Ashes - Tödliche Schatten - Ilsa J. Bick - E-Book
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Ashes - Tödliche Schatten E-Book

Ilsa J. Bick

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Beschreibung

Nichts ist mehr, wie es war - kannst du diese gefährliche neue Welt überleben?

Den verheerenden Anschlag auf die Welt hat die siebzehnjährige Alex überlebt, aber nun muss sie sich den schwerwiegenden Folgen stellen. In den Städten, die nicht zerstört wurden, rotten sich diktatorische Tyranneien zusammen, in denen sich menschliche Abgründe auftun.

Außerhalb der Schutzwälle droht der sichere Tod. Denn dort lauern Horden Jugendlicher, die sich seit dem Unglück in bestialische Kannibalen verwandeln. Und schließlich bleibt noch die Ungewissheit, ob Alex selbst noch zu so einem Monster mutiert. Warum sind ausgerechnet sie und ein paar wenige Ausnahmen von dieser Verwandlung bisher verschont geblieben?

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen!

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Seitenzahl: 625

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Inhalt

Über diese Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

Teil I

1

2

3

4

5

6

Teil II

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

Teil III

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

Teil IV

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

Teil V

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

Teil VI

89

Danksagung

Über dieses Buch

Den verheerenden Anschlag auf die Welt hat die siebzehnjährige Alex überlebt, aber nun muss sie sich den schwerwiegenden Folgen stellen. In den Städten, die nicht zerstört wurden, rotten sich diktatorische Tyranneien zusammen, in denen sich menschliche Abgründe auftun.

Außerhalb der Schutzwälle droht der sichere Tod. Denn dort lauern Horden Jugendlicher, die sich seit dem Unglück in bestialische Kannibalen verwandeln. Und schließlich bleibt noch die Ungewissheit, ob Alex selbst noch zu so einem Monster mutiert. Warum sind ausgerechnet sie und ein paar wenige Ausnahmen von dieser Verwandlung bisher verschont geblieben?

Über die Autorin

© Frank Strukel

Ilsa J. Bick ist Kinder- und Jugendpsychiaterin und ehemalige Air-Force-Majorin, widmet sich mittlerweile aber ganz ihrem Autorinnendasein. Am liebsten schreibt sie Jugendbücher und Kurzgeschichten, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde.

Ilsa J. Bick

ASHES

Tödliche Schatten

Aus dem Englischen von Robert A. Weiß,

Gerlinde Schermer-Rauwolf und Sonja Schuhmacher

(Kollektiv Druck-Reif)

beBEYOND

Digitale Ausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Vollständige digitale Ausgabe der 2012 bei LYX INK.digital erschienene Ausgabe.

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Original English language edition first published in 2012 under the title Shadows by Carolrhoda Books, a division of Lerner Publishing Group, Inc., 241 First Avenue North, Minneapolis, MN 55401

Copyright © 2012 by Ilsa Bick

All rights reserved

Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Anke Koopmann/Guter Punkt, München, unter Verwendung eines Designs von Hanna Hörl Designbüro, München, und eines Motivs von © Peter Karasev

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-4778-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für jene, die kämpfen

Die Leute sind nicht mehr so wie früher.

– Shirley Jackson

TEIL I

DAS OPFER

1

O Gott, hilf mir, bitte hilf mir. Alex hatte das Gefühl, als verwandelte sich die Welt in eine schräge Eisfläche, auf der sie wegrutschen und haltlos ins Nichts stürzen würde, falls sie nicht mit aller Kraft dagegen ankämpfte. Das Herz zersprang ihr fast in der Brust. Und sie zitterte am ganzen Körper, der Heuhaken in der Gürtelschlaufe schlug immer wieder gegen ihren rechten Oberschenkel. Hinter ihr erhob sich die Pyramide aus ordentlich geschichteten Schädeln: das Einzige, was von jenen geblieben war, die vor ihr auf dieses Schlachtfeld geraten waren. Und dann war da natürlich noch dieser Geruch – der vertraute Gestank nach verwesendem Fleisch und gärender Kloake.

Das kann nicht sein; es passiert nicht wirklich.

Doch das tat es. Sie standen direkt vor ihr, keine dreißig Meter von der Stelle entfernt, wo sie im Schnee kauerte. Fünf Veränderte. Zwei Mädchen. Drei Jungen.

Alex wagte nicht, sich zu rühren, während die Jugendlichen einen Halbkreis um sie bildeten. Drei trugen Tarnklamotten: ein punkiger etwa Zwölf- oder Dreizehnjähriger, ein mürrisches Mädchen mit einer Schnittwunde quer über der Wange und ein Junge mit fettigem Haar und Akne der übelsten Sorte. Ein Windstoß verwirbelte den Schnee zu Arabesken und zupfte an den ausgefransten Enden von seltsamen, wie mit Schablonen beschrifteten Bändern, die sich die Jugendlichen um Hals und Oberarme geknotet hatten. Auch aus den Knopflöchern flatterten Stofffetzen wie die Fransen an Hirschlederkleidung.

