Arzt mit Herz und Seele - Dietrich Grönemeyer - E-Book

Arzt mit Herz und Seele E-Book

Dietrich Grönemeyer

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Beschreibung

Leben ist mehr als Dasein: Was dem leidenschaftlichen Arzt Dietrich Grönemeyer am Herzen liegt. Dietrich Grönemeyer: Ein Pionier der High-Tech-Medizin und ein Verfechter klassischer Heilkunst, ein unermüdlicher Gesundheitsaufklärer, ein Grenzgänger zwischen den Disziplinen und ein gesuchter Ratgeber der Politik. Dieser Band mit bislang unbekannten Texten, mit polemischen Zwischenrufen, gesundheitspolitischen Entwürfen, neuen Ideen, Fragen nach dem Menschsein und einfühlsamen Betrachtungen zur Lebenskunst und Medizin, mit kulturhistorischen Rückblicken und mit Gedichten lädt zur persönlichen Begegnung mit Dietrich Grönemeyer ein. Ergänzt um ein Gespräch zu seinem Werdegang, entwirft dieses Lesebuch, ausgestattet mit zahlreichen eigenen Fotos und originellen Rezepten, das vielschichtige Bild eines ebenso streitbaren wie menschlich engagierten Humanisten: eines Arztes mit Herz und Seele.

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Seitenzahl: 227

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Dietrich Grönemeyer

Arzt mit Herz und Seele

Ein persönliches Lesebuch

Fischer e-books

Wer keinen Mut hat zum Träumen,

kann nichts Neues bewegen …

Dietrich Grönemeyer

SprachEntwirrung

Sollte Gott

nur Hebräisch reden,

kein Muslim würde ihn verstehen.

Sollte Gott

nur Arabisch reden,

kein Jude würde ihn begreifen.

Sollte Gott

nur Latein sprechen,

die meisten Christen wären hilflos.

Sollte Gott

nur Hindi sprechen,

keine Maus würde ihm lauschen.

Sollte Gott

nur zwitschern oder bellen,

jede Palme würde mitleidig den Kopf schütteln.

Sollte Gott

nur mit den Blättern rascheln,

kein Mensch und niemand würden reagieren.

Seit Zeiten schon grübelt Gott

mit Moses und Mohammed,

mit Buddha, Krishna

und Jesus zusammen,

welche Übersetzung seiner Worte

nun die verständlichste

für die Menschen sei.

Denn Tiere und Pflanzen

verstehen ihn bereits bestens.

2006

Arzt mit Herz, Seele und Leidenschaft

Ein Gespräch mit Dietrich Grönemeyer

Dietrich Grönemeyer zählt ganz sicher zu den bekanntesten Ärzten des Landes, – so eine Art »Hausarzt der Nation«. Man kennt ihn aus dem Fernsehen, seine öffentlichen Auftritte begeistern Kinder wie Erwachsene. Er selbst hat mit der Einführung der Mikrotherapie die medizinische Entwicklung entscheidend vorangetrieben, Operationsverfahren revolutioniert. Als Publizist scheut er sich nicht, den Reformeifer der Gesundheitspolitiker kritisch zu beleuchten. Zugleich auch Unternehmer hat er die Begriffe »Gesundheitswirtschaft« und »med. in Germany« als Gütesiegel deutscher Medizin geprägt. Mit dem »kleinen Medicus« ist es dem Bestseller-Autor Dietrich Grönemeyer gelungen, eine literarische Figur zu erschaffen, der unterdessen viele Kinder ihre medizinische Aufklärung verdanken. Sogar mit einem eigenen Gesundheits-Musical konnte er Aufsehen erregen.

 

Frage

Versuch einer Annäherung an das »Phänomen« Dietrich Grönemeyer: Da ist der Arzt, der Wissenschaftler und Unternehmer – da gibt es den Buchautor, Gesundheitspolitiker und nicht zuletzt den Entertainer Dietrich Grönemeyer. Wer oder was sind Sie vor allem und zuerst?

