Ashes - Pechschwarzer Mond - Ilsa J. Bick - E-Book

Ashes - Pechschwarzer Mond E-Book

Ilsa J. Bick

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Beschreibung

Wenn nur noch eins zählt - du oder ich ...

Die Welt, die wir kannten, existiert nicht mehr. Ein entsetzlicher Anschlag hat alles verändert. Nur wenige Städte sind verschont geblieben, hinter deren Schutzwällen nun zweifelhafte Rädelsführer ihr Unwesen treiben. Die unheilbringenden Anhänger der Stadt Rule sind unter den angrenzenden Gemeinden berühmt-berüchtigt, und man rüstet sich zum Krieg gegen sie.

Alex und ihre Freunde geraten zwischen die Fronten von machtgierigen Anführern, einer gefährlichen Miliz und einer Horde von menschenfressenden Bestien - jenen Jugendlichen, die sich seit der Katastrophe verwandeln und zur tödlichen Gefahr geworden sind. Die letzte Schlacht ums nackte Überleben hat begonnen. Doch lohnt sich ein Kampf für ein Leben in dieser totgeweihten Welt überhaupt noch?

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Seitenzahl: 506

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Inhalt

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Teil I

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

Teil II

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

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38

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56

Ein langer Weg

Danksagung

Über dieses Buch

Die Welt, die wir kannten, existiert nicht mehr. Ein entsetzlicher Anschlag hat alles verändert. Nur wenige Städte sind verschont geblieben, hinter deren Schutzwällen nun zweifelhafte Rädelsführer ihr Unwesen treiben. Die unheilbringenden Anhänger der Stadt Rule sind unter den angrenzenden Gemeinden berühmt-berüchtigt, und man rüstet sich zum Krieg gegen sie.

Alex und ihre Freunde geraten zwischen die Fronten von machtgierigen Anführern, einer gefährlichen Miliz und einer Horde von menschenfressenden Bestien - jenen Jugendlichen, die sich seit der Katastrophe verwandeln und zur tödlichen Gefahr geworden sind. Die letzte Schlacht ums nackte Überleben hat begonnen. Doch lohnt sich ein Kampf für ein Leben in dieser totgeweihten Welt überhaupt noch?

Über die Autorin

© Frank Strukel

Ilsa J. Bick ist Kinder- und Jugendpsychiaterin und ehemalige Air-Force-Majorin, widmet sich mittlerweile aber ganz ihrem Autorinnendasein. Am liebsten schreibt sie Jugendbücher und Kurzgeschichten, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde.

Ilsa J. Bick

ASHES

Pechschwarzer Mond

Aus dem Englischen von

Gerlinde Schermer-Rauwolf, Sonja Schuhmacher

und Robert A. Weiß (Kollektiv Druck-Reif)

beBEYOND

Digitale Ausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Vollständige digitale Ausgabe der 2013 bei LYX INK.digital erschienene Ausgabe.

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Original English language edition first published in 2013 under the title Monsters by Carolrhoda Books, a division of Lerner Publishing Group, Inc., 241 First Avenue North, Minneapolis, MN 55401

Copyright © 2013 by Ilsa Bick

All rights reserved

Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Textredaktion: Diana Steinbrede

Covergestaltung: Anke Koopmann/Guter Punkt, München, unter Verwendung eines Designs von Hanna Hörl Designbüro, München, und eines Motivs von © Peter Karasev

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-4780-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Ich trage ein Tier, einen Engel

und einen Wahnsinnigen in mir.

– Dylan Thomas

TEIL I

SPUR DES BÖSEN

1

Sein Verstand setzte fast aus. Chris stand nur da wie erstarrt. Versteinert.

Lena war völlig abgemagert, unter der Haut traten spitz die Knochen hervor. Ihre matten Augen lagen tief in den schmutzig braunen Höhlen. Abgesehen von dem Schal waren ihre Kleider zerrissen, dreckig. In ihrem verfilzten Haar hingen totes Laub und abgebrochene Zweige.

»Lena«, krächzte er mit erstickter Stimme. Seine Brust war plötzlich zu eng für sein wild hämmerndes Herz, seine Lunge zwischen Eisenwänden gefangen. »W-wo …w-wie …«

Sie sagte nichts, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte er: Sie ist nicht echt. Das ist ein fauler Trick. Du fühlst dich schuldig, das ist …

Dann blieben seine Augen – anscheinend die einzigen noch funktionierenden Körperteile – an dem lindgrünen Schal hängen. O Gott. Das Entsetzen packte ihn. Das letzte Mal hab ich den gesehen, als wir in dieser Schule übernachtet haben und die Veränderten kamen. Chris hatte Lenas Schal gestohlen und ihn ganz bewusst auf einen Leichenhaufen gelegt. Weil ich nicht sicher war, was mit ihr los ist. Er wusste noch, wie sich sein Magen verkrampft hatte, als dieser Junge, ein Veränderter, sich Lenas Schal um den Hals wickelte. Und jetzt hatte Lena ihren Schal wieder, und das hieß …

»M-M-Moment mal.« Er wollte einen Schritt zurück machen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. »L-Lena …«

Lautlos griff sie an, wie durch Nebel sah er Klauen und Zäh…

»Nein!« Um sich schlagend fuhr er auf, stürzte aus dem Bett – und landete mit einem Plumps auf dem Boden. Die Fensterscheiben erzitterten. Keuchend drehte er sich auf den Rücken. Seine Brust war schweißnass, das Haar klebte ihm am Schädel.

»Entspann dich, es war ein Traum«, sagte er zur Zimmerdecke. Mit dem Arm wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Nur ein Traum.«

Mein Gott, aber so real wie die Albträume. Sein Blick glitt zur Uhr auf dem Nachttisch. Es waren nur fünf Minuten verstrichen. Abgesehen vom Ticken der Uhr herrschte Totenstille im Haus.

Eingedöst. Er setzte sich auf. »Warum träume ich dauernd von dir, Lena?«, flüsterte er. Wenn er nicht aufpasste, würde ihm das noch den Rest geben. Stöhnend kniete er sich hin, kam dann auf die Beine und wankte zum Südfenster. Der gefrorene Teich war ein goldenes Oval. Der lange blauschwarze Schatten des Hauses zog sich bis zum hintersten Gebäude. Der Pferch war leer, die Kühe wahrscheinlich zum Melken im Stall.

»Hör auf, dich selbst zu bemitleiden, Chris. Versuch dein Glück, so wie bei Alex. Versteck dich nicht mehr«, sagte er zur Wand. Er drückte die Handflächen gegen das kalte Glas. »In Gottes Namen, du bist kein Achtjähriger mehr. Erzähl Hannah oder Isaac von Lena und Alex, erzähl es irgendjemandem. Mach’s einfach. Wenn sie es verstehen, gut. Wenn nicht …« Na, sie würden ihn schon nicht gleich umbringen, oder? Verunsichert runzelte er die Stirn. Nein, das wäre doch Wahnsinn. Würde er es an ihrer Stelle tun?

»Nein«, entschied er. Er würde so einem Kerl ein paar Lebensmittel mitgeben, ihm die Augen verbinden, ihn weit weg führen, ihm die richtige Richtung weisen und ihm alles Gute wünschen. Wenn Hannah und Jayden klug waren, würden sie wegziehen und ihm, Chris, keine Chance geben, ihnen jemals auf die Spur zu kommen. Natürlich wäre es hart, alles zurückzulassen, was sie aufgebaut hatten, aber sie waren stark. Sie würden es schaffen.

Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit sollte er verschwinden. Hier konnte er nichts mehr ausrichten, nichts mehr herausfinden. Keine Armee williger Kinder rekrutieren. Wenn Jess’ Plan so aussah, dann war sie verrückt. Das waren doch nur Kinder, die versuchten zu überleben. Er konnte sie nicht zwingen zurückzukehren, er wollte sie nicht mal darum bitten.

Und was den Rest betraf, all diese Geheimnisse – okay, jetzt wusste er Bescheid. Juhu. Na und? Die einzige offene Frage war, ob die Leute in Rule ahnten, was Peter und der Rat im Schilde führten, und einfach nur den Mund hielten. War ihm das wirklich wichtig genug, wollte er tatsächlich zurückgehen und die Zone auflösen, es mit dem Rat aufnehmen?

»Vielleicht.« Aber nicht für sie. Die Kinder, die Peter und ich zurückgebracht haben, sind nie danach gefragt worden, was sie wollen. Du darfst sie nicht in diesem dunklen Schatten aufwachsen lassen. Was für Menschen sollen aus ihnen werden? Gerade er sollte wissen, wie es war, wenn man mit Gespenstern und Blut heranwuchs, das sich nie wegwaschen ließ.

Ausgerechnet in diesem Augenblick knurrte sein Magen, ein unpassendes Geräusch, das ihn auflachen ließ. Er sollte besser aufessen, es war vielleicht seine letzte gute Mahlzeit für lange Zeit. Als er sich vom Fenster abwandte, bemerkte er im Augenwinkel eine ganz leichte Veränderung des Lichts, etwas Dunkles huschte vorbei. Eher aus Gewohnheit als aus Sorge schaute er genauer hin.