Die beiden anderen, ein Junge und ein Mädchen mit Wolfsfellen, die sie sich über Kopf und Schultern gezogen hatten, waren etwa in ihrem Alter. Zwar konnte Alex ihre Gesichter nicht genau sehen, doch was aus den Tiefen ihres Entsetzens in ihr Bewusstsein drang, war die Tatsache, dass der Junge ihr bekannt vorkam. Warum? Ihr Blick registrierte das vorspringende Kinn, die markanten Wangenknochen und seine Augen – glänzende Kugeln wie die einer Krähe. Welche Farbe sie hatten, konnte sie nicht sagen, braun oder moosgrün …

Oder ein tiefes Rauchblau, dunkel und fremdartig wie ewiges Eis.

O nein! Das konnte nicht sein. Es war Monate her. Tom war tot. Es konnte nicht Tom sein, oder? Jetzt nicht mehr nur angsterfüllt, sondern panisch vor Entsetzen sog sie tief Luft ein und versuchte, den Geruch des Wolfsjungen zu ergründen. Tom roch unter anderem nach Moschus, und sein vielschichtiger, schwerer Duft weitete ihr immer sofort die Brust. Sie würde ihn, egal wo, allein an seinem Geruch erkennen, doch jetzt stieg ihr nur übermächtig der Gestank der Veränderten und der Geruch ihrer Angst in die Nase.

Trotzdem, ich kenne ihn. Er sieht so vertraut …

Da trat Wolfsmädchen näher, und Alex wurde ganz flau im Magen, als sie keine sechs Meter vor ihr stehen blieb. Abgesehen von ihrer Wolfskluft sah sie aus wie eine dieser betuchten, privilegierten Gören, die Alex stets gehasst hatte. Das Schwarze-Witwe-Logo auf ihrer linken Brust sprach Bände; sie trug teure Designer-Skiklamotten, die den Fetzen oder Bandana-Tüchern oder was sie sonst um ihre Handgelenke gebunden hatte, beinahe einen edlen Anstrich gaben. Und weil das Mädchen so nah vor ihr stand, sah Alex auch sehr genau ihr Feldmesser, ein blutverkrustetes, tückisches Ding, so lang wie ihr Unterarm.

Alex’ Blick huschte zu Nathans Gewehr, das er ihr auf Jess’ Drängen hin ausgehändigt hatte. Als sie die Schädel gesehen und sich die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, hatte sie es fallen lassen, und jetzt lag die Waffe gut drei Meter rechts von ihr auf dem Boden. Sie könnte nach ihr hechten, aber selbst wenn sie genau zielte und ihr ein Treffer gelang, wäre sie eine Sekunde später tot.

Denn vier dieser Veränderten waren bewaffnet: der kleinste und jüngste mit einer handlichen Beretta; der ihr so verstörend bekannte Wolfsjunge trug einen großkalibrigen Unterhebelrepetierer mit Zielfernrohr; das Mädchen mit dem Schmiss im Gesicht hatte ein Repetiergewehr mit Kammerverschluss. Doch woran ihr Blick länger hängen blieb, war das Gewehr von Pickelgesicht, denn es hatte einen Gaskolben, um Ladehemmungen zu verhindern. Eine ausgesprochen sinnvolle Vorrichtung, wenn man irgendwo unterwegs war, wo eine Waffe leicht verdreckte, etwa im Irak, in Afghanistan – oder im Winter im tiefen Wald. Nur Zufall? Hatte Pickel einfach Glück gehabt? Sich die erste Waffe geschnappt, die ihm untergekommen war? So sah es nicht aus, wenn man in Betracht zog, wie er die Waffe hielt. Hat man häufiger mit Leuten zu tun, die mit Gewehren umgehen, dann weiß man schnell, ob sich jemand mit seiner Waffe wirklich wohl fühlt oder lieber eine lebende Kobra im Arm hätte. Außerdem waren sie hier im Norden von Michigan, und sie hatte mal in Wisconsin gelebt, wo praktisch jeder auf die Jagd ging. Sie hätte also wetten können, dass Pickel sich mit Waffen auskannte. Wie die anderen auch.

Und sie wusste, worauf es hinauslief. Ihr Ende war mit Blut geschrieben, untermalt von einem kunterbunten Gesudel aus zerfetzten Klamotten und zerhackten Knochen.

