Arzt, Rebell, Vordenker - Adam Shatz - E-Book

Arzt, Rebell, Vordenker E-Book

Adam Shatz

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Beschreibung

»Eine atemberaubende, von Liebe und Eifersucht geprägte Begegnung von Philosophie, Politik und Literatur. Ein fabelhaftes Buch!« Ivan Krastev In seinem kurzen Leben hat Frantz Fanon den Kampf gegen den europäischen Kolonialismus geprägt wie kaum ein anderer. 1925 in der französischen Kolonie Martinique geboren, kämpfte er im Zweiten Weltkrieg gegen die Wehrmacht, leitete eine psychiatrische Klinik in Algerien und wurde später Sprecher der algerischen Befreiungsfront (FLN). Die Erfahrungen, die er als Schwarzer unter französischer Kolonialherrschaft machen musste, prägten ihn zutiefst. Seine Bücher Schwarze Haut, weiße Masken und Die Verdammten dieser Erde zählen zu den umstrittensten und zugleich einflussreichsten Büchern des 20. Jahrhunderts. Im Alter von 36 Jahren starb der Philosoph, Psychiater und Revolutionär an Leukämie.  

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Arzt, Rebell, Vordenker

Adam Shatz ist US-Redakteur der London Review of Books und schreibt für TheNew York Times Magazine, The New York Review of Books und The New Yorker. Er studierte Geschichte an der Columbia University und war unter anderem Gastprofessor am Bard College und an der New York University. Seine viel besprochene Biografie über Frantz Fanon erschien in den USA bei Farrar, Straus & Giroux und wurde weltweit als Ereignis gefeiert.

1925 in der französischen Kolonie Martinique geboren, kämpfte Frantz Fanon im Zweiten Weltkrieg gegen die Wehrmacht, leitete eine psychiatrische Klinik in Algerien und wurde später Sprecher der algerischen Befreiungsfront (FLN). Die Erfahrungen, die er als Schwarzer unter französischer Kolonialherrschaft machen musste, prägten ihn zutiefst.Seine Bücher Schwarze Haut, weiße Masken und Die Verdammten dieser Erde zählen zu den umstrittensten und zugleich einflussreichsten Büchern des 20. Jahrhunderts. Im Alter von 36 Jahren starb der Philosoph, Psychiater und Revolutionär an Leukämie.In seinem kurzen Leben hat er den Kampf gegen den europäischen Kolonialismus geprägt wie kaum ein anderer.

Adam Shatz

Arzt, Rebell, Vordenker

Die vielen Leben des Frantz Fanon

Aus dem Englischen von Marlene Fleißig und Franka Reinhart

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel The Rebel’s Clinic. The Revolutionary Lives of Frantz Fanon bei Farrar, Straus and Giroux, New York.

Die Arbeit der Übersetzerinnen an dem vorliegenden Werk wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

  

ISBN 978-3-8437-3652-7

© Adam Shatz, 2024

© der deutschsprachigen Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin 2025

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Alle Rechte vorbehalten

Autorenfoto: © Sarah Shatz

Umschlagmotive: © Keystone-France/Kontributor/Getty Images, mauritius images/Old Visuals

Gestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld nach einer Vorlage von Matt Bray | Head of Zeus

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Prolog

Teil I      Sohn dieses Landes

1   Nur eine kleine Insel

2   Kriegslügen

3   Schwarzer Mensch, weiße Stadt

4   Hinwendung zu einem Schwarzen Existenzialismus

5   Die Verweigerung der Maske

6   Die Aufhebung der Entfremdung

Teil II   Der Algerier

7   Die zweigeteilte Welt

8   Die algerische Explosion

Teil III   Im Exil

9   Tunis im Taumel

10   Die Aufhebung der Entfremdung in der Psychiatrie

11   Fanons »Tonbandgerät«

12   Das Schwarze Algerien

Teil IV   Afrikaner

13   Das Phantom Afrika

14   »Den Kontinent schaffen«

Teil V   Der Prophet

15   Die Wege der Freiheit

16   Die Stimme der Verdammten

17   Im Land der Lynchmörder

Epilog   Fanons Wiedergänger

Die Summe seiner Teile

Fanons Geist

Prophet der »Dritten Welt«

Fanon und die »Nationalkultur«

Der Postkolonialismus und seine Stolpersteine

Fanon im afroamerikanischen Kontext

Auf der Suche nach Fanon

Die Amerikanisierung Frantz Fanons

Rückkehr ins Heimatland

Fremd und fremder

Unter Gleichen in Paris?

Klinischer Fanonismus

Der »neue Mensch«

Anhang

Bildteil

Zur deutschen Ausgabe

Abkürzungsverzeichnis

Zum Quellenmaterial

Dank

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Widmung

Dieses Buch ist dem Gedenken an zwei Freundinnen und einen Freund gewidmet, die das Werk Frantz Fanons in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichen Gebieten fortgeführt haben:

Marie-Jeanne Manuellan,französische Sozialarbeiterin, Aktivistin und Sekretärin Fanons(1927–2019)

Okwui Enwezor,nigerianisch-amerikanischer Kurator und Kritiker(1963–2019)

Amina Mekahli,algerische Lyrikerin und Autorin(1967–2022)

Prolog

Im November 1960 traf ein Reisender von unklarer Herkunft und dunkler Hautfarbe, jedoch kein Afrikaner, in Mali ein. Sein zwei Jahre zuvor in Tunis ausgestellter Pass wies ihn als Arzt aus, geboren 1925 in Tunesien, Größe: 165 cm, Haarfarbe: schwarz, Augenfarbe: schwarz. Die Seiten des Dokuments waren mit Stempeln aus Nigeria, Ghana, Liberia, Guinea und Italien versehen. Der Name im Pass – ein Geschenk der libyschen Regierung – lautete Ibrahim Omar Fanon. Es handelte sich um einen Decknamen. Denn der Psychiater Frantz Fanon war nicht in Tunesien, sondern auf Martinique geboren. Und er kam auch nicht nach Mali, um dort als Arzt zu arbeiten, sondern er gehörte einer Kommandoeinheit an.

Die Autofahrt von der liberischen Hauptstadt Monrovia aus war lang gewesen: knapp zweitausend Kilometer durch tropischen Regenwald, Savannen und Wüste. Und die aus acht Männern bestehende Gruppe hatte noch einen weiten Weg vor sich. Im Tagebuch, das Fanon führte, ist zu lesen, wie sehr ihn die Landschaft beindruckte. »Dieser Teil der Sahara ist keineswegs monoton«, schreibt er. »Selbst der Himmel über uns wechselt beständig. Vor einigen Tagen haben wir einen Sonnenuntergang erlebt, der den ganzen Himmel mit violetter Farbe überzog. Heute ist es ein sehr hartes Rot, das man kaum sehen kann.«1

Seine Einträge sind mal voll überschwänglicher Hoffnung, mal beschreiben sie nüchtern die Hürden, die der afrikanische Befreiungskampf zu überwinden hatte. »Ein Kontinent gerät in Bewegung und Europa sinkt in Schlaf«, notiert er weiter. »Vor 15 Jahren war es Asien, das kochte. Damals amüsierte man sich. Heute geraten Europa und die Vereinigten Staaten in Rage. Die 650 Millionen Chinesen, im Besitz eines großen Geheimnisses, erbauen ganz allein eine Welt. Die Geburt einer Welt.«2

Aus den Erschütterungen der antikolonialen Revolution könne durchaus ein »künftiges Afrika« entstehen. Das »Gespenst der westlichen Welt« sei dennoch »überall gegenwärtig und aktiv«,3 warnte er. Kurz zuvor war sein Freund Félix-Roland Moumié, ein Revolutionär aus Kamerun, vom französischen Geheimdienst vergiftet worden, und Fanon selbst entging während eines Besuchs in Rom nur knapp einem Attentat. Unterdessen mischte sich mit den Vereinigten Staaten eine neue Supermacht überall ein, »mit dem Dollar vorneweg, [Louis] Armstrong als Helden und amerikanischen schwarzen Diplomaten, Stipendien, den Botschaftern der Stimme Amerikas«.4

Auf lange Sicht jedoch, davon war Fanon überzeugt, würde der afrikanische Kontinent mit Bedrohungen fertigwerden müssen, die noch gravierender waren als der Kolonialismus. Einerseits kam die Unabhängigkeit Afrikas zu spät: Es würde nicht einfach werden, die durch die Kolonialherrschaft traumatisierten Gesellschaften umzustrukturieren und neu auszurichten – Gesellschaften, die lange Zeit gezwungen waren, Befehle von anderen auszuführen und sich selbst aus dem Blickwinkel der Kolonialherren zu betrachten. Andererseits kam die Unabhängigkeit zu früh und hatte den narzisstischen »nationalen Bourgeoisien« zu Macht verholfen, die »plötzlich einen großen Appetit«5 entwickelten. Fanon schreibt weiter: »[…] je mehr ich in diese Kulturen und die politischen Verhältnisse mich vertiefe, umso mehr zwingt sich mir die Gewissheit auf, dass die große Gefahr, die Afrika bedroht, das Fehlen einer Ideologie ist.«6

Fanon hielt diese Eindrücke in einem blauen Notizbuch für Lehrer aus Ghana fest, das er in Accra erworben hatte. Es befindet sich heute im Institut Mémoires de l’édition contemporaine, einer Forschungsbibliothek in einem ehemaligen Kloster in der Normandie, wo während des Zweiten Weltkriegs Résistance-Kämpfer Zuflucht fanden. Diese Aufzeichnungen sechzig Jahre später zur Hand zu nehmen und darin zu blättern bedeutet, die Gedanken eines Sterbenden zu lesen: Fanon wusste damals noch nicht, dass er an Leukämie erkrankt war und sein Leben 1961 in Maryland enden würde, im Herzen des von ihm so verachteten amerikanischen Imperiums. Auf seiner Reise nach Westafrika zeigte er sich jenem Kontinent gegenüber, von dem aus seine Vorfahren mit Sklavenschiffen in die französische Kolonie Martinique verschleppt worden waren, aufgeschlossen und nachdenklich, ja er übte eine Faszination auf ihn aus.