Zwei Jungs –Jayden und Connor, dachte Chris – liefen über den Schnee zum Stall. Aha. Er war mit den Gedanken ganz woanders, hatte Hunger und grübelte gleichzeitig darüber nach, wie er ihnen das mit Lena und Alex beibringen sollte, bevor er nach Rule zurückging. Am besten wandte er sich direkt nach Süden, dann würde er zu Fuß nicht mehr als vier Tage brauchen. Drei, wenn er einen Zahn zulegte. Von Hunter wusste er, dass sie Nathans Ausrüstung hatten. Ein Glück. Mit dem Funkgerät konnte er erst einmal hineinhorchen und herausfinden, wie er sich unauffällig in die Stadt stehlen konnte, ohne dass man ihm den Kopf wegpustete.

Der Eintopf war eiskalt, die zähflüssige Soße klebte an den Kartoffel- und Karottenstücken und dem Wild. Er schob sich einen Löffel voll in den Mund. Das Fleisch schmeckte ein bisschen muffig, eben nach Wild, und es war zäh. Wahrscheinlich ein alter Bock, oder Jayden hatte ihn nicht gleich niedergestreckt. Peter hatte einmal gesagt, je länger ein angeschossener Hirsch noch rennt, umso verdorbener schmeckt das Fleisch, weil sich Säure im …

»Muskel bildet«, sagte er mit vollem Mund. Moment mal. Was hab ich da grad gesehen? Er lehnte sich zurück, legte mit Bedacht den Löffel in die Schale und erinnerte sich, was er durchs Fenster beobachtet hatte. Zwei Jungs, die zum Stall liefen. Und das war ein Problem, weil …?

»Weil«, er schluckte, »sie auf der Jagd waren.« Wenn sie also gejagt und die Fallen überprüft haben …»Wo ist das Wild?«, fragte er sich laut. »Tja, es könnte sein, dass sie nichts erlegt haben. Jeder hat mal einen schlechten Tag.«

Aber hatte Hannah nicht gesagt, Jayden käme nie mit leeren Händen zurück? Dass er immer bis an die Grenzen ging und ihr das eine Heidenangst machte?

Plötzlich begriff Chris, was er nicht gesehen hatte.

»Verdammter Mist.« Sein Stuhl kippte um, als er wieder zum Fenster hastete. »Sie haben keine Beute. Und auch keine Gewehre …«

Die Jungs waren inzwischen viel näher am Stall. Keine Gewehre. Keine Pferde. Kein Wild – weil sie immer noch auf der Jagd waren.

Doch statt der zwei waren es jetzt … zehn Veränderte.

2

»Los-los-los.« Alex hörte sich jetzt selbst, aber die Stimme klang leise und immer noch tobte der rote Sturm mächtig in ihrem Kopf. »Pusch-pusch«, sagte sie, blind brachen die Worte aus ihr heraus. »Pusch-pusch-pusch. Los, ihnen nach, schneller, los …«

Ein Schmerz zuckte durch ihren rechten Schenkel. Ächzend stieß sie die Luft aus und spürte, dass, was auch immer das Monster in ihrem Kopf gepackt hatte, abrupt losließ. Sie blickte auf und sah Darth zu einem weiteren Tritt ausholen.

»Hör auf, Darth, hör auf.« Mühsam rappelte sie sich auf. »Ich stehe ja schon, okay?« Ausnahmsweise einmal freute sie sich fast, ihn zu sehen. Mein Gott, was war das denn? Geistesabwesend fasste sie sich an die juckende Oberlippe. Als ihr Blick danach erst auf den Handschuh, dann auf das spinnenförmige Rot im Schnee fiel, setzten ihre Gedanken aus. O nein. Angst presste ihr das Herz zusammen. Bei ihrem letzten Nasenbluten war das fressgierige Monster auf die doppelte Größe angewachsen. Vielleicht war der rote Sturm, das Pusch-pusch-pusch, nichts anderes als das Monster, das, inzwischen größer und stärker geworden, ihr Hirn zerfetzte.

Also vielleicht ist nur das gerade passiert. Das Monster hat sich bis zu einem Punkt entwickelt, wo es das … dieses da … tun kann …Sie wusste nicht mal, wie sie es nennen sollte.

Darth gab ihr wieder einen Stoß, diesmal mit dem Lauf seiner Waffe. »Ja, ja.« Sie zog das Blut die Nase hoch. Als sie jedoch auf die Einfahrt zustapfte, ging Darth voraus und sie konnte noch rasch einen Blick zu den tief hängenden Ästen der Tannen werfen. Erst dachte sie, der Wolfshund sei verschwunden, aber dann entdeckte sie ihn weiter hinten, im Schatten, unter einer Blautanne kaum zu sehen. Wie schräg ist das denn? Darth schien das Tier entweder nicht zu bemerken oder es war ihm egal. Wenn man bedachte, dass hier Wolfskadaver als rituelle Wächter dienten und Wolf eine entsprechende Kutte trug, musste Darth eigentlich wissen, dass das Tier da war. Es sei denn, das war nur Wolfs ganz besonderer kleiner Fetisch, sein Seelenbegleiter oder was auch immer, mit dem sich Darth und die anderen einfach abfanden.

Sie dachte darüber nach, was sie gerade erlebt hatte. Wie sollte sie es nennen? Einen Bewusstseinssprung? Oder hatte sich jemand in ihr Bewusstsein hineingedrängt? Oder beides? Denk nach, Alex, wie hat es angefangen? Sie war bei dem Wolfshund gewesen … nein, das stimmte nicht ganz. Der Bewusstseinssprung war passiert, als sie sich entspannte und das Tier anlockte. Sie hatte in ihrer Wachsamkeit nachgelassen, und dann war entweder ihr Monster herausgekommen oder etwas – jemand – hatte es gepackt. Und was bedeutete das nun genau?

Ihr Monster wachte immer dann auf, wenn Wolf in der Nähe war. Vielleicht war er also schon auf dem Weg hierher und sie hatte unterschwellig seinen Geruch aufgeschnappt, ihn aber nicht bewusst wahrgenommen, weil sie an die Veränderten gewöhnt war. Könnte sein. Sie hatte keine Ahnung, wie weit ihr sechster Sinn reichte. Wahrscheinlich spielte auch der Wind eine Rolle, aber im Moment regte sich kein Lüftchen. Doch Wolf könnte in der Nähe sein. Ohne Darth aus den Augen zu lassen, verlangsamte sie ihren Schritt und schnupperte, ließ die Luft über ihre Zunge streichen, doch sie konnte nur den Kupfergeschmack ihres Blutes, Nadelbäume, Schnee, den flüchtigen Duft des Wolfshundes wahrnehmen. Kein Wolf.

Na schön, das also nicht. Es sei denn, Wolf ist auf dem Heimweg und das Monster weiß irgendwie davon. Ja, aber wie sollte das funktionieren? Vielleicht so, wie du an jemanden denkst, und dann klingelt plötzlich dein Handy. Was bedeuten würde, dass ihr Monster auf irgendeine merkwürdige Art mit Wolf in Kontakt stand.

»Tja, Schätzchen, ich hoffe, das ist nicht der Fall.« Eine aufkommende Brise teilte das Wölkchen ihres Atems. Aber was hab ich gesehen? Was war das? Sie drehte sich um und schaute zurück zu dem Hang am See. Sie konnte es einfach nicht genau …

»Moment mal.« Blinzelnd betrachtete sie die blendenden Sonnenstrahlen auf der makellosen Schneefläche des Sees. Genau das hab ich gesehen! Es war einfach irreal. Es ist nicht dieselbe Perspektive, aber wenn das der See war …»Beim Bewusstseinssprung war der See links von mir. Das heißt, ich kam von Westen.« Ihre Augen weiteten sich. Und ich habe drei Jugendliche gesehen, vor mir, sie sind weggelaufen …

»Nein, das stimmt nicht ganz. Pusch-pusch-pusch«, flüsterte sie. Das grelle Licht trieb ihr Tränen in die Augen. »Los-los-los.« Was bedeutet das? »Denk nach, Alex, mach schon.«

Zuerst waren sie und das Monster gesprungen – nein, nein, sie wurden in jemanden hineingezogen, in einen Jungen. Ein Veränderter, zielstrebig, übersprudelnd vor Jagdeifer. Bei ihm war dieser rote Sturm, das Pusch-pusch-los-los. Aber da war noch jemand gewesen, der schrie:Lass mich los-los-los.

Und dann hatte sich ihr Blickwinkel verschoben. Ich bin weiter nach vorn gesprungen, in jemand anderen, auch ein Junge. Was sie dann empfunden hatte, war anders gewesen: nicht nur das Pusch-pusch-los-los, sondern das Gefühl, gereizt und gleichzeitig gejagt zu werden, zwei … nein, drei anderen Veränderten hinterher, so wie Cowboys Vieh zusammentrieben. Zwei von ihnen hatte sie ziemlich deutlich gesehen: den schlaksigen Kerl mit der wilden Mähne und einen kleineren …

»O mein Gott«, hauchte sie. Alex, du Idiotin. Das war Marley, also muss der kleinere Junge Ernie gewesen sein. »Und das bedeutet, diese anderen Veränderten jagen alle …«

Ein Schuss zerriss die Stille.

3

»Hannah!« Chris schlug mit der Faust gegen die Scheibe. Unten auf dem Schnee, und jetzt schon viel näher am Stall, teilten sich die Veränderten auf, fünf rechts, fünf links. Die nehmen sie in die Zange. Wieder hämmerte er gegen das massive Doppelglasfenster. »Hannah, Hannah!«

Blöd, sinnlos, was machst du da? Er musste hier raus. Chris packte den Fenstergriff, aber der bewegte sich nicht, dann sah er das Schlüsselloch und begriff. »Ein Schloss?« Wer auch immer dieses Zimmer eingerichtet hatte, wollte wirklich, dass hier keiner herauskam. Also musste er entweder das Fenster einschlagen und am Spalier hinunterklettern oder die Tür auftreten. Beides nicht toll, aber durchs Fenster ging es schneller.