Nun, schüchtern zu sein brachte nichts. Sie zog mit den Zähnen die Handschuhe aus und behielt Spinne im Blick, während sie mit zitternden Fingern die Bindung der Schneeschuhe löste. Als sie aus ihnen trat, quietschte der Schnee unter ihrem Gewicht, aber sie sank nur zwei Fingerbreit tief ein. Gut. Sie nahm den Rucksack herunter, noch immer bei jeder Bewegung auf der Hut. Zu der Ausrüstung, die Jess darin verstaut hatte, gehörte ein Klappmesser, allerdings war die Klinge gegen das machetenartige Feldmesser kaum mehr als ein Zahnstocher. Doch auch der Rucksack hatte sein Gewicht. Sechs, vielleicht acht Kilo. Mit der linken Hand schnürte Alex die Riemen enger. Könnte nützlich sein, falls sie nah genug …

Ihre Gedanken gerieten aus der Spur, als die Luft plötzlich dicker wurde und eine vielschichtige Duftwolke – frisch gekochter Pflanzensaft aus Tannennadeln? – den Verwesungsgestank durchzog. Was war das? Sie sah, wie Spinne zu Wolf hinübersah – und dann, nur eine Sekunde später, wurde der stechende Kokelgeruch stärker. Die Veränderten warfen sich Blicke zu und fingen an zu grinsen, als hätte einer einen Insiderwitz gemacht.

Blitzartig stand ihr die lange, schreckliche Straße nach Rule vor Augen – und wie sie plötzlich gemerkt hatte, dass Wölfe da waren, weil die Luft so schwer wurde, vor allem durch den Geruch des Alpharüden, der signalisierte: Wolf, ja, aber keine Bedrohung.

Funktionierte so ihre Kommunikation? Komplexe Gedankengänge konnten nicht allein durch Geruch übertragen werden, oder doch? Alex wusste es nicht. Bienen tanzten. Und Vögel sangen, allerdings bewegten sich ganze Schwärme in Formation, ohne dass ein Laut zu hören war. Die Wölfe damals hatten nicht einmal leise geknurrt, und die Jugendlichen tauschten nur Blicke, während die Luft zu brodeln schien.

Als wäre da plötzlich etwas, was vor ein paar Sekunden noch nicht da gewesen ist. Die Luft ist übervoll. Alex’ Kopf fühlte sich irgendwie hohl an. Aber das war nicht möglich – sie konnten doch wohl keine Gedanken lesen!

Oder doch? Nein, das war verrückt. Aber war es verrückter als Alex’ plötzlicher überscharfer Geruchssinn? Dabei hatte sie sich nicht einmal verändert, jedenfalls nicht auf diese Weise.

Nun ja, es gab einen Weg, das herauszufinden – zumindest was die telepathischen Fähigkeiten betraf. Denn ihr blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder ließ sie sich von Spinne umbringen …

Ihre tastenden Finger umschlossen den Heuhaken und zerrten ihn los. Fünfzig Zentimeter kaltgewalzter Stahl, daumendick und scharf wie ein Eispickel.

… oder -

2

Sie stürmte vorwärts, mit gestrecktem Körper über den Schnee, und zielte mit dem Heuhaken direkt auf das Gesicht von Spinne, denn sie wollte, dass das Mädchen die tückische Stahlkrümmung sah. Eine tödliche Waffe – allerdings nur, wenn sie mit einem entschiedenen, harten Schlag etwas zu packen bekam, einen Arm oder ein Bein. Was kaum der Fall sein dürfte. Das Messer von Spinne hatte eine ziemlich lange Klinge. Ein gezielter Hieb, und der Kampf wäre vorbei.

Alex probierte eine Finte und sah, wie Spinne entsetzt zurückwich. Damit war eine wichtige Frage beantwortet. Die Veränderten konnten vielleicht untereinander Gedanken lesen, aber nicht, was Alex dachte.

Aus ihrer Lähmung gerissen, zückte Spinne das Feldmesser und hieb damit in weitem Bogen um sich. In allerletzter Sekunde zog Alex die Hand zurück und änderte ihre Taktik, zielte jetzt auf die Brust von Spinne statt auf ihr Gesicht. Spinne versuchte, sich darauf einzustellen, aber ihr Schwung wurde ihr zum Verhängnis. Das Feldmesser verfehlte Alex und zischte ziellos durch die Luft.

Jetzt ging Alex auf sie los. Die stumpfe Krümmung knallte auf Spinnes Brustkorb, genau mittig und so heftig, dass Alex den Aufprall bis in die Schulter spürte. Mit einem Stöhnen taumelte Spinne zurück und versuchte dabei erneut, ihr Messer in Angriffsposition zu bringen. Alex sah die Klinge blitzen und straffte sich, schwang dabei den schweren Rucksack und hatte gerade noch Zeit, sich zu freuen, dass das Feldmesser nicht zweischneidig war.

Mit einem dumpfen Schlag prallte der Rucksack auf Spinnes Kinn, sodass ihr Kopf nach hinten schnellte und das Mädchen, ein Wirbel aus blondem Haar und Wolfsfell, wegtrudelte. Aus dem Tritt gebracht versuchte Alex eine Drehung, aber der von ihnen beiden festgetretene Schnee war zu glatt. Sie merkte, wie sie ins Rutschen kam, und kämpfte vergeblich um ihr Gleichgewicht. Der Schnee kam in rasender Geschwindigkeit auf sie zu, sie fiel aufs Gesicht, dabei knallte der Haken mit voller Wucht auf den Boden. Zwar dämpfte der Schnee den Aufprall ein bisschen, trotzdem verrenkte sich Alex die Schulter und ließ mit einem Schrei den Haken los. Dann lag sie, die Rucksackriemen immer noch um die linke Hand geschlungen, keuchend auf der Seite. Ihre rechte Hand brannte wie Feuer, das Handgelenk tat höllisch weh, und die Finger wurden bereits taub. O Gott, o Gott, es ist gebrochen… Hab ich es mir gebrochen … Wo ist Spinne, wo …? Sie unterdrückte einen panischen Schluchzer. Der rechte Ellbogen summte vor Schmerz, sie konnte die Finger nicht mehr bewegen. Gebrochen oder gesplittert oder gezerrt, und, o Gott, wo ist Spinne, wo ist sie?

