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Ist assistierter Suizid eine Therapieoption? - Reflexionen und Fragen regen konkret dazu an, geläufige Meinungen und eigene Positionen über assistierten Suizid zu überdenken und mit Angehörigen oder Freunden darüber zu sprechen. Dieses komplexe Thema berührt immer unvergleichbare Einzelsituationen aufgrund der individuellen Er-Lebenswelt. Daher werden die jeweiligen Themen bewusst aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Eine ganzheitlichere horizonterweiternde Sicht kann dazu beitragen, eine eigene fundierte Überzeugung bzw. Entscheidung zu finden.
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2021
Marianne Darmstadt
Assistierter Suizid
Reflexionen und Fragen
© 2021 Marianne Darmstadt
Umschlag, Illustration: Titelbild: Ölgemälde von Vera Solymosi-Thurzo
"Im Spiegel des Lichts" Katalog-Nr. 103
Lektorat, Korrektorat: Goedel
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-28047-2
Hardcover:
978-3-347-28048-9
e-Book:
978-3-347-28049-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
1. Assistierter Suizid
1.1. Geschichtliche Entwicklung in Europa
1.2. Begriffe
1.3. Beweggründe für assistierten Suizid
1.4. Argumente gegen assistierten Suizid
1.5. Stellungnahmen, Rechtsprechung
1.6. Offene Fragen
2. Gesellschaft / Politik
2.1. Entwicklung der westlichen Gesellschaft
2.2. Skizze der heutigen westlichen Gesellschaft und ihrer Lebensphilosophie
2.3. Strukturanalyse der Familie
2.4. Gesellschaft und assistierter Suizid
2.5. Biblisch inspirierte Aspekte
3. Mensch
3.1. Menschenbilder
3.1.1. Geistesgeschichtliche Ansätze
3.1.2. Skizze des heutigen Menschenbildes
3.1.3. Christliches Menschenbild
3.2. Person
3.2.1. Philosophische Theorien
3.2.2. Biblisches Verständnis
3.2.3. Wesensmerkmale einer Person
3.2.4. „Person“ als Begriff in der ethischen Debatte
3.3. Körper – Seele – Geist
3.3.1. Annäherung an die Begriffe Körper, Seele und Geist
3.3.2. Beziehung zwischen Körper, Geist und Seele
3.3.3. Bewusstsein
3.3.4. Heiliger Geist
3.4. Menschenwürde
3.4.1. Definition
3.4.2. Würde und Ebenbildlichkeit Gottes
3.4.3. Ethische Auswirkungen der Menschenwürde
3.5. Freiheit
3.5.1. Definition und Abgrenzung
3.5.2. Freiheit und Person
3.5.3. Gewissen
3.5.4. Verantwortung
3.5.5. Toleranz
3.5.6. Freiheit/Verantwortung und assistierter Suizid
4. Leben
4.1. Definitionen und ihre Grenzen
4.2. Unantastbarkeit des Lebens
4.3. Lebenssinn
4.4. Lebensabschnitte
4.4.1. Altern
4.4.2. Greisenalter
4.5. Zeit und Ewigkeit
4.6. Konsequenzen
5. Schattenseiten des Lebens
5.1. Leid
5.1.1. Angst
5.1.2. Schmerz
5.1.3. Verzweiflung
5.2. Sterben
5.3. Tod
5.3.1. Der Tod in der Geschichte
5.3.2. Gegenseitige Beeinflussung von Tod und Leben
5.3.3. Menschlicher Tod
5.3.4. Der Tod an sich
5.3.5. Der Tod des Anderen
5.3.6. Der Tod in der Neuzeit
5.3.7. Christus und der Tod
5.4. Konsequenzen
6. Medizin und Technik
6.1. Konflikt
6.2. Fragen
6.3. Therapeuten und Pflegepersonen
6.4. Betroffene
6.5. Medizinischer Fortschritt und assistierter Suizid
6.6. Palliative Care
7. Schluss
für meine Mutter
Einleitung
Assistierter Suizid – ist er ein modernes Phänomen oder hat er historische Wurzeln? Aus welchen Gründen wird er zunehmend akzeptiert, und warum wird er überhaupt als eine Option angesehen? Welche Argumente sprechen für oder gegen assistierten Suizid? Zentralen Themen, die ein tieferes menschliches Verständnis des Geschehens erst ermöglichen, soll auf den Grund gegangen werden, wobei „Person“ ein Schlüsselbegriff ist. Inwieweit beeinflussen strukturelle Gegebenheiten sowie mentale und emotionale Strömungen in der westlichen Gesellschaft die Haltung gegenüber assistiertem Suizid? Welche problematischen Situationen ergeben sich aus dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt für die Betroffenen und für die Akteure im Gesundheitswesen? Welche Reformen wären nötig, damit jeder darauf hoffen kann, eines Tages in Frieden sterben zu dürfen, und welche Chancen weist Palliative Care in dieser Hinsicht auf?
