Auch keine Tränen aus Kristall - Alan Dean Foster - E-Book

Auch keine Tränen aus Kristall E-Book

Alan Dean Foster

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Beschreibung

Vor dem Commonwealth

Ryo ist ein Thranx, ein intelligentes Insektenwesen. Schon im Larvenstadium fiel auf, dass er anders war als seine Altersgenossen, ein Tagträumer. Im Erwachsenenalter sucht Ryo beständig nach seiner Bestimmung – es muss doch mehr im Leben geben als seine Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen? Als plötzlich haarlose, zweibeinige Ungeheuer auftauchen, die sich Menschen nennen und die Raumfahrt ebenfalls beherrschen, ist Ryo, der Träumer, plötzlich der wichtigste Thranx überhaupt …

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ALAN DEAN FOSTER

AUCH KEINE TRÄNEN AUS KRISTALL

Roman

EINS

Es ist hart, eine Larve zu sein. Zuerst ist da gar nichts. Und dann wächst aus dem Nichts ganz langsam und stufenweise ein unbestimmtes, unsicheres Bewusstsein heran. Die Wahrnehmung der Welt stellt sich nicht als ein Schock ein, sondern als eine graue Unvermeidbarkeit. Die Larve kann sich nicht bewegen, kann nicht sprechen. Aber denken kann sie.

Seine ersten Erinnerungen befassten sich ganz natürlich mit dem Pflegehort: einer kühlen, schwach beleuchteten Kammer kontrollierter Bewegung und beträchtlichen Lärms. Unter der sanft gewölbten Decke unterhielten sich Erwachsene mit seinen Mitlarven. Und mit der Wahrnehmung seiner Umgebung stellte sich das Erkennen des Ichs und eines Körpers ein: einer knotigen, eineinhalb Meter langen zylindrischen Masse aus fleckigweißem Fleisch.

Durch einfache, noch nicht vollkommene Larvenaugen nahm er hungrig die beschränkte Welt in sich auf. Erwachsene, Geräte, Wände, Decke und Boden. Seine Gefährten, die Krippe, in der er lag. Und alles das war weiß und schwarz oder ein Grauton dazwischen. Das war alles, was er wahrnehmen konnte. Farbe war ein geheimnisvolles, unvorstellbares Reich, zu dem nur Erwachsene Zugang hatten. Von all den Fremdartigkeiten der Existenz beschäftigte ihn am meisten der Gedanke, was wohl blau, was gelb sein mochte – der Geschmack des ihm vorenthaltenen Spektrums.

Die Erwachsenen, die den Pflegehort verwalteten und sich um die Jungen kümmerten, waren darin geübt. Sie hatten von Generationen von Jungen dieselben Fragen gehört, Fragen in derselben Reihenfolge, die immer wieder gestellt wurden. Und doch waren sie stets geduldig und höflich. Und so gaben sie sich redlich Mühe, ihm zu erklären, was Farbe sei. Die Worte hatten keine Bedeutung, weil es keine Bezugspunkte gab, keine geistigen Landmarken, auf die sich eine Larve beziehen konnte. Es war so, als versuchte man die Sonne zu beschreiben, die die Oberfläche des Planeten erwärmte, hoch, ganz hoch oberhalb des unterirdischen Pflegehorts. In seiner Vorstellung war die Sonne ein hell leuchtendes Etwas, das ein intensives Fehlen von Dunkelheit produzierte.

Er wuchs heran, und die Helfer ließen zu, dass er sich in seiner primitiven, sich aufbäumenden wurmähnlichen Art und Weise bewegte. Pfleger bewegten sich geschäftig in dem Hort, geschäftige Erwachsene, denen die Gabe echter Beweglichkeit verliehen war. Lehrmaschinen murmelten den Lernbegierigen ihre endlosen Litaneien zu. Gelegentlich kamen auch andere Erwachsene zu Besuch, darunter auch ein Paar, das sich ihm gegenüber als seine eigenen Eltern identifizierte.