Chris hob den Stuhl hoch, packte ihn an den Beinen und holte aus. Als die hohe Lehne gegen das Glas schlug, spürte er den Aufprall bis in die Handgelenke. Silberne Sprünge durchzogen die Scheiben wie das Netz einer irre gewordenen Spinne. Mit einem frustrierten Aufschrei holte er nochmals aus. Diesmal durchstieß die Lehne das Glas, die Scheiben barsten mit einem gewaltigen Krachen. Chris wickelte die beiden Geschirrtücher, mit denen Hannah das Essen abgedeckt hatte, um seine Hände und stieß herabhängende Glasdolche weg, dabei brüllte er: »Hannah! Hannah, pass auf, pass auf! Isaac, Isaac!«

Er sah, dass der stetige, tödliche Vormarsch der Veränderten plötzlich stoppte. Ihre Gesichter konnte er auf die Entfernung zwar nicht erkennen, wohl aber, dass sie sich umdrehten und zum Haus schauten. Gut, sehr gut! Er hatte ihren Angriff gebremst, wenn auch nur für einen Augenblick. Die Hände wie einen Trichter an den Mund gelegt, schrie er: »Hannah, Hann…«

Die Westtür des Stalls schwang auf. Ein Kopf tauchte auf, weißer Haarschopf, breite Schultern. »Isaac!«, röhrte Chris. »Die Türen verbarrikadieren! Es sind zehn, es sind zehn!«

Der Kopf des alten Mannes verschwand, Chris hörte, wie die Stalltür zuschlug, dann das Echo. Gut. Er hatte sie gewarnt. Jetzt wollte er helfen. Er ging zur Tür, zögerte, inspizierte den Türpfosten. Oje, ein Riegel? Egal. Mach’s einfach. Er nahm Anlauf, packte seinen rechten Arm mit der linken Hand und rammte die Tür, dass er den Aufprall bis in die Zähne spürte. Seine Schulter schrie auf vor Schmerz. Die massive Eichentür zitterte, aber das Holz war unversehrt geblieben. Wieder rammte er die Tür, und noch ein drittes Mal. Er stöhnte laut auf. Beim vierten Mal wuchs der Schmerz in seiner Schulter zu einem gellenden Kreischen an, aber die Tür hielt stand.

»Verdammt.« Kalte Luft wehte durch das zerbrochene Fenster herein. Sein Atem gefror, als er die Fäuste in die Hüften stemmte und versuchte, den Schmerz in seiner Schulter zu ignorieren. Vielleicht muss ich doch aus dem Fenster klettern. Da fiel ihm auf, was er gleich hätte bemerken sollen: Der Riegel an der Tür war zwar außen, aber sie schwang nach innen auf.

»Die Angeln.« Er flitzte zurück zum Tisch. Hannah hatte ihm weder Messer noch Gabel gegeben, aber … »Einen Löffel hab ich«, jubelte er, ergriff ihn und eines von Hannahs Büchern. Der Löffel war aus schwerem Edelstahl, er würde eher brechen als sich verbiegen. Chris klemmte den Griff auf Höhe des Drehbolzens waagrecht in die Angel und schlug dann mit dem Buchrücken darauf. Zu seinem Erstaunen ertönte schon nach ein paar Schlägen ein metallisches Quietschen und das Bandoberteil hob sich um einen Zentimeter. »Komm schon«, ächzte Chris und schlug weiter auf den Löffel. Noch einmal hob sich das Bandoberteil einen Fingerbreit. »Komm schon, komm …«

Das unverkennbare Krachen einer Schusswaffe drang durch das kaputte Fenster. Chris erstarrte, sein Herz hämmerte. Wieder ein Schuss. Das ferne Muhen von Kühen und Wiehern von Pferden.

Mist. »Ich muss hier raus«, murmelte er und half schließlich mit den Fingern nach. Das Scharnier löste sich, jetzt sah er einen Spalt zwischen der oberen Türeinfassung und der Zarge. Noch ein Mal, dann kann ich sie aushebeln. Er ging in die Hocke, stemmte die Schulter gegen den Türpfosten und quetschte den schon schartigen Löffelstiel mit wippenden Bewegungen zwischen die Bänder des mittleren Scharniers. Das Gewicht der Tür machte ihm zu schaffen. Die linke Hand, mit der er den Löffel umklammerte, tat weh, sein rechtes Handgelenk pochte. Der Löffel hatte schon einen Halbmond in den Buchrücken und die ersten Seiten gestanzt. Gott sei Dank war es kein Taschenbuch –wurde er jetzt etwa hysterisch? Wieder hörte er Schüsse, und jetzt sprach er auch noch mit dem Scharnier: »Komm schon, komm …«

Da schoss der Bolzen des mittleren Scharniers heraus und fiel klappernd zu Boden. Chris schob den Löffel in die Gesäßtasche und warf das Buch beiseite, dann packte er die Tür und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Pfosten. Das untere Scharnier kreischte und gab mit einem Ruck nach. Chris riss die Tür auf und stürmte auf den Flur.

Sein Zimmer lag am Ende des Gangs. Zwei Türen rechts, eine links und dahinter ein kurzes Geländer und die Treppe. Chris sprintete die Wendeltreppe hinunter. Durch die Glasscheiben zu beiden Seiten der Eingangstür sah er eine große Veranda, von der er nichts gewusst hatte, weil sein Zimmer nach hinten raus ging. Links von ihm war ein geräumiges Empfangszimmer mit mehreren langen Bänken, das aussah wie ein Versammlungsraum. Am hinteren Ende befand sich eine Schwingtür. Jess hatte in ihrem Haus zwischen Küche und Wohnzimmer genauso eine Tür gehabt.

Schnapp dir ein Messer. Er durchquerte das Empfangszimmer und stürmte durch die Schwingtür. Oder vielleicht einen Schürhaken vom Holzofen.

Die Küche lag wie Chris’ Zimmer an der Südostecke des Hauses, hier herrschte bereits Zwielicht. Direkt vor ihm standen acht Stühle um einen ovalen Massivholztisch mit einem schweren Mittelfuß. Auf dem hellblauen Tischtuch war für zwei Personen gedeckt, wahrscheinlich ein spätes Abendessen für Jayden und Connor. Eine hübsche altmodische Petroleumlampe mit mattiertem Schirm und einem Fuß aus grünem Glas prangte in der Mitte. Rechts vom Tisch stand ein schwarzer gusseiserner Herd auf einem gemauerten Podest, daneben eine Kiste mit Eichenscheiten, ein Ascheeimer, Kehrblech und Handfeger. Auf dem Herd dampfte ein Stieltopf. Drei Eisentöpfe und zwei große Bratpfannen baumelten an einem Regal. Hinter dem Esstisch standen Küchenschränke aus Eiche, darauf ein gut sortierter Messerblock. Eine Tür mit Blümchenvorhang, links von einem altmodischen Kühlschrank, führte nach draußen.

Dann bemerkte er, was er zuvor übersehen hatte: In dem Raum war es weder gemütlich warm noch kalt, aber ein kühler Luftzug war zu spüren, als wäre gerade jemand hinausgegangen …

Oder reingekommen.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Blümchenvorhang an der Küchentür … sich noch bewegte. Nicht stark, aber deutlich erkennbar.

Da dämmerte es ihm. Die Küche lag direkt unter seinem Zimmer. Immer wenn Hannah hier arbeitete, hatte er sie gehört. Durch seinen Warnruf hatte er den Veränderten also gezeigt, in welcher Ecke des Hauses sie suchen mussten.

Ein leises Schlurfen.

Genau hinter ihm.

4

Ein Gewehr. Alex hörte es an dem unverkennbaren peitschenartigen Knallen. Nah, aus westlicher Richtung. Noch bevor das erste Echo verhallt war, raste sie den Hügel hoch.

»Penny, ins Haus! Geh ins Haus!«

Jetzt zog auch der Geruch vom Wald herüber: nicht nur die vertraute Duftwolke kühler Schatten, auch der ranzige Mief von Verzweiflung. Wolf, inzwischen nah genug, um ihn zu riechen. Er steckte in der Klemme, war vielleicht verletzt. Noch ehe sie wusste, was sie tat, spürte sie, wie sich etwas in ihr ihm entgegenreckte – wie in ihrem Hirn wieder das Monster zuckend zum Leben erwachte und ihr die Gedanken entglitten. Einen Augenblick lang war sie sowohl in ihrem Körper als auch woanders und sah durch Wolfs Augen: beißende Angst auf der Zunge, saurer Schweiß auf der Brust. Das Haus erschien jetzt in voller Größe zwischen den Bäumen vor ihr, die Lichter in den Fenstern blinkten wie Leuchtfeuer. Etwas Schweres, der Sack, wollte ihr immer wieder von der Schulter rutschen …

Nur dass ich es nicht bin. Ihr Kopf war riesig. Dennoch fühlte sich alles, was sie selbst war, sehr weit weg an. So ähnlich musste sich Alice gefühlt haben, als sie in die Höhe schoss, nachdem sie ein Stück »Iss mich!«-Kuchen verdrückt hatte. Alex war sowohl hier drinnen als auch dort draußen, bei Wolf.

