Auf beiden Seiten der Front - Patrik Baab - E-Book

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Patrik Baab

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Beschreibung

Patrik Baab hat die Ukraine bereist - den Westen vor Beginn des Krieges, den Osten nach dem russischen Einmarsch. Gemäß der journalistischen Handwerksregel "audiatur et altera pars" - auch die andere Seite soll gehört werden - hat er Auf beiden Seiten der Front recherchiert. Patrik Baab kennt die Schicksale der Bauern und Wanderarbeiter, der Soldaten und ausgebombten Zivilisten. Hier erzählt er die Geschichte hinter den Schlagzeilen und der Propaganda: vom Maidan-Putsch 2014 über den Bürgerkrieg im Donbass zum Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der NATO. Das Buch zeigt die politischen Interessen und den geostrategischen Konflikt, um den es in Wahrheit geht. Es ist ein Poker am Rande eines Atomkriegs mitten in Europa - ein Tanz auf dem Vulkan.

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Seitenzahl: 547

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Ebook Edition

Patrik Baab

Auf beiden Seiten der Front

Meine Reisen in die Ukraine

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt

insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen

und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-946778-42-4

© Verlag fifty-fifty, Frankfurt/Main 2023

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

All politicians are bores and liars and fakes. I talk to people.

Martha Gellhorn

* * *

Bei aller Künstlerschaft muss er die Wahrheit, nichts als Wahrheit geben, denn der Anspruch auf wissenschaftliche, überprüfbare Wahrheit ist es, was die Arbeit des Reporters so gefährlich macht, gefährlich nicht nur für die Nutznießer der Welt, sondern auch für ihn selbst, gefährlicher als die Arbeit des Dichters, der keine Desavouierung und kein Dementi zu fürchten braucht.

Egon Erwin Kisch

Inhalt

Titel

1. Vorwort

2. Ein alter Reiseführer

3. Ostwärts: Nach dem Angriff

3.1. Moskau: Auf eigene Faust

3.2. Rostow: Blaue Briefe in der Provinz

3.3. Iswaryne: Zeitreise in die Gegenwart

3.4. Luhansk: Kampfansage Referendum

4. Westwärts: Vor dem Angriff

4.1. Lwiw: Willkommen in NATO-Land

4.2. Dolyna: Von der Hand in den Mund

4.3. Chust: Der Preis der Schwarzen Erde

4.4. Mukatschewo: Slawa Ukrajini – Herojam Slawa!

4.5. Kiew: Ein Putsch und die Folgen

5. Südwärts: Nach dem Angriff

5.1. Donezk: Der Sieger geht leer aus

5.2. Mariupol: Feuersturm mit Vorlage

5.3. Melitopol: Tanz auf dem Vulkan

5.4. Tschonhar: Gesiebte Luft im Niemandsland

6. Nordwärts: Im Propaganda-Krieg

7. Jalta: Promenade der Schlafwandler

Dank

Anmerkungen

Orientierungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

1.Vorwort

»Was, feindliches Ausland?« Der Leutnant am Grenzposten ­Tschonhar betrachtet misstrauisch meinen deutschen Pass. Er spricht mit seinem Berkut-Kameraden, blickt uns an. »Der Pass ist eingezogen. Das Gepäck bleibt hier. Ihr folgt dem Wachhabenden. Dawai!« Mein Begleiter Sergey bekommt seinen russischen Pass zurück. Wir werden wir durch das Gebäude des Checkpoints geführt, über einen Hof, dann eingesperrt in den »Käfig«. Dort warten bereits weitere Männer aus der Ukraine, bis die Berkut-Miliz entscheidet, was mit ihnen geschehen wird. Der »Käfig«, das ist ein acht mal zehn Meter großer Verschlag aus Eisengittern. Beim Blick in den Himmel über der Krim sehen wir durch Metallstäbe. Wie die anderen Gefangenen müssen wir stehen, dürfen nicht reden. Es gibt kein Wasser, keine Gelegenheit, die Notdurft zu verrichten. Nur stehen und warten. Warten und den Mund halten. Warten auf das Verhör. Es ist der 28. September 2022 im Niemandsland zwischen der russisch besetzten Oblast Cherson in der Ukraine und den Sywasch-Sümpfen auf der Krim. Wir werden »filtriert«.