Er verglich sie mit seinen Gefährten, die wie er unruhige weiße Massen waren, die in stumpfen, schwarzen Augen und dünnen Mundschlitzen endeten. Wie er die Erwachsenen doch um ihre sauberen Linien und ihre reifen Körper beneidete, die vier kräftigen Beine, die Fußarme darüber, die entweder als Hände oder als drittes Beinpaar dienten, und die zarten Echthände darüber.

Und echte Augen hatten sie auch, die Erwachsenen. Große, aus vielen Facetten zusammengesetzte Augen, die wie eine Ansammlung strahlender Juwelen leuchteten (für ihn in hellem Grau, obwohl er wusste, dass sie orange und rot und golden waren, was auch immer das sein mochte). Sie waren seitlich an den glänzenden, herzförmigen Köpfen angeordnet, an denen ein Paar federartiger Antennen wippte, völlig weiß. Die Antennen faszinierten ihn ebenso wie all seine Gefährten. Die Erwachsenen pflegten ihnen zu erklären, dass diese Antennen für zwei Sinne zuständig waren: den Geruchssinn und den Fazz-Sinn.

Das Fazzen verstand er; die Fähigkeit nämlich, die Anwesenheit bewegter Gegenstände durch Wahrnehmung der Luftverdrängung zu entdecken. Aber was man unter ›Geruch‹ verstand, blieb ihm völlig verschlossen, ebenso wie Farbe. Und so kam es, dass er sich außer Armen und Beinen auch verzweifelt Antennen wünschte. Er sehnte sich verzweifelt danach, komplett zu sein.

Die Pfleger waren geduldig und hatten volles Verständnis für derartiges Sehnen. Antennen und Glieder würden mit der Zeit kommen. Und bis dahin gab es viel zu lernen.

Sie lehrten ihn Sprache, obwohl Larven höchstens zu einem primitiven Keuchen und Stöhnen fähig waren, mehr konnten sie mit ihren flexiblen Mundteilen nicht zustandebringen. Es bedurfte harter Kiefer und ausgewachsener Lungen und Kehlen, um die eleganten Klick- und Pfeiftöne zu erzeugen, in denen sich Erwachsene miteinander verständigten.

Aber immerhin konnte er ein wenig sehen und hören und in begrenztem Maße sprechen. Aber ohne Farben war der Gesichtssinn unvollkommen, und fazzen und riechen konnte er überhaupt nicht. Als Ausgleich erklärten ihm die Lehrer, dass kein Erwachsener auch nur annähernd so gut fazzen und riechen konnte wie die primitiven Vorfahren der Thranx, damals, als die Rasse noch ohne Intelligenz viel tiefer in den Eingeweiden der Erde wohnte, als sie es heute tat, als es noch kein künstliches Licht gab und damit der Fazzsinn und der Geruchssinn notwendigerweise viel wichtiger als der Gesichtssinn waren.

Er hörte zu und verstand, aber das machte seine Enttäuschung nicht geringer. Dann kroch er auf Wurmart über die Übungsstrecke, weil sie darauf bestanden, dass er sich bewegen musste. Aber dabei war ihm die ganze Zeit bewusst, was für ein blasser Schatten echter Beweglichkeit das doch war. Oh, wie enttäuschend das alles war!

Larvenjahre waren Lernjahre. Fast außerstande, sich zu bewegen, unfähig zu riechen oder zu fazzen und kaum imstande, sich zu unterhalten, aber mit ausreichendem Gesichts- und Gehörsinn ausgestattet, verfügte eine Larve über genügend Fähigkeit zum Lernen.

Er war ein besonders wissbegieriger Student, der alles in sich aufnahm und begierig nach mehr verlangte. Seine Lehrer und Pfleger waren zufrieden, ebenso wie die Lehrmaschine, die an seiner Krippe befestigt war. Er meisterte Hoch- und Nieder-Thranx, obwohl er keines von beiden richtig sprechen konnte. Er lernte Physik und Chemie und die Grundlagen der Biologie und damit auch, wie gefährlich jede Wasserfläche war, die tiefer als sein Thorax war, wo die Atemlöcher der Erwachsenen saßen. Ein erwachsener Thranx konnte auf dem Wasser treiben, aber nicht lange, und wenn Wasser in den Körper eindrang, dann sank er. Schwimmen war ein Talent, das primitiven Geschöpfen mit Innenskeletten vorbehalten war.