 

Antwort

So habe ich mir diese Frage noch nie gestellt. Ganz spontan kann ich nur sagen, dass ich Arzt bin, und zwar mit großer Leidenschaft, sozusagen mit Herz und Seele. Alles andere ergibt sich daraus. Als Arzt habe ich es ja immer mit dem ganzen Menschen zu tun, mit Körper, Geist und Seele. Eine Tatsache, der wir uns, Ärzte wie Patienten, heute leider nicht mehr so bewusst sind wie unsere Vorfahren. Denken Sie nur an Paracelsus, der einmal gesagt hat: Jeder Mensch ist sein eigener Arzt, und die Mediziner können ihm nur dabei helfen, dies so gut wie möglich zu sein. Mit anderen Worten, Arzt und Patient sollten sich auf Augenhöhe begegnen. Der Patient muss medizinisch so aufgeklärt sein, dass er selbst Verantwortung für seine Gesundheit übernehmen kann. Dafür haben auch die Ärzte Sorge zu tragen. Dem muss die Gesellschaft, müssen Politik, Bildungssystem und Gesundheitswirtschaft entsprechen, indem sie die Voraussetzungen dafür schaffen. Aber was tun wir? Wir erwarten alle Heilung von den Ärzten, den Halbgöttern in Weiß, als ob der menschliche Körper eine Maschine wäre, deren Aggregate wie die Komponenten eines Autos je nach Bedarf von diesem oder jenem Spezialisten repariert werden können. Dieser Irrglaube ist die Kehrseite eines Fortschritts und einer High-Tech-Medizin, deren Erfolge gar nicht genug zu schätzen sind, die uns aber auch verführt hat, die ganzheitliche Betrachtung des Menschen zu vernachlässigen. Genau darauf kommt es mir aber an. Die Medizin oder, wie man früher sagte, die Heilkunst ist eines unserer ältesten Kulturgüter. Und sie verlangt, denke ich, mehr vom Arzt als die perfekte Beherrschung alter oder auch neuester Medikamente, Operationsmethoden oder technisch basierter Heilverfahren.

 

Frage

Bitte noch etwas genauer: Was bedeutet dieses ärztliche Selbstverständnis für Sie?

 

Antwort

Mit allem, was ich tue – als behandelnder Arzt, als Rückenspezialist sowie als Radiologe, als Wissenschaftler, aber auch als Autor aufklärender Bücher, als Vortragender an Schulen und Kinderuniversitäten, als gelegentlicher Kritiker der Gesundheitspolitik sowie als Fürsprecher eines wirtschaftlich effizient organisierten Gesundheitswesens –, mit allem will ich helfen, Voraussetzungen für ein gesundes und zufriedenes Leben zu schaffen. Wunder kann ohnehin niemand bewirken, auch nicht in der Medizin. Ein Halbgott in Weiß wollte ich nie sein. Weiße Kittel trägt an meinem Institut niemand, die haben mir schon als Kind Angst gemacht. Wobei ich im übrigen natürlich auch Kollegen im weißen Kittel schätze. Ein weißer Kittel schließt ja nicht Menschlichkeit aus, genauso wenig wie der Einsatz von Technik, aber dieser Verzicht auf weiße Kittel gehört eben auch zu meinem persönlichen medizinischen Stil.

 

Frage

Sie sehen den eigenen Berufsstand bekanntlich außerordentlich kritisch. Warum aber sind Sie persönlich eigentlich Arzt geworden?

 

Antwort

Als Kind litt ich häufig an Halsschmerzen, Bronchitis oder einer Mittelohrentzündung. Ich erinnere mich noch genau an die schmerzhaften Besuche beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt, genauso wie an die Blutabnahmen mit stumpfen Kanülen. Das alles meist ohne ein freundliches oder beruhigendes Wort. Diese Arztbesuche – auch das Röntgen in dunklen Räumen – wirkten traumatisierend. Bis dann nach einer Mandeloperation und einem Eingriff an der Nasenscheidewand die Entscheidung feststand. Das war während meiner Bundeswehrzeit bei einer Nachsorgeuntersuchung, einer überaus schmerzvollen Nasenspiegelung. Bis heute ist mir die Situation gegenwärtig. Plötzlich spürte ich: Du wirst Arzt. Denn es muss doch möglich sein, sehr viele Behandlungen einfacher und sanfter durchzuführen, ohne dass der Patient Angst vor der Prozedur und den Ärzten bekommt. Ich wollte mich einfach nicht mit dem abfinden, was mir solche Furcht einflößte. Die Dinge hinzunehmen war schon damals nicht meine Sache. Das Erschrecken vor den Spritzen verlor sich dann allerdings erst später, als ich Medizin studierte und in einem Krankenhaus hospitierte. Dort lernte ich von einer koreanischen Krankenschwester, wie man schmerzfrei Blut abnehmen oder Spritzen geben kann. Der Respekt vor der Unversehrtheit des Körpers, der vorsichtige und behutsame Umgang mit den medizinischen Instrumenten sowie das Bewusstsein, dass jeder Patient genau wie ich damals in großer Angst sein könnte, sind mir seit dieser Zeit geblieben. Auch der Grundgedanke der chinesischen Medizin, den Menschen als eine Einheit von Körper, Seele und Geist zu verstehen, hat sich bei mir verfestigt. Immer abwegiger erscheint mir dagegen das ausgeprägt organbezoge Denken unserer westlichen Schulmedizin. Deshalb wollte ich mir zunächst auch ein möglichst breites Wissen aneignen, um einmal praktischer Arzt zu werden.