In Mali fühlte er sich zwar zu Hause unter seinen Schwarzen Brüdern, blieb jedoch ein Fremder. Gekommen war er als Geheimagent eines Nachbarlands aus dem (wie er es nannte) »Weißen Afrika« – aus Algerien, das sich damals im siebten Jahr seines Befreiungskampfes von der französischen Herrschaft befand. Das Ziel seiner Aufklärungsmission bestand darin, Kontakt zu den Wüstenvölkern aufzunehmen und an der Grenze zwischen Algerien und Mali eine Südfront zu eröffnen, um die Rebellen der Front de libération nationale (FLN) über die Sahara mit Waffen und Munition aus der malischen Hauptstadt Bamako zu versorgen.

Der Anführer von Fanons Kommandoeinheit war ein Major der Armée de libération nationale (ALN), des militärischen Flügels der FLN. Ein »Spaßvogel«, der Chawki genannt wurde: »klein, vertrocknet« und mit den »unversöhnliche[n] Augen« eines alten Maquis.7 Fanon war »immer wieder überrascht von der Intelligenz und Klarheit seines Denkens« sowie von seiner Kenntnis der Sahara, einer lebendigen »Welt, in der Chawki sich mit der Verwegenheit und der Scharfsichtigkeit eines großen Strategen«8 bewegte. Chawki, so erfahren wir, hatte zwei Jahre in Frankreich studiert, war dann jedoch nach Algerien zurückgekehrt, um den Grund und Boden seines Vaters zu bewirtschaften. Als am 1. November 1954 der von der FLN initiierte Befreiungskrieg beginnt, »greift er zum Jagdgewehr und schließt sich seinen Brüdern an.«9

Bald darauf stieß auch Fanon zu »den Brüdern«. Von 1955 bis zu seiner Ausweisung aus Algerien zwei Jahre später gewährte er in der psychiatrischen Klinik Blida-Joinville, vor den Toren Algiers, Rebellen Zuflucht. Er versorgte sie medizinisch und nahm maximale Risiken auf sich (obgleich er nicht so weit ging, sich den Maquisards in den Bergen anzuschließen – was sein erster Impuls gewesen war, als die Revolution ausbrach). Der Mann aus Martinique brannte für die Sache der Rebellen wie kaum jemand sonst. Im Exil in Tunis hatte er sich der FLN angeschlossen, wobei er sich als Algerier ausgab und in ganz Afrika für die algerische Unabhängigkeit eintrat. Jedes Wort, das er niederschrieb, war dem Kampf Algeriens verpflichtet.

Dennoch konnte er niemals vollends Algerier werden, da er weder Arabisch noch Amazigh (die Sprachen der indigenen Bevölkerung Algeriens, früher auch Berber genannt) beherrschte. Bei seiner Tätigkeit als Psychiater musste er daher häufig auf Dolmetscher zurückgreifen. Algerien blieb für ihn ein Sehnsuchtsort: ein unerreichbares Objekt der Begierde, wie für so viele andere Ausländer auch, die dem Land verfallen waren – nicht zuletzt die europäischen Siedler, die sich seit den 1830er-Jahren dort niedergelassen hatten. Er würde nie mehr sein als der adoptierte Bruder, der von einer Kameradschaft träumte, die Kategorien wie »Stamm«, »ethnische Zugehörigkeit« und »Nation« überwinden würde: jene Art von Verheißung, mit der Frankreich ihn als jungen Mann dazu verlockt hatte, sich dem Krieg gegen die Achsenmächte anzuschließen.

Frankreich hielt sein Versprechen nicht. Doch selbst als Fanon sich mit Gewalt gegen das kolonialistische Mutterland wandte, blieb er den Idealen der Französischen Revolution verpflichtet – in der Hoffnung, dass sie anderswo verwirklicht werden könnten, etwa in den unabhängigen Nationen der damals so genannten Dritten Welt. Er war ein »Schwarzer Jakobiner«, wie der aus Trinidad stammende Marxist C.L.R. James in seiner klassischen Geschichte der Haitianischen Revolution deren Anführer Toussaint Louverture bezeichnete.10 Auch fast sechs Jahrzehnte nach dem Verlust Algeriens hat Frankreich Fanon seinen »Verrat« noch immer nicht verziehen. So wurde jüngst der Vorschlag, in Bordeaux eine Straße nach ihm zu benennen, abgewiesen. Und das, obwohl Fanon in jungen Jahren im Kampf für Frankreich verwundet worden war und auch bei seinem Einsatz für die Unabhängigkeit Algeriens letztlich klassisch-republikanische Prinzipien verteidigt hatte. Zudem sind seine Schriften für viele junge Franzosen Schwarzer oder arabischer Herkunft nach wie vor aktuell, müssen sie sich angesichts ihrer Lebenssituation doch wie Fremde im eigenen Land fühlen.

1908 veröffentlichte der deutsch-jüdische Soziologe Georg Simmel einen Aufsatz mit dem Titel »Exkurs über den Fremden«. Darin schreibt er: »Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt.«11 Diese Erfahrung machte Fanon zeit seines Lebens: als Soldat der französischen Armee, als Medizinstudent karibischer Herkunft in Lyon, als Schwarzer Franzose und als Nicht-Muslim im algerischen Widerstand gegen Frankreich. Simmel legt nahe, dass der Fremde zwar Misstrauen auslöst, jedoch zugleich von einem merkwürdigen erkenntnistheoretischen Privileg profitiert, indem »ihm oft die überraschendsten Offenheiten und Konfessionen, bis zu dem Charakter der Beichte, entgegengebracht werden, die man jedem Nahestehenden sorgfältig vorenthält«.12 Bekenntnisse solcher Art anzuhören gehörte zu Fanons Beruf als Psychiater und bewog ihn schließlich dazu, sich dem Unabhängigkeitskampf anzuschließen, gar selbst Algerier zu werden, als erforderten die Fürsorge und der Einsatz für die Genesung seiner Patienten eine noch radikalere Form der Solidarität, einen Bund der Ehe gewissermaßen mit dem Volk, dem seine Liebe galt.

Im 20. Jahrhundert gab es selbstverständlich zahllose ausländische Revolutionäre und radikale Fremde, die es in ferne Länder zog, auf denen ihre Hoffnungen und Fantasien ruhten. Doch Fanon war eine Ausnahmeerscheinung und weitaus mehr als nur ein solidarischer Mitstreiter. Er sollte später zum Sonderbotschafter der FLN in Afrika ernannt werden – wobei seine Hautfarbe von entscheidendem Vorteil für eine nordafrikanische Bewegung war, die um die Unterstützung ihrer südlich der Sahara lebenden Verwandten warb. Zudem erwarb er sich den Ruf, »Cheftheoretiker« der FLN zu sein.

Was allerdings ganz und gar nicht zutraf. Es wäre auch höchst überraschend gewesen, hätte eine derart nationalistische Bewegung einen Ausländer zu ihrem Vordenker gewählt. Fanons Aufgabe beschränkte sich vorwiegend darauf, Ziele und Entscheidungen zu kommunizieren, die von anderen formuliert worden waren. Seine Deutung des algerischen Befreiungskampfes trug jedoch dazu bei, dass dieser weltweit zu einem Symbol des Widerstands gegen Fremdherrschaft wurde. Dabei bediente Fanon sich einer Sprache, wie er sie in seinem Beruf verwendete, und erfand sie zugleich radikal neu: die der Psychiatrie. Bevor Fanon zum Revolutionär wurde, arbeitete er als Psychiater, und sein Nachdenken über die Gesellschaft entwickelte sich innerhalb begrenzter Räume: in Krankenhäusern, geschlossenen Anstalten, Kliniken sowie im Gefängnis von Rassifizierung, wie er es als Schwarzer sein ganzes Leben gewohnt war.

Fanon war kein zurückhaltender Mensch. Einige seiner Zeitgenossen erlebten ihn als eitel, arrogant oder sogar unbeherrscht. Seinen Patienten gegenüber hätte er jedoch kaum zugewandter sein können.

In ihren Gesichtern, an ihrem körperlichen und seelischen Leid erkannte er Menschen, die man ihrer Freiheit beraubt und durch Zwang von sich selbst entfremdet hatte, sodass sie nicht mehr imstande waren, mit der Realität zurechtzukommen und selbstbestimmt darin zu leben. Einige von ihnen waren psychisch krank (französisch: aliénés); andere Arbeitsmigranten oder kolonisierte Algerier, die unter Hunger, prekären Wohnverhältnissen, Rassismus und Gewalt litten. Wieder andere waren dazu gezwungen gewesen, die Schmutzarbeit der kolonialen Repression zu erledigen. (Fanon behandelte französische Soldaten, die verdächtige Algerier gefoltert hatten, und schilderte ihre Traumata mit großer Klarheit und bemerkenswertem Mitgefühl.) Gemeinsam war ihnen ein unsichtbarer, nagender Schmerz, der sich in ihre Psyche gebrannt hatte und Körper und Seele lähmte. Dieser Schmerz stellte für Fanon eine Art subversives Wissen dar: ein Gegennarrativ zu jener Erfolgsgeschichte, die der Westen über sich selbst verbreitete.

In einem Essay über Richard Wrights autobiografisches Werk Black Boy schrieb Ralph Ellison 1945, rassistische Unterdrückung beginne »im Dunkel der frühen Kindheit, wo Umwelt und Bewusstsein so rätselhaft miteinander verwoben sind, dass das Können eines Psychoanalytikers vonnöten ist, um die genaue Verbindungsstelle zu erkennen.«13 Obgleich Fanon kein Psychoanalytiker, sondern Psychiater war, las er sich intensiv in die psychoanalytische Literatur ein. In seinem ersten Buch Peau noire, masques blancs (dt. Ausgabe: Schwarze Haut, weiße Masken), das er 1952 im Alter von 27 Jahren veröffentlichte, versuchte er, das Dunkel aufzuzeigen, das die rassistische Unterdrückung auf das Leben Schwarzer Menschen wirft. In seinen späteren Schriften über Algerien und die sogenannte Dritte Welt holt er auf kraftvolle Weise den Lebenstraum von Gesellschaften ans Licht, die durch Rassismus und koloniale Unterwerfung gepeinigt wurden.