Besonders berücksichtigt wird die Situation der älteren Menschen in der Gesellschaft.
Ohne die biblisch-christliche Perspektive, auch wenn sie für viele ungewohnt, unerwünscht oder gleichgültig sein sollte, bliebe die Diskussion dieser Thematik unvollständig. Doch bietet sie auch für Andersdenkende neben einer möglichen Horizonterweiterung tiefer fundierte Entscheidungshilfen.
In diesem Buch sollen neben dem Versuch, die jeweiligen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, zunächst Fragen gestellt und Denkanstöße gegeben werden. Es ist weder eine wissenschaftliche Abhandlung noch erhebt es den Anspruch auf philosophische oder theologische Fachkompetenz oder auf Vollständigkeit in irgendeiner Hinsicht.
Viele Fragen sollen und werden offen bleiben. Ziel ist es, dass diejenigen, die sich diesem Thema stellen wollen oder aus unterschiedlichen Gründen damit konfrontiert sind, anhand der gegebenen Anregungen eigene Positionen hinterfragen und in kleinem Kreis darüber diskutieren.
1. Assistierter Suizid
1.1. Geschichtliche Entwicklung in Europa
Euthanatos, der gute Tod, wird erstmals bei Kratinos im 5. Jh. v. Chr. erwähnt. Bereits im 4. Jh. v. Chr. wird kontrovers über lebensverkürzende Maßnahmen diskutiert. Epiktet (1. Jh. v. Chr.) verweigert medizinische Behandlung, um sterben zu können. Seneca und andere Philosophen der Stoa betonen die Freiheit, selbstbestimmt und leicht zur rechten Zeit das Leben zu beenden, wogegen Hippokrates die Selbsttötung ablehnt.
Ab der frühen Christenheit bis in die Zeit der Renaissance wird der Freitod öffentlich geahndet. Ars morendi, die Vorbereitung im Leben auf ein gutes Sterben, steht im Vordergrund.
Im 16./17. Jh. wird mit Beginn der Aufklärung, z. B. durch Montaigne und Donne, die Diskussion sowohl in der Gesellschaft als auch unter den Theologen neu entfacht. Das Streben nach Mündigkeit, Vernunft und Freiheit sind kennzeichnend für diese (und unsere) Zeit. Kant lehnt jede Form der Tötung ab. Philosophische Befürworter des Suizids sind z. B. Rousseau und Hume im 18. Jh. sowie im 19. Jh. Mill, Spencer und Nietzsche. 1751 hebt Friedrich der Große die Strafbarkeit des Suizids und dessen Beihilfe auf.1
Der Begriff Euthanasie wurde bislang nicht im Zusammenhang mit Selbsttötung benutzt, auch nicht von Bacon, der ihn im 16. Jh. wieder eingeführt hat. Erst ab Ende des 19. Jh. wird er mit Beginn der bis heute andauernden Debatte als „Sterbehilfe“, d. h. als Eingriff des Menschen in den Sterbeprozess und so auch im Sinne einer assistierten Selbsttötung verstanden.
Im 20. Jh. werden Euthanasie- und Sterbehilfegesellschaften gegründet. „Lebensunwertem“ Leben, z. B. von behinderten Neugeborenen oder geistig Behinderten, soll ein Ende gesetzt werden können auch ohne Einwilligung der Betroffenen oder ihrer Angehörigen, entweder aus Mitleid, wie in England, oder als in die Tat umgesetztes politisch-ideologisches Programm der Nationalsozialisten in Deutschland.