Wieder knallten Schüsse durch die Luft. Das Geräusch versetzte sie schlagartig zurück in ihren eigenen Kopf. Sie halten direkt auf uns zu. Vor Angst krampfte sich ihr Magen zusammen. Beweg dich, los, beweg dich!

Sie sprintete auf das Haus zu. Vor ihr huschten gerade Penny und Bert hinein, Penny allerdings so langsam und unbeholfen, dass Darth das Mädchen am Arm packte und hinter sich her zerrte. Als Alex die letzten paar Stufen hochhetzte, packte der große Kerl mit seiner riesigen Pranke sie an der Schulter und schleuderte sie die letzten Meter ins Haus. Erschrocken jaulte sie auf, als sie hinter der Schwelle auf den Holzboden krachte.

»Warte!« Alex rappelte sich auf und klemmte sich zwischen Tür und Pfosten, noch bevor Darth die Haustür zuknallen konnte. Vielleicht verstand er sie nicht, aber sie hatte nun mal nur Worte zur Verfügung. Und selbst Darth würde ihre Bedeutung kapieren. »Sie sind fast da! Die Schüsse klangen ganz nah. Gib Wolf eine Chance!« Das passte ihm nicht, Alex roch den empörten Widerwillen, der ihm aus den Poren drang, aber er ließ die Tür los.

Eine Minute, eher dreißig Sekunden. Hektisch schaute sie sich nach der besten Deckung um. Das Wohnzimmer war nur spärlich möbliert: Kamin und Holzofen auf einem gemauerten Podest zur Linken, eine Ledercouch und zwei Polstersessel auf einem ovalen Teppich in der Mitte, sodass man bequem die Aussicht aus dem großen Panoramafenster genießen konnte. Nicht genug, um die Tür solide zu verbarrikadieren; und hier in dem Raum in Deckung zu gehen, wäre glatter Selbstmord. Das Sofa würde nicht mal einem Pusterohr standhalten, und hinter dem Panoramafenster waren sie wie Fische in einem Aquarium.

Ihr Blick huschte an Penny vorbei, die hinter dem langen Frühstückstresen Schutz gesucht hatte, wo Alex Campingkocher und -lampe sowie ein paar Gaskartuschen bunkerte. Das Mädchen hatte die richtige Idee gehabt. Die Küche lag nach hinten versetzt, und das Fenster über der Spüle bot einen Fluchtweg. Wenn sie den Kühlschrank umkippte, konnte sie sich dahinter verschanzen.

Die zweitbeste Möglichkeit wäre, die Treppe ganz rechts hinaufzulaufen, die in einen weiten Dachspeicher führte, wo hinter einem kurzen Gang ein Badezimmer und zwei Schlafzimmer lagen, eins links, eins rechts. Leicht zu verteidigen – aber es konnte ebenso leicht zur Falle werden.

Dann eben die Küche. Sie lag näher, und Alex gefiel dieses rückwärtige Fenster immer besser. Ohne Waffe konnte sie sowieso nicht dabei helfen, das Haus zu verteidigen. Kurz fragte sie sich, warum sie ihnen überhaupt helfen sollte, dann dachte sie: Hab eine höhere Überlebenschance mit Wolf als mit denen, die hinter ihm her sind.

Sie rauschte an Bert vorbei, der wie angewurzelt dastand und eine Zwölfkaliberflinte umklammerte, in die Küche. Der frei stehende Kühlschrank links war ein altes Retro-Modell, wasserblau und weiß, mit Chromgriff. Den Inhalt hatte sie schon durchforstet, aber nichts gefunden außer vier hochgiftigen Eiern und einer mit graugrünem Flaum bewachsenen Masse in einem Glas, auf dem Mayonnaise stand. Jetzt zwängte sich Alex zwischen Wand und Kühlschrank, suchte mit den Füßen festen Halt auf dem Boden, ging in die Knie, spannte die Rückenmuskeln an und gab dem Kühlschrank einen Stoß. Das Gerät schwankte und kippte dann mit donnerndem Getöse um. In seinem metallenen Innern klirrten zerbrechende Gläser und Einschiebeböden; kurz darauf stank es entsetzlich nach gärenden Fäkalien, nach Schimmel und verwesendem Huhn.

»Penny, hierher!« Sie machte einen Satz zum Frühstückstresen und packte das Mädchen am Handgelenk. Mit einem erschreckten Fiepen versuchte sich Penny ihrem Griff zu entwinden. »Lass das!«, keuchte Alex und zog die strampelnde Penny mit sich wie ein widerspenstiges Kleinkind. »Willst du etwa erschossen werden? Hinter den Kühlschrank! Los …«

Am anderen Ende des Raums quietschten Türangeln. Marley stürmte mit einem winterlichen Luftschwall und wehenden Dreadlocks zur Eingangstür herein. Er wirbelte herum, brachte sein Gewehr in Anschlag und schoss, während Darth das Krachen und Knattern weiterer Schusswaffen ebenfalls mit Gegenfeuer erwiderte.

Wolf, wo ist Wolf? »Runter!« Alex schubste Penny hinter den Kühlschrank und schlich sich dann geduckt wieder ins Wohnzimmer. Sie hörte das Plock, als eine Kugel in die schwere Eichentür einschlug, und das Splittern von Holz. »Marley! Wo ist …?«

Eine Sekunde später erhielt sie die Antwort auf ihre Frage. Entsetzt sah sie, wie die Jungs die Treppe heraufwankten. Wolf hing ein bauchiger Sack über die linke Schulter, den rechten Arm hatte er um Ernie geschlungen. Als die beiden unter erneutem Kugelhagel hereinwankten und die Geschosse über sie hinwegsurrten, sah sie es ganz deutlich: Wolfs Gesicht war weiß wie ein gebleichtes Laken.

Und blutüberströmt.

5

Chris drehte sich nicht um. Darauf kam er gar nicht. Vielleicht hatte sein Verstand ja bereits alle Möglichkeiten durchgespielt und festgestellt, dass dieser Blick nach hinten ihn nur unnötig Zeit kosten würde. Oder dass er vor Schreck erstarren würde.

Er wich nach rechts aus, hörte links jemanden hastig einatmen, einen Stiefel aufstampfen. Von der Seite sauste etwas auf ihn zu. Eine Hand streifte sein Haar. Chris duckte sich, schnappte sich den erstbesten Stuhl, an dem er vorbeikam, und schleuderte ihn hinter sich, ohne sich umzudrehen. Holz krachte auf den Boden, dann strauchelnde Stiefelschritte, als wer oder was auch immer hinter ihm in den Stuhl stolperte. Aber es folgte kein Aufprall. Stattdessen schnappte eine riesige Hand nach seinem Hals, bekam eine Handvoll Hemdkragen und die enge seidene Thermo-Unterwäsche zu fassen und verdrehte sie.

Ihm blieb die Luft weg. Sein Herz begann zu hämmern und ihm wurde schwarz vor Augen, zuerst vor Angst und dann aus Atemnot. Zappelnd wie ein Fisch, der angebissen hatte und nicht mehr von der Leine kam, warf er die Arme hoch, doch die Thermowäsche war so eng, dass er keinen Finger zwischen Haut und Seide brachte. Sein Flanellhemd riss, Knöpfe sprangen ab und prasselten auf den Boden wie Trockenbohnen. Doch das feste Seidengewebe schnürte sich immer enger und straffer um seinen Hals. Nun wurde er auch noch geschüttelt wie eine Puppe. Ganz schwach nahm Chris das dumpfe Pochen und Scharren seiner Stiefel wahr, die über den Boden rutschten. Seine Knie gaben nach. Er merkte, wie er fiel, mit der Stirn gegen den Tisch krachte, als er vornüber stürzte. Irgendetwas – eine ganze Menge sogar – kippte herunter und zerbrach. Teller, ein Glas … Chris wusste es nicht. Von der Taille abwärts lag er flach auf dem Boden, aber sein Oberkörper hing noch in der Luft. Der Holzboden war gut fünfzehn Zentimeter von seiner Nase entfernt, weil ihn der Veränderte mit dieser seidenen Kragenschlinge im Nacken festhielt und seinen Körper der Schwerkraft überließ. Der Veränderte wollte, dass Chris ganz allmählich von seinem eigenen Gewicht erdrosselt wurde.

Was dann geschah, war purer Zufall.

Chris’ rechte Hand bekam etwas zu fassen. Es war scharf. Und es war seine letzte Chance.

Chris umklammerte die dolchartige Scherbe und stieß zu.

6

»Nein!« Alex flitzte an Bert vorbei und sprang zu Wolf, um ihn zu stützen, während Darth und Marley bereits die Tür zuwarfen. Wolfs Gesicht, seine Hände und das um den Hals geknotete Wolfsfell waren blutverschmiert, aus dem bauchigen Sack über seiner Schulter tropfte es.

Nein. Eine Sekunde – einen einzigen erschrockenen Augenblick lang – setzte ihr dummes, dummes Herz aus. Nein, du darfst nicht sterben, Wolf, du darfst nicht sterben!

Dann merkte sie, dass es nicht sein eigenes Blut war.

Ernies Gesicht war grau, seine Lippen fahl. Die kleinen bleigrauen Schweinsäuglein neben der Schweinsnase rollten in den Höhlen hin und her, die Hände hatte er gegen seinen triefnassen Bauch gepresst. Als Wolf ihm die Jacke aufriss, erkannte sie an dem Eisengestank und der glitschigen Masse gleich, wie schlimm es um ihn stand.