Ihr war schwindelig, Schmerz und Angst brachten sie fast um den Verstand. Unfähig sich zu bewegen, fühlte sie den Angriff kommen, noch bevor sie bewusst wahrnahm, was geschah: ein Schlurfen, das leise Knarzen eines Stiefels im Schnee, ein jäher Luftzug. Gerade noch rechtzeitig riss sie den Kopf zurück und sah etwas Schwarz-Weißes auf sich zukommen.

Spinne, drohend aufgerichtet. Mit gefletschten Zähnen, die sehr weiß und unwahrscheinlich scharf aussahen. Damit konnte einem dieses Mädchen die Kehle durchbeißen.

Wo ist das Messer, wo ist das Messer, wo ist es? Ihr Blick huschte zu Spinnes rechter Hand. Leer. Nichts, kein Messer, kein Messer, wo ist es? Hatte sie es fallen lassen? Irgendwie bewegte Spinne sich komisch, sie schlurfte mit vorgeschobener rechter Schulter auf Alex zu und sah dabei mit ihren silbrig glänzenden Augen zu einer Stelle hinter Alex’ rechter Schulter. Was? Das Messer war hinter ihr? Alex versuchte, nach hinten zu spähen. Wenn ich zuerst drankomme …

Doch dann dachte sie: Halt. Rechte Schulter nach vorn. Sie schnappte nach Luft. Die linke Hand – sie hatte die Hand gewechselt!

Laut kreischend ließ Spinne das Feldmesser in ihrer Linken auf Alex heruntersausen. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah Alex wie gelähmt die Klinge auf sich zurasen, ehe sie buchstäblich im letzten Moment aus der Schreckstarre erwachte. Sie ließ den Rucksack los, riss den linken Arm aus der Ziellinie und versuchte wegzurollen. Mit einem Pfeifen zerschnitt die Klinge die Luft, sie zischte so nah an ihrem Ohr vorbei in den Schnee, dass Alex den Kupfergeruch von altem Blut wahrnahm und sogar eine Ahnung von dem Schweiß des Farmers, der damit einst nach der Ernte im September Stängel zerhackt hatte.

Eine halbe Sekunde war ihr der Luxus vergönnt, »knapp vorbei« zu denken.

Und dann kam der Schmerz, ein heftiger Schmerz. Feuer und Eis tosten in ihrer Kehle und entluden sich in einem Schrei. Sich windend sah Alex vom Feldmesser nur das Heft – und eine blutrote Fontäne. Spinne hatte einen langen Haut- und Muskelstreifen aus ihrem Oberarm geschnitten, der jetzt grotesk von ihrer linken Schulter baumelte. Das blutbespritzte Gesicht von Spinne kam verschwommen in Alex’ Blickfeld, und dann sah sie erneut das Messer auf sich zu …

»Nein!« Noch immer auf dem Rücken liegend zog Alex die Beine an und trat dann mit voller Wucht den rechten Stiefel in Spinnes Gesicht. Man hörte es splittern und krachen. Wie bei einem Crashtest-Dummy wurde Spinnes Kopf bei jedem Tritt nach hinten geschleudert, Ober- und Unterkiefer des Mädchens knallten dumpf aufeinander. Aus ihrer Kehle drang gurgelndes Blubbern.

Mehr noch, sie ließ das Messer los.

Messer, Messer, das Messer, hämmerte es stakkatoartig in Alex’ Kopf. Schnapp dir das Messer! Sie rollte sich zur Seite, grub die Hacken in den Schnee und rappelte sich auf die Beine. Wo ist das Messer, wo ist es? Ein rascher Blick nach links, und da lag es, blutverschmiert, nur wenige Meter von den Schädeln entfernt.

Es ging nur noch darum, wer schneller war.

Alex stürzte darauf zu, dabei schrie ihre Schulter vor Schmerz, Blut lief ihr übers Handgelenk, ihr Herz schlug in einem wahnwitzig schnellen Takt. Und dann griff sie zu, spürte, wie ihre Finger sich um den Holzgriff schlossen, und rammte den rechten Stiefel in den Schnee. Bei ihrer Drehung verschwammen ihr die grinsenden Schädel vor Augen, mit gebeugtem Ellbogen, das Messer in der Hand, versuchte sie auszuholen …

Was sie dann sah, ließ sie abrupt innehalten.