Man lehrte ihn Astronomie und Geologie, obwohl er den Himmel oder die Erde nie gesehen hatte, weil er doch unter der Oberfläche lebte. Der Pflegehort war elegant gefliest und vertäfelt. Andere Teile von Paszex, seiner Heimatstadt, waren mit Plastik, Keramik, Metallen oder Steinplatten verkleidet. In den antiken Höhlen des Planeten Hivehom, wo die Thranx sich entwickelt hatten, gab es noch Tunnels und Kammern zu sehen, die mit echter ausgewürgter Zellulose und Körperstuck verkleidet waren.

Man studierte auch Industrie und Ackerbau. Die Geschichte lehrte, wie die geselligen Arthropoden, die man als die Thranx kannte, die Herrschaft über Hivehom angetreten hatten und sich an die Existenz oberhalb und auch unterhalb der Oberfläche angepasst und sich schließlich auf andere Welten ausgebreitet hatten. Schließlich und endlich wurde auch über Theologie diskutiert, und die Larven trafen ihre Wahl.

Und dann ging es weiter zu komplizierteren Themen, während ihr Geist heranreifte. Sie befassten sich mit Biochemie, Nukleonik, Soziologie und Psychologie und den Künsten, darunter auch Jurisprudenz. Besonderen Spaß machte ihm die Geschichte der Weltraumfahrt, die Berichte über die ersten zögernden Flüge zu den drei Monden Hivehoms in schwerfälligen Raketen, die Entwicklung des Posigravityantriebs, der Schiffe durch den Abgrund zwischen den Sternen trieb. Und schließlich die Errichtung von Kolonien auf Welten wie Dixx und Everon und Calm Nursery. Und er lernte von dem blühenden Handel zwischen Willow-wane, seiner eigenen Koloniewelt, und Hivehom und den anderen Kolonien.

Wie er sich doch danach sehnte, nach Hivehom zu reisen, als er davon lernte! Die Mutterwelt des Volkes, Hivehom! Was für ein magischer, geheimnisvoller Name. Seine Pfleger lächelten über seine Erregung. Es war ganz natürlich, dass er dorthin reisen wollte. Schließlich wollte das jeder.

Und doch zeigte sich noch etwas mehr auf seinen Profilkarten: ein Undefiniertes Sehnen, das die Larvenpsychologen verblüffte. Vielleicht hing es mit seinem ungewöhnlichen Ausschlüpfen zusammen. Die normalen vier Eier hatten nicht je ein männliches und ein weibliches Paar hervorgebracht, sondern drei weibliche und ein männliches Wesen.

Die Sorge der Psychologen war ihm bewusst, aber er selbst kümmerte sich nicht sehr darum. Er konzentrierte sich ganz drauf, soviel wie möglich zu lernen, und stopfte seinen Verstand bis zum Bersten mit den Wundern der Existenz voll. Während diese seltsamen Erwachsenen etwas von ›Unschlüssigkeit‹ murmelten und ›mangelnde Bereitschaft zu tatkräftigem Handeln‹, arbeitete er sich durch die Lernprogramme und milderte ihre Besorgnis mit seiner außergewöhnlichen Wissbegierde.

Weshalb die nur nicht begreifen konnten, dass er sich nicht für ein bestimmtes Thema interessierte? Ihn interessierte alles. Aber das begriffen die Psychologen nicht, das beunruhigte sie. Und seine Familie beunruhigte es auch, weil ein Thranx an der Schwelle zum Erwachsensein stets weiß, was er oder sie zu tun vorhat – später. Verallgemeinerungen schaffen kein Leben.

Eine Weile dachten sie, er könnte vielleicht vorhaben, Philosoph zu werden; aber seine allgemeinen Interessen galten speziellen Dingen, nicht abstrusen Spekulationen. Nur die Tatsache, dass er ungewöhnlich hohe Erkenntnisse erzielte, hinderte sie daran, ihn aus dem allgemeinen Pflegehort zu entfernen und ihn in einen für geistig zurückgebliebenen Larven bestimmten zu verlegen.