»Geschichte«, ist nach Ansicht des marxistischen Literaturkritikers Fredric Jameson »das, was schmerzt, was das Begehren zurückweist und individueller wie kollektiver Praxis […] unerbittliche Schranken setzt.«14 Fanon besaß die seltene Gabe, jenen Schmerz in Worte zu fassen, den die Geschichte im Leben Schwarzer und kolonialisierter Völker hinterlassen hatte, da er diesen Schmerz mit nahezu unerträglicher Intensität selbst verspürte. Nur wenigen Autoren ist es gelungen, die Erfahrung von Rassismus und kolonialer Herrschaft so eindrücklich wiederzugeben, wie ihm – mit all dem Zorn, den sie bei den Unterdrückten auslöst, den Entfremdungsgefühlen und der Ohnmacht. In einer besonders bedrückenden Passage beschreibt er das Empfinden Schwarzer Menschen in einer weißen Mehrheitsgesellschaft so, als seien sie gefangen in einer »Zone des Nicht-Seins, eine höchst unfruchtbare und dürre Gegend, eine überaus nackte Rampe, von der aus eine authentische Erhebung entstehen kann«.15

Doch Fanon selbst glaubte enthusiastisch an neue Erhebungen, sprich: Aufbrüche. In seinen Schriften sowie bei seinem Wirken als Arzt und Revolutionär hegte er stets die unbeugsame Hoffnung, dass die kolonisierten Opfer des Westens – die »Verdammten dieser Erde«, wie er sie nannte – ein neues Zeitalter anbrechen lassen können, in dem sie nicht nur frei von Fremdherrschaft, sondern auch frei von erzwungener Assimilation an die Werte und Sprachen ihrer Unterdrücker wären. Doch zunächst müssten sie bereit sein, für ihre Freiheit zu kämpfen. Dies meinte er wortwörtlich, denn Fanon glaubte an das regenerative Potenzial von Gewalt. Bewaffneter Kampf war für ihn nicht nur eine Reaktion auf die Gewalt des Kolonialismus, sondern eine Art Heilmittel, um das Gefühl von Handlungsmacht und Selbstwirksamkeit neu zu entfachen. Indem sich die Kolonisierten gegen ihre Unterdrücker zur Wehr setzten, überwanden sie die Passivität und den Selbsthass, die die Kolonialherrschaft hervorgerufen hatte. Sie legten die ihnen aufgezwungenen Masken des Gehorsams ab und erlebten ihre psychologische Wiedergeburt als freie Männer und Frauen.

Dabei war ihm nur allzu bewusst, dass Masken erheblich leichter aufzusetzen als abzunehmen sind. Wie bei jedem Kampf, in dem es darum geht, die Geister der Geschichte auszutreiben und das Blatt neu zu beschreiben, war auch Fanon immer wieder mit unüberwindlichen Hindernissen und den Grenzen seiner visionären Wünsche konfrontiert. Zwischen seiner Tätigkeit als Arzt und seinen Pflichten als militanter Kämpfer, zwischen seinem Bestreben, zu heilen, und seinem Glauben an Gewalt bestand ein Spannungsfeld, das er nie ganz auflösen konnte und das die Kraft seines Schreibens großenteils ausmacht.

In seinem letzten, kurz vor seinem Tod im Dezember 1961 veröffentlichten Werk Les Damnés de la terre (dt. Ausgabe: Die Verdammten dieser Erde) plädierte er eindeutig für die Anwendung von Gewalt. Die Aura, die ihn noch heute umgibt, ist stark mit diesem Buch verbunden. Es ist die Essenz seiner Auseinandersetzung mit der antikolonialen Revolution und stellt eines der bedeutendsten Manifeste der Moderne dar. Jean-Paul Sartre schrieb in seinem Vorwort zum Buch: »[…] in dieser Stimme entdeckt die Dritte Welt sich und spricht zu sich.«16 Das war natürlich eine Übertreibung – und eine ungewollt herablassende obendrein –, denn Fanons Stimme war nur eine von vielen in der kolonisierten Welt, der es keineswegs an Autoren und Wortführern mangelte. Dennoch ist die Wirkung von Fanons Buch als Inspirationsquelle für Schreibende, Intellektuelle und Aufständische in der Dritten Welt nicht zu unterschätzen. Einige Jahre nach Fanons Tod bezeichnete Orlando Patterson – ein radikaler junger Autor aus Jamaika, der sich später als Soziologe mit seinen Forschungen auf dem Gebiet der Sklaverei einen Namen machen sollte – Die Verdammten dieser Erde als »Herz und Seele einer Bewegung, geschrieben von jemandem – anders wäre es auch nicht denkbar gewesen –, der aktiv daran beteiligt war.«17

Die Verdammten dieser Erde war Pflichtlektüre für die Revolutionäre der nationalen Befreiungsbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre. Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt und von den Black Panthers in den USA, dem Black Consciousness Movement in Südafrika, lateinamerikanischen Guerillas, der Palästinensischen Befreiungsorganisation und den islamischen Revolutionären im Iran gleichermaßen ehrfürchtig zitiert. Das Publikum schätzte an Fanon, dass er nicht nur die strategische Notwendigkeit von Gewalt anerkannte, sondern zudem deren psychologisches Erfordernis betonte. Dazu war er in der Lage, weil er sowohl Psychiater als auch ein kolonisierter Schwarzer war.

Im Westen zeigten sich Teile der Leserschaft entsetzt über Fanons Rechtfertigung von Gewalt und warfen ihm vor, damit den Terrorismus zu legitimieren – was entschieden zu bestreiten ist. Dennoch können Fanons Schriften zu diesem Thema leicht missverstanden oder karikiert werden. Wiederholt wies er darauf hin, dass Kolonialregime wie das französische in Algerien ihrerseits auf Gewalt gegründet sind – nämlich durch die Unterwerfung der indigenen Bevölkerung, die Aneignung ihrer Ländereien sowie die Abwertung ihrer Kultur, Sprache und Religion. Die Gewalt der Kolonisierten sei somit eine Gegengewalt, zu der sie erst griffen, nachdem andere, friedlichere Formen des Widerstands sich als untauglich erwiesen hatten. So grausam diese Gewalt bisweilen auch sei, komme sie doch niemals derjenigen der Kolonialarmeen mit ihren Bomben, Folterzentren und »Umsiedlungslagern« gleich.

Menschen, die selbst von Unterdrückung und Grausamkeit betroffen waren, reagierten häufig verständnisvoll auf Fanons Beharren auf der psychologischen Relevanz von Gewalt für die Kolonisierten. In einem Essay aus dem Jahr 1969 schrieb der Philosoph Jean Améry, ein Veteran des antifaschistischen Widerstands in Belgien und Holocaust-Überlebender, Fanon beschreibe eine Welt, die er selbst nur allzu gut aus seiner Zeit in Auschwitz kenne. Fanon habe verstanden, so Améry, dass die Gewalt der Unterdrückten dem »Wiedergewinn der Würde« diene: Sie »verweist und führt in die […] historisch-humane Zukunft«.18 Dass Fanon, der sich sein Leben lang nirgends zugehörig fühlte, von vielen Seiten als Kampfgenosse bezeichnet wurde – als geradezu universeller Prophet der Befreiung –, ist eine Leistung, die ihm vermutlich geschmeichelt hätte.

Auch wenn die Welt, in der wir leben, eine andere ist als die Welt Fanons, ist er doch in den letzten Jahren einmal mehr zu einer intellektuellen und kulturellen Symbolfigur geworden. Dies hängt in unserer postkolonialen Gegenwart gewiss auch mit einer nostalgischen Sehnsucht nach den vermeintlichen Eindeutigkeiten in der Epoche der nationalen Befreiung zusammen. Von Fanon stammen einige der prägnantesten Slogans des Befreiungskampfes, zudem führte er das Leben eines Revolutionärs. Er erhob seine Stimme gegen rassistisches Unrecht, gegen die Ausbeutung der armen Welt durch die wohlhabende Welt, die Missachtung der Menschenwürde und das Fortbestehen von weißem Nationalismus. Sein Plädoyer für die psychologischen wie die politischen Aspekte der Befreiung findet in unserer Zeit seinen Widerhall in den Forderungen nach einer »Dekolonisierung des Denkens«. Doch was Fanons Schriften so mitreißend macht – auch für eine Leserschaft, die lange nach seinem Tod geboren wurde –, ist der Geist der Revolte, des Protests und des Ungehorsams, der sie durchzieht.

Diese innere Einstellung lässt sich auch an seinem Gesicht ablesen. Auf den wenigen Fotos, die von ihm existieren, wirkt Fanon nur selten entspannt. (Als Schwarzer im Westen, so zeigte er sich überzeugt, fühlte man sich permanent deplatziert, durch ein verzerrendes Prisma aus Ängsten und Fantasien wahrgenommen und schließlich als Individuum unsichtbar gemacht.) Nicht selten wurde er als écorché vif bezeichnet, als überempfindlich und dünnhäutig (wörtlich: lebendig gehäutet). Selbst als Fanon zum militanten Berufskämpfer wurde und eine Führungsrolle übernahm, selbst als er seine Vision zur Befreiung der sogenannten Dritten Welt fieberhafter denn je verfolgte, zeugten seine Schriften nach wie vor vom Zorn und der Leidenschaft eines jungen Mannes, der nach seinem rechtmäßigen Platz in einer Welt suchte, die danach eingerichtet war, ihm diesen zu verwehren. Dies ist der Geist Fanons, die Kompromisslosigkeit in der Körnung seiner Stimme.