Keine zwanzig Zentimeter vor ihrem Gesicht war etwas Schwarzes, Rundes, Hohles – wie die leere Augenhöhle in einem Schädel.

Entsetzen packte sie.

Nathans Gewehr.

Und da drückte Spinne ab.

3

Klick.

Kein Bumm.

Eine halbe Sekunde verging, und sie lebte noch.

Ladehemmung? Ein Versager? Es war eine Patrone in der Kammer, das hatte Nathan doch gesagt. Egal, was. Sie hörte, wie Spinne nach Luft schnappte, sah, wie ihr Blick suchend …

Alex holte mit dem Messer aus. Die breite Klinge knallte gegen den Lauf der Browning und schlug die Mündung beiseite. Durch den Aufprall flog Alex das Messer aus der Hand. Keine Zeit, es wieder aufzuheben; sie musste sich darauf konzentrieren, das Gesicht aus der Schusslinie zu halten. Und so hechtete sie nach dem Lauf, umklammerte ihn und versuchte, ihn an sich zu reißen.

Spinne hatte sich von ihrer Überraschung erholt und reagierte geschickt. Anstatt um das Gewehr zu rangeln, stieß sie es in Alex’ Richtung. Alex versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten, aber Spinne war stark und hatte zwei unverletzte Arme. Es war ein Kampf mit der Schwerkraft, den Alex verlieren würde.

Sie taumelte nach hinten, die Bäume schwankten, während die Welt kippte und sich drehte. Da hakte Spinne einen Fuß um Alex’ Knöchel, und Alex krachte gegen die Pyramide. Schmerz schoss ihr die Wirbelsäule hoch. Sie fühlte, wie die Schädel anfingen zu rutschen und die oberen Reihen herunterpurzelten. Klock, klock, klock, wie Murmeln auf Holz. Die mit gefrorenem Blut zementierten unteren Schichten bildeten ein stabiles Podest, was Spinne wusste. Mit gestreckten Armen beugte sie sich vor und versuchte, Alex mit dem Gewehrlauf die Luft abzudrücken. Sie war zwar kleiner als Alex, aber nicht so schwer verletzt und hatte die Schwerkraft auf ihrer Seite. Alex’ Muskeln drohten nachzugeben, und ihre Arme fingen an zu zittern. Aus Spinnes gebrochener Nase tropfte Blut auf Alex’ Lippen und in ihre Augen.

Unvermittelt knickten Alex’ Ellbogen ein. Das war’s. Grausam wie eine Guillotine sauste das Gewehr auf sie nieder. Panik erfasste sie, als sie keine Luft mehr bekam und ihr schwarzrot vor Augen wurde. Wieder war sie auf dem Parkplatz, nur hatte sie diesmal kein Messer, und kein Tom würde ihr zu Hilfe kommen. Sie wollte sich aufbäumen, doch ihre baumelnden Beine fanden keinen Halt.

Also tat sie, was ihr als Einziges übrig blieb. Sie erschlaffte, halb willentlich, halb aus Kräftemangel gab sie jeden Widerstand auf. Ließ es einfach geschehen.

Und hörte, wie Spinne nach Luft schnappte, als sie unversehens auf sie sackte. Schnell wie eine Schlange hob Alex den Kopf und biss Spinne tief in die linke Wange. Durch Spinne ging ein Ruck, dann brach sie in ein Klagegeheul aus. Unvermittelt ließ der Druck auf Alex’ Kehle nach, denn Spinne wich zurück und riss Alex auf der zerstörten Pyramide mit sich empor. Doch Alex ließ nicht locker. Während sie zwischen den Zähnen Luft einsog, bewegte sie den Kiefer hin und her wie ein Sägeblatt. Und dann fühlte sie plötzlich, wie Spinnes Haut riss und sich ihre Zähne in den Wangenmuskel senkten. Ihr sprudelte Spinnes warmes, salziges Blut in den Mund. Dann ein Geräusch, als würde nasser Stoff in zwei Teile gerissen. Spinne brüllte auf. Eine Hand mit dem Armband aus farbigem Fetzen auf die blutende Wange gepresst, taumelte sie zurück.

Und jetzt hatte Alex das Gewehr.

Im Mund hatte sie Blut und einen Fleischfetzen aus Spinnes Wange, als sie sich auf die Beine kämpfte. Sie spie aus, ohne den Blick von dem Mädchen zu lösen, dann holte sie aus, schnell und entschlossen wie ein Schlagmann. Der Gewehrkolben schwirrte durch die Luft. Im letzten Moment spürte Spinne die Gefahr, sie fuhr zusammen, duckte sich und machte eine Ausweichbewegung nach rechts, was ihr vermutlich das Leben rettete. Mit einem lauten, hohlen Klang – wie ein großes Fleischermesser auf einem Schneidebrett – krachte der Gewehrkolben gegen ihre linke Schläfe. Ihr Kopf flog nach rechts, Blut schoss heraus wie Flammenzungen. Spinne verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar war, ihre Beine knickten ein, dann fiel sie um wie ein nasser Wäschesack.