Und er studierte immer weiter und lernte, dass Willow-wane eine wunderbare Welt mit bequemen Sümpfen und Niederungen war, eine Welt der Hitze und der Feuchtigkeit, ganz ähnlich dem Klima, das im Pflegehort herrschte. Eine richtige Gartenwelt, deren Pole frei von Eis waren und deren riesige Kontinente dichte Dschungel trugen. Willow-wane war sogar noch sympathischer als Hivehom selbst. Er konnte wirklich von Glück reden, dort geboren zu sein.

Seinen Namen kannte er von Anfang an. Er war Ryo aus der Familie Zen, aus dem Clan Zu, aus der Wabe Zex. Letzteres war ein Überbleibsel aus primitiven Zeiten, denn jetzt gab es nur noch Städte und Cities, keine echten Wagen mehr.

Und da war noch mehr Geschichte. Die Information beispielsweise, dass die Entwicklung der wirklichen Intelligenz gleichzeitig mit der Entwicklung der Fähigkeit des Eierlegens in allen Thranx-Frauen gekommen war. Man brauchte also keine spezialisierte Königin mehr. Und diese neuentwickelte biologische Flexibilität verlieh den Thranx gegenüber anderen Arthropoden einen natürlichen Vorteil. Trotzdem erwiesen die Thranx immer noch einer Ehren-Clanmutter ihren Respekt, ein Nachklang sozusagen des biologischen Matriarchats, das einst die Rasse beherrscht hatte. Das war Tradition. Und Tradition liebten die Thranx über alles.

Er erinnerte sich sehr wohl an den Schock, den es für ihn bedeutet hatte, als er das erste Mal von den AAnn gehört hatte, einer raumfahrenden intelligenten Rasse, geprägt durch Berechnung Schlauheit und Aggressivität. Dieser Schock kam nicht etwa von ihren Fähigkeiten, sondern vielmehr von der Tatsache, dass diese Geschöpfe Innenskelette, eine lederartige Haut und flexible Körper besaßen. Sie bewegten sich wie primitive Dschungeltiere, aber an ihrer Intelligenz bestand nicht der leiseste Zweifel. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Thranx hatte die Entdeckung zu großer Verblüffung geführt. Schließlich hatte bis dahin das Postulat gegolten, dass kein Wesen, das nicht über ein schützendes Exoskelett verfügte, in der Evolution lange genug überleben konnte, um wahre Intelligenz zu entwickeln. Die harten Schuppen der AAnn verliehen ihnen Schutz, und einige waren der Ansicht, dass ihre geschlossenen Kreislaufsysteme einen Ausgleich für das Fehlen eines Exoskeletts bildeten.

All diese Dinge studierte er und nahm sie in sich auf. Und doch war er unruhig, weil auch er wusste, dass von all den Insassen des Pflegehorts, die vor der Herauskunft standen, er der einzige war, der sich nicht für eine Laufbahn entscheiden, sein Lebenswerk auswählen konnte.

Rings um ihn trafen die Gefährten seiner Kindheit ihre Wahl und waren daher zufrieden, als die Zeit naherrückte. Dieser wollte Chemiker werden, jener Wartungsingenieur und der in der Krippe gegenüber von Ryo wollte den Beruf eines öffentlichen Dienstleisters ergreifen. Und wieder ein anderer entschied sich für Nahrungsmanagement.

Nur er konnte sich nicht entscheiden, wollte sich nicht entscheiden und entschied sich auch nicht. Er wollte nur immer noch mehr lernen, mehr studieren.

Und dann stand keine Zeit mehr zum Studieren zur Verfügung. Da war nur noch Zeit für eine persönliche Aufwallung von Furcht. Sein Körper war seit Monaten im Wandel begriffen, und da gab es immer wieder ein inneres Zittern und Zucken. Er hatte gespürt, wie sich in ihm Veränderungen vollzogen, wie seine Haut, sein ganzes Wesen von einer seltsamen Spannung ergriffen waren. Ein Drang hatte ihn überkommen, das Bestreben, sich nach innen zu wenden, nach außen zu explodieren.