Ab 1960 wird zunehmend über die Aktiv-Passiv-Unterscheidung der Suizidbeihilfe und die Fragwürdigkeit sinnloser medizinischer Behandlungen debattiert. Patientenwille und -autonomie haben seitdem an Bedeutung gewonnen. Medizinische Grenzsituationen werden gesellschaftlich bewusster wahrgenommen mit zunehmender Akzeptanz des assistierten Suizids und der Forderung nach einer entsprechenden Liberalisierung der Gesetzgebung. Es entstehen Sterbehilfeorganisationen, EXIT wird 1982 in der Schweiz gegründet. Seit 1989 haben sich teilweise militante Lager für und gegen die Sterbehilfe gebildet.
Parallel zu dieser Entwicklung wird als Alternative dazu die Hospizbewegung von Cicely Saunders mit der ersten Hospizeröffnung in London 1967 ins Leben gerufen und damit Palliative Care eingeleitet. Die Bioethik entwickelt sich als Teilgebiet der Humanethik aus der Notwendigkeit heraus, die durch die technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen neu aufgetretenen Probleme zu analysieren sowie Richtlinien und Grenzen zu definieren, um menschliches Leben zu schützen.
Suizid als „guter Tod“ wird somit seit der Antike kontrovers diskutiert. Nach einer Periode der Ächtung im Mittelalter ist seit der Aufklärung die philosophische und gesellschaftliche Diskussion darüber neu entbrannt, beeinflusst durch die zunehmende Liberalisierung im gesellschaftlichen Bewusstsein, die Akzentuierung der Patientenautonomie und die Institutionalisierung in Form von Ethikkommissionen und Sterbehilfeorganisationen. Durch die Zugriffsmöglichkeit auf ein in der entsprechenden Dosierung tödliches Schlafmittel ohne unangenehme Nebenwirkungen ist „assistierter Suizid“ zu einer modernen Form der Selbsttötung geworden.
1.2. Begriffe
In der Literatur und in Diskussionen fällt auf, dass verschiedene Begriffe unterschiedlich benutzt und akzentuiert werden, manchmal auch um die jeweils eigene Sichtweise und Überzeugung zu unterstützen, was zu Missverständnissen führen kann, und besonders in Grenzfällen zu kritischen Fragen anregt. Einige dieser Begriffe werden zudem philosophisch kontrovers diskutiert, wie z. B. Freiheit, Unantastbarkeit des Lebens oder Menschenwürde.
Verantwortungsbereiche lassen sich manches Mal nicht deutlich voneinander trennen, so dass nur nach sorgfältiger Analyse ersichtlich wird, wer welche Verantwortung trägt. Wer ist hier aktiv, und wer ist passiv?
Die Situation der Betroffenen wird in der Diskussion über assistierten Suizid unzureichend differenziert: Handelt es sich um chronisch Kranke, Tumorpatienten, Patienten in der Terminalphase oder alte Menschen? Die hiermit verbundenen ethischen Implikationen sind völlig verschieden.
Rechtliche, medizinisch-wissenschaftliche, ethische, anthropologische, politisch-soziologische, philosophische und theologische Aspekte und Inhalte werden oft entweder ungenau voneinander abgegrenzt oder aber zu wenig in die Überlegungen mit einbezogen.
Einige Autoren versuchen, durch neue Begriffe Details zu klären, verstärken damit jedoch die terminologische Unübersichtlichkeit.
Wie kann also der Begriff „Sterbehilfe“ ausgelegt werden, und welche Fragen werfen die in diesem Zusammenhang üblicherweise verwendeten Begriffe auf?
Sterbehilfe
Sterbehilfe ist Helfen zum Sterben. Im Sinne der Sterbehilfeorganisationen kann dies so verstanden werden, dass jemandem geholfen wird, sein Leben schlafend zu beenden. Leiden bzw. das Sterben wird durch die Suizidbeihilfe zeitlich verkürzt.
Oder es geht darum, einem Todkranken das Sterben zu erleichtern, indem Beschwerden, wie z. B. Schmerzen oder Luftnot, gelindert und so für den Betroffenen erträglich gemacht werden, bzw. indem die Einsamkeit durch menschliche Nähe gemindert wird. Hier handelt es sich um eine qualitative Hilfe im Sterbeprozess, ohne dass die Zeitspanne bis zum Todeseintritt verkürzt oder verlängert wird.