 

Frage

Hört sich im Rückblick recht zielstrebig an. Aber gab es nie andere Berufswünsche?

 

Antwort

Nun, ganz so stringent und zielgerichtet, wie es rückschauend erscheint, ist mein Berufsweg nicht verlaufen. Auch bei mir gab es ein Suchen, das über Umwege führte. Als ich den Entschluss fasste, Arzt zu werden, war ich immerhin schon Anfang Zwanzig.

 

Frage

Und früher – doch der klassische Jungenstraum: Lokführer oder Pilot?

 

Antwort

Das kann ich heute gar nicht mehr sagen, vielleicht wollte ich irgendwann für ein paar Monate sogar einmal Pilot werden. Ich fliege heute noch für mein Leben gern. Auf jeden Fall hat mich die Technik von klein auf fasziniert. Ich war wohl das, was man einen begeisterten Bastler nennt, kleine Geräte, bis hin zum Motorrad, alles interessierte mich. Einen Werkzeugkasten hatte ich schon als kleiner Junge, Tischler oder Boots- bzw. Flugzeugbauer wollte ich werden. Später hatte ich eher die Vorstellung, Pfarrer zu werden, so mit 13 Jahren. Das faszinierte mich, ich las gern über verschiedene Religionen und Kulturen und schrieb darüber schon als Redakteur in der Schülerzeitung unseres humanistischen Gymnasiums. Einmal konnte ich sogar Manfred Eigen, den Nobelpreisträger für Chemie, interviewen. Die Aufzeichnungen habe ich neulich erst wieder gefunden. Eigen stammt ja auch aus Bochum und war auf dasselbe Gymnasium gegangen. Heute lese ich mit Erstaunen, worüber wir – der berühmte Professor und ich, der 15-jährige aus der Obertertia – seinerzeit sprachen. Ich hatte den Forscher unter anderem nach der Bedeutung des selbständigen Denkens und Arbeitens der Schüler im Unterricht gefragt. Und er hatte sinngemäß geantwortet, dass die Lehrer viel zu sehr im Mittelpunkt stünden. Die Schüler sollten eigenständiger arbeiten und den Unterricht frei gestalten können, der Lehrer nur kritisierend eingreifen, wenn etwas völlig schief laufe. Auch von der üblichen Benotung schien er so viel nicht zu halten. Wichtiger als sie seien das Engagement und die Begeisterungsfähigkeit der Schüler. Wenigstens habe ich es mir so notiert. Das gefiel uns, schließlich war es die Zeit des achtundsechziger Aufbegehrens.

 

Frage

Es scheint, schon damals haben Sie Feuer gefangen?

 

Antwort

Ja. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Als ich einmal gefragt wurde, was mein größter Vorzug sei, fiel mir zuerst meine Begeisterungsfähigkeit ein. Obwohl sie mich manchmal zu vorschnellen Entscheidungen verführt hat und die Ursache mancher Fehlentscheidungen gewesen ist, ist diese Begeisterungsfähigkeit doch zugleich der Kraftquell meines Lebens.

 

Frage

Wie stand’s denn um den Schüler Dietrich Grönemeyer?

 

Antwort

Es gab verschiedene Phasen. Prinzipiell interessierte mich mehr alles außerhalb des normalen Unterrichts. Beim Wettbewerb »Jugend forscht« habe ich mich sehr früh beteiligt, auch an Schreibwettbewerben. Ich erinnere mich noch sehr genau an meine Arbeit über die »Alte Bundesstraße B1 zwischen Aachen und Königsberg«, die mich einfach fesselte. Wenn der Unterricht zu langweilig, zu formell war, verlor ich schnell Interesse und Konzentration. Im Prinzip war ich ein Zappelphilipp, ständig hab ich mit dem Stuhl gekippelt, was damals als ein Vergehen galt. Viel lieber wäre ich während der Stunde herumgelaufen als stillzusitzen. Heute weiß man, dass Kinder mehr Bewegung und Training des Gleichgewichtssinns izu Hause und auch im Unterricht brauchen, wenn sie etwas leisten, also besser lernen sollen und wollen. Seit Jahren engagiere ich mich – inzwischen auch mit der Unterstützung einiger Krankenkassen – für die »bewegte Schule«. Eine Stunde Sport für jedes Kind an jeder Schule. Täglich! Ebenfalls gemeinsames Singen, so meine Forderung. Sport, Musik und Sprachen waren immer meine Lieblingsfächer.