Die Pfleger versuchten ihn, so gut sie konnten, drauf vorzubereiten, ihn zu beruhigen, ihm alles zu erklären und ihm immer wieder die Chips zu zeigen, die er so oft studiert hatte. Und doch war das Bild, das er vor sich auf dem Bildschirm sah, klinisch und fern, und es fiel ihm schwer, eine Beziehung zwischen diesem Bild herzustellen und dem, was sich im Innern seines Körpers vollzog. Alle Chips, alle Informationen der ganzen Welt konnten einen nicht auf die Realität vorbereiten.

Und noch schlimmer waren die Gerüchte, die in der Dunkelheit während der Schlafzeit zwischen den Insassen des Pflegehorts hin und her wanderten, dann, wenn die Erwachsenen nicht zuhörten. Schreckliche Geschichten von schlimmen Verformungen, von Monstrositäten, die man von ihrem Leid erlöste, ehe sie Gelegenheit bekamen, sich selbst im Spiegel zu sehen. Und von anderen ging die Rede, dass man ihnen das Überleben erlaubte, ihnen sozusagen ein Leben als Objekte wissenschaftlichen Studiums gestattete, abgeschlossen von ihrer Umwelt.

Die Gerüchte wuchsen und vermehrten sich ebenso schnell, wie sich in seinem Inneren die Veränderungen vollzogen. Die Pfleger und Ärzte kamen und gingen und beobachteten ihn intensiv. Und alles das drückte sich in einem einzigen Wort aus, all das Geheimnisvolle, das Schreckliche, das Wunderbare:

METAMORPHOSE

Es war ein Vorgang, dem man nicht ausweichen konnte, dem man nicht entging, etwas wie der Tod. Die Gene diktierten es, und der Körper gehorchte. Die Larve konnte es nicht verzögern.

Er hatte diesen Vorgang immer wieder studiert, mit einer Eindringlichkeit, wie er sie noch nie für etwas anderes aufgewendet hatte. Er sah sich die Aufzeichnungen an und staunte über die Umformung. Was, wenn der Kokon falsch gesponnen war? Was, wenn er zu schnell reifte und nur halb geformt aus dem Kokon platzte, oder – schlimmer noch – zu lange wartete und erstickte?

Die Pfleger bemühten sich, ihn zu beruhigen. Ja, irgendwann einmal waren all diese schrecklichen Dinge geschehen, aber jetzt waren schließlich die ganze Zeit ausgebildete Ärzte und Metamorphose-Ingenieure anwesend. Die moderne Medizin konnte schließlich jeden Fehler kompensieren, den der Körper vielleicht beging.

Der Tag rückte heran, und er hatte bereits vier Tage nicht mehr geschlafen. Sein Körper war von Nervosität geplagt, bereit zum Platzen. Unbegreifliche Gefühle quälten ihn. Er und die anderen, die bereit waren, wurden aus der Pflegestätte entfernt. Verwirrte jüngere Larven blickten ihnen nach und einige riefen ihnen Grüße hinterher.

»Wiedersehen, Ryo … Komm nicht mit acht Beinen raus!« – »Ich seh’ dich dann als Erwachsenen wieder«, rief ein anderer. »Komm zurück und zeig uns deine Hände«, rief ein dritter. »Sag uns, was Farbe ist!«

Ryo wusste, dass er nicht in den Pflegehort zurückkehren würde. Wenn man ihn einmal verlassen hatte, gab es keinen Grund mehr, in ihn zurückzukehren. Er würde dann einer anderen Form des Lebens gehören, es sei denn, er entschied sich dafür, als Erwachsener im Hort zu arbeiten.

Er sah zu wie der Pflegehort zurückfiel, während seine Palette gemeinsam mit den anderen den langen Mittelgang hinunterglitt. Der Hort, sein vertrautes Weiß und Grau, seine Krippen und mit ihnen die einzigen Gefährten, die er je gehabt hatte, sie alle verschwanden hinter einer dreigeteilten Türe.

Er hörte, wie jemand etwas schrie, und erkannte dann, dass er das selbst gewesen war. Das Ärztepersonal beruhigte ihn.