Benommen vor Schmerz beugte sich Alex über sie. Das Gesicht des Mädchens war übel zugerichtet. Kinn und Wangen waren dick mit Blut verschmiert, und ihr strömte weiterhin Blut aus der Nase; wo es heiß in den Schnee tropfte, dampfte es ein bisschen. Ihr Atem war bei jedem Zug ein gurgelndes Röcheln.

Mach ein Ende. Der Geschmack in ihrem Mund – säuerlich und herb, nach dunklem Blut und rohem Fleisch von Spinnes Wange, dazu die metallische Note von ausgeschüttetem Adrenalin – ließ Alex’ Magen rebellieren. Ihre geschundene Kehle war wie zugeschnürt. Ein hohes Wimmern in ihrem Ohr war fast so laut wie ihr Herzklopfen, konnte aber das Quietschen und Knarzen im Schnee nicht übertönen, und sie wusste: Die anderen kamen.

Bring Spinne endlich um. Schieß ihr eine Kugel in den Kopf und erledige dann noch einen von ihnen. Tom würde sich niemals kampflos seinem Schicksal ergeben, und Chris auch nicht. Kämpfe, verdammt! Mach es ihnen nicht so leicht.

Sie umklammerte die Flinte fester, doch dann fiel ihr plötzlich Spinnes überraschte Miene ein, als die Browning nicht abgefeuert hatte. Sie war mit 270er-Winchester-Short-Magnum-Patronen geladen, eine davon bereits in der Kammer, sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. Wenn sie noch einmal auf den Abzug drückte, konnte es gut sein, dass ihr die Waffe in der Hand explodierte. Auch so waren schon Leute gestorben. Zwar könnte sie das Gewehr als Knüppel benutzen und sie sich damit vom Leib halten, aber irgendwann würde sie müde werden, die brauchten nur abzuwarten.

Es muss eine andere Möglichkeit geben. Die nutzlose Waffe glitt ihr aus den Händen. Es muss etwas geben, was ich tun kann. Aber was? Sie waren in der Überzahl. Und so wie es hier auf der Lichtung aussah, hatten sie dieses Szenario schon hundertmal durchgespielt. Na ja – sie warf einen Blick auf die röchelnde Spinne –, vielleicht auch nicht. Doch dass sie mit Spinne fertig geworden war, hatte ihr lediglich ein bisschen Zeit verschafft.

Aber jede Sekunde, die ich länger lebe, ist eine Sekunde, in der mir etwas einfallen kann. Alex beobachtete, wie die anderen ohne das geringste Zögern um das bewusstlose Mädchen herumstapften – schweigend und unerbittlich, umgeben von dieser merkwürdigen Wolke aus heißem Terpentin und Harz, durchsetzt von Verwesungsgeruch, die sie irgendwie eisern zusammenzuschweißen schien.

Gut, sie akzeptierte, dass es keinen Ausweg gab. Selbst wenn sie losrannte. Der Schnee hinter ihrem Halbkreis war zu tief. Gab es eine Möglichkeit, sie zu überraschen, so wie Spinne? Konnte sie etwas tun, womit sie nicht rechneten? Das könnte funktionieren, insbesondere wenn sie an eine Waffe kam … Aber was taugte zu einer? Komm, mach schon, denk nach! Ein weiterer rascher Schritt zurück, und sie spürte die Reste der Pyramide im Rücken. Jetzt waren die Veränderten so nah, dass Wolf ihre Hand hätte ergreifen können.

Aber nur, wenn er vorher Spinnes Messer beiseitegelegt hätte.

4

Ihr gefror das Blut in den Adern. Die Hüfte an den halb eingestürzten Haufen aus gefrorenen Fleischresten und Knochen gepresst versuchte sie, nicht mit der Wimper zu zucken, als Wolf sie von Kopf bis Fuß musterte. Er atmete tief ein, und seine Nasenflügel weiteten sich, als er ihrem Geruch nachspürte. Im nächsten Augenblick fuhr seine allzu leuchtend rosafarbene Zungenspitze aus dem Mund und glitt langsam und genießerisch über seine Lippen.

O Gott. Wolf nahm eine Geruchsprobe von ihr, er schnupperte genüsslich wie eine Schlange angesichts ihrer Beute. Kurz spähte Alex zu den anderen. Sie alle standen mit offenen Mündern da und ließen sich ihr Aroma auf den heraushängenden Zungen zergehen. Mit aller Kraft unterdrückte sie den Impuls zu schreien, ihr Atem ging schneller und schneller. Nein, nicht. Sie zwang sich, Ruhe zu bewahren. Das ist genau das, was sie wollen, du sollst in Panik geraten. Komm, bleib stark, vermassel es nicht!

Wolf rückte näher. Alex spürte, wie er vor Erwartung bebte, sie sah es an seiner Körperhaltung, roch seine Gier und nahm wahr, wie er sie taxierte, quasi mit Blicken auszog. In seinen Augen spiegelte sich mehr als Hunger: Das war Besitzerstolz, abgrundtief und primitiv, sinnlich und grauenvoll. Er will mich, und er kriegt mich, er …

Da geschah etwas sehr, sehr Merkwürdiges.