Da Sterbehilfe dermaßen kontrovers interpretiert werden kann, könnten eindeutigere Begriffe wie assistierte Selbsttötung oder assistierter Suizid gegenüber Sterbebegleitung als Teil der Palliative Care zu einem klareren gegenseitigen Verständnis bei der Diskussion über dieses komplexe Thema beitragen.
Aktiv – Indirekt – Passiv
„Aktive“ oder „direkte Sterbehilfe“ heißt, dass eine andere Person und nicht der Betroffene selbst den Tod unmittelbar verursacht, z. B. durch die Injektion einer tödlichen Substanz.
„Indirekte Sterbehilfe“ wiederum heißt z. B., lebensverkürzende Nebenwirkungen einer palliativ notwendigen und verantwortbar dosierten Therapie in Kauf zu nehmen.
„Passive Sterbehilfe“ bedeutet z. B., dass der Betroffene selbst die tödliche Dosis des Schlafmittels zu sich nimmt, das ihm aber ein anderer besorgt hat. Hier wird jedoch das Problem deutlich: Wer ist hier aktiv und wer passiv? Inwieweit ist nicht auch der andere aktiv, indem er das tödliche Mittel besorgt und dem Betroffenen zur Verfügung stellt?
Welchen Unterschied macht es, ob der jeweils Handelnde aktiv/passiv ist, oder ob die jeweilige Handlung aktiv/passiv erfolgt? Es geht hier eigentlich um die Frage, wer wofür und wem gegenüber Verantwortung trägt.
Eine weitere grundsätzliche Frage, die sich stellt, lautet: Sind die Folgen einer entsprechenden Handlung Grundlage für deren ethische Beurteilung, oder ist die Handlung als solche unabhängig von ihren Folgen zu bewerten?
Beabsichtigen (Überzeugung – Absicht – Wissen) – Zulassen (Inkaufnahme) – Unterlassen (Töten – Sterbenlassen)
Zunächst verwirren diese feinen Unterscheidungen. Auch wenn der Verantwortliche lediglich eine Handlung beabsichtigt, sie in Kauf nimmt oder sie unterlässt, wird er aktiv tätig oder bleibt aktiv untätig. Zudem geht eine aktive, wenn auch subjektive, Entscheidung des Handelnden der Handlung voraus. Sind subjektive Überzeugungen, Absichten und eventuelles Unwissen, auch wenn sie ohne ethisch relevante Konsequenzen, d. h. Handlungsfolgen bleiben, für die ethische Beurteilung unerheblich?2 Würde dies auch für den Fall gelten, in dem die Handlung lediglich misslingt, die Absicht aber eindeutig war? Wie weit reicht der ethische Verantwortungsbereich? Wo liegen seine Grenzen?
Zusammenfassung der begrifflichen Probleme
Das gegenseitige Verständnis in der Diskussion um assistierten Suizid wird durch folgende Aspekte getrübt:
• unterschiedliche Inhalte eines Begriffs im Bereich der Medizin, Justiz und Ethik und nicht zu vergessen, in der Umgangssprache,
• fachlich intern kontrovers diskutierte Inhalte,
• ethisch uneinheitlich geklärte Begriffe,
• motivations- und interessensbelastete Nutzung der Begriffe durch verschiedene Gruppierungen,
• bisher unzureichende Begriffe für die Beurteilung der Konsequenzen neuer technischer oder medikamentöser Möglichkeiten, Leben zu verlängern oder Leiden zu mindern,
• unterschiedliche Sicht der Extension und Intension, d. h. der Reichweite des Begriffs der Verantwortung,
• unzureichende Würdigung der Komplexität der jeweiligen Situation durch die verwendeten Begriffe (Motive, Zielsetzung, auf dem Spiel stehende Werte, Umstände, Mittel, Zweck, Folgen).3
1.3. Beweggründe für assistierten Suizid
Die folgende Übersicht über die den assistierten Suizid begünstigenden Ursachen oder Argumente bleibt, ebenso wie die im nächsten Abschnitt aufgeführte Zusammenfassung der Gründe, die gegen assistierten Suizid sprechen, zunächst unkommentiert. In den folgenden Kapiteln soll dann näher darauf eingegangen werden.