Er benutzte weder Schreibmaschine noch Stift, sondern diktierte seine Texte und lief dabei auf und ab – beim Verfassen war sein Körper somit ständig in Bewegung. »O mein Leib, sorge dafür, dass ich immer ein Mensch bin, der fragt!«,19 ruft er in seinem »letzten Gebet« in Schwarze Haut, weiße Masken aus. Fanon war Atheist. Eine höhere Instanz anzubeten wäre ihm lächerlich vorgekommen. Warum also betete er zu seinem Körper? Hegte Fanon eine Art mystischen Glauben an die Weisheit des Fleisches?

Keineswegs. Er bat seinen Körper nicht darum, ihm den Weg der Erkenntnis zu zeigen, sondern vielmehr gegen jegliche Neigung zu Selbstzufriedenheit oder Resignation zu rebellieren. Der Körper birgt seiner Auffassung nach unbewusstes Wissen und Wahrheiten über das Selbst, die der Geist sich scheut zu artikulieren. Auch Begehren und Widerstand sind im Körper verortet. Fanons Verhältnis zur Realität ist von stetiger Befragung geprägt: »[…] ich sage, dass derjenige, der in meinen Augen etwas anderes liest als eine immerwährende Frage, erblinden sollte; weder Dankbarkeit noch Hass«20 seien darin zu finden.

Doch Fanons Art der Befragung war mitnichten Ausdruck einer grundsätzlichen Skepsis. »Der Mensch«, schreibt er in Schwarze Haut, weiße Masken, sei »nicht nur Möglichkeit […] der Negation«, sondern ein »JA, das im Rhythmus der kosmischen Harmonien schwingt«.21 Sein Werk ist ein Fest der Freiheit und der »Ent-Entfremdung«, wie er es nennt: das behutsame Beseitigen psychologischer Hindernisse für ein freies Erleben der eigenen Individualität, das sich schließlich zu einem umfassenderen Plan für die psychische Gesundheit unterdrückter Gemeinschaften ausweitet. Besonders eindrücklich kommt sein Engagement für die Ent-Entfremdung, die Überwindung der Entfremdung, in seinen psychiatrischen Schriften zum Ausdruck, die erst in den letzten Jahren einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurden. Hier erkennen wir in Fanon den reformorientierten Arzt, der fest entschlossen ist, das Leid seiner Patienten zu lindern und sie wieder in die menschliche Gemeinschaft einzubinden, aus der sie ausgestoßen wurden.

Gleichwohl gelangte Fanon zu der Einsicht, dass Reformen nicht nur unzureichend, sondern zudem eine Lüge seien – und dass er ohne revolutionäre Umwälzungen als praktizierender Psychiater mitschuldig werde an der Herrschaftskultur, die Körper und Seele der Algerier voneinander entkoppelte. Damit lag er nicht falsch. Doch die politischen Entscheidungen, die er in der Welt außerhalb der Klinik traf, waren komplizierter und verlangten von dem »Menschen, der fragt,« bisweilen Verleugnung – eine taktische Preisgabe seiner Freiheit, die ihm weder entging noch ohne Reue seinerseits erfolgte. Als Mitstreiter der algerischen Unabhängigkeitsbewegung – das große »Ja« seines eigenen Lebens – beteiligte er sich an der Rebellion des Kontinents gegen den Kolonialismus. Allerdings erwies sich der algerische Kampf in der Realität nur selten als harmonisch, geschweige denn kosmisch.

Außerdem brachte diese Erfahrung in Fanons Fall nicht nur Erkenntnisse hervor, sondern in nahezu identischem Ausmaß auch Illusionen. Ich bewundere Fanon für seine intellektuelle Kühnheit, seinen physischen Wagemut, sein fundiertes Wissen über Macht und Widerstand und vor allem für sein unerschütterliches Engagement für eine Gesellschaftsordnung, die auf Würde, Gerechtigkeit und gegenseitige Anerkennung gründet. Dennoch werden Sie feststellen, dass meine Bewunderung für ihn nicht grenzenlos ist, denn wenn man ihn wie einen Heiligen verehrt, wird man dem Gedenken an ihn nicht gerecht.

In diesem Buch setze ich mich sowohl mit den Fragen auseinander, die Fanon aufgeworfen hat, als auch mit jenen, die er zu stellen versäumte. Denn beides sagt viel über ihn aus – nicht als Prophet, sondern als Mensch. Fanon äußerte einmal, er wünsche sich lediglich, als Mensch angesehen zu werden. Nicht als Schwarzer. Nicht als Mann, der »zufällig« Schwarz war, aber ebenso gut als weiß hätte durchgehen können. Nicht als Weißer ehrenhalber. In den Augen anderer war er all das gewesen, jedoch nie einfach nur ein Mensch. Fanon verlangte zwar eigentlich nichts Weltbewegendes, de facto aber eine andere Welt.

»Der nègre ist nicht«, schrieb Fanon. »Ebensowenig der Weiße.«22 Damit verwies er darauf, dass ein Mensch nicht als weiße oder Schwarze Person geboren wird. Ähnlich argumentierte Simone de Beauvoir: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.«23 Dass Fanon als Prophet gefeiert wird, legt ihn kurioserweise ebenso auf ein Sosein fest wie seine Race. Er wird als ein Mensch der Antworten gedeutet und nicht als ein Fragender. Das reduziert ihn auf das Sein, statt ihn im Werden zu begreifen.

Durch die Macht der äußeren Umstände erlebte Fanon sein Werk und sein Leben als untrennbar mit der revolutionären Dekolonisierung verknüpft. Allerdings war er auch leicht beeinflussbar, und sein eigenes Identitätsgefühl erwies sich häufig als recht fragil. »›Ein Mensch ohne Maske‹ ist in der Tat sehr selten. […] Jeder trägt in gewissem Maß eine Maske«,24 ruft uns der Psychiater R.D. Laing in Erinnerung. Trotzdem ist es bemerkenswert, wie viele Masken Fanon in seinem kurzen Leben getragen hat: als Franzose, Antillaner, Schwarzer, Algerier, Libyer, Afrikaner, ganz zu schweigen von der Maske des Soldaten und Arztes, des Dichters und Ideologen sowie des Zerstörers und Schöpfers von Mythen. Einige dieser Masken wurden ihm durch äußere Umstände auferlegt, während andere seiner eigenen Fantasie entsprangen, seiner leidenschaftlichen Suche nach Zugehörigkeit und womöglich seiner Hoffnung, selbst zu jenem »neuen Menschen« zu werden, den er für die Zukunft der sogenannten Entwicklungsländer erträumte.

Der US-amerikanische Dichter Amiri Baraka bezeichnete James Baldwin, der ein Jahr vor Fanon geboren wurde, als »God’s Black revolutionary mouth« (dt. etwa: »Gottes Schwarze Stimme der Revolution«). Was Baldwin für Amerika war, verkörperte Fanon für die Welt, insbesondere für die aufbegehrende Dritte Welt – für jene Untertanen der europäischen Imperien, denen die »Erlaubnis«, ihre eigene Geschichte »zu erzählen«, wie Edward Said es genannt hat, verweigert wurde. Mehr als jeder andere Autor markiert Fanon jenen Moment, von dem an kolonisierte Menschen nicht mehr als »Ureinwohner«, »Untertanen« oder »Minderheiten« ihre Stimme erheben, sondern als Männer und Frauen. Fortan sprechen sie für sich selbst, artikulieren ihren Wunsch nach Anerkennung und beanspruchen Macht, Autorität und Unabhängigkeit.

Dies war der Beginn einer neuen Welt: jener Welt, in der wir heute leben und wo der Kolonialismus formal nahezu vollständig überwunden ist, doch für weite Teile der Weltbevölkerung sind Ungleichheit, Gewalt und Ungerechtigkeit – verschärft durch die schlimmste Epidemie des Jahrhunderts – nach wie vor an der Tagesordnung. Dies gilt ganz besonders für junge Menschen, deren Lebensumstände Fanon stark beschäftigten. »Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen«, hat Antonio Gramsci geschrieben.

Fanon war als Arzt ein scharfsinniger Diagnostiker derartiger Symptome. Mit großer Klarheit erkannte er, dass Menschen, die infolge von Rassismus, Gewalt und Fremdherrschaft unter Traumata litten, sich kaum über Nacht neu erfinden konnten und daher keine andere Wahl hatten, als weiter zu kämpfen – und sei es nur, um weiter atmen zu können. Der Kampf um menschliche Freiheit und Ent-Entfremdung war ein ständiges Ringen zwischen Verletztheit und Willenskraft. Fanon setzte auf Letzteres, doch sein Werk ist auch ein bestürzendes Eingeständnis des Ersteren, wenngleich Pessimismus ein Luxus war, den er sich nicht leisten konnte. Er hatte Folter und Tod erlebt, in der Zone des Nicht-Seins gelitten. Dennoch verortete er sich stets auf der Seite des Lebens und des Schöpferischen.

Teil I      Sohn dieses Landes

1   Nur eine kleine Insel

Vor einigen Jahren besuchte ich eine Ausstellung der Tate Gallery of Modern Art mit dem Titel Soul of a Nation: Art in the Age of Black Power (»Seele einer Nation: Kunst im Zeitalter der Black Power«). Auf einer Informationstafel stolperte ich über den Hinweis auf eine Kulturkonferenz in Lagos, an der Frantz Fanon 1975 angeblich teilgenommen hat. Was für eine bemerkenswerte Leistung in Anbetracht dessen, dass er bereits fünfzehn Jahre zuvor verstorben war. Andererseits besitzen Propheten nun einmal die Gabe, sich frei durch Zeit und Raum zu bewegen, was uns als Normalsterblichen versagt ist.

