegger dies so nicht unterschreiben würde, hat er das „Zuhandensein“ doch in einen anderen Kontext gestellt, möchten wir dieser Bestimmung doch weiter folgen und das Zuhandensein als eine Form der Subsistenzsicherung im Umgang mit der Erde und ihren Ressourcen festhalten; der „Oikos“33 gibt uns dafür den geeigneten Begriff und die Vorstellung.
Aber wir müssen bei der Bestimmung des Begriffs Erde noch ein wenig weiter gehen, denn die Erde als solche bringt uns auf falsche Gedanken. Zur Zeit der antiken Griechen wurde die Erde sozusagen als solche erfahren im Zusammenhang mit Feldzügen, mit See- und Landhandel und über Entdecker- wie Seefahrtsmythen. Waren kamen von weit her nach Athen, Kultur und Bedrohungen durch fremde Reiche wie das Perserreich usw. auch. Homer und die Werke der bedeutendsten Geschichtsschreiber, die uns heute noch bekannt sind wie etwa die von Herodot, Thukydides, Polybios, Titus Livius, Tacitus, Ammianus, Prokopios usw. waren damals weit mehr als Schriften von hoher künstlerischer Qualität und so waren dies auch die nach Feldzügen und Handelsverkehren importierten Geschichtsdokumentationen altorientalischer Völker wie die der Perser, Babylonier, Ägypter und Assyrer. Wir notieren daher, die Erde war, epistemologisch betrachtet, kein besonderer Ort, sondern eine begriffliche Versammlung der Überschreitung und Erweiterung der eigenen Grenzen, kultureller, subsistenzieller und militärischer Art. Die großen Herrscher und Heerführer damals waren im politischen Sinne Despoten und Tyrannen, im sozialen und kulturellen Sinne Gewaltverbrecher und dies assoziiert bis heute im Kern mit den faschistischen bis autoritären, umfassend patriarchalen Formen der Macht34; man sehe sich nur die Gesichter der modernen Despoten an, angefangen von der zum Platzen geblähten Blödheit des italienischen Duce und des deutschen Führer, von donald t., Puhdn und dem Chinesen, dem anglisierten Nordkoreaner, der ersten Reihe der deutschen AFD, allen voran die Nazischnauze Höcke, Front National, Lega Nord, die Identitären und Huzzelfaschisten von der Straße usw. Der unbedingte Wille zur Macht, der in dem politischen Führungsprinzip auf der ganzen Welt zu erkennen ist, hat weder etwas mit Schönheit noch mit Wahrheit, also Geist zu tun und wir finden, das sieht man. Aber kommen wir zurück von den Hackfressen, bei deren Anblick man unweigerlich sich übergeben muss, zu den Überlegungen, die damals wie heute strukturell noch gemeinsamen Bestand haben.
Handel und kultureller Austausch entwickelten sich parallel, bildeten gleichermaßen komplementäre Paralleluniversen. Die Menschen der Antike sorgten sich nicht um die Natur und auch nicht in ihrem Sein in der Natur; und, bitte, sprechen wir nicht von Menschen, die im Einklang mit der Natur lebten, dies war damals und ist heute blanker Blödsinn. Sorge war das nicht, was Dürren vor allem begleitete, an denen ganze Reiche in der Antike zerbrachen. Wir haben verstanden, die Menschen sorgten sich um das Denken und entdeckten darin die Sorge als Dauerzustand dessen A-privativums, das Nicht- und das Unwissen über Katastrophen. Und sie sorgten sich um die Beendigung der Tyrannis und entdeckten dabei die Möglichkeiten der Kontrolle der Macht durch die Menschen selbst, die Demokratie. Es ist daher falsch davon zu sprechen, der Mensch hätte bereits damals im Kampf mit der Natur gestanden wie es richtig ist, dass der Mensch durch Nachdenken in die Konfrontation mit der Macht trat. Im aristotelischen Denken war kein Raum für eine komplexe Verzahnung von Mensch und Natur. Sein Begriffsrepertoire war geprägt durch Entitäten wie Mensch, Tier, Materie, feingliedrig ausdifferenziert und in der Logik fallweise zusammengebracht und so reproduzierbar gemacht; aber mit der, später zur Dialektik erhobenen Disziplin der vielfältigen Synthesis, der mimetischen Betrachtung von Mikro- und Makrokosmos konfrontiert, verlor die Natur die Beachtung.
Es war mitunter auch entlastend zu wissen, die Natur macht, was sie will und alles ohne den Menschen. Wie es bereits vor Aristoteles um das Denken und den Willen der Menschen mehr ging als um die Natur, wurde die Natur sukzessive in den Hintergrund des Denkens gestellt, im politischen Willen war sie gar nicht vorhanden, gleichsam inexistent. Da war weder Ignoranz noch Hybris, man kannte damals die Gesetze der Natur schlicht nicht. Und die in mathematische Formeln transformierte Phänomenologie der Natur, wie dies Pythagoras z. B. bewerkstelligte35