Aus Ernies Bauch quoll nicht nur Blut. Manches war schon zu einer geleeartigen Schmiere geronnen, doch das meiste war nur klebrig oder sogar ganz frisch. Denn Ernies Unterleib war böse zerfetzt, tiefe klaffende Wunden zogen sich gezackt von seinem linken Brustkorb nach unten, die Risse gingen durch Haut, Bauchfett und Muskelgewebe. Aus dreien dieser Risse traten bläuliche Eingeweide hervor. Die nach Fäkalien stinkende Wolke ließ Alex würgen, und sie sah, dass sich ein aalartiger Darmtrakt bereits zu blähen begann. In ihrem eigenen Bauch arbeitete sich rülpsend ein Knoten zur Kehle hoch.

Wahrscheinlich etwas Hakenartiges hineingerammt und dann herausgerissen. Vermutlich mit Zähnen und Klauen, was hieß, dass Wolfs Bande in eine Auseinandersetzung mit der Meute geraten war, die sich an ihre Fersen geheftet hatte. Alex beobachtete, wie erneut Blut in einer frischen Fontäne herausbrach. Da hatte es garantiert eine Arterie erwischt. Nun, eine mögliche Infektion wegen der zerrissenen Gedärme brauchte der Junge nicht zu befürchten. Sein Bauchraum floss inzwischen über und seine Lippen wurden kalkweiß, während die Arterien sein Blut hinauspumpten. Ein kalter Schweißfilm überzog Hals und Gesicht, die Schockwirkung setzte ein und der Junge fing an zu zittern.

Alex’ Blick wanderte zu dem bauchigen, blutgetränkten Sack. Dem Geruch nach war der Körper da drin diesmal ein Mann, und außerdem gab es viel Blut. Aber keine Innereien. Komisch. Aus Erfahrung wusste sie, dass Wolf und seine Bande Leber mochten, Herz liebten und Nieren nicht verachteten, nur aus Gekröse machten sie sich nichts. Vor allem aber zerlegte Wolf niemals ein Opfer und genehmigte sich nie auch nur einen Bissen, bevor er und seine Bande wieder in Sicherheit waren. Alex wusste, warum. In einer anderen Zeit und in einem anderen Leben hatte auch ihr Dad die Essensvorräte hoch über dem Boden in einem bärensicheren Beutel aufbewahrt, so wie Wolf und seine Bande ihre Reserven in diesem Packsack sicherten. Wenn man unterwegs war, wollte man sich nicht von ungebetenen Besuchern den Proviant klauen lassen. (Warum nicht mehr Veränderte zu Wolfs kleinem Versteck strömten wie Ameisen zum Zucker, wusste sie nicht. Sie mussten das Fleisch doch riechen. Sie jedenfalls konnte es.)

Tatsächlich war der Körper in dem Sack bereits zerlegt, ihm fehlten etliche Teile. Und dann war da noch der schwer verwundete Ernie, während andere Veränderte Wolf nach dem Leben trachteten.

»Ihr habt es ihnen gestohlen? Sie haben euch beim Stehlen erwischt?« Und sie hatte sich Sorgen gemacht, dass er verletzt sein könnte! Wolf war schmallippig und aschfahl, aber seine dunklen Augen –Chris’ Augen – funkelten. Mit der Flinte in der Hand wuselte Ernies Bruder Bert durchs Wohnzimmer, in der anderen Hand schwang er die Sanitätertasche. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Darth von der Tür wegsprang und unbeholfen zu dem gegenüberliegenden Fenster kroch. Für einen Sekundenbruchteil wollte sie ihn anbrüllen: Runter, du Idiot! Darth würde ein so verlockendes Ziel abgeben wie eine Schießbudenfigur. Drei Treffer, und das Plüschschwein gehört dir, kleine Dame! Doch stattdessen schnappte sie sich die Sanitätertasche von Bert und rief: »Was erwartest du von mir, Wolf? Ich kann da nichts …«

Da zerbarst das Panoramafenster in einem Glassplitterregen. Wo gerade noch Darth’ Kopf gewesen war, schwebte nur noch eine rote Wolke. Keuchend duckte sich Alex, während ihr rasiermesserscharfe Flechets um die Ohren flogen. Dann hörte sie einen erstickten Schrei. Sie fuhr herum und sah, wie Berts Hand an seine Wange schnellte. Ein Glassplitter, so lang wie ihr kleiner Finger, vibrierte in seiner rechten Augenhöhle. Ein anderer hatte sich ihm wie ein Dolch ins weiche Fleisch unter dem Wangenknochen gebohrt.

»Bert!« Entsetzt stieß sie Wolf beiseite, auch wenn ihr der letzte Rest gesunden Menschenverstandes sagte: Runter, bleib unten! Doch sie rannte auf den Jungen zu. »Bert, Bert, nicht anfassen, nein …«

Da ließ Bert einen weiteren heulenden Schrei hören – und seine Flinte entglitt ihm.

Alex sah in Zeitlupe, wie die Katastrophe ihren Lauf nahm: Berts Blutstrahl, der sich in einzelne Tropfen teilte, das Aufblitzen des vibrierenden Splitters, sogar wie die Flinte in einer merkwürdigen Arabeske herumwirbelte. Dann ging alles ganz schnell: Die Mündung war auf sie gerichtet, und ihr Verstand schrie: Runter, runter!

Einen Sekundenbruchteil zu spät.

Das Gewehr feuerte genau in dem Augenblick, als etwas gegen sie krachte und sie niederwarf. Wolf legte sich schützend über sie, als die Flinte donnernd aufröhrte. Das Geschoss schwirrte über seinen Kopf hinweg, zog eine Geruchsspur von heißem Messing und verbranntem Pulver hinter sich her und schlug mit einem schweren Dong in die Trockenbauwand ein. Noch mehr Kugeln pfiffen durch das zerborstene Fenster. Sie reckte den Hals und sah über Wolfs Schulter hinweg, wie Berts Körper einen kleinen krampfartigen Tanz aufführte, bevor er, mit dem Gesicht voran, umkippte. Trotz des Dröhnens in ihren Ohren hörte sie wie durch Watte gedämpft das Knirschen, als der gläserne Dolch den Knochen durchstieß und in sein Hirn eindrang. Bert streckte alle viere von sich wie eins dieser kleinen Kinder, wenn sie Totsein spielen, dann wurden seine Glieder schlaff.

Am Fenster hüpfte Marley immer wieder hoch und feuerte wild über die Fensterbank. Das Pock-pock, mit dem seine Schüsse erwidert wurden, und das metallische Scheppern, wenn die Kugeln vom gusseisernen Holzofen abprallten, zeigten Alex, dass er wohl nicht viel traf. Hoffentlich entzünden die Funken nicht das ganze Nadelholz. Ein Brand fehlt uns jetzt gerade noch. Ernie lag wie eine Wachspuppe in einer Blutlache. In der Küche schrie Penny.

»Du musst sie hier rausschaffen.« Sie lag immer noch unter Wolf eingeklemmt, ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und sein Wolfsfell so nah, dass sie den modrigen Geruch des Tieres roch, das einst darin gesteckt hatte. Sie erschnupperte auch Wolfs Panik, die knisternde Angst auf seiner Haut. Wenn sie ihm doch nur klarmachen könnte, was sie meinte! Einen Augenblick dachte sie: Alex, entspann dich; lass das Monster heraus; lass dir von ihm helfen. Doch sie bezähmte diesen Drang. Das wäre verrückt. Stattdessen legte sie Wolf die Hände auf die Schultern und fing seinen Blick ein. »Gib mir eine Waffe, Wolf. Lass mich helfen …«

Wieder ein donnerndes Ka-Bong und ein orangefarbener Lichtblitz, als ob draußen etwas explodiert wäre. Eine Sekunde später tobte ein Zyklon aus pulverisierter Erde und überhitzter Luft durch das kaputte Fenster und fegte Marley einfach um. Plötzlich war es in dem Zimmer so sengend heiß, dass es Alex im Hals und in der Lunge brannte. Wolfs Körper über ihr erstarrte, sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Drinnen wie draußen war die Luft übersättigt von Klängen und Gerüchen und Empfindungen: das pfeffrige Beißen von explodiertem Sprengstoff, ein einzelner Schrei irgendwo hinter dem Fenster, der schmutzige Schauer aus qualmenden, zitternden Fleischklumpen, das Knattern von Gewehren.

Dann herrschte Stille, als hätte sich die Zeit entschieden, ganz tief Luft zu holen … und da fiel Alex ein, was sie vergessen hatte, denn jetzt blitzte in ihrem Gehirn plötzlich etwas auf. Los-los-pusch-pusch.

Der rote Sturm – dieser seltsame Geist – war hier.

7

Wenige Sekunden lang wusste Chris nur, dass er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag, keuchend hustete und zu atmen versuchte, obwohl sich seine Kehle anfühlte, als träte jemand mit dem Stiefel darauf und wollte sie zermalmen. Blut tropfte ihm aus der Stirnwunde in die Augen und auf die Wangen. Der Kupfergeschmack in seinem Mund stammte von dem Biss, den er sich selbst zugefügt hatte; auch seine rechte Hand war glitschig, und die Finger fingen an zu glühen. Außer dem hohen, dünnen Pfeifen beim Ein- und Ausatmen hörte er ein kehliges »Auu, Auu«. Das allerdings nicht von ihm stammte. Er blinzelte das Blut weg und schaffte es, den Kopf zu drehen – wobei ihm fast das Herz stehen blieb.