Befragt man Google nach Fanon, wird er wahlweise als Afrikaner, Antillaner, Algerier oder Muslim vorgestellt. (So gut wie nie wird er als Franzose bezeichnet, obwohl er dies von seiner Staatsangehörigkeit her war.) Fanons Schicksal ist es, als reisender Botschafter für die Verdammten dieser Erde ins kollektive Gedächtnis eingegangen zu sein, zuweilen gar als Brother From Another Planet (dt. »Typ vom anderen Stern«). Doch Fanon besaß durchaus Wurzeln: in der Stadt Fort-de-France, der Hauptstadt der Karibikinsel Martinique.

Martinique gehört zur Inselgruppe der Kleinen Antillen, die von Grenada bis zu den Jungferninseln reicht, und zählt zu den französischen vieilles colonies, den »alten Kolonien«, die durch das Ancien Régime in Besitz genommen wurden. Seit 1635 war sie Teil Frankreichs – mit zweimaliger kurzer Unterbrechung im 18. Jahrhundert, als sie unter britische Herrschaft fiel. Es ist »nur eine kleine Insel«, wie Jamaica Kincaid ihre eigene Heimat, die Insel Antigua, bezeichnet, über die sie schreibt: »Schließlich verschwanden die Herren, wenn man so will; schließlich wurden die Sklaven frei, wenn man so will.«25 Martinique war eine Sklavenkolonie, deren Haupterwerb bis zur Befreiung im Jahr 1848 in der Zuckerherstellung bestand. Danach ersetzte Rum den Zucker als wichtigstes Exportgut.

Die Stadt Fort-de-France, wo Fanon aufwuchs, wurde 1902 zum kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum der Insel, nachdem die vorherige Hauptstadt Saint-Pierre durch einen Ausbruch des Vulkans Mt. Pelée zerstört worden war. Dabei kamen binnen weniger Minuten 30000 Einwohner ums Leben und wurden unter heißer Vulkanasche begraben, die im Hafen liegenden, mit Rum und Zucker beladenen Schiffe gingen in Flammen auf. Fort-de-France, dessen ursprünglicher Name Fort Royal oder auch »Foyal« lautete (die Einheimischen nennen sich noch heute »Foyolais«), war stets ärmer gewesen als Saint-Pierre. Obwohl die Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts rasch anwuchs, blieb es eine verschlafene Stadt, nach den Worten des Lyrikers Aimé Césaire ein »Jenseits aus Lepra, aus Schwindsucht, aus Hungersnöten«.26 Ein amerikanischer Journalist erzürnte die Eliten der Stadt, indem er sie als »stinkende Perle« bezeichnete, was Fanons älterer Bruder Joby allerdings für vollkommen zutreffend hielt – er beschrieb Fort-de-France als »missratene Stadt«: »flach, ausufernd, dreckig, mit einer Kanalisation, die nur aus offenen Kloaken bestand«.27

In Fanons Kindheit war Martinique noch französische Kolonie, wo für die von afrikanischen Versklavten abstammenden Kinder »unsere Väter, die Gallier« der Stoff im Geschichtsunterricht war. Der erste Satz, den Fanon buchstabieren lernte, war Je suis français – »Ich bin Franzose«. Die Verwaltung lag in den Händen einer kreolischen Elite franko-afrikanischer Abstammung; lediglich wenige Tausend weiße Nachkommen der ersten Kolonisatoren – der sogenannten Békés – waren auf der Insel geblieben. Nach einer von Césaire, dem damaligen Bürgermeister von Fort-de-France, initiierten Kampagne wurde Martinique im März 1946 zum Übersee-Département des französischen Mutterlandes erklärt und war fortan durch vier Abgeordnete und zwei Senatoren vertreten. Césaires Argumentation zufolge wurde man den Interessen seines Volkes besser gerecht, wenn man ein Teil Frankreichs bliebe, als durch das Streben nach Unabhängigkeit.

Zeit seines Lebens äußerte Fanon seinen Unmut darüber, dass die Bevölkerung Martiniques und ihre Führungsschicht ihr Schicksal niemals selbst in die Hand genommen hatten. Die Martinikaner waren in seinen Augen zwar frei, jedoch nur in gewissem Maße – oder wie es bei Kincaid heißt: »wenn man so will«. Sie hatten ihre Ketten zwar abgelegt, jedoch nur, um sich der noch heimtückischeren Herrschaft der Reflexe zu beugen, die sie während der Sklaverei erlernt hatten: komplizierte Hierarchien, die auf Nuancen in der Hautfarbe beruhten, sowie die Bewunderung für die Gepflogenheiten der Métropole, des französischen Mutterlands. Als Gefangene eines weißen Blicks, den sie verinnerlicht und sich zu eigen gemacht hatten, konnten sie sich selbst nicht mehr erkennen. Mit Schwarzer Haut und blauen Augen schauten sie auf das Leben, wie der fünf Jahre nach Fanon geborene lucianische Dichter Derek Walcott die Antillaner ihrer gemeinsamen Generation beschrieb.28

Dennoch war es ein glücklicher Umstand, zwischen den beiden Weltkriegen auf Martinique geboren worden zu sein. Martinique entfachte Fanons revolutionäre Gesinnung und gab ihm einen Vorgeschmack auf künftige Kämpfe. Die Schriftsteller seiner Heimat – insbesondere Césaire – versorgten ihn mit dem nötigen Vokabular für die Auseinandersetzung damit, in einer weiß dominierten Welt Schwarz und kolonisiert zu sein. Martinique war zwar eine kleine Insel mit aller Enge und Provinzialität, die damit einhergeht. Doch zugleich bildete sie ein Zentrum der sogenannten Négritude, der Revolution im Schwarzen Denken. Wenngleich Fanon sich von den meisten intellektuellen Prämissen der Négritude distanzierte, blieb er deren grundsätzlichem Ansinnen verpflichtet: der Emanzipation der Schwarzen Menschheit nicht nur von politischer und wirtschaftlicher Vorherrschaft, sondern außerdem von der Tyrannei der Anpassung an weiße Werte.

Fanon profitierte jedoch noch auf andere Weise von seinen frühen Jahren in dieser provinziellen Umgebung. Die Antillen werden häufig als Orte trägen Müßiggangs persifliert, wo diejenigen, die es sich leisten können, besinnungslos ihrem Vergnügen frönen, während die Armen ihr Leid in Rum ertränken. So nahm auch Fanon Martinique wahr – er konnte nie verwinden, dass die Bewohner nicht wie auf Haiti die Sklaverei mit einer gewalttätigen Revolution überwunden hatten, sondern darauf warteten, dass ihnen die Befreiung von ihren Unterdrückern »gewährt« wurde. Wie den meisten seiner Landsleute war ihm offenbar weder der Aufstand martinikanischer Versklavter von 1848 bewusst, der unmittelbar vor der Befreiung stattgefunden hatte, noch die gelegentlichen Revolten von Leibeigenen, die die Insel im Laufe ihrer Geschichte immer wieder erschütterten.

Doch kleine Inseln bewirken durch ihre Isolation bei manchen Menschen einen unstillbaren Wissensdurst und eine unbändige Reiselust. »Unvorstellbar, wie sie darauf aus waren, zu erfahren, was in jenen fernen Ländern vorgeht, deren Existenz ihnen soeben erst zu Bewusstsein gekommen war«,29 schreibt der martinikanische Autor Édouard Glissant in seinem 1958 erschienenen Roman La Lézarde (dt. Ausgabe: Sturzflut). Glissant, der Fanon persönlich kannte, bezeichnete dessen Entschluss, Algerier zu werden, als das einzige nennenswerte »Ereignis« in der modernen Geschichte der französischen Antillen. Die Neugier, die Fanon nach Algerien führen sollte, wurde in Fort-de-France genährt.

Fanon wird vielfach als Tribun der Unterdrückten gepriesen, dabei war seine Kindheit für martinikanische Verhältnisse durchaus privilegiert.

Sein Vater Félix Casimir Fanon war Zollinspektor, seine Mutter Eléonore Félicia Médélice besaß ein Geschäft für Haushaltwaren und Stoffe. Die Fanons verkehrten zwar nicht mit den Békés, führten jedoch ein ausgesprochen gutbürgerliches Leben mit Bediensteten, Klavierunterricht für ihre Töchter und sogar einem Wochenendhaus außerhalb von Fort-de-France. Ihre Nachbarn waren Ladeninhaber aus Italien.

Frantz’ Vorfahren väterlicherseits waren freie Grundbesitzer. Sein Urgroßvater war Sohn eines Versklavten und hatte als geachteter nègre à talents (»qualifizierter Schwarzer«) zunächst als Schmied gearbeitet, ehe er ein Stück Ackerland erwarb und Kakao anbaute. Fanons Mutter Eléonore besaß etwas, das in der Kolonie Martinique noch viel wertvoller war als Grund und Boden: weiße Vorfahren. Denn die Ahnen ihrer Mutter stammten ursprünglich aus Straßburg im Elsass. Dort hatten sie sich Ende des 17. Jahrhunderts angesiedelt, nachdem sie vor religiöser Verfolgung aus Österreich geflüchtet waren. Der Name Frantz war vermutlich eine Hommage an diese elsässischen Wurzeln.

Wie viele Angehörige des martinikanischen Kleinbürgertums waren die Fanons Sozialisten, die sich leidenschaftlich mit der Republik identifizierten, die für das Ende der Sklaverei gesorgt und ihrer Familie Wohlstand beschert hatte. Als Bewohner der vieilles colonies waren sie wahrscheinlich französischer als die Franzosen, und die Vorstellung, fälschlicherweise für nègres aus den afrikanischen Kolonien gehalten zu werden, die Frankreich sich im 19. Jahrhundert angeeignet hatte, war ihnen ein Grauen.