Ich weiß kaum, wie beginnen, wenn ich auch manchmal im Scherz meinem Freund Bernd-Rainer Barth die Schuld an allem in die Schuhe schiebe. Der Historiker hatte mir vor Jahren in London den Floh mit Sándor Radós »Führer durch die Sowjetunion« von 1928 ins Ohr gesetzt. Beim Blättern in der alten Schwarte kam mir die Idee, auf seinen Spuren durch die Ukraine zu reisen. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, im Herzen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges und am Rand eines atomaren Desasters zu landen. Schon gar nicht fiel mir ein, dass die Fahrt zu einer Bildungsreise in den deutschen Journalismus geraten könnte. Zumindest das hätte ich besser wissen müssen. Denn es waren große Teile der Medien, die mit einer Mischung aus Hurra-Patriotismus und Halbwahrheiten jene Kriegshysterie herbeigeschrieben haben, die den nüchternen Blick auf den russischen Überfall auf die Ukraine und seine Ursachen vernebelt. Sachfremde Professoren denunzierten meine Reise in den Donbass als Versuch, »Scheinobjektivität« herzustellen. So, als ob interessengeleitete Kopfgeburten die Erfahrung zu prägen hätten und nicht umgekehrt. So, als ob mich der Kontakt zu Russen schon zu einer Art Vaterlandsverräter machte. Die Guten im Westen, die Bösen im Osten – dieses Denken besticht nicht nur durch die Primitivität der Weltsicht, sondern auch durch seinen unduldsamen Ausschließlichkeitsanspruch. Aber dies zeigt ja nur das Maß an Selbstgleichschaltung akademischer Eliten. Untrennbar greifen Byzantinismus, ideologische Manipulation und wirtschaftlicher Zwang beim Ringen um Anstellungen und Vertragsverlängerungen ineinander.1 Der Akademiker erliegt dem Dämon der Macht und bringt dessen Gedanken unters Volk.2

»Der olivgrüne Hubschrauber Mi-8 berührt im Tiefflug fast die Baumkronen. So will er der feindlichen Luftaufklärung entgehen. Der Pfeil des Höhenmessers pendelt bei 1 200 über dem Meer. Dichter, grüner Wald hinter uns, unter uns, vor uns bis zum Horizont, der ihn vom wolkenlosen Blau des Himmels trennt. Kein schöner Anblick und eine trügerische Idylle. Denn in dieser Gegend ist niemand vor dem Angriff feindlicher Patrouillen sicher. Hier sind sie ständig unterwegs, und niemand ist vor Überraschungen sicher. Können sie den Hubschrauber auch im Tiefflug vom Himmel holen? Das ohrenbetäubende Dröhnen der Rotoren kann uns verraten – in diesem Moment steigt auch schon pfeifend eine Signalrakete auf. Trocken rattern die Kalaschnikows.« So beginnt der Roman Ein Augenblick der Freiheit meines Freundes Denis Simonenko aus Simferopol.3 Er beschreibt darin auch den Angriff auf die strategisch wichtige Schlangeninsel einen Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Denis Simonenko hat das im Jahr 2004 geschrieben, 18 Jahre vor dem Angriff – Chronik einer angekündigten Katastrophe. Die US-amerikanische Denkfabrik Stratfor entwarf bereits 2015 ein Szenario des kommenden Krieges.4