 

Frage

Wie sind Ihre Eltern damit umgegangen? Immerhin forderten Eltern damals noch eine ganz andere Art von Autorität ein, beanspruchten das entscheidende Mitspracherecht bei der Berufswahl ihrer Kinder. Wie haben Elternhaus und Familie Ihren Lebensweg geprägt – positiv wie negativ?

 

Antwort

Erstens wurde ich christlich erzogen. Der Besuch des Gottesdienstes am Sonntag gehörte zum familiären Ritual. Das war eine geistige, kulturelle und auch emotionale Erfahrung, für die ich meinen Eltern dankbar bin. Auch meine Freude am Singen kommt von daher. Wenn ich von Gemeinden dazu eingeladen werde, gehe ich heute selbst immer wieder mal auf die Kanzel, wie in der Kreuzkirche in Bonn. Gerade in unserer modernen Welt, wo wir in der Gefahr sind, uns vom naturwissenschaftlichen Fortschritt zu mancherlei Allmachtphantasien verführen zu lassen, haben wir als Ärzte allen Grund, uns in einer gewissen Demut dem Leben gegenüber zu üben. Und die Religionen, gleich welche, spielen dabei eine große Rolle. Der zweite Punkt, der mir wichtig erscheint, ist die Sportbegeisterung. Auch die habe ich sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Schwimmen, Turnen, Leichtathletik: für alles war und bin ich zu haben. Sport, erst recht Fußball, spielte in unserer Familie eine große Rolle. Mein Vater hatte im Krieg einen Arm verloren und war dennoch oder vielleicht gerade deshalb immer sehr sportlich. Die vielen Fußballturniere, die wir vor allem in den Ferien gemeinsam erlebt haben, sind mir unvergesslich. Auch meine Mutter war damals noch sehr sportlich. Oft hat sie uns erzählt, wie sie als Kind auf den Händen durchs Klassenzimmer gelaufen ist. Im Urlaub, am Strand, konnte sie uns das vormachen. Das waren prägende Eindrücke. Und ich weiß nicht, ob ich ohne diese geistige und körperliche Erziehung später den Weg zur ganzheitlichen Medizin gefunden hätte. Trotz allem aber bin ich – und das ist der dritte Punkt, wenn es um den Einfluss meiner Eltern geht – am Ende nicht das geworden, was ich nach den Wünschen meines Vaters hätte werden sollen.

 

Frage

Was wäre das gewesen?

 

Antwort

Obwohl ich 1952 in Clausthal-Zellerfeld geboren wurde, lebten wir seit meiner Kindheit im Ruhrgebiet, in Bochum. Mein Vater war Bergbau-Ingenieur. Mit diesem Beruf und dem Milieu fühlte er sich stark verbunden. Nichts lag für ihn näher, als dass der Sohn, noch dazu der älteste von drei Brüdern, in seine Fußstapfen treten würde. Als ich mit sechzehn die Schule verlassen wollte, um Bootsbauer zu werden, und mir sogar schon einen Ausbildungsplatz besorgt hatte, hat er das verhindert. Ich sollte nach dem Abitur etwas Technisches studieren, um eine Karriere im Bergbau zu machen. Das wollte ich bei aller emotionalen Verbundenheit mit der Bergbauregion Ruhr – ich bin bis heute ein leidenschaftlicher Ruhr-Bürger und Lokalpatriot – nicht.

 

Frage

Sie erwähnten schon, dass Sie Pfarrer werden wollten.

 

Antwort

Ja. Tatsächlich habe ich allerdings erst einmal etwas studiert, was meinen Eltern noch viel abwegiger erscheinen musste, nämlich Sinologie und Romanistik. Gelesen hatte ich schon immer gerne. Literatur und Sprachen interessierten mich. Außerdem lag die gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung nach »68« gewissermaßen im Zug der Zeit. Ich war noch auf der Suche. Zu der gefühlten Neigung, Arzt zu werden, hatte ich mich geistig noch nicht durchgerungen. Dass es auch dafür eine familiäre Prädestinierung gab, war mir bis dahin, bis zu meinem 20. Lebensjahr, nie bewusst geworden.

 

Frage

Es gab also im Familienstammbaum vor Ihnen schon Ärzte in der Familie, Mediziner mit dem Namen Grönemeyer?