An die gegenüberliegende Wand gelehnt stand ein Junge mit glitzernden Augen und Zottelhaaren. Ein Riese. Chris war groß, über eins achtzig, doch der Jugendliche brachte es locker auf zehn Zentimeter mehr. Außerdem hatte er eine Statur wie ein muskelbepacktes Fass. Allerdings war er mit jemandem – oder etwas – aneinandergeraten. Über das Gesicht des Veränderten zogen sich tiefe Schnitte, die bereits eiterten. Seine Unterlippe war gespalten, sie hing in zwei Lappen herab, sodass man bläuliches Zahnfleisch und verfärbte Zähne sah.

Mit den Händen umklammerte der Junge seinen rechten Oberschenkel. Ein blutverschmiertes Glasdreieck schimmerte schwach im schwindenden Licht, Blut tropfte auf den Boden. Als Chris ihn ansah, öffnete der Junge seinen verwüsteten Mund und brüllte wieder: »Auuu.«

Ich muss was tun. Obwohl sein Oberkörper bei jedem Atemzug schmerzhaft zitterte, kämpfte er sich aus dem zerrissenen Flanellhemd und zerrte sich dann die Thermowäsche vom Leib. Die rechte Hand hatte er sich an der Glasscherbe aufgeschnitten, aber die Finger ließen sich bewegen. Er rappelte sich auf, machte einen vorsichtigen Schritt, rutschte weg, musste sich an den Tisch klammern, um nicht zu fallen. Noch lauter als sein Herzklopfen war das Aufstampfen eines Stiefels, als der Junge sich von der Wand abstieß.

O Gott. Chris drehte sich um, seine Finger verkrampften sich, er schwankte. Ohne den Halt am Tisch hätten seine Knie wahrscheinlich erneut nachgegeben. Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte in seinem Kopf vollkommene Leere. Er vergaß, dass er kämpfen wollte. Er saß in der Falle, ohne Waffe und bereits verletzt. Vor weniger als einer Minute war er dem Tod so nahe gewesen, als hätte Hannahs Gift sein Gehirn durchströmt. Alles, was als Waffe dienen konnte – Töpfe, Pfannen, Messer –, lag hinter ihm, meilenweit entfernt. Und so konnte er nur zusehen, wie dieser Junge, dieses Monster, auf ihn zuwankte. Es war der Albtraum. Eine Mischung aus Fieberträumen von Peter und Lena – und aus Erinnerungen, in denen er nach dem Aufwachen immer einen Vater vorgefunden hatte, der nach Schnaps stank und hasserfüllt auf Chris hinunterschaute, in den blutunterlaufenen Augen nur eine einzige Botschaft: Ich bin erst in Sicherheit, wenn du tot bist.

Kämpfe! Chris ertastete einen Teller, und schon schleuderte er ihn wie eine Frisbeescheibe von sich. Der Junge sah das Geschoss kommen und schlug es weg, aber inzwischen hatte Chris sich bereits ein Glas, noch einen Teller, eine Untertasse geschnappt. Er warf alles, was er in die Hände bekommen konnte, lauschte dem Krachen und Scheppern und versuchte, auf die andere Seite des Tisches zu gelangen. Doch unerbittlich wie das Schicksal rückte der Veränderte immer näher. Er schien diesen Augenblick trotz seiner offenkundigen Schmerzen zu genießen. Vielleicht war der Junge auf Vergeltung aus, wollte ihm mit den Zähnen ein Stück Fleisch herausreißen, ihn richtig schwer verletzen, um ihn dann aber laufen zu lassen: Hau ab, kleiner Chris. Lauf. Verblute. Schau, wie weit du kommst.

Als wäre er des Spiels endlich müde geworden – vielleicht hatte er es ja satt, Teller abzuschmettern, und dieser Oberschenkel musste teuflisch wehtun –, griff der Veränderte nach dem Tischtuch und zog daran. Mit einem überraschten Aufschrei sprang Chris beiseite, als Geschirr und Besteck zu Boden rauschten und klirrend zersprangen. Auch der mit Petroleum gefüllte grüne Glasfuß der Lampe ging zu Bruch. Bei dem öligen Gestank krampfte sich Chris’ wunde Kehle zusammen. Nun schnappte sich der Junge einen Stuhl und schleuderte ihn wie einen schnellen Pass beim Basketballspiel. Seine Wurfbahn war perfekt. Vor Chris’ entgeisterten Augen wurde der Stuhl riesengroß, und er hatte keine Zeit mehr, sich zu ducken. Der Stuhl krachte ihm auf die Brust. Benommen geriet Chris ins Stolpern und fiel dann rücklings in eine Petroleumpfütze.

Steh auf, steh auf! Die Dämpfe ließen ihn würgen, doch er kickte den Stuhl weg. Mit einer Drehung versuchte er, auf die Knie zu kommen und wegzukrabbeln. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Junge mit dem Bein ausholte – und zutrat. Chris warf sich flach auf den Boden, hörte den Stiefel über sich hinwegsausen. Doch als er sich auf die rechte Seite rollte, um unter den Tisch zu gelangen, umklammerte der Veränderte seinen linken Knöchel. Verzweifelt schlang Chris die Arme um den schweren Mittelfuß des massiven Tischs, dann trat er mit dem rechten Fuß nach hinten aus. Er landete einen befriedigend dumpfen Schlag, dem lautes Grunzen folgte. Kaum hatte sich der Griff des Jungen gelockert, kroch Chris unter dem Tisch durch. Rechts vor ihm war der Holzofen – und da erspähte er die Waffe, die er brauchte. Wenn ihm bloß genug Zeit blieb …

Chris wirbelte herum, seine Hände griffen unter die Tischplatte, dann richtete er sich auf und hob den schweren Tisch ruckartig an, um ihn mit aller Kraft von sich zu stoßen. Mit Wucht kippte der Tisch um. Der Veränderte wich aus, aber mehr hatte Chris gar nicht gewollt, nur den Kerl ein paar Sekunden lang ausbremsen. Als der Veränderte nun um den Tisch herumjagte, packte Chris den Stiel des dampfenden Topfs auf dem Ofen. Das heiße Metall verbrannte ihm die Handflächen, und er stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus, zwang sich jedoch, nicht loszulassen; das war seine einzige Chance. Noch immer schreiend holte Chris zu einer brutalen Rückhand aus.

Ein fast kochender Wasserschwall und der schwere Stieltopf trafen den Veränderten im Gesicht. Mit einem hohlen Klonk krachte Eisen auf Knochen. Blut spritzte aus der Stirn des Jungen. Für einen kurzen Moment verharrte der Veränderte völlig reglos – dann stieß er anstelle des kehligen Auu einen langen, spitzen und mädchenhaften Schrei aus. Torkelnd kippte er nach hinten um und verhedderte sich in dem blauen Tischtuch, wälzte sich in glitschigem Petroleum.

Chris’ Hände brüllten vor Schmerz, doch er stürmte los – nein, nicht zum Messerblock mit seinem verlockenden Sortiment, sondern zu dem Hängeregal, wo er nach einer Bratpfanne griff und sie vom Haken riss. Gut einen halben Meter entfernt kniete der Veränderte, seine zitternden Finger wanderten über Fleisch, das purpurrot glühte, wo es nicht vor Blut triefte. Chris holte mit der Pfanne aus, in der festen Gewissheit, was getan werden musste und dass nichts auf der Welt ihn aufhalten konnte. In allerletzter Sekunde hob der Veränderte den Kopf, und Chris sah, dass sein linkes Auge so milchig geworden war wie das Eiweiß eines gekochten Eis.

Von fern, wie von einem anderen Planeten, ertönte ein Ruf, eine Tür ging.

Und dann hörte er seinen Namen: »Chris! Chris, halt!«

8

»Steh auf, mach schon!« Alex schob Wolf mit der Schulter beiseite und wand sich unter ihm hervor. In ihren Ohren hallte ein dunkles Brummen nach. Der Gestank nach verschmortem Fleisch und verbranntem Haar legte sich so beißend auf ihre Zunge, als würde sie einen verkohlten Grillrost ablecken. Versengte Fleischbrocken klebten auf Wolfs Rücken und in seinem Haar.

Marley hatte es schwer erwischt. Nase, Lider und Lippen waren nicht mehr vorhanden. Das Feuer hatte sich an seinen Dreadlocks entlang bis zur Kopfhaut gefressen, der Parka war ihm auf der Brust geschmolzen. Wo sein Gesichtsgewebe nicht verkocht war, glänzte die Haut schwarz wie Briketts. Nur die Zähne grinsten ungesund weiß in der grausigen Fratze.

»Langsam!« Ein Ruf, gedämpft durch das Surren in ihren Ohren: eine ältere Stimme, wütend. Männlich. »Wollt ihr denn alle umbringen, die …«

Männer? Waren sie der rote Sturm, oder arbeiteten sie ihm zu? Und was ist das? Ihr Verstand pendelte hin und her, das Monster war unschlüssig, was es tun sollte. Nicht einmal das Monster weiß, was das ist. Gleichzeitig spürte sie das Ziehen, die Versuchung loszulassen und sich in der brausenden Woge zu verlieren, die bei jedem Herzschlag durch sie brandete: pusch-pusch-pusch, los-los-los.