Medizinische Argumente
Es gibt unheilbare Krankheiten, vor denen und vor deren Verlauf Menschen, die mit einer entsprechenden Diagnose konfrontiert werden, sich fürchten, z. B. amyotrophe Lateralsklerose (ALS) mit Schluckbeschwerden, zunehmender Bewegungsunfähigkeit und Atemnot oder bösartige Tumoren mit unerträglichen Schmerzen und chronischer Erschöpfung.
Assistierter Suizid ist in solchen oder ähnlichen Fällen für manche eine Therapieoption unter anderen.
Assistierter Suizid kann als eine Art Schmerztherapie angesehen werden, die unzureichende und physisch und psychisch belastende Behandlungsversuche beendet.
Am Lebensende oder bei starken Schmerzen künstlich sediert zu werden, nicht mehr am Geschehen teilnehmen oder sich nicht mehr mitteilen zu können, ist nach mancher Auffassung kein Leben mehr. Es wäre dann besser, es aktiv zu beenden.
Für viele ist die Vorstellung unerträglich, bei Demenz sich selbst zu verlieren oder als psychisch Kranker lebenslang in einer geschlossenen Pflege- und Heilanstalt zu verbringen, keinen Sinn mehr in dem Leben, das noch bevorsteht, zu sehen oder die eigene Würde zu verlieren.
Durch technischen Fortschritt kann Leben künstlich verlängert werden, d. h. der Betroffene wäre ohne den Einsatz von medizinischen Apparaten gestorben. Warum soll es verboten sein, den Einsatz solcher Mittel zu beenden und den Apparat abzuschalten? Warum sollen Arzneimittel nicht benutzt werden dürfen, um ein beschwerliches, unerwünschtes oder sinnentleertes Leben zu beenden?
Soziale Gründe
Familienstrukturen verändern sich, die Stabilität der Beziehungen und die Disponibilität für den anderen, besonders wenn diese über einen längeren Zeitraum benötigt wird, schwinden, verfügbare Zeit ist Mangelware. Die Altersarmut und die Zahl der Menschen, die davon betroffen sind, steigen.
Aus der Perspektive des auf Hilfe Angewiesenen nehmen die Vereinsamung, das Allein-Aufsichgestelltsein und die damit verbundene Angst zu. Weiterhin wächst die Sorge, für die Angehörigen zu einer überfordernden Belastung zu werden oder der Allgemeinheit „auf der Tasche zu liegen“. Auch dass der eigene Handlungsspielraum durch die Abhängigkeit von anderen schwindet, kann einen bedrücken.
Die Behandlungs- und Verweildauer bei chronischen Erkrankungen ist in Spitälern aus finanziellen Gründen zeitlich begrenzt. Entweder erfolgt danach die Verlegung in ein Altenheim, in ein Hospiz oder in eine eventuell unzureichende häusliche Betreuung. Die manchmal schwierige Suche nach einem geeigneten Platz kann von dem Betroffenen als Verlust der eigenen Wertigkeit, der Zugehörigkeit und der Geborgenheit empfunden werden.
Vorstellungen in der heutigen Gesellschaft
Gesundheit und jugendliche Mobilität sind Leitbilder, die in der westlichen Gesellschaft dominieren. Etabliert haben sich auch der Anspruch auf soziale Absicherung und das Recht auf Selbstverwirklichung. In Grenzsituationen des Lebens herrscht Sprachlosigkeit. Alter, Krankheit und Tod sind meist eine private Angelegenheit und werden in der Öffentlichkeit mit einem Tabu belegt. Alte oder schwerkranke Menschen fühlen sich oft hilflos, minderwertig und nutzlos und wünschen sich daher manches Mal als Ausweg den assistierten Suizid.
Leben wird meist als evolutionäres und zufälliges Geschehen angesehen. Den Sinn des Lebens, so sagt man, müsse jeder für sich selbst finden. Das oberste Ziel ist es, das Leben voll auszukosten, alle Möglichkeiten zu nutzen und sämtliche einem gestellte Aufgaben zu meistern. Aus einer solchen Perspektive darf dem Leben ein Ende gesetzt werden, wenn man meint, dass die Zeit dafür reif sei.