 

Antwort

Ja und nein. Denn die ärztliche Familiengeschichte hat sich mütterlicherseits abgespielt, also nicht unter dem Namen Grönemeyer. In dieser Linie befinde ich mich selbst schon in der sechsten Generation von Ärzten und sehe erstaunt, wie viele Anknüpfungspunkte es für mich in dieser Geschichte gibt. Der erste Arzt in der Familie meiner Mutter, mein Ur-Ur-Ur-Urgroßvater Carl Abraham Hunnius, stammte aus Reval, dem heutigen Tallinn. Als einer der Pioniere wissenschaftlich begründeter Naturheilkunde hat er im 19. Jahrhundert eine neue Methode der Schlammbehandlung entwickelt. Er fand heraus, dass mit der Anwendung von Schlamm und Meerwasser viele Krankheiten gelindert oder gar geheilt werden konnten, beispielsweise Rheumatismus, chronische und nachoperative Rücken-, Nerven- oder Hautkrankheiten, die zum Teil noch heute nach dieser Methode behandelt werden. 1825 gründete er die erste Wasser-Schlamm-Heilanstalt in Hapsal in Estland. Selbst die russische Zarenfamilie ließ sich dort behandeln. 1838 erhielt er den Titel eines »Staatsrats« und wurde in den Adelsstand erhoben. Wie sein Sohn so wurden auch dessen Nachkommen wieder Ärzte. Mein Großvater Herbert Arthur von Hunnius war Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, seine Frau, meine Großmutter, Krankengymnastin mit einer speziellen Ausbildung für Säuglingsgymnastik. Meine Mutter schließlich ist während des Zweiten Weltkriegs als Krankenschwester tätig gewesen. Ihre beiden älteren Schwestern hatten eine qualifizierte Ausbildung in der Chirurgie und der Inneren Medizin durchlaufen. Der eine ihrer beiden Brüder war HNO-Arzt wie mein Großvater, der andere Facharzt für Lungenheilkunde. Die jüngste Schwester praktizierte als Krankengymnastin. Doch das alles, diese ganze familiäre Vorprägung samt den ideellen Verbindungen, ist mir erst wirklich bewusst geworden, als ich mich selbst für die Medizin entschieden hatte.

 

Frage

Da waren Sie etwa 22 Jahre alt. 1974 sind Sie vom philologischen zum naturwissenschaftlichen Studium an die medizinische Fakultät in Kiel gewechselt …

 

Antwort

… wobei mir von Anfang an klar war, dass man den Arztberuf nicht ausschließlich naturwissenschaftlich verstehen und ausüben darf. Natürlich war ich einerseits von den Möglichkeiten der modernen Gerätemedizin fasziniert, da kam gleichsam das väterliche technische Erbteil zum Tragen. Andererseits musste Medizin mehr sein als ein hochspezialisierter Reparaturbetrieb. Das wusste ich aus meiner eigenen Patientenerfahrung. Außerdem gab es da eine Orientierung durch das kulturelle Interesse, durch die religiöse Erziehung und vor allem durch die Beschäftigung mit der chinesischen Kultur, ohne die die chinesische Heilkunst nicht zu verstehen ist. Rückblickend möchte ich meine Studienanfänge in der Sinologie sogar als Teil meiner ärztlichen Ausbildung betrachten.

 

Frage

Klingt das nicht sehr weit her geholt, – fast ein wenig nach Esoterik?

 

Antwort

Wieso? Nein, das glaube ich nicht. Im Gegenteil, der ganzheitliche Ansatz verlangt solche Brückenschläge. Ich kann es nur wiederholen: Wir müssen die Medizin wieder als Kulturgut begreifen, um die therapeutischen Traditionen der Heilkunst nutzen zu können. Wer heilt, hat Recht, ob er nun von der Naturheilkunde oder von der modernen High-Tech-Medizin kommt. Eine jahrtausendealte Massagetechnik kann mitunter mehr bewirken als ein falsch diagnostizierter chirurgischer Eingriff. Man muss sie nur kennen, einer muss bereit sein, vom anderen zu lernen. Der Hochmut, mit dem die Schulmedizin der Naturheilkunde viel zu lange begegnet ist, hilft dem Patienten ebenso wenig wie die Abschottung gegen den Fortschritt im umgekehrten Fall. Das gilt umso mehr, als wir uns als Ärzte heute mehr denn je im Spannungsfeld zwischen den großen Möglichkeiten, die wir der Medizintechnik verdanken, und der Empathie gegenüber dem Patienten bewegen. Was das partnerschaftliche Verstehen anlangt, hat die Schulmedizin einen beträchtlichen Nachholbedarf.