Alex huschte geduckt zur Vorderseite des Hauses und wagte einen kurzen Blick durch das zerschmetterte Fenster. Wo eben noch ein schneebedeckter Hügel gewesen war, rauchte jetzt ein Krater: aufgerissene schwarze Erde und qualmender Schutt. Sie haben eine Granate oder eine Bombe gezündet. Es war schwer zu sagen, wie viele Leichen dort lagen, denn alle waren zerfetzt: hier ein Stummel, der nach einem Ellbogen aussah; dort ein Fuß, dem vier Zehen und die Fußsohle fehlten; drei Viertel eines geplatzten Schädels, der am Rand des Kraters kippelte wie ein zertrümmerter Halloween-Kürbis. Ein anderer Veränderter lag mit verdrehten Gliedern in einem Kranz aus Blutspritzern auf dem Boden.

Was zum Teufel war da los? Aber was auch immer es gewesen sein mochte, bei diesem Kampf ging es um weit mehr als nur um die Frage, welche Beute wem zustand – zumal ja Unveränderte daran beteiligt waren. Ganz links nahm sie eine Bewegung wahr, es war die Richtung, aus der Wolf und all diese toten Veränderten vor gerade mal fünf Minuten gekommen waren. Etwas Weißes flitzte zwischen dunkelgrünen Kiefern und Hemlocktannen hindurch ins dichte Grün. Alex sah das Oval eines Gesichts, aber irgendetwas stimmte nicht damit. Und dieser Geruch …

Seltsam. Es waren Veränderte, daran gab es keinen Zweifel, aber in den charakteristischen Gestank nach gärender Kloake mischte sich noch ein anderer Geruch: penetrant chemisch, total künstlich. Er erinnerte Alex an den metallischen Geruch der Chemo, mit der die Ärzte dem Monster hatten beikommen wollen, vor allem an das Cisplatin, ein Medikament, bei dem sie sich die Seele aus dem Leib gekotzt hatte. Aber warum sollte irgendein Veränderter danach riechen?

Hinter diesen seltsamen Veränderten und zwischen den Bäumen konnte sie noch andere Gestalten ausmachen, die sich im Hintergrund hielten. Altmännermief und Pferdegeruch stiegen ihr in die Nase.

Unveränderte … zusammen mit Veränderten? Wie kann das sein …?

Plötzlich zuckte das Monster und verpasste ihrem Bewusstsein wieder diese merkwürdig drängenden Schubser –los-los-los, pusch-pusch-pusch –, während es – oder das, was da draußen war, – von ihr Besitz zu ergreifen versuchte.O nein, nichts da! Sie taumelte zurück und schnappte sich einen Glassplitter. Wolf missverstand das und wollte sie am Handgelenk packen, aber sie drehte sich rasch weg. »Nein, lass mich einfach nur …« Mit angespanntem Gesicht stieß sie sich rasch den Splitter in den Oberschenkel und zog ihn gleich wieder heraus. Zwar schrie sie vor Schmerz auf, aber etwas im dunklen Zentrum ihres Gehirns schaltete abrupt um und das Monster zuckte zurück. Weit genug. Ihr Verstand klärte sich, und sie blickte in Wolfs schreckgeweitete Augen.

»Komm schon, Wolf«, keuchte sie und warf den blutigen Splitter weg, »bevor wir alle sterben.«

Sie hob Berts Flinte und Ernies Gewehr auf, sprang in die Küche und ließ sich rechts hinter den Granittresen fallen. Als sie die Repetierflinte spannte, überlegte sie, das Magazin herauszunehmen und nachzuzählen, wie viel Schuss sie noch hatte, entschied sich aber dagegen. Sie hatte keine Lust, heruntergefallenen Patronen hinterherzukrabbeln. Wahrscheinlich fehlte eine, blieben also noch vier. In dem anderen Gewehr müssten noch fünf Patronen stecken oder sechs, je nachdem, ob Ernie damit geschossen hatte.

Das ist alles so unlogisch. Was wollen die? Zuerst jagt eine Gruppe Wolf und seine Bande, weil sie ihnen Essen gestohlen haben. Dann wird diese Meute von den seltsamen Veränderten niedergemacht. Und die stürmen jetzt das Anwesen, aber warum bloß? Da kann es doch nicht nur um Essen gehen.

Zu ihrer Rechten sah sie über den Rand des Kühlschranks hinweg Pennys erschrockenen Blick. Ganz plötzlich ging ihr ein Licht auf – ein hässlicher Gedanke, den sie aber nicht einfach abtun konnte. Mein Gott. »Erzähl mir nicht, dass es hier um dich geht«, sagte sie zu dem Mädchen.

Ein Riesenknall aus dem Wohnzimmer, gefolgt von ächzendem Holz und dem Quietschen von Scharnieren, als irgendetwas gegen die Haustür schlug. Die alte Eichentür erbebte, hielt aber stand. Dem Geräusch nach wurde sie von außen mit einem Vorschlaghammer oder Balken bearbeitet.

Wieder peitschten Schüsse, doch diesmal ganz in der Nähe, im Haus. Alex fuhr herum und sah Wolf, der immer noch im Wohnzimmer war, jetzt aber hinter der umgekippten Couch. Er fuhr hoch, gab noch einen Schuss ab und ließ sich fallen, als Kugeln hereinpfiffen. Wieder ein Bumm an der Tür, und durch das kaputte Fenster sah Alex diese komischen Veränderten vorbeisprinten. Wolf wagte sich einen Schritt nach links aus der Deckung heraus und versuchte, einen Schuss auf die Angreifer abzugeben, die die Tür aufstemmen wollten, warf sich aber gleich wieder flach hin, als erneut Kugeln durch die Luft zischten und scheppernd ans Ofenrohr prallten. Aus den Wänden und dem Kamin, wo die Geschosse in schneller Folge einschlugen, stoben Miniaturgeysire aus Stein und weißem Staub.

Maschinenpistolen? Wolf lag noch immer mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, und ihr blieb für einen Sekundenbruchteil das Herz stehen. »Wolf!« Kurz blickte er auf, in ihre Richtung. »Wolf, lass, du kannst doch nicht …« Wieder eine Gewehrsalve, im selben Moment erschütterte ein Krachen die Tür. Das Holz wölbte sich nach innen, wie eine Blase kurz vor dem Platzen. Von diesem Anblick war Alex so fasziniert, dass sie nur halb mitbekam, wie sich an dem zerbrochenen Panoramafenster etwas in ihr Blickfeld schob. Als sie dann nach hinten sah, lag Wolf noch immer auf dem Boden, während sich zwei behandschuhte Hände um das kaputte Fensterbrett krallten.

Versucht reinzukommen. »Wolf!« Alex verließ ihre Deckung, sprang am Tresen vorbei, die Flinte schon im Anschlag. »Bleib unten, bleib unten!« Sie feuerte einmal, flächenblitzartiges Mündungsfeuer und ein zu hoch angesetzter Schuss, aber die Hände ließen los. Wieder pfiffen Kugeln herein und schepperten gegen den Holzofen. Eine bohrte sich direkt über ihrem Kopf in den Kamin, sodass ihr ein Steinchenregen auf Haar und Hals prasselte. Sie ließ sich fallen, krabbelte auf allen vieren über Schutt und Scherben. Glas schnitt ihr in die Hände, und die Steine rissen ihr die Haut auf, dazu der Hitzeschwall aus dem nur wenige Meter entfernten Ofen und die eiskalte Luft, die vom Fenstersims zu ihr herabströmte.

Sie stürmte zu Wolf hinüber. »Entweder hoch oder hinten raus«, sagte sie, »aber hierbleiben können wir nicht.« Beides war nicht optimal. Wenn sie durchs Küchenfenster abhauen wollten, konnten sie sich gleich Zielscheiben auf den Rücken malen. Also blieb nur der Weg nach oben: ins Badezimmer, Penny in die Wanne setzen und dann konnten sie und Wolf jeden einzeln aufs Korn nehmen, der die Treppe heraufkam.

Bis uns die Munition ausgeht. Ihr Blick schwenkte von der Treppe zur Küche, streifte den Tresen mit dem Sammelsurium von Dingen, die sie im Keller gefunden hatte: Campingkocher, Campinglampe, Propangas. Trotzdem, oben ist bes…

»Warte mal.« Sie fasste wieder den Campingkocher ins Auge. Das Gas. »Feuer«, sagte sie nachdenklich. Ja, das könnte tatsächlich klappen. Da war das ganze harzige Kiefernholz. Der Kamin war voll von teerigen Kohlerückständen, sodass bereits die Luft nach Brikett roch. Ja, aber das ist genauso verrückt, dann werden wir bei lebendigem Leib gegrillt. Doch etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Also flitzte sie zum Tresen zurück, packte die drei Gaskartuschen und raste wieder zum Kamin, um sie dort zusammen mit dem klebrigen Holz, das Penny und Bert vor gerade mal einer halben Stunde hereingebracht hatten, hineinzuwerfen.

Sowohl hinter ihr als auch in der Küche barst Glas, ein Mädchenschrei gellte. »Penny!« Als Alex in die Küche raste, watete sie durch eine Flut von Scherben, die von dem zerbrochenen Fenster über der Spüle stammten. Glasstückchen glitzerten im Haar des Mädchens, von der Kopfhaut tropfte ihr Blut über die Wangen. »Komm.« Alex versuchte, das panische Mädchen auf die Füße zu ziehen. »Penny, komm. Wehr dich nicht gegen mich, wir gehen …«

Da schnalzte ein Gewehrschuss, ihr surrte eine Kugel über den Kopf – ein lauter, schriller Schrei ertönte. Keuchend schaute sie hoch, sah gerade noch den auf sie gerichteten Lauf von Wolfs Gewehr, fuhr herum und erspähte im letzten Moment einen alten Mann in der winterlichen Tarnkleidung eines Jägers, der die Hand auf sein blutendes Gesicht klatschte und vom Fenster zurücktaumelte.