Dann fand er sich in einem großen Saal mit hoher Decke, einer Kuppel aus leuchtender Dunkelheit, perfekt abgestimmter Feuchtigkeit und Temperatur. Er konnte sehen, wie die anderen Paletten in der Nähe abgestellt wurden, so dass sie einen Kreis bildeten. Seine Freunde ringelten sich im schwachen Schein von Speziallampen.

Auf der nächsten Palette lag ein weiblicher Thranx namens Urilavsezex. Sie gab ein Geräusch von sich, das gute Wünsche und Freundschaft ausdrückte. »Endlich ist es soweit«, sagte sie. »Nach all den Jahren. Ich … ich weiß nicht, was ich tun oder wie ich es tun soll.«

»Ich auch nicht«, antwortete Ryo. »Ich kenne die Aufzeichnungen, aber woher weiß man, wann der exakte Augenblick da ist. Woher weiß man, wann die Zeit stimmt? Ich will keine Fehler machen.«

»Ich … ich fühle mich so seltsam. So als … als müsste ich …« Da hörte sie auf zu reden, denn wie durch einen Zauber kam plötzlich Seide aus ihrem Mund. Fasziniert starrte er sie an, während sie sich ans Werk machte und ihr Körper sich in einer Art und Weise verkrümmte, wie er das bald nicht mehr können würde. Scharf abgeknickt, hatte sie ganz unten an ihrem Körper angefangen und arbeitete sich jetzt schneller auf ihren Kopf zu.

Eine Schicht feuchter Seide über der anderen wölbte sich rings um ihren Körper auf und verhärtete bei der Berührung mit der Luft. Jetzt konnte er nur noch ihren Kopf sehen. Die Augen begannen zu verschwinden. Rings um ihn hatten auch andere zu arbeiten angefangen.

Etwas wallte in ihm auf, und er glaubte, er müsse sich übergeben. Doch das brauchte er nicht. Das war nicht sein Magen, der da plötzlich zu arbeiten begonnen hatte, sondern andere Drüsen und Organe. Da war ein Geschmack in seinem Mund, gar nicht schlecht, sondern frisch und sauber. Er knickte ab und fing mit der Seide zu arbeiten an, die in einem gleichmäßigen Fließen aus ihm herauskam, so als hätte er schon hunderte Male gesponnen.

Er spürte keinerlei Beengung, eine Furcht, die Leuten, die unterirdisch heranreiften, ohnehin unbekannt war. Und der Kokon wuchs, bedeckte jetzt bereits seinen Mund und seine Augen. Die obere Kappe verengte sich über seinem Kopf. Sie war beinahe geschlossen, als ein Paar Echthände durch die Lücke hereingriffen. Schnell, abgestimmt auf seine Mundbewegungen, um sich nicht in der sich verhärtenden Seide zu verfangen, hielten sie ein Rohr, das sich gegen seine Stirn drückte.

Jetzt zogen sich die Hände zurück. Da war jetzt nichts mehr, worauf er sich konzentrieren konnte, es galt jetzt nur, fertigzumachen, die Arbeit abzuschließen. Dann war der Kokon vollständig, und das Beruhigungsmittel, das man ihm injiziert hatte, vereinigte sich mit seiner physischen Erschöpfung und senkte ihn in den Schlaf. Ein unbestimmter, schwächer werdender Teil seines Selbst wusste, dass er drei Jahreszeiten lang schlafen würde …

Aber es war gar nicht lang. Nur ein paar Sekunden, und da trat er bereits in verzweifelter Intensität um sich.

Raus!, dachte er hysterisch. Ich muss raus! Er fand sich eingeschlossen, gefangen, von etwas Hartem eingeengt, das nicht nachgab. Er stieß und trat mit ganzer Kraft um sich. So schwach war er, so schrecklich schwach. Und doch – da war ein kleiner Riss.

Die Erkenntnis verstärkte seine Entschlossenheit, und er trat kräftiger zu, stieß mit den Händen nach und begann an den Stücken zu zerren, die vor ihm auseinanderplatzten. Das Gefängnis rings um ihn war dabei, sich aufzulösen. Er pfiff triumphierend, trat mit allen vier Beinen zu – und lag plötzlich frei und erschöpft auf einem weichen Boden.