 

Frage

Wenn wir über Jahrtausende alte traditionelle Heilkünste sprechen, so drängt sich mir die Frage auf nach dem Verhältnis von Glaube und Gesundheit, von religiöser Geborgenheit und gesundheitlichem Wohlergehen – gerade weil Sie selbst ja Ihre religiösen Verwurzelungen angesprochen haben bis hin zu Ihrem frühen Berufswunsch, Pfarrer zu werden?

 

Antwort

Gläubige Menschen haben oft ein grundlegendes Gefühl der Geborgenheit. Der Glaube selbst kann eine Kraftquelle sein, die insbesondere in schwierigen Lebensphasen hilft, auch da noch positiv zu denken. Wie bei dem plötzlichen Tod meines Bruders. Wie verzweifelt war ich, wie sehr habe ich mit mir gerungen und die Existenz eines Schöpfers –diese uns alle tragende Urkraft – in Zweifel gezogen. Doch am Grab meines Bruders wurde mir schlagartig bewusst, dass nicht wir bestimmen, wann wir die Erde betreten oder sie wieder verlassen müssen. Auch ich nicht als Arzt! Unser aller Aufgabe ist, die Erde, die Menschen und Kulturen sowie alle Mitgeschöpfe zu pflegen und die Zukunft solidarisch und liebevoll zu gestalten – allerdings konsequent gegen Ungerechtigkeit und Bösartigkeit, Missgunst und Geldsucht zu verteidigen. Diese tiefe Einsicht hat mich unendlich erleichtert, gesundet und mit »fröhlicher« Tatkraft bereichert, trotz großer Traurigkeit und schmerzhaftem Verlust meines so geliebten Bruders.

 

Frage

Angesichts dieses ganzheitlichen Denkens verwundert es mich schon, dass Sie sich gerade einer medizinischen Fachrichtung verschrieben haben, die wie kaum eine andere von High-Tech-Technologie bestimmt wird, – nämlich der Radiologie?

 

Antwort

Dazu bin ich über die Arbeit in einer Krebsstation an der Universitätsklinik Kiel gekommen. Dort konnte ich als junger Assistenzarzt tagtäglich erleben, wie entscheidend es ist, sich mit Hilfe der radiologischen Diagnostik ein präzises Bild von der inneren Situation des Körpers und seinen krankhaften Veränderungen zu machen. Erleben musste ich aber auch, dass Diagnostik und Therapie nur allzu oft ohne die nötige Rücksichtnahme auf die Psyche des Patienten geschehen, ohne Beachtung seiner Ängste und Schmerzen. Die später von mir entwickelte und gegen punktuell massive Widerstände des ärztlichen Establishments durchgesetzte Mikrotherapie, eine spezifische Form der miniaturisierten Medizin in Kombination mit der radiologischen Bildgebung, war letztlich ein Schritt auf meinem Weg zu einer sanfteren, den Körper schonenden Medizin.

 

Frage

Waren Sie der Erste, der die neuen Möglichkeiten von Bildern aus dem Körperinneren nicht nur zur Diagnostik, sondern zugleich auch zur Therapie nutzte?

 

Antwort

Nicht der Erste, der die radiologische Bildgebung zur Therapie nutzte. Das hatten andere berühmte Ärzte lange vor mir eingeführt. Aber die Computer- und Kernspintomographie erlaubte jetzt ganz neue, wahrhaft sensationelle Einblicke in den Körper. Darauf kam es mir an, diese Möglichkeiten wollte ich für die Therapie nutzen. So entstand die Mikrotherapie. Sie bietet die Möglichkeit, auf den Millimeter genau Gewebestrukturen zu identifizieren und nachher die Instrumente zur Behandlung punktgenau einzuführen. Durch kleinste Öffnungen werden winzige Instrumente und gegebenenfalls auch Mikrozangen, Katheter oder elektrische Sonden zur Schmerztherapie in den Körper eingebracht. Der Arzt kann so beispielsweise Rücken-, Gelenks- oder auch bestimmte Tumoroperationen durchführen, ohne den Körper chirurgisch öffnen zu müssen. Früh schon war mir der Gedanke gekommen, dass sich die hochauflösenden Schnittbildgeräte wie die Computer- oder Kernspintomographie der Radiologen nicht nur für die Diagnostik, sondern auch für operative Eingriffe eignen müssten – so wie die sogenannte interventionelle Radiologie damals schon Katheter unter Durchleuchtung zur Gefäßdiagnostik benutzte. Sie dazu einzusetzen gelang dann 1983/84, als ich den ersten Eingriff – die Entnahme einer Gewebeprobe bei einer Tumorpatientin – im Computertomographen durchführte. Und hier schließt sich nun, wenn man so will, auch wieder ein biographischer Kreis: So wie mein Vater als Bergbau-Ingenieur große Tunnel baute, baue ich jetzt kleine, mikromedizinische Tunnel. Selbst die Geräte, die wir dabei einsetzen, sind vom Bergbau her bekannt, Fräsen, Bohrer, Stützen, nur unendlich viel kleiner, in einer Größe von 0,1 bis 3 Millimetern.Daher der Begriff »Mikrotherapie«.