Sie stürmen das Haus von vorn und von hinten. Einen Augenblick später lag kribbelnder Harzgeruch in der Luft, und Penny hörte auf, sich zu wehren. Sie sprang hinter dem Kühlschrank hervor, als Wolf aus dem Wohnzimmer hastete, um sie zu holen. Während sie aus der Küche hinauspolterten, zeigte Alex die Treppe hoch: »Badezimmer, Badezimmer!« Hinter sich hörte sie Scharniere kreischen und Holz brechen und dachte: Vielleicht noch zehn Sekunden.

Als sie sich umdrehte, um Wolf und Penny zu folgen, fiel ihr Blick auf die grüne Sanitätertasche, die von der ersten Explosion neben die Tür geschleudert worden war. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, flitzte sie quer durchs Zimmer, schnappte sich mit einer Hand die Tasche und machte sofort wieder Richtung Treppe kehrt. Auf halbem Weg sah sie, wie Wolf die Badezimmertür auftrat, einen Duschvorhang beiseitefegte und Penny in die Wanne setzte.

Wieder krachte unten Metall gegen Holz. Noch mehr Schüsse. Und Stimmen. Es kostete Alex all ihre Willenskraft, nicht hinter Wolf und Penny ins Bad zu rennen. Nur noch ein paar Sekunden. Sie spürte, wie Wolf sich ihr von hinten näherte, dann seine Hand auf ihrem Arm, als er versuchte, sie aus dem Weg zu schieben. Aber sein Schuss musste tödlich sein, für einen zweiten blieb keine Zeit.

Sie sah ihn an. »Ich hab was Besseres als das Gewehr«, sagte sie und zog die Leuchtpistole heraus, die sie sich hinten in den Hosenbund gesteckt hatte. Der Schreck des Wiedererkennens stand ihm ins Gesicht geschrieben, und sie konnte es auch riechen: Wolf kannte diese Waffe.

Unten gab die Tür krachend nach. Sie spähte um die Ecke. Drei dieser seltsamen Veränderten, in Tarnweiß und bewaffnet mit etwas, das nach MAC-10-Maschinenpistolen aussah, verteilten sich strategisch im Wohnzimmer. Dazu mitten in ihrem Kopf das gedämpfte Pochen: los-los-pusch-pusch. Gleich darauf hörte sie das Murmeln von Stimmen und erblickte vier alte Männer, die aus der Küche zu ihnen kamen.

Okay, Dad. Sie ging in die Hocke, schob die Leuchtpistole durchs Treppengeländer, stabilisierte sie mit beiden Händen und suchte sich ihr Ziel. Genau wie auf dem Schießstand.

Dann drückte sie ab.

9

»Chris!«, rief jemand. »Chris, warte, lass mich …«

Doch Chris hielt nicht inne, sah sich nicht um, dachte nicht nach. Er wollte nicht, konnte nicht. Brüllend ließ er die Pfanne wie einen Knüppel niedersausen, mit einer Wucht, dass es ihm fast die Arme auskugelte. Der Veränderte glotzte noch zu Chris hoch, als die Pfanne aufprallte – und das Geräusch, das sich bereits so tief in Chris’ Erinnerungen und Albträume eingegraben hatte, wurde wieder Realität: ein Schlag, das Klonk einer Axt, die sich in einen Baumstamm frisst. Eines Hammers, der Knochen und Hirn durchdringt. Eines gusseisernen Pfannenbodens, der einen Schädel zertrümmert.Der Kopf des Jungen wurde zur Seite gerissen, und über den Tumult in seinem Inneren hinweg hörte Chris, wie knackend das Rückgrat brach.

Schwer atmend und mit blutverschmierten Wangen stand Chris vor dem leblosen Körper, während eine Stimme dröhnte: Los, Junge, schlag ihn noch mal, schlag ihn, los … »Los«, sagte er mit einer Stimme, die nicht die seine war, »schlag ihn blutig, zahl es ihm heim, du w-willst doch …d-du willst …«

Da wurden ihm die Knie weich, die Erde tat sich auf, Chris stürzte in die Finsternis einer Ohnmacht und …

»Chris.« Eine Stimme in seinem Ohr, dann ein Rütteln. »Wach auf. Öffne die Augen.«

»Neeiin.« Er lag wieder unter der Baumfalle im Schnee, in einer Blutlache, war am Erfrieren, starb einen langsamen Tod. Alles tat ihm weh. Er versuchte den Kopf von der Stimme wegzudrehen, doch eine Hand hielt sein Kinn fest. »Ich kann nicht«, sagte er. »Es ist zu anstrengend. Das Sehen tut weh.«

»Lass das«, beharrte die Stimme. »Mach die Augen auf.«

»Warum?«, fragte er noch, während er zaghaft blinzelte. Natürlich war es wieder Jess mit ihrem medusenhaften Haar und den schwarzen Spiegelaugen: links ein Chris, rechts ein Chris. Oder Simon und Simon, je nachdem, wie man es betrachtete. »Warum soll ich das tun? Was willst du? Was nützt es mir, wenn ich etwas sehe? Was schon geschehen ist, kann ich nicht ändern. Ich konnte Alex nicht helfen. Ich habe Lena nicht geholfen. Peter hat es mir unmöglich gemacht, weil er mir nie etwas gesagt hat.«

»Du hast dich geweigert zu sehen.«

»Na schön.« Ein neuerlicher Schmerz packte ihn an der Kehle. »Lass mich in Ruhe«, keuchte er. »Bitte, Jess, lass mich in Ruhe. Warum lässt du mich nicht sterben?«

»Es wird jemand sterben. Es muss jemand sterben. Ohne Blut gibt es keine Vergebung.«

»Du bist tot. Das ist das Land der Toten, und ich habe einen Traum, aber ich verstehe ihn nicht. Ich will wissen, was er zu bedeuten hat.«

»Erzähl mir deine Träume, und ich sage dir die Wahrheit.«

»Und wie soll die bitte aussehen?« Ein leises Lachen drang zusammen mit einem Blutrinnsal aus seinem Mund. »Was ist die Wahrheit?«

»Was hier drin lebt«, sie strich mit kühlen, trockenen Fingern über seine Stirn, »ist nicht dasselbe wie das, was hier wohnt.« Dabei legte sie eine Hand auf sein Herz, und er schrie auf, denn es fühlte sich wie ein greller, brutaler Stromschlag an. »Lass den Hammer los, Chris. Vergib dir selbst. Vergib Peter.«

»Warum ist das wichtig?« Er leckte sich Blut von den Lippen. »Ich hab doch schon gesagt, dass ich es verstehe.«

»Und das ist der Grund«, wieder ließ ihn ein elektrisierender Finger auf der Brust aufschreien, »warum dir das so wehtut. Die Wahrheit des Herzens ist umso schwerer zu ertragen, weil die Liebe Kummer gebiert. Die Wahrheit liegt in deinem Mund, auf deiner Zunge, in deinem Blut. Lass deinen Zorn hinter dir, Chris. Lass Peter, so wie du ihn in Erinnerung hast, zu dir sprechen.«

»Das geht nicht«, erwiderte Chris. »Er ist tot.«

»Ruf ihn zurück.« Jess hielt ihm mit einer Hand die Augen zu, sodass ihn jetzt wirklich vollkommene Dunkelheit umfing. »Schnell, Chris. In deiner Blindheit und aus deinem Kummer heraus ruf ihn mit Liebe an, und tu es jetzt, ehe es zu spät ist, denn sonst ist Peter verloren, und das Licht geht …«

»… weg?«

»Nein, ich glaube, er kommt zu sich. Chris?« Ein Klaps auf die Wange. »Chris, wach auf.«

Langsam fand Chris in die Realität zurück. Als Erstes nahm er die scharfkantigen Scherben des zerbrochenen Geschirrs unter seinen Beinen wahr, dann die Wand im Rücken und schließlich eine Hand, die seinen Hinterkopf stützte.

»Chris.« Jayden tätschelte ihm noch mal die Wange. »Alles in Ordnung? Ist das der Einzige? Wo sind all die anderen? Wo ist …«

»Hannah.« Er schlug die Augen auf. Die Bruchstücke seiner Erinnerung zurrten sich wieder zu einem Ganzen zusammen. »Isaac«, keuchte er und umklammerte Jaydens Arm. »Der Stall.«

»Was?« Jayden tauschte einen raschen Blick mit Connor, der neben ihm kauerte. »Wovon sprichst du? Was ist mit dem Stall?«

»Schüsse.« Die waren weithin zu hören, vor allem jetzt, da sie nicht mehr von Auto-, Flugzeug- oder Maschinenlärm übertönt werden konnten. Wie lange war er bewusstlos gewesen? »Habt ihr die denn nicht gehört?«

»Doch«, bestätigte Connor. »Aber wir waren im Norden. Wir waren uns nicht sicher, woher sie kamen. Auf dem Weg zurück dachte ich sogar, sie kämen aus östlicher Richtung.«

Osten