Bei Gesprächen sind folgende Äußerungen zu hören:
Jeder darf seine Vorstellungen, auch bezüglich seines Lebensendes, selbstverantwortlich realisieren.
Eigene Interessen sind, solange die Interessen anderer dadurch nicht verletzt werden, vorrangig.
Wenn assistierter Suizid möglich ist, warum nicht?
Die Vorstellung, nicht mehr existieren zu müssen, kann wohltun. Allein der Gedanke, dass assistierter Suizid eine Option ist, wenn einem das Leben zu schwer werden sollte, kann tröstlich sein und helfen, die bis dahin verbleibende Zeit auszuschöpfen.
Selbstbestimmtes Sterben ist ein Ausdruck der souveränen Freiheit.
Selbstbestimmtes Sterben ist ein menschliches Grundrecht.
Wenn das ganze Leben durch Selbstdisziplin und Selbstachtung geprägt war, fällt es schwer, sein Innerstes, seine Gebrechlichkeit oder seine Bedürftigkeit preiszugeben. Bevor ein solch bedauernswerter Zustand eintritt, wünschen sich manche, ihr Leben selbstbestimmt und in Würde zu beenden.
Einige sehen den Sinn ihres Lebens hauptsächlich darin, ihre Angehörigen aufopfernd zu umsorgen. Wenn sie jedoch selbst zum Pflegefall und zu einer Belastung für die bisher Umsorgten werden, wollen sie ihre Lieben durch ein letztes Opfer entlasten.
Es spricht für einen gesunden Realismus, seine Lebenschancen rational-distanziert zu beurteilen und den Mut zu haben, daraus die Konsequenzen zu ziehen.
Die Vorstellung eines guten Todes nach einem guten Leben beinhaltet die Festlegung des Zeitpunktes und die Gestaltung des eigenen Todes.
Metaphysische Argumente
Manche glauben, als „Ebenbild Gottes“ ein Verfügungsrecht auch über das eigene Leben zu haben.
Physisches Leben ist nicht alles. Manche sehen den selbst gesetzten Tod als Befreiung, so dass Zukunftshoffnungen, die das jetzige Leben übersteigen, erfüllt werden können.
Für viele gibt es keine übergeordnete Instanz, die Ordnungen oder Grenzen festsetzt, und der gegenüber der Mensch verantwortlich wäre.
1.4. Argumente gegen assistierten Suizid
„Beihilfe zur Entsorgung kommt nicht in Frage; dafür ist der letzte Atem zu kostbar. Mit dem Giftbecher, auch dem bekömmlichsten, stirbt man nicht seinen eigenen Tod, auch wenn man ihn als Abschiedsparty zelebriert.“4
Welche Gründe sprechen gegen einen assistierten Suizid, und wie können Argumente, die ihn befürworten, entkräftet werden?
Medizinische Argumente
Die Möglichkeiten der modernen Medizin können Ängste und den Wunsch nach assistiertem Suizid auslösen. Die jeweiligen Ursachen für diese Ängste sollten gesucht und alternative Lösungen für die aufgedeckten Missstände umgesetzt werden.
Technische Möglichkeiten und deren regelmäßige Anwendung führen dazu, dass manche Menschen Angst davor haben, dass über sie verfügt werden könnte, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, mit zu entscheiden. Diese Angst kann dadurch gelindert werden, dass die in der jeweiligen Situation Beteiligten gemeinsam, unter Berücksichtigung der gesetzlichen und ethischen Vorgaben, den Einsatz technischer Möglichkeiten begrenzen dürfen.
5–15 % der Schmerzen können bislang nicht völlig beherrscht werden. Es ist jedoch möglich, durch eine zeitlich begrenzte und individuell dosierte Sedierung auch diese Schmerzzustände erträglich zu machen.5
Alternativ zum assistierten Suizid gibt es palliative Möglichkeiten sowohl im Krankenhaus als auch in der ambulanten Versorgung, Leiden zu mindern und den Menschen ganzheitlich zu behandeln und zu umsorgen.