 

Frage

Da schwingt Stolz mit. Waren Sie damit am Ziel Ihrer ärztlichen Vorstellungen und Träume?

 

Antwort

Das möchte ich so nicht sagen. Schließlich erkennt man mit jedem Fortschritt, den man macht, dass noch mehr zu erreichen ist. Wir arbeiten und forschen immer weiter, entwickeln neue und bessere Geräte und Instrumente. Gerade haben wir die wissenschaftlichen Voraussetzungen geschaffen, die es erlauben, ein EKG des ungeborenen Kindes schon im Mutterleib zu erstellen. Ständig arbeite ich auch mit meinem Team daran, den Einsatz der Computer zur Instrumentensteuerung zu verbessern oder neue therapeutische Anwendungsfelder oder Kontrastmittel zu entwickeln. Es geht also immer weiter. Richtig ist dennoch: mit der Einführung der Mikrotherapie war es mir schon seinerzeit gelungen, etwas zu verwirklichen, das meinem Traum von schonender Behandlung entsprach. Wir waren einen großen Schritt vorangekommen, hin zu einer ganzheitlich orientierten Medizin, auch wenn ich mich dem zunächst auf einem ganz anderen Fachgebiet, nämlich als Landarzt hatte verschreiben wollen. Dieser Beruf schien mir am besten geeignet, den Kranken mit einem patientennahen und umfassenden Therapiekonzept helfen zu können.

 

Frage

So ganz scheint mir das aber nicht zusammen zu passen: Denn der Beruf des Landarztes unterscheidet sich doch ziemlich vom High-Tech-Radiologen. Wollten Sie wirklich einmal Landarzt werden?

 

Antwort

Als junger Arzt habe ich an vielen Wochenenden Nachtdienst in der Notdienstzentrale in Plön am See, oben in der Holsteinischen Schweiz, gemacht. Ich kannte viele Bewohner der umliegenden Dörfer, die Bauern, die Gutshöfe und die Pferdezüchter. Vom einfachen Schnupfen über Asthmaanfälle, die Behandlung von Schmerz- und Krebskranken oder akuten Depressionen bis hin zu Lebensmittelvergiftungen in einem Kinderheim, Tauch- und schweren Autounfällen mit Toten und Hubschraubereinsätzen lernte ich alles kennen, und – noch wichtiger – ich war dabei weitgehend auf mich gestellt. Es war eine intensive Zeit, die mich sehr gefordert und geprägt hat. Ich wollte schon eine Praxis direkt am See übernehmen. Mir gefiel dieses wunderschöne Land.

 

Frage

Warum ist es anders gekommen?

 

Antwort

An den Wochenenden war ich zwar auf dem Land, unter der Woche aber in der Ausbildung zum Radiologen an der Kieler Universitätsklinik. Ich hatte die Radiologie für mein Praktisches Jahr ganz bewusst gewählt. Als Landarzt wollte ich in der Lage sein, Röntgenbilder zu interpretieren. Und Kiel bot damals sehr gute Voraussetzungen für diese Ausbildung. Mit der Computertomographie, dem seinerzeit ersten Kernspintomographen in Deutschland, der Nuklearmedizin und der Strahlen- sowie Chemotherapie nahm die Universitätsklinik eine führende Position in der Anwendung hochentwickelter Diagnose- und Therapieverfahren ein. Das war faszinierend für mich, diesem Angebot konnte und wollte ich nicht widerstehen, zumal sich bereits abzeichnete, dass es auch in der Radiologie immer mehr darauf ankommen würde, High-Tech-Medizin und persönliche Zuwendung zum Wohle des Patienten zu verbinden.

 

Frage

Der Versuch also, Ihre Vorstellungen von einer ganzheitlichen Medizin in eine High-Tech-Medizin zu übertragen, – salopp gesagt ein »Landarzt im radiologischen Forschungslabor«?