Einen winzigen Moment, so flüchtig, dass es mehr eine Ahnung als ein richtiger Gedanke war, stand ihr ein Bild vor Augen – sie, ausgestreckt im Schnee, ohne Kleider, und Wolf, der sich über sie beugte und mit der Zunge über jeden Zentimeter ihrer nackten Haut fuhr –, und sie spürte, wo seine Hände federleicht ihre Glieder entlangfuhren …

Nein! Keuchend duckte sie sich weg, suchte Abstand zu der Szene, die sich in ihrem Kopf abspielte, und zu dem Jungen. Verschwinde aus meinem Kopf! Raus! Im nächsten Augenblick kam sie mit einem Ruck, so abrupt wie eine Ohrfeige, wieder zu Sinnen. Ihre Wahrnehmung schärfte sich, wurde glasklar, und sie merkte, dass sie eisiges Gebein umklammerte.

Und dann bewegte sich der Schädel in ihrer rechten Hand.

»Aaahh!« Ein wilder, unartikulierter, wütender Schrei.

Wolfs Arm hob sich bereits, Stahl blitzte auf, doch jetzt hatte sie diesen Schädel und schwang ihn mit aller Kraft. Schlag ihn nieder, und wenn er das Mes…

Da traf ein Schlag ihre rechte Schläfe, so tückisch und unvermutet, dass ihr schwarz vor Augen wurde und ihre Gedanken aussetzten wie eine zerkratzte CD, die einen Track überspringt. Sie ging zu Boden, der Schädel rollte ihr aus den kraftlosen Fingern. Schwindelig vor Schmerz sah sie, wie Schmissie über ihr stand, die Faust geballt, um ihr den nächsten Schlag zu versetzen.

Selbst wenn Alex sich gegen sie hätte wehren können, hätte Pickel das vereitelt. Denn er ließ sich auf ihre Beine fallen. Im nächsten Moment setzte sich Schmissie auf ihre Brust und grub ihr die Knie unters Schlüsselbein. Eine Woge aus weiß glühendem Schmerz ergoss sich in Alex’ Brust, und ihr entfuhr ein gequälter Schrei, als Schmissie sie zwang, den verletzten Arm auszustrecken, und ihr Handgelenk mit beiden Händen in den Schnee drückte.

Wolf rückte drohend näher und zeigte demonstrativ das Messer. Aber erst als er zurücktrat und sie sah, wie er dastand und was er ins Visier nahm, begriff Alex, was nun geschehen sollte.

Er würde sie nicht töten, noch nicht. O nein. Das war zu einfach. Zu schnell.

Zuerst würde er ihr den Arm abhacken.

Himmel, nein! Ihr Herzschlag dröhnte. Verzweifelt bäumte sie sich auf, aber das war reine Energieverschwendung. Die anderen waren zu schwer. Sie war am Boden festgenagelt, und so würde es enden: im Schnee, mit abgehackten Armen und Beinen, ihr Körper würde in einem roten, heißen Strom ausbluten, der den Schnee zum Schmelzen brachte, bis nichts mehr übrig war, was ihr Herz hätte pumpen können. Bei Kincaid hatte sie genug Amputationen miterlebt, ihr war klar, wie schnell man die Arterien abklemmen musste, bevor sie in den Muskel zurückschnellten – man konnte so einem armen Kerl sonst ebenso gut die Kehle durchschneiden. Aber was, wenn die Veränderten so geübt darin waren, dass sie wussten, auf welche Arterien es ankam? Was, wenn die Kids sie nicht schnell sterben lassen wollten, sondern sie lieber langsam tranchierten, um sie lebend, einen saftigen Happen nach dem anderen, zu verspeisen? Vielleicht stand ihr eine sehr lange Leidenszeit bevor, denn sie glaubte nicht, dass man allein an Schmerzen sterben konnte. Womöglich genossen sie es, ihre Opfer leiden zu sehen.

Das Feldmesser blitzte vor ihren Augen. Sie war so entsetzt, dass sie meinte, es sei einen halben Meter lang, nein, fünf Meter, zehn, noch länger. Dabei war sie so scharfsichtig, dass sie jede Kerbe, jede Schramme sah, wo die rasiermesserscharfe Klinge schon mal auf Knochen getroffen war. Rasant breitete sich der Kloakengestank der Veränderten aus, wuchs wie ein Pilz …

Doch da roch sie noch etwas anderes, gleich hinter dem Kadavergeruch: kein Terpentin oder Harz, nur eine Schar nebelhafter Schatten aus den Tiefen der Wälder in einer eiskalten, pechschwarzen Nacht.

Es war ein Geruch, den sie gut kannte.