An seinem Thorax pulsierten die acht Tracheen schwach und sogen Luft ein. Er drehte den Kopf auf die Seite, blickte auf und benutzte seine Echthände, um die Feuchtigkeit wegzuwischen, die immer noch an seinen Augen klebte.

Dann ergriffen ihn andere Hände, drehten ihn herum, halfen ihm. Antiseptische Tücher wischten über seine Augen, und ein scharfer, durchdringender Pfefferminzgeruch umfing ihn. Eine Stimme sagte besänftigend: »Jetzt ist alles vorbei. Entspannen Sie sich, Sie brauchen sich nur zu entspannen. Überlassen Sie es Ihrem Körper, zu Kräften zu kommen.«

Instinktiv wandte er sich der Stimme zu, als die letzten Reste des Gespinsts vor seinen Augen weggewischt wurden. Ein männlicher Thranx blickte auf ihn herab. Sein Chiton war von tiefem Purpur, er musste also ziemlich alt sein.

Die Erkenntnis überkam ihn wie eine Woge. Purpur. Der Chiton des Erwachsenen war purpurn, und Purpur war eine Farbe, die man ihm beschrieben hatte. Und jetzt wusste er, was das war, und das Keramikmuster in der Stirn des Arztes zeigte einen silbernen Streifen, den zwei goldene Streifen kreuzten, und seine Ommatidia waren rot, mit gelben Zentralbändern, und sie leuchteten im Licht des Raumes und … und … Es war wunderbar.

Er blickte an sich hinab, seinem schlanken Körper, dem segmentierten Leib, den vier glitzernden Flügeln deckten, den rudimentären Flügeln darunter, den vier kräftigen, gegliederten Beinen zu seiner Linken. Er hob eine Echthand, berührte sie mit einer Fußhand und wiederholte dann die Bewegung mit dem anderen Paar und führte schließlich die vier Sätze aus je vier Fingern zusammen.

Rings um sich hörte er unsicheres Klicken und Pfeifen, während fremdartige Stimmen sich darum bemühten, sich zu artikulieren. Jemand brachte ihm einen Spiegel, und Ryo blickte hinein. Ein schöner blaugrüner Erwachsener sah ihn an. Noch feucht, aber bereits trocknend, der herzförmige Kopf war etwas zur Seite gelegt. Cremeweiße Federantennen bewegten sich leicht und erfüllten ihn mit den eigenartigsten Empfindungen. Das waren Gerüche: voll, dunkel, würzig, leuchtend, Vanille. Die Gerüche seiner metamorphosierten Freunde, die Gerüche des Postkokonraumes. Er wusste, dass er nicht ein paar Minuten oder Sekunden geschlafen hatte, sondern mehr als ein halbes Jahr; dass sein Körper sich verändert hatte, gereift war, sich aus einem schwabbeligen, kaum bewussten weißen Ding in einen herrlich stromlinienförmigen Erwachsenen verwandelt hatte.

Er versuchte seine Beine an sich heranzuziehen und fand zu beiden Seiten Hände, die ihm beim Aufstehen behilflich waren. »Ganz ruhig … nicht übereilen!«, sagte ihm eine Stimme.

Als er schließlich aufrecht stand, drehte er sich zur Seite und entdeckte ein breites Fenster. Auf der anderen Seite stand eine Schar erregter reifer Thranx. Ryo erkannte die Markierungen von zweien: seinem Erzeuger und dessen Dame.

Das waren nicht länger freundliche, graue Gestalten. Jetzt war da Farbe! Offensichtlich erkannten sie ihn, denn sie machten grüßende Bewegungen. Er erwiderte sie und erkannte, dass er jetzt über die Mittel dazu verfügte.

Die Hände ließen ihn los. Er stand jetzt für sich da, auf allen vieren, den Leib hinter sich ausgestreckt. Thorax und B-Thorax nach oben geneigt, mit dem Kopf darüber. Er sah sich über die Schultern um, blickte an seinem Körper hinab und sah dann zu Boden. Vorsichtig trat er von dem weichen Polster auf den härteren Ring außerhalb. Dann ging er mit prüfenden Schritten langsam im Kreise.