 

Antwort

Ein schmeichelhaftes Bonmot. Aber im Ernst: Ich bin kein Landarzt geworden, obwohl ich nach wie vor gern auf dem Land lebe. Ein klassischer Radiologe, ein reiner Diagnostiker, wie Sie ihn beschrieben haben, bin ich allerdings auch nicht. Was ich dagegen wirklich für mich in Anspruch nehmen möchte, ist, Arzt nicht nur für den Körper, sondern auch für die Seele zu sein.

 

Frage

Klingt ein wenig romantisierend?

 

Antwort

Nein, so sehe ich das ganz und gar nicht. Ich bin doch kein Träumer. Es mag freilich bezeichnend für das Ärztebild unserer Gesellschaft sein, dass uns das Selbstverständliche schon wie etwas Romantisches erscheint, das nostalgische Gefühle weckt.

 

Frage

Was meint für Sie dieses »Selbstverständliche«?

 

Antwort

Ganz einfach: das Menschliche. Eine Zuwendung des Arztes, die der Patient auch seelisch spürt, nicht diese unterkühlte Laboratmosphäre. Dass wir uns nicht falsch verstehen, natürlich müssen wir bei allen Untersuchungen, Behandlungen und Eingriffen auf eine sterile Arbeitsatmosphäre achten. Die sprichwörtliche Kuh-Wärme wäre verhängnisvoll, allenfalls Keime und Bakterien würden davon profitieren. Aber der Arzt muss auch die Bereitschaft und die Kraft mitbringen, sich mit menschlicher Wärme auf den Patienten einzulassen. Er muss, wie es der Titel eines meiner Bücher sagt, Mensch bleiben. Das Verstehen, unser menschliches Interesse ist eine entscheidende Voraussetzung erfolgreicher Behandlung, und das umso mehr, je schwerer die Krankheit verläuft. Vielleicht darf ich dazu kurz eine Patientengeschichte erzählen, die mich besonders bewegt hat. Sie liegt viele Jahre zurück. Ich war damals noch Assistenzarzt. Auf unserer Station lag Erny, ein junger Mann von 23 Jahren, mit Lymphknotenkrebs. Bald bekam er einen Klinikkoller und bat mich, ihn ambulant zu betreuen. Dies rief große Aufregung in der Klinik hervor, da ambulante Chemotherapien damals nicht gerade üblich waren. Niemand wollte ein Risiko eingehen, woraufhin Erny mehrere Fluchtversuche unternahm, bis es mir schließlich gelang, meinen Chef dazu zu bewegen, Erny zu entlassen. Er zog bei uns zu Hause ein. Meine Frau und unsere beiden Kinder, damals drei und eineinhalb Jahre alt, freundeten sich sofort mit ihm an. Erny las ihnen häufig vor und spielte mit ihnen. Doch der Tumor entwickelte sich unaufhörlich weiter. Häufig gab es Kreislaufprobleme, da der Tumor am Hals die Halsschlagader teilweise zudrückte. Wiederholt musste ich den Notarzt rufen oder Erny irgendwo in der Stadt notfallmäßig abholen lassen. Dann waren kurze Klinikaufenthalte unvermeidlich. Danach aber kam er immer wieder zu uns – nach Hause. Ich habe in dieser Zeit viele Gespräche mit ihm geführt. Erny hatte große Angst vor dem Sterben. Immer wieder fragte er mich, ob ich nicht das Sterben verhindern könne und was auf ihn zukommen würde. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, über den Tod zu sprechen – ich war auf diese Situation weder im Studium vorbereitet worden noch gesprächsgeschult –, gewann ich langsam die Kraft, mich neben ihn zu setzen, ihn in den Arm zu nehmen und mit ihm darüber nachzudenken, dass das, was auf ihn zukommen würde, keiner von uns schon erlebt hat, dass der Tod aber ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Existenz und das irdische Leben nur Teil einer gesamten kosmischen Existenz ist. Wenn es einen Gott gebe – von dessen Existenz ich selbst überzeugt bin –, dann werde dieser sich seiner annehmen und ihn in einer neuen Welt beschützen. Irgendwann lehnte sich Erny zurück, hörte auf zu atmen und starb friedlich.

 

Frage

Eine berührende Erfahrung. Doch leider ist es alltägliche Erfahrung für die meisten Patienten wie Ärzte, dass wenig Zeit bleibt für menschliche Nähe? Sprechzeiten im Minutentakt sind die Regel, – nicht nur wegen des Andrangs, sondern auch nach den Vorgaben der bestehenden Honorarkataloge?

 

Antwort