Durch die Entwicklung eines wirksamen, einfach zu handhabenden und nebenwirkungsfreien Medikamentes mit dem Ziel, das Leben zu beenden, ist Suizid zu etwas geworden, das einfach und angenehm durchgeführt werden kann. Dies erleichtert die Entscheidung hierzu, genügt aber nicht als ethische Rechtfertigung.
Gesellschaftliche Argumente
Zwei Statistiken zeigen jeweils die Entwicklung des assistierten Suizids über einen Zeitraum von 17 Jahren in der Schweiz und von 6 Jahren in den Niederlanden.6,7
In beiden Ländern nimmt die Zahl der assistierten Suizidfälle zu, wobei in der Schweiz die nicht assistierten Suizide abnehmen. Dies kann so interpretiert werden, dass sich in den Ländern mit legalisiertem assistierten Suizid die Tendenz entwickelt, dem Leben „rechtzeitig“ ein Ende setzen zu wollen. Die dafür wegbereitenden Gründe sind zu hinterfragen.
Entspricht das heutige rationale und individualistische Menschenbild dem eigentlichen Wesen des Menschen? Inwieweit wirkt es sich auf die Suizidbereitschaft aus? Könnte eine Korrektur dieses Menschenbildes die Perspektive kritischen Situationen gegenüber verändern und lebensmotivierende Auswirkungen haben?
Ist die heutige Lebenseinstellung, in der Vitalität, Jugendlichkeit, Selbstbestimmung, ein aktives und erfolgreiches Leben gefeiert, Kranke und Alte hingegen ausgegrenzt und damit der Gefahr zu vereinsamen ausgesetzt werden, wirklich das, was die Gesellschaft will und benötigt?
Konsum- und Wegwerfgesellschaft – wirkt sich die damit verbundene Mentalität auch auf den Wert aus, der dem Leben beigemessen wird? Darf ein angeblich unnützes oder beschwerliches Leben weggeworfen werden?
Ist alles, was machbar ist, auch richtig? Kann, soll oder darf jeder für sich entscheiden, was für ihn richtig ist?
Ist die öffentliche Meinung, die durch die Medien verbreitet wird, maßgeblich? Inwieweit werden Menschen durch sie manipuliert? Kann ein Todkranker sich dadurch unter Druck gesetzt fühlen, sich rechtfertigen zu müssen, wenn er weiterleben will?
Was geschieht mit denen, die sich noch nicht geäußert haben und sich nicht mehr äußern können, wenn „Todesbeihilfe“ eine Option unter anderen wird? Steigt dadurch der Druck auf die die Angehörigen, die stellvertretend zu entscheiden haben? Werden Kosten-Nutzen-Kalküle zur Norm werden?
Auffallend ist, dass in der Schweiz Frauen häufiger assistierten Suizid in Anspruch nehmen, während nicht assistierte Suizide, deren Tendenz insgesamt leicht rückläufig ist, bei Männern überwiegen.8 Als Gründe für Ersteres werden ein vermindertes Selbstwertgefühl der Frauen, eine mit ihnen vermehrt assoziierte Opferbereitschaft und eine bei ihnen häufiger anzutreffende Armut angeführt.9 Was müsste sich in diesen Fällen eigentlich ändern?
Dem Wandel in der Familienstruktur und der zunehmenden Belastung der Angehörigen könnte z. B. durch den Ausbau der sozialen Netzwerke und anderer sozialer Strukturen begegnet werden. Würde damit gleichzeitig den Ängsten und der Vereinsamung kranker und alter Menschen entgegengewirkt?
Das Tun eines einzelnen hat immer Auswirkungen auf dessen nähere oder auch weitere Umgebung. Einzelentscheidungen können nicht ohne Berücksichtigung der Folgen für andere getroffen werden.
Angehörige werden zu selten in die Überlegungen miteinbezogen. Könnte der Wunsch, Suizid zu begehen, abgeschwächt werden, wenn die Betroffenen die Gelegenheit dazu bekämen und nutzen würden, mit nahestehenden Personen darüber zu diskutieren und ihre Situation eventuell aus einer anderen Perspektive zu überdenken?