Frantz wurde am 20. Juli 1925 als fünftes von acht Kindern des Paares geboren. Zuweilen ist darüber spekuliert worden, dass er es in seiner Familie nicht immer leicht gehabt habe. Ein früherer Biograf behauptete, er sei aufgrund seiner besonders dunklen Hautfarbe stigmatisiert worden, was Joby Fanon allerdings vehement bestritt. Alice Cherki, eine Psychotherapeutin, die mit Fanon zusammengearbeitet hat, schreibt: »[…] er hatte tatsächlich nicht diese kaum wahrnehmbare, aber reale Grundgelassenheit der Söhne, die von einer liebenden, gar mehr als liebenden Mutter bedingungslos unterstützt werden.«30 Trotzdem kommt in Fanons Briefen, die er während des Krieges nach Hause schrieb, eine große Zuneigung zu seiner Mutter zum Ausdruck, während er kein Hehl aus seiner Verachtung für den häufig abwesenden Vater macht, der ständig nur arbeitete und sich wenig für seine Kinder interessierte. Die wenig substanziellen Zeugnisse, die wir von seinem Familienleben haben, lassen jedenfalls keinerlei Rückschlüsse auf etwas Ungewöhnliches, geschweige denn Traumatisches zu.

Später argumentierte Fanon, dass die »Verlassenheitsneurose« (ein Ausdruck, den er von der Psychoanalytikerin Germaine Guex übernahm), unter der die kolonisierten Antillaner litten, nicht durch unzureichende elterliche Fürsorge ausgelöst worden sei, sondern durch Vernachlässigung seitens der Kolonialherren. Diese hätten nämlich die Rolle der elterlichen Autorität übernommen, um die Kinder der Überseegebiete kleinzuhalten. Der von Frankreich verkörperte symbolische Vater war in Fanons Schriften von weitaus größerer Bedeutung als biologische Väter wie Félix Casimir Fanon.

Fanon war ein ausgesprochen lebhaftes Kind – so wild, dass Eléonore Fanon zuweilen scherzhaft sagte, man habe ihn im Krankenhaus wohl mit ihrem eigentlichen Sohn vertauscht. Immer wieder war er in Schlägereien verwickelt, einmal verletzte er sogar einen anderen Jungen mit einer Rasierklinge. Doch die meisten seiner Eskapaden waren harmlos. Joby Fanon schildert in seinen Erinnerungen an den jüngeren Bruder, wie die beiden nach Einbruch der Dunkelheit über den Zaun eines Obst- und Gemüsemarktes kletterten und Mangos, Aprikosen und Orangen stahlen – »eher wegen des Nervenkitzels als aus Hunger«. Frantz war begeisterter Fußballer und entwickelte sich in seiner frühen Jugend zu einem noch viel leidenschaftlicheren Leser. In der Schœlcher-Bibliothek verschlang er sämtliche Klassiker der französischen Literatur. Joby konstatiert: »Wir waren wahrhaft frei.«31

Frantz erinnerte sich dagegen weniger nostalgisch an seine Kindheit.

Alice Cherki gibt in ihrem biografischen Porträt Fanons ein Gespräch mit ihm wieder, in dem er berichtet, wie er zunächst verwundert und dann wütend darauf reagierte, als sein Lehrer ihm nahelegte, er verdanke seine Freiheit einem toten Weißen. Dieser weiße Mann war der französische Politiker Victor Schœlcher, der 1848 das Dekret über die Abschaffung der Sklaverei in allen vieilles colonies abfasste und später als Vertreter für Martinique und Guadeloupe in die Nationalversammlung gewählt wurde.32

Der Sohn eines wohlhabenden Porzellanfabrikanten hatte im Jahr 1829 während einer Geschäftsreise in die Neue Welt tiefe Verachtung gegenüber der Sklaverei entwickelt.33 Bei seinen Aufenthalten in Mexiko, Florida, Louisiana und Kuba entsetzte ihn besonders der rassistische Charakter der Sklaverei. Zurück in Frankreich, verurteilte er in einem Artikel mit dem Titel »Des Noirs« die Ausbeutung von Sklaven, ging jedoch nicht so weit, ihre umgehende Befreiung zu fordern, sondern schlug stattdessen einen allmählichen Freilassungsprozess vor, der sich über vierzig bis sechzig Jahre erstrecken sollte. Erst als er erfuhr, dass die Plantagenbesitzer sich weigerten, ihren Sklaven Bildung zu ermöglichen, sprach er sich gegen das schrittweise Vorgehen aus und forderte »die sofortige Abschaffung der Sklaverei«, so der Untertitel seines Berichts von 1842 über die Reise in die Karibik.

Seitdem setzte er sich unermüdlich für die Abschaffung ein, als stellvertretender Staatssekretär für die Kolonien und Präsident der Sklaverei-Kommission wurde er faktisch zum Gestalter einer neuen gesellschaftlichen Ordnung auf den Antillen. Der Schriftsteller Victor Hugo schildert auf bezeichnende Weise jene Zeremonie, bei der Schœlcher am 19. Mai 1848 auf Guadeloupe das endgültige Aus der Sklaverei verkündete: »Als der Gouverneur die Gleichheit der weißen, der mulattischen und der schwarzen Rasse verkündete, standen nur drei Männer auf der Tribüne, die sozusagen die drei Rassen repräsentierten: ein Weißer, der Gouverneur, ein Mulatte, der ihm den Sonnenschirm hielt, und ein Neger, der ihm den Hut trug.«3435

Wenig überraschend zeigt Schœlchers Vorstellung von der Abschaffung der Sklaverei auf, welche Grenzen es für die Freiheit Schwarzer Menschen innerhalb des kolonialen Kapitalismus nach wie vor gab. Denn es wurden weder die alten Plantagen zerschlagen, noch erhielten die ehemals Versklavten Land zu ihrer Verfügung. Vielmehr wurden die Sklavenhalter für den Verlust ihrer Sklaven entschädigt, während die befreiten Männer und Frauen auf den Ländereien verblieben und dort für den Anbau von Marktfrüchten sorgten. Da die weißen Siedler eine Integration entschieden ablehnten – sie fürchteten insbesondere die Aussicht, Menschen gemischt-ethnischer Herkunft als ihresgleichen akzeptieren zu müssen –, bestand auf Martinique und in anderen antillanischen Gesellschaften weiterhin eine informelle Segregation fort. Schœlcher selbst stellte 1881 fest, dass von den 138 staatlichen Bediensteten auf Martinique 99 weiß waren, 38 gemischter Herkunft und lediglich ein einziger Schwarz: ein Polizeibeamter. Der Historiker Robin Blackburn schreibt dazu: »Wenngleich Schœlchers Menschlichkeit und seine guten Absichten keinesfalls anzuzweifeln sind, wurde sein paternalistischer Sozialrepublikanismus zu einer Klammer, um die gemischt-ethnische Bevölkerung an den französischen Kolonialismus zu binden.«36

Fanon, der die koloniale Welt später als »eine Welt von Statuen […], die mit ihren Steinen die gepeitschten und zerschundenen Rücken erdrückt«,37 charakterisierte, besichtigte im Alter von zehn Jahren mit seiner Schulklasse das Schœlcher-Denkmal. Es war 1887 im La Savane Park errichtet worden, einer Grasfläche, wo er sonntags oft Fußball spielte. In Schwarze Haut, weiße Masken beschrieb er die Grünanlage als »seitlich von wurmstichigen Tamarindenbäumen begrenzt« und konstatierte anschließend: »Ja, diese Stadt ist jämmerlich gestrandet. Auch dieses Leben.«38 Den Mittelpunkt des Denkmals bildete die Statue Schœlchers auf einem Sockel, ein befreiter Sklave blickte dankbar zu ihm auf. Die Inschrift feierte Schœlcher als Helden, der die Sklaven von ihren Ketten befreit habe.

La Savane war außerdem der Standort der Schœlcher-Bibliothek – eines imposanten, pagodenähnlichen Gebäudes aus Gusseisen und Glas. Es wurde zunächst in den Pariser Tuilerien errichtet und später in Einzelteilen nach Martinique verschifft, wo man es wieder aufbaute. Sein Eingangsfoyer zieren die Namen von Rousseau, Voltaire und anderen Philosophen der französischen Aufklärung.

Fanon erinnerte sich, wie er damals seinen Lehrer fragte: Warum betrachten wir Schœlcher als Helden? Und warum erzählt uns niemand, wie es vor der Sklaverei war? Mit anderen Worten, was ist unsere Geschichte?

Fanon setzte sich später mit der ihm vermittelten Geschichte auseinander und bewertete sie als invasive Form kultureller Kolonisierung. In Schwarze Haut, weiße Masken schreibt er:

Auf den Antillen identifiziert sich der kleine Schwarze, der in der Schule immer wieder »unsere Väter, die Gallier« durchnimmt, mit dem Forschungsreisenden, dem Zivilisator, dem Weißen, der den Wilden die Wahrheit bringt, eine ganz und gar weiße Wahrheit. Es handelt sich um Identifizierung, denn der junge Schwarze nimmt subjektiv die Haltung des Weißen an. […] Nach und nach bildet und kristallisiert sich beim jungen Antillaner eine Haltung, eine Denk- und Sehgewohnheit, die durch und durch weiß ist. […] [Als Erwachsener] ist [er] ein Gekreuzigter. Das Milieu, das ihn gemacht hat (und das er nicht gemacht hat), hat ihn grausam zerstückelt.«39

Schwarz und kolonisiert zu sein bedeutet, eine nicht von den eigenen Vorfahren gemachte Welt zu erben und zur Nachahmung verurteilt zu sein. Eine unmögliche Nachahmung allzumal, denn das Tragen einer weißen Maske macht niemanden zu einem weißen Menschen und verschafft ihm erst recht keine Freiheit. Ganz im Gegenteil verstärkt es die Entfremdung und den Selbsthass.

Dass der zehnjährige Fanon das Schœlcher-Denkmal infrage gestellt hat, ist schwer vorstellbar, war doch die Maske damals viel zu eng für eine derartige Rebellion. Indessen kann man sich leicht ausmalen, wie der ältere Fanon sich bestürzt und beschämt daran erinnert, es nicht getan zu haben.