Nichts von alldem kam überraschend, auch wenn sich die deutschen Intellektuellen aufgeführt haben wie Schlafwandler. Haben sie wirklich geglaubt, die neue neoliberale Ordnung auf dem alten Kontinent und die NATO-Osterweiterung würden auch von jenen hingenommen, die sich auf der Verliererseite sehen? Die Schöpfer der »herrschenden Fiktionen« erleben das »Fiasko der alten Werthaltungen«5, wie es Hermann Broch ausgedrückt hat, umso mehr, je öfter von Werten die Rede ist, die eigene Interessen kaschieren, aber andere mit ihrem Blut verteidigen sollen. Denn gerade im Krieg bleibt von diesen Werten nicht viel. Gekämpft wird um Einflusszonen und Interessen, während die Toten in den Straßen liegen. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador resümiert scharfsinnig die Ukraine-Politik der NATO und der Europäischen Union: »Wir liefern die Waffen, ihr liefert die Leichen. Das ist unmoralisch.«6

Aber nicht das Leben und Sterben der Menschen prägen unseren Blick auf die Ukraine, sondern die herrschende Meinung. Einem alten Freund fiel zu meiner Reise in den Donbass ein: »Diktatoren schütteln – das geht gar nicht.« Vielleicht sollten jene einmal geschüttelt werden, die lieber ihren Vorurteilen als ihren Augen und Ohren trauen. Recherchieren hingegen ist für mich konkrete Erfahrungswissenschaft. Im Krieg in der Ukraine sehe ich das Versagen der Politik, auch der deutschen. Dieser Krieg ist noch lange nicht vorbei, und die Lage vor Ort stellt sich völlig anders dar, als es die überwiegende Mehrheit der Medien hierzulande berichtet. Was sie zeigen, orientiert sich an der Propaganda der Ukraine und des Werte-Westens.

Während meiner Recherchen zu diesem Buch wurde ich massiv angefeindet und diskreditiert. Die Staatsschutzabteilung im Bundesinnenministerium leitete Ermittlungen ein. Das Motiv liegt auf der Hand: Wenn die Wahrheit über diesen Krieg in die Wohnzimmer gelangt, droht ein Aufstand gegen die Kriegshetzer, die für die geopolitischen Interessen der USA und die Profite der Rüstungsindustrie die Drecksarbeit machen.

Dieses Buch zeigt die verborgene, die dreckige Seite dieses Krieges, wie sie auf den rotgoldenen Feldern der Ukraine sichtbar wird. Die Felder, auf denen Blut billig ist, wie Michail Bulgakow schrieb, und auf denen seit Generationen niemand dafür bezahlt.7

2.Ein alter Reiseführer

In einem Bücherschrank in meinem Arbeitszimmer steht hinter Glas Sándor Radós alter Reiseführer durch die Sowjetunion. Es ist ein Buch, das es – wäre es nach den Mächtigen in jenem Lande gegangen – gar nicht hätte geben dürfen und das mich in das »Grenzland« Ukraine und zugleich in die Dämmerung meiner Kindheit führt. Der rote Stoffeinband ist an den Kanten aufgeplatzt, der Buchrücken halb zerfleddert. Milchweiße Fäden streben widerborstig in die Höhe, aber auf dem Deckel ist die Imprimatur mit Hammer und Sichel noch gut erhalten. Dort steht: Führer durch die Sowjetunion – Gesamtausgabe. Die erste Auflage ist im Neuen Deutschen Verlag erschienen, der zum Medienimperium von Willi Münzenberg gehörte. Sie wurde herausgegeben von der Gesellschaft für Kulturverbindung der Sowjetunion mit dem Ausland und ist der erste Reiseführer nach dem Roten Oktober überhaupt.8 Bearbeitet hat ihn der ungarische Kartograf Alexander (Sándor) Radó nach dem Vorbild des Baedeker.