Infolge eines assistierten Suizids könnten die Angehörigen sozial stigmatisiert werden oder Schuldgefühle entwickeln, z. B. dass sie sich nicht ausreichend um den Betreffenden gekümmert haben, dass sie unfähig gewesen sind, ihn von seinem Vorhaben abzubringen oder dass sie unzureichend materielle Mittel für eine gute Pflege bereitgestellt haben, die den Wunsch nach einem Suizid gar nicht erst hätte entstehen lassen.
Auswirkung eines jeden assistierten Suizids ist die langsame und stetige Gewöhnung der Gesellschaft an diese Form des Aus-dem-Leben-Scheidens bis hin zur allgemeinen Überzeugung, dass assistierter Suizid „gut, menschlich, würdig und grundsätzlich möglich“10 sei. Diejenigen, die Beihilfe leisten, d. h. das dazu nötige Medikament besorgen, denken mit der Zeit immer seltener über die Gründe für ihre Hilfsbereitschaft nach oder überprüfen den jeweiligen Fall nicht mehr mit der gebotenen Sorgfalt. Es besteht die Gefahr, dass sich der Prozess automatisiert.
Bedeutet, Verantwortung für nachkommende Generationen zu übernehmen, nicht auch, dass mit heutigen Entscheidungen Wege gebahnt werden, über die später nicht mehr nachgedacht wird, da sie zur Gewohnheit geworden sind und es schwierig ist, etwas Eingefahrenes rückgängig zu machen?
Entscheidungsrichtlinien über Leben oder Tod können nur aus einer humanen oder transzendenten und nicht allein aus einer gesellschaftlichen oder juristischen Perspektive gewonnen werden.
Philosophisch-anthropologische Argumente
Freiheit als Grundphänomen der „Person“ ist gegeben, nicht erworben und nur, wenn man lebt, realisierbar. Suizid ist „destruktive Freiheit“.11
Autonomie wird heutzutage tendenziell überbewertet. Autonom leben kann nur der, der u. a. alle Risiken und Konsequenzen seines Handelns überblickt.12 Menschliche Freiheit und Autonomie benötigen Orientierung und Maß und damit freiwillig gesetzte Grenzen.
Es geht an der Realität vorbei, sich einzubilden, mit assistiertem Suizid sein Sterben aktiv selbstbestimmt gestalten zu können. Mit einem tödlichen Medikament erfolgt überhaupt kein Sterbeprozess, der gestaltet werden könnte, da der Zustand des Todes direkt eintritt.
Der Entschluss zum Suizid kann aus dem Schamgefühl über die eigene Hilflosigkeit reifen. Menschliche Würde zeigt sich nicht in strahlender Selbstbehauptung, sondern darin, Krisensituationen bewusst zu durchleben und Unterstützung anderer annehmen zu können.
Wenn Angst vor Demenz oder andere Befürchtungen als Grund angegeben werden, assistierten Suizid in Anspruch nehmen zu wollen, kann ein Hilferuf, ein Appell dahinterstehen. Solchen Lebenskrisen mit Angst, Hilflosigkeit, Scham oder Verlust der Selbstbeherrschung kann anders begegnet werden, als sie assistiert zu beenden – sie könnten auch assistiert durchlebt werden.
Die Lebensqualität oder der Wunsch zu leben, können durch das Verhalten der umgebenden Menschen positiv beeinflusst werden.
Die eigene Zeugung und der Tod sind Momente, in denen der Mensch keine Möglichkeit hat, mitzureden, sie geschehen ihm einfach. Geborenwerden und Sterben sind Grenzsituationen im Leben.
Da das neugeborene, schwerstbehinderte Kind und oft auch der Sterbende nur über begrenzte Möglichkeiten verfügen, sich den anderen mitzuteilen, bleibt den Außenstehenden häufig verborgen, was geistig und emotional in ihnen vorgeht. Ist es dann überhaupt möglich, eine lebenswichtige Entscheidung stellvertretend in ihrem Sinne zu treffen?
Lebenssinn ist nicht gleich Lebenswert.
Das eigene Leben ist einmalig, kein Besitztum, über das man verfügen kann, sondern Gegebenes, Geschenk, Leihgabe oder Auftrag.
Es darf nicht sein, dass sich jemand dafür rechtfertigen muss, dass er lebt.
Der Wert und die Unantastbarkeit des Lebens sowie der Respekt vor ihm stehen in enger Verbindung miteinander. Leben ist kein