Als in Europa am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, lief in Brest Admiral Georges Robert mit dem Kreuzer Jeanne d’Arc aus, um seine neue Aufgabe als Hochkommissar für die französischen Antillen und Oberbefehlshaber der Westatlantik-Flotte anzutreten. Das Ziel seiner Militärflottille war Fort-de-France, der Stützpunkt des französischen Einsatzgebietes im Westatlantik. Als in La Savane Gräben ausgehoben und aufgrund zu erwartender Luftangriffe Schulen geschlossen wurden, ging in der martinikanischen Mittelschicht die Angst um, dass der Krieg ihre Insel erreichen könnte.

Fanons Mutter plagte jedoch eine viel handfestere Sorge: Frantz und Joby trieben sich in den Straßen herum und stellten allerlei Unsinn an – ungeachtet des zunehmend verzweifelten mütterlichen Bemühens, sie zu disziplinieren. (Einer der besonders kreativen Versuche, ihre Eskapaden zu verhindern, bestand darin, sie in die Kleider ihrer Schwestern zu stecken.) Im November schickte Eléonore ihre Söhne dann zum Lernen nach Le François. In dieser Stadt an der Atlantikküste unterrichtete ihr Onkel Édouard Französisch. »Ich erwarte tadelloses Betragen«, gab sie ihnen mit auf den Weg.

Casimir Fanon war außer sich, dass die Söhne ohne seine Zustimmung umgesiedelt worden waren, doch Frantz bewunderte seinen unverheirateten Onkel sehr, und dieser war wiederum beeindruckt von den Schreibkünsten seines Neffen. Zu dessen ersten literarischen Versuchen gehörte ein Schulaufsatz, der von einer Geschichte inspiriert war, die Fanon bei einem Klassenausflug zu einem Herrenhaus auf einer ehemaligen Plantage gehört hatte: Der Besitzer der Plantage, ein reicher Béké, hatte im Keller des Hauses sein Gold versteckt und dazu die Hilfe eines Sklaven in Anspruch genommen. Anschließend ermordete er diesen Sklaven und vergrub den Leichnam neben dem Gold, damit der Geist des Mannes den Schatz vor Dieben schützte. In Frantz’ Aufsatz ging es selbstverständlich vor allem um den vergrabenen Schatz. Doch zugleich nahm er auf verblüffende Weise die Auffassung des älteren Fanon vorweg, dass der »Wohlstand und der Fortschritt Europas […] mit dem Schweiß und den Leichen der nègres, der Araber, der Inder und der Asiaten errichtet« wurden.40

Im Juni 1940 wurde Frankreich von Nazi-Deutschland besetzt, und Admiral Robert erklärte seine Loyalität zu Marschall Philippe Pétain. Der achtzigjährige Held des Ersten Weltkriegs hatte einen kläglichen Waffenstillstand mit den Nationalsozialisten ausgehandelt, der Frankreich in eine besetzte nördliche und eine »freie« südliche Zone gliederte, die von einem in Vichy ansässigen Marionettenregime regiert wurde. Fanon erfuhr von dem Waffenstillstand kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag. Die Alliierten befürchteten, dass die dreihundert Tonnen Gold, die man aus der französischen Nationalbank nach Martinique gebracht hatte, den Nationalsozialisten in die Hände fallen könnten, und schmiedeten deshalb Pläne zum Sturz der Regierung Roberts. Im Mai 1942 erkannten sie sie jedoch an, wofür Robert ihnen ihm im Gegenzug seine Neutralität zusicherte.

Aufgrund dieser Vereinbarung blieb der einzige Flugzeugträger Frankreichs, die Béarn, vor Anker, und die übrigen Kriegsschiffe im Hafen von Fort-de-France wurden unter US-amerikanischer Aufsicht außer Gefecht gesetzt, woraufhin Tausende französische Marinesoldaten vor Ort strandeten. Plötzlich gab es für die Martinikaner kein Fleisch mehr, weil sämtliche Rinder den weißen Militärangehörigen vorbehalten waren, die – wie Fanon es nannte – die Insel »überschwemmten«. »Um zu überleben, stellten wir praktisch alles selbst her – Seife, Salz, Kokosöl, Schuhe aus alten Autoreifen und Fliesen«, erinnerte sich Joby.41

Während der sogenannten Tan Robé – kreolisch für Roberts Zeit – waren die Gegner von Vichys »nationaler Revolution« mit einer Welle von Staatsterror konfrontiert. (Casimir Fanon geriet als Mitglied der Freimaurer ebenfalls unter Verdacht.42) Das Motto »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« an der Fassade der Schœlcher-Bibliothek, wo sich Fanon häufig zum Lesen aufhielt, wurde durch den Wahlspruch des Vichy-Regimes »Arbeit, Familie, Vaterland« ersetzt. In der an der Atlantikküste gelegenen Stadt La Trinité erhielt eine nach Victor Hugo benannte Straße den Namen Marshal-Pétain-Boulevard.

Rassismus hatte es selbstverständlich auch schon vor der Tan Robé auf Martinique gegeben: Das Thema Hautfarbe durchdrang den gesamten Alltag. Äußerte eine Mutter etwa: »X ist das schwärzeste meiner Kinder«, so meinte sie damit Fanon zufolge »das am wenigsten weiße«.43 »In der Tat pflegt man auf Martinique von einer Form des Heils zu träumen, die darin besteht, sich magisch weiß zu machen.«44 Von Schwarzen Beamten in ihren weißen Leinenanzügen sagte man auf der Insel, sie ähnelten »einer Pflaume in einer Milchschale«.45

Doch der Rassismus wurde dadurch verschleiert oder zumindest etwas abgemildert, dass die Geschicke Martiniques nicht von den weißen Békés geleitet wurden, sondern von Angehörigen der kreolischen Bevölkerung mit gemischt-ethnischer Herkunft. Fanon selbst hatte als Kind nur wenige Begegnungen mit den Békés gehabt, zu Beginn der Tan Robé aber gingen diese mit dem Rückhalt des Besatzungsregimes politisch in die Offensive. Zwar verzichtete das Regime darauf, sämtliche PoC-Bürgermeister abzusetzen, doch die politische Klasse wurde zunehmend weißer. Flottenangehörige machten kein Hehl aus ihrer Verachtung für die Einheimischen. Matrosen sprachen schamlos Frauen auf der Straße an, als wären sie Prostituierte. In einem Kino schlief ein Matrose gar ein und legte sich dabei auf mehrere Schwarze Zuschauer.

Glissant beschrieb das Martinique der 1940er-Jahre als ein Fleckchen Erde, das »nach so vielen vergessenen Gewalttaten nun die Gewalt einer neuen Welt an sich riss«.46 Doch die Gewalt der Sklaverei wurde weniger vergessen als verdrängt, und die Erinnerungen daran kamen rasch wieder hoch. Einige Martinikaner befürchteten, dass die Sklaverei wieder eingeführt werden könnte. Schließlich hatte Napoleon diese absurde Institution 1802 – acht Jahre nach der Abschaffung durch die Französische Revolution – auf Betreiben von Kaiserin Joséphine, der Tochter eines martinikanischen Plantagenbesitzers mit dreihundert Sklaven, wieder erlaubt.47 Anschließend vergingen noch einmal 46 Jahre, ehe Frankreich die Sklaverei endgültig überwand.

Die Sprache des Widerstands gegen das Robert-Regime war geprägt von Metaphern aus dem Plantagenleben. Schwarze, die während der Tan Robé von Martinique nach Saint Lucia oder Dominica flüchteten, bezeichneten sich selbst als »Marrons«, also entlaufene Sklaven. Dem Historiker Julius S. Scott zufolge gab es in der Karibik seit Ende des 18. Jahrhunderts, also dem Zeitalter der Französischen und der Haitianischen Revolution, eine enge symbolische Verbindung zwischen dem Erlebnis, auf hoher See zu sein, und der Freiheit.48 Zur See zu fahren bedeutete, zu einem herrenlosen Rebellen zu werden, möglicherweise aufrührerische Ideen von Freiheit und Selbstbestimmung mitzubringen. Dabei bestand jederzeit die Gefahr, zu ertrinken und das Schicksal von Millionen afrikanischer Menschen zu teilen, die auf den Sklavenhandelswegen über Bord geworfen worden waren.

Die Begeisterung der Békés für die nationalistische Revolution Pétains überrascht wenig, strebten sie doch nach der Wiedererlangung ihrer Macht. Allerdings gab es auf Martinique auch eine Reihe von People of Color, die sich auf die Seite Vichys schlugen. Eine von ihnen war Lucette Céranus Combette, eine bemerkenswerte junge Frau aus Fort-de-France, die unter dem Pseudonym Mayotte Capécia einen autobiografischen Roman verfasst hat. Combette stammte aus einer armen Familie und arbeitete bereits im Alter von dreizehn Jahren in einer Schokoladenfabrik. Als ein Leutnant aus Admiral Roberts Streitkräften sie zu umwerben begann, erkannte sie ihre Chance zum sozialen Aufstieg. Ebenso begierig wie berechnend schloss sie sich der Oberschicht des Vichy-Regimes an, nahm an der Seite ihres weißen Partners an Galas teil und äußerte sich verächtlich über die Schwarzen Infanterieeinheiten, die im Juli 1943 dabei mitwirkten, das Robert-Regime schließlich zu stürzen – sie bezeichnete sie als negrés der untersten Klasse.49

In Schwarze Haut, weiße Masken gibt es ein Kapitel, in dem Fanon sich mit Schwarzen Frauen auseinandersetzt, die sich in der Hoffnung auf »Laktifizierung« mit weißen Männern einließen. Darin geht er hart mit Capécias Roman Je suis martiniquaise (dt. Titel: Ein Mädchen von Martinique) ins Gericht. Fanons Verhöhnung von Capécia und anderen »zerzausten farbigen Frauen auf der Suche nach dem Weißen.«5051 hat dafür gesorgt, dass ihm von feministischer Seite seit Langem Sexismus vorgeworfen wird. Doch seine Verachtung Capécias als notorische Vertreterin der »horizontalen Kollaboration« auf Martinique war keineswegs frauenfeindlich motiviert. Als er das Buch schrieb, war er bereits Kriegsveteran, und sie hatte sich zum Feind ins Bett gelegt.