Von Sándor Radó und seinem Führer durch die Sowjetunion habe ich 2018 in Chelsea erfahren, in einer Bar namens »The Hour Glass« nahe der Sloane Avenue in der Brompton Road, in die ich den illustren Rest eines Auditoriums entführte, das zuvor Paddy Ashdown gelauscht hatte, dem Mitgründer der Liberaldemokraten und ehemaligen MI6-Offizier, der in der Buchhandlung Hatchards am Piccadilly wenige Wochen vor seinem Tod aus seinem letzten Buch las. Es handelte von geheimdienstlichen Operationen und vergeblichem Widerstand gegen Hitler im Zweiten Weltkrieg.9 Beim anschließenden Umtrunk gerieten Historiker aus England, der Schweiz und Deutschland so sehr ins Fachsimpeln über längst verstorbene Schattenkrieger, dass sie die Unterhaltung nachts bei einem Pint fortsetzen wollten. Mit im Taxi nach Chelsea saß auch der Berliner Historiker Bernd-Rainer Barth, ein Ungarist, der im »Hour Glass« fesselnd von seiner Zielperson zu erzählen wusste.

»Stalin hat Sándors Führer auch im Ausland einziehen und seinen Autor ins Lager stecken lassen. Beide entgingen ihrem Schicksal nur knapp.« »Warum das?« »Auf dem Höhepunkt der von Stalin angefachten Spionage-Furcht in der Sowjetunion musste der Verlag die weitere Verbreitung per Rückruf stoppen. GPU-Agenten schwärmten aus, um möglichst viele Exemplare aufzuspüren, aufzukaufen, zu beschlagnahmen und zu vernichten. Radós Reiseführer gilt deshalb heute als echte Rarität.« Stalin war klar, dass nach dem Frieden von Brest-Litowsk und dem Sieg der Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg ein neuer Weltkrieg heraufziehen würde, das Rot in einem Fünftel der Erde wieder auszuradieren. Noch lange nach der »Last Order« unterhielt Bernd-Rainer Barth die Runde mit Überraschendem und Entsetzlichem aus Radós Leben und von der Entstehung seines Reiseführers.

Sándor Radó ist zeitlebens ein überzeugter Kommunist gewesen, und beinah hätte die Revolution, der er anhing, auch ihn gefressen. Sein Leben und sein Buch führen uns ins Zentrum der politischen Katastrophen, die sich auf der schwarzen Erde der Ukraine seit mehr als hundert Jahren zutragen.

Als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns schloss er sich 1919 den Kommunisten an. Nach dem Abitur 1917 war er eingezogen und zur Schule für Artillerie-Offiziere der österreichisch-ungarischen Armee in Hajmáskéren geschickt worden. Parallel dazu legte er an der juristischen Fakultät der Budapester Universität zwei Staatsexamen ab. Beim Militär kam er mit zwei Welten in Kontakt, die ihn prägen sollten: der marxistischen und der konspirativen. Radó wurde nach dem Offizierslehrgang in ein Artillerie-Regiment befohlen und musste sich im Büro des militärischen Nachrichtendienstes melden. Solche Dienststellen gab es damals in allen Einheiten, denn das Evidenzbüro in Wien fürchtete Zersetzung. In seinen Erinnerungen von 1973 schreibt er: »Als Verdächtige galten jene Soldaten, die in der Ukraine gekämpft und sich 1917 mit den Russen an der Front verbrüdert hatten. Auch die Kriegsgefangenen, die nach dem Vertrag von Brest-Litowsk aus Russland heimkehrten, zählten dazu. Für die Beamten des Kriegsministeriums waren sie alle mit dem bolschewistischen Virus infiziert.«10 Den entscheidenden Sinneswandel erlebte Radó ausgerechnet beim Militärgeheimdienst in Galizien. Dort hatte er Zugang zu streng vertraulichen Informationen und kam so in Kontakt zu marxistischen Ideen: »Seltsamerweise war der Mann, dem ich dies verdanke, mein unmittelbarer Vorgesetzter: Major Kunfi, der das Geheimdienstbüro unseres Regiments leitete, erwies sich als Bruder eines Führers der ungarischen Sozialdemokraten und teilte dessen Ansichten.«11