Nein, das kann nicht sein. Er war ihr jetzt so nah, dass sie die Augen des Jungen hinter der Wolfsfellmaske sehen konnte, tief und schwarz wie Kohle. Er hat dieselben Augen, denselben Geruch. Aber das ist verrückt, das kann …

Surrend sauste das Messer herab.

5

Ein leises schmatzendes Geräusch, und die massive Stahlklinge steckte tief im Schnee. Neuer Schmerz schoss ihr wie ein glühender Blitz durch die Brust bis hinauf in ihren Kiefer. Vor ihren Augen blendendes Weiß, das in tausend Teile zerschellte und zu einer gezackten Spur wurde, während sich der Schmerz mit einer derben Klaue in ihr Inneres grub. Trotzdem herrschte Klarheit in ihrem Denken, sie blickte wie durch eine Glasscheibe und erkannte, dass der Schmerz zwar schrecklich, aber nicht die schreiende Qual war, mit der sie gerechnet hatte, wenn Wolf ihr den Arm abhackte.

Ihre Augen wanderten nach links.

Der Arm war noch dran. Auch ihre Hand.

Aber Wolf hielt einen nassen, tropfenden, tiefroten Fetzen in der Hand, und …

O mein Gott. Ihr in der Brust eingeschlossener Atem entwich in bebenden Schluchzern. Wolf hatte zu Ende gebracht, was Spinne begonnen hatte. Entsetzt musste sie mitansehen, wie Wolf ein Stück Parka, Haut und absterbenden Muskel inspizierte.

Ihren Muskel. Ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Ihr Fleisch.

Beinah geziert zupfte Wolf den zerfetzten blutigen Parkastoff ab, als entferne er einen Rest Fleischpapier von einem blutigen Steak. Dann nahm er eine Handvoll Schnee und wischte damit das geronnene Blut weg, hielt das Fleischstück hoch und begutachtete es mit einer merkwürdigen Intensität. Dabei strich er es mit dem Daumen glatt. Wonach suchte er? Alex hatte keinen blassen Schimmer.

Zufrieden, obwohl sie keine Ahnung hatte, womit, bedachte er sie rasch mit einem Blick, und ihr kam der wahnwitzige Gedanken, dass Wolf ihr zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort vielleicht sogar zugeblinzelt hätte, als wollte er sagen: Na, sieh mal einer an.

Und dann bot er ihr Fleisch dem Jungen mit der Beretta an.

Ihr drehte sich der Magen um, und sie würgte, als Beretta züngelnd über das Fleisch fuhr und an ihrem Blut leckte wie ein Kind an einem Eis am Stiel. Wieder der seltsame Klang, als würde nasser Stoff entzweigerissen, der Kiefer von Beretta setzte sich in Bewegung, und er fing zu kauen an.

Das passiert nicht, das kann nicht wahr sein. Benommen sah sie zu, wie sie kauten, wie sie ihr Fleisch probierten und sich die Lippen leckten wie diese Typen in einer Kochsendung, wenn sie abschmeckten, ob die Sauce noch eine Messerspitze Salz brauchte. Wieder geriet ihr Inneres ins Rutschen, gleich würde sie vom dünnen Eis purzeln und endgültig den Verstand verlieren. Oder sie schnappte einfach über und begann zu kreischen. Dann mussten sie ihr die Kehle durchschneiden, um sie zum Schweigen zu bringen.

Da sie jetzt so nah waren, konnte sie die merkwürdigen farbigen Fetzen, die sich die Jugendlichen umgebunden hatten, genauer in Augenschein nehmen. Es waren keine einzelnen Streifen, sondern mit unregelmäßigen, groben Stichen zusammengenähte Bänder, die an die Nähte von Frankensteins Monster erinnerten.

Und die Fetzen waren nicht aus Stoff.

Sie waren aus Leder.

Aus Haut.

Auch waren die Farben nicht einfach draufgeschmiert, es waren Muster. Ein verkümmerter Schmetterling. Ein Stück verknoteter Stacheldraht. Eine zerfledderte amerikanische Flagge. Im Lederstreifen um den Hals von Wolf sah sie ein verblichenes rotes Herz, und schwarz daneben stand, in kunstvoll verzierter Kursivschrift, FRANK.

Jetzt wusste sie, warum Wolf das geronnene Blut mit etwas Schnee von ihrem Muskel abgewischt hatte. Er suchte nach guten Tattoos. Die Veränderten schmückten sich … mit Menschenhaut.

O nein, nein, nein, o Gott, nein, nein, o Gott! Ein Schrei ballte sich in ihrer Kehle, als Wolf den letzten Bissen von ihr verzehrt hatte und die Kapuze zurückschob, sodass sie einen unverstellten Blick auf sein Gesicht hatte. Sie bekam es sehr genau zu sehen.

Nein. In einer ganz tiefen Windung ihres Gehirns wurde ein Schalter umgelegt. Nein. Das stimmt nicht. Ich irre mich. Ganz klar.

Aber sie irrte sich nicht. Bei Gott, sie irrte sich nicht.

6

Die Augen waren dieselben.

Und auch die Nase und die hohen Wangenknochen.