»Sehr gut, Ryozenzuzex.« Das war die Stimme des Arztes, der seine Herauskunft überwacht hatte. »Ganz langsam! Der Körper weiß selbst, was er zu tun hat.«

Rings um Ryo holten seine Gefährten probeweise tief Luft, säuberten ihre Augen, erprobten Beine und Finger, und Frauen wackelten mit ihren leuchtenden Legestacheln, streckten sie aus und zogen sie wieder ein.

Ich kann gehen, dachte er entzückt. Ich kann Farben sehen. Er nahm den Druck der Luft rings um sich wahr, und sein Gehirn sortierte aus, was das zu bedeuten hatte. Ich kann fazzen und riechen, und ich kann immer noch hören. Er dankte denen, die ihm geholfen hatten, und staunte darüber, wie klar seine Sprache war; scharfes Klicken, herrlich modulierte Pfiffe – all die Feinheiten von Niederthranx. Jahre des Studiums zahlten sich jetzt aus.

Auch darüber staunte er, dass seine vier Kiefer sich elegant gegeneinander bewegten, während er Geräusche schieren Vergnügens von sich gab. Nur eines belastete sein Glück: sein Körper war vollkommen, aber seine Zukunft war das nicht, denn er hatte immer noch nicht die leiseste Ahnung, was er eigentlich mit sich selbst anfangen wollte.

Schließlich geriet er irgendwie in die Agrikultur, weil es ihm Freude bereitete, endlich nach oben gehen zu können, und ganz im Gegensatz zu seinen höchst geselligen Mitbürgern bereitete es ihm Vergnügen, außerhalb der Stadt zu arbeiten.

Er ertränkte seine persönliche Unsicherheit und seine Verwirrung in Arbeit. Von seinem Clan angetrieben, nahm er sich eine intelligente und energische Frau namens Falmiensazex als Vorgefährtin. Langsam entwickelte sich sein Leben zu einer behaglichen, vertrauten Routine. Sein Clan und seine Familie hörten auf, sich über ihn Sorgen zu machen, und die alte, nagende Unschlüssigkeit verblasste immer mehr, bis sie fast ganz vergessen war.

ZWEI

Es war Halbtag des Malmrep, der dritten der fünf Jahreszeiten von Willow-wane, und die Zeit des Hochsommers. Das Wetter war reich an Feuchtigkeit, und die Hitze lag in der Luft.

Ryo las die Konsole ab. Zwei Assistenten begleiteten ihn auf seiner Expedition in den Dschungel. Sie sollten prüfen, ob es dort eine Möglichkeit gab, zweitausend Bexamin-Lianen zu pflanzen.

Er hatte lange und geduldig mit dem lokalen Rat von Inmot verhandelt, der es vorgezogen hätte, das neu entwässerte und gerodete Land mit Ji-Büschen zu bepflanzen. Ryo bestand darauf, dass eine größere Vielfalt wünschenswert sei und dass Bexamin-Lianen, die kleine, harte, ockerfarbene Beeren produzierten, sich am besten für die Pflanzung eigneten.

Die Beerenfrucht war wertlos, aber sie enthielt einen Kern, den man zermahlen und mit Wasser und einem Proteinzusatz vermischen und zur Herstellung eines wunderbar süßen Sirups benutzen konnte, der fast genauso nahrhaft war, wie er schmeckte. Aber die fünfzehn Meter langen Lianen brauchten mehr Pflege als Ji-Büsche. Trotzdem sprach sich der Rat mit drei zu zwei Stimmen für seinen Vorschlag aus.

Ryo war sich voll bewusst, wie viel vom Erfolg seiner Pflanzung abhing. Ein Misserfolg würde zwar seinen guten Ruf in der Company nicht zerstören, aber eine gute Bexamin-Ernte würde ihn deutlich fördern. Ob ein solch großer Triumph nun eine gute Idee war oder nicht, das wusste er nicht. Aber in anderen Richtungen schien er ohnehin keine Fortschritte zu machen, und so dachte er, könnte er ebenso gut in der Hierarchie der Company aufsteigen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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