So schuf die Armee nicht nur den überzeugten Kommunisten, sondern auch den präzise arbeitenden Geheimdienstler Sándor Radó. Nach dem Sturz der kakanischen Monarchie und der Machtübernahme der Kommunisten in Ungarn im März 1919 wurde er zunächst Kartograf in einem Divisionsstab der Roten Armee, dann Kommissar der Artillerie. Radó nahm an den Kämpfen gegen tschechoslowakische Verbände und an der Niederschlagung antikommunistischer Aufstände in Budapest teil. Nach dem Sturz der kommunistischen Regierung am 1. September 1919 floh er nach Österreich. Er studierte Kartografie und Geschichte in Wien, dann in Jena und Leipzig. Im Herbst 1923 war er mit Generalstabsarbeit im Raum Sachsen beim geplanten kommunistischen Aufstand befasst, nach eigener Darstellung unter dem Decknamen Weser. Schlecht organisiert, mussten die Aufstände in letzter Minute abgesagt werden. Radó emigrierte Anfang 1924 auf Befehl der KPD wegen starker Gefährdung in die Sowjetunion. Ende 1926 kehrte er zurück und leitete unter anderem die Chiffrierabteilung im Büro der TASS. Gleichzeitig erfüllte er bei Reisen durch Westeuropa Sonderaufträge der Komintern. Nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 floh er über Österreich nach Paris, wo er »Innres« gründete, eine antifaschistische Presseagentur. Bei einem Besuch in Moskau wurde er, vermutlich 1935, vom sowjetischen Militärgeheimdienst angeworben: Er erhielt den Auftrag, Informationen aus Nazideutschland zu beschaffen. Jedoch erhielt Radó für Belgien keine Aufenthaltserlaubnis. Deshalb ging er 1939 in die Schweiz und gründete eine weitere kartografische Agentur namens Geopress. Er etablierte ein Spionage-Netzwerk, das von Lausanne aus wichtige Informationen in die Sowjetunion funkte. Dabei benutzte er den Decknamen »Dora«. 1941 gab er den wichtigen Hinweis an Moskau, dass viele Divisionen der Wehrmacht in den Osten verlegt werden. Doch die Warnungen vor einem deutschen Angriff, wie sie auch von Richard Sorge und anderen sowjetischen Agenten kamen, wurden von Stalin nicht ernst genommen. 1942 gab Radó den Beginn der deutschen Sommeroffensive zur Eroberung der kaukasischen Ölfelder durch – der »Operation Blau«. Im April 1943 informierte er Stalin über die geplante deutsche Panzeroffensive bei Kursk. Doch inzwischen war es der militärischen Abwehr und der Gestapo gelungen, den Spionagering zu identifizieren und seinen Code zu knacken. In der zweiten Hälfte des Jahres brachten die Deutschen die Schweizer Behörden dazu, gegen das Netz vorzugehen. Radó tauchte unter, aber seine Agenten wurden verhaftet.

Was dann folgte, lässt Sándor Radó in seinen Memoiren unerwähnt. »Im September 1944«, so Bernd-Rainer Barth, »überquerte Radó mit seiner Frau Helen illegal die Grenze nach Frankreich und floh nach Paris, um seiner Verhaftung durch die Schweizer Polizei zuvorzukommen. Dort meldete er sich bei der Sowjetischen Gesandtschaft und erstattete einem Oberst Novikov Bericht von seiner Enttarnung. Er wurde sofort nach Moskau zurückbeordert, wo der Fall näher untersucht werden sollte. Radó war einverstanden und bestieg am 6. Januar 1945 mit falschen Papieren unter dem Namen Ignatz Koulicher ein russisches Flugzeug. An Bord kam er ins Gespräch mit seinen Mitreisenden Alexander Foote und Leopold Trepper. Als Ergebnis entschied Radó, beim Zwischenstopp in Kairo das Flugzeug zu verlassen. In einem Hotel wurde er aufgegriffen. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass er sich an die britischen Behörden wandte und um Hilfe bat. Doch die Briten lieferten ihn den Sowjets aus.« »Ein Bauernopfer im großen Spiel?« »Danach sieht es aus.«12