Alistair Horne weist in seinem Klassiker über die Dekolonialisierung Algeriens, A Savage War of Peace (»Ein grausamer Krieg des Friedens«), auf einen der kurioseren und nicht leicht zu erklärenden Nebenaspekte des Algerienkrieges hin, dass es nämlich bei den Kampfhandlungen auf beiden Seiten ungewöhnlich viele Angehörige von Berufen gab, die eigentlich der Bewahrung menschlichen Lebens verpflichtet waren. Dabei hatte er womöglich Fanon im Sinn. Allerdings war Fanon bereits lange Zeit vor seinem Entschluss, eine medizinische Laufbahn einzuschlagen, Soldat geworden.

Anfang 1943, am Abend der Hochzeit ihres gemeinsamen Bruders Félix, berichtete Frantz seinem Bruder Joby von seinem Vorhaben, sich den Forces françaises libres anzuschließen. In wachsender Zahl setzten sich junge Männer – kollektiv als Dissidenz bezeichnet – nachts mit Fischerbooten, die von passeurs (»Schmugglern«) gerudert wurden, von der Insel ab. Ziel waren die zu Großbritannien gehörenden und nördlich beziehungsweise südlich von Martinique gelegenen Inseln Dominica und Saint Lucia. Mehr als viertausend Martinikaner versuchten, über den Seeweg zu den Forces françaises libres unter dem Kommando von Charles de Gaulle zu stoßen. Manche von ihnen erreichten ihr Ziel allerdings nicht. Von Martinique aus lagen die anderen beiden Inseln zwar nur gut dreißig Kilometer entfernt, doch das Meer war dort aufgrund starker atlantischer Strömungen und zahlreicher Haie besonders gefährlich.

Joby, dem die Risiken nur allzu bewusst waren und der sich weniger von patriotischen Parolen mitreißen ließ, versuchte seinem Bruder den Plan auszureden, doch vergeblich: »Ich konnte Frantz nicht zur Vernunft bringen.«52 Joby zufolge war Frantz davon überzeugt, dass sich die Vichy-Vertreter auf der Insel nur als Franzosen ausgaben, jedoch in Wirklichkeit verkleidete Deutsche waren. Frantz war damals der Auffassung, dass die Repräsentanten eines der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verpflichteten Landes keinesfalls Rassisten sein konnten. Die offizielle Ideologie Frankreichs war schließlich universalistisch und folglich ihrem Wesen nach antirassistisch.

Joseph Henri, ein Schwarzer Lehrer, der sowohl Frantz als auch Joby in Philosophie unterrichtet hatte, widersprach dem vehement. Als Henri – ein radikaler Pazifist – erfuhr, dass einige seiner Schüler entschlossen waren, sich den Forces françaises libres auf Dominica anzuschließen, warnte er Joby und seine Mitschüler, sich nicht in einen Krieg der Weißen verwickeln zu lassen. »Feuer verbrennt, und Krieg tötet«,53 argumentierte er. »Die Frauen getöteter Helden heiraten Männer, die gesund und am Leben sind. Was in Europa geschieht, geht uns nichts an. Wenn Weiße sich gegenseitig erschießen, ist dies ein Segen für Schwarze.«

Als Joby die Warnungen Henris an seinen Bruder weitergab, soll Frantz geantwortet haben, wenn die Freiheit auf dem Spiel stehe, gehe dies jeden an, unabhängig von der Hautfarbe. So besagt es zumindest die Legende, und bedauerlicherweise sind Legenden vielfach das Einzige, worauf wir zurückgreifen können. Diese edle Replik, die sich liest wie für die Bühne formuliert, wird immer wieder als Beleg für Fanons humanistischen Universalismus herangezogen. Und das wohl zu Recht. Fanon erkannte, dass der Nationalsozialismus der geschworene Feind jeden menschlichen Anstands war und daher bekämpft werden musste. Nicht minder bemerkenswert ist hier jedoch Fanons Unmut bis hin zu Gleichgültigkeit gegenüber dem Aufruf des Lehrers zur ethnischen Solidarität.

Fanon selbst begriff sich damals nicht unbedingt als Schwarz. Wie die meisten der Mittelschicht angehörenden martinikanischen PoC verstand er sich seit jeher als französischer Antillaner. Als er im Kino Tarzan sah, identifizierte er sich mit dem Herrn des Urwalds und nicht mit den Afrikanern – den eigentlichen nègres. Wenn seine Mutter sein Verhalten tadelte, sagte sie auf Kreolisch »Ja nègre« – »Du wirst noch zu einem Schwarzen.«54 Wie alle französischen Kinder war er mit Schauergeschichten über die tirailleurs sénégalais (»Senegalschützen«) aufgewachsen, Angehörigen der Kolonialtruppen aus Afrika.55 »Wir wussten über sie nur, was die Alten von 1914 erzählten: ›Sie greifen mit dem Bajonett an, und wenn das nicht geht, rennen sie mit dem Messer in der Faust quer durch das Maschinengewehrfeuer […]. Sie hauen die Köpfe ab und sammeln Ohren‹.«56

Erstmals zu Gesicht bekam er die tirailleurs sénégalais kurz vor dem Krieg, als eine Gruppe von in Französisch-Guayana stationierten tirailleurs Fort-de-France passierte. Die afrikanischen Soldaten wirkten auf ihn ähnlich wie auf weiße französische Kinder: tapfer und grausam, faszinierend und etwas beängstigend. »Begierig hielten wir in den Straßen Ausschau nach ihrer Uniform, von der man uns erzählt hatte: rote Mütze und roter Gürtel.« Casimir Fanon lud sogar zwei von ihnen zum Essen nach Hause ein, sehr zur Freude seines staunenden Sohnes. Frantz gab später in Schwarze Haut, weiße Masken zu, dass sein Selbstverständnis sich gar nicht so sehr von dem Mayotte Capécias unterschied, die sich »in ihren Träumen weiß und rosig sieht«. Diese Illusion galt auf Martinique zur Kolonialzeit als »etwas ganz Normales«.

Im Gegensatz zu Capécia schloss sich Fanon bekanntermaßen dem Widerstand gegen den Faschismus an, statt mit dem Robert-Regime zu kollaborieren. Dennoch identifizierte er sich in ähnlich starkem Maße mit Frankreich wie sie. Nur handelte es sich um ein anderes Frankreich – das »wahre« Frankreich der Revolution und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte statt Vichys Frankreich. Seine spätere Ablehnung des Mutterlands glich demnach der eines enttäuschten Sohnes.

Während des Krieges folgte Fanon nicht nur einmal, sondern zweimal seinem Glauben an das »wahre« Frankreich. Beim ersten Mal begab er sich nach Dominica und schloss sich den Forces françaises libres an. Seine Überfahrt bezahlte er, indem er einen vom Vater gestohlenen Stoffballen verkaufte, aus dem dieser ihm einen Maßanzug hatte schneidern lassen wollen.57 Er brach an einem Strand unweit von Le Morne-Rouge auf, einer Stadt an den südöstlichen Hängen des Mt. Pelée. Joby begleitete ihn bis nach Saint-Pierre und versuchte bis zum Schluss, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Wie andere Mitglieder der Dissidenz hoffte Frantz, von Dominica nach Trinidad und von dort aus nach Großbritannien zu gelangen, wo er zu den Françaises libres stoßen wollte. Doch seine Reise erwies sich als ebenso kurz wie gefährlich.

Während Fanon auf Dominica eine Grundausbildung absolvierte, kam es auf Martinique zur Revolte. Ein Teil der am Stadtrand von Fort-de-France stationierten französischen Truppen, von denen viele der Kolonial-Infanterie angehörten, meuterte gegen Admiral Robert. Angeführt wurden die Aufständischen von Henri Tourtet, einem gaullistischen Offizier. Mit Unterstützung des Martinikanischen Befreiungskomitees, einer lokalen Widerstandsorganisation, überwältigten Tourtets Leute Roberts Armee und vertrieben ihn von der Insel, die anschließend dem Kommando der Forces françaises libres unterstellt wurde. Dies markierte das Ende der Tan Robé.

Wenige Wochen später kehrte Fanon zurück nach Hause, wo ihn in den Straßen Gesänge à la »Lang lebe de Gaulle« empfingen. Doch er gab sich nicht mit diesem lokalen Sieg zufrieden. Kaum war das Fünfte Antillanische Marschbataillon unter dem Kommando von Oberstleutnant Henri Tourtet gebildet worden, verpflichtete er sich erneut. Joby bescheinigte seinem Bruder »eine Logik der Sturheit und des krankhaften Starrsinns«.58 Doch Fanon war davon überzeugt, auch für die Freiheit seines eigenen Volkes zu kämpfen. Glissant zufolge war für »eine Bevölkerung, deren Unterwerfung durch den Anderen im Dunkeln liegt«, der Kampf in einer Kolonialarmee »das letzte Mittel«.59

In der Nacht des 12. März 1944 brachen Fanon und sein Schulfreund Marcel Manville mit der Oregon nach Nordafrika auf – zusammen mit rund eintausend weiteren Soldaten von den Antillen, die allesamt unter Tourtets Oberbefehl standen. Fanon äußerte gegenüber Manville, eigentlich müsse die schwarze Fahne gehisst werden, da kein einziger Béké an Bord war, sondern ausschließlich kolonisierte Schwarze Männer, die sich aufgemacht hatten, ihre Kolonisatoren vom Nationalsozialismus zu befreien. »Hitler, wir werden dich von deinem Hügel stoßen«,60 sangen sie beim Auslaufen auf Kreolisch.

2   Kriegslügen