In Moskau ging es Radó an den Kragen. 1946 wurde er von einem Sonderausschuss des NKWD ohne Verhandlung wegen Hochverrats zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er war in vier verschiedenen Lagern inhaftiert. Zum Schluss errechnete er schließlich in einem geschlossenen Forschungsinstitut als Kartograf die optimalen Standorte sowjetischer Interkontinentalraketen. »Dort verhungerte er oder wurde erschossen?« »Alle dachten, er sei längst erschossen worden. Doch 1954 entließ man ihn er aus der Haft.« »Wie fand er zurück?« »Er hatte ein Netzwerk ehemaliger Häftlinge. Diese Leute halfen ihm. Doch vor seiner Rückkehr schlugen ihn Geheimdienstler zum Abschied zusammen und raubten ihn aus. So musste er sich ohne Geld und Papiere und nur mit dem, was er auf dem Leib trug, nach Budapest durchschlagen. Dort tauchte er 1955 wieder auf.«13 So sahen damals Denkzettel aus.

In seinem Reiseführer sind die Eisenbahnlinien von 1928 verzeichnet. Allerdings hatten sich die Grenzen Europas nach dem Krieg verändert. Er fuhr mit dem Zug von Moskau über Kiew und von da aus nach Budapest, grob geschätzt mindestens 1 500 Kilometer in einem weithin zerstörten Land. In seinen Erinnerungen singt Radó aber eine Lobeshymne auf den sowjetischen Sieg im Krieg und bedankt sich für die Anerkennung, die den Kundschaftern in der Schweiz zuteilgeworden ist.14

Radó war zweifellos von anderem Kaliber als die bürgerlichen Sofakrieger und Salon-Bellizisten, die heute Redaktionen bevölkern und andere gerne in die Frontlinie schicken, solange sie selbst nicht gehen müssen. Anders als sie wusste er, was Krieg heißt: dem Tod von der Schippe springen – oder eben nicht. In Radós Reiseführer lese ich, dass für die Menschen in der Ukraine der Krieg 1918 noch lange nicht vorbei war. Die eingelegten Karten zeigen deutlich, wie die Grenzen im weiten Raum der Steppe verrückt wurden. Im Osten begannen mit dem Zerfall Österreich-Ungarns neue Auseinandersetzungen; für die Menschen währten die Kämpfe bis 1920. Radó schildert nüchtern, wie nach der Russischen Revolution 1917 und dem Frieden von Brest-Litowsk im März 1918 die von der gestürzten bürgerlichen Klasse mithilfe Deutschlands und der Entente organisierten Interventionskriege folgten. Erneut wurde die Ukraine zum Aufmarschgebiet fremder Mächte: »Als Basis der ausländischen Intervention dienten die von den Bolschewiki als selbständige Staaten anerkannten baltischen Länder, Polen und die übrigen Randgebiete: Ukraine, Kaukasien, Sibirien, Nordrussland. Die russische Sowjetrepublik wehrte aber dank der ungeheuren Anstrengungen der unter der Führung der Kommunistischen Partei, wie sich die Bolschewiki seit 1918 nennen, mit grenzenlosem Opfermut kämpfenden Arbeiterschaft und durch die Schaffung der Roten Armee während des Krieges alle Angriffe ab … Am Ende des Jahres (1920) wurde die Armee des letzten gegenrevolutionären Generals Wrangel in der Krim aufgerieben. Im Laufe der Kämpfe wurden Weißrussland, Teile der Ukraine, Aserbaidschan, Armenien, später auch Georgien Sowjetrepubliken.«15

Der Krieg, der da in Radós Sinnen aus dem Dunkel tritt, lässt den Blick für andere Kämpfe unscharf werden. Für einen Wimpernschlag der Geschichte entsteht auf preußischen und österreichisch-ungarischen Bajonetten der erste ukrainische Staat. Heute erinnert ein Denkmal vor dem Parlamentsgebäude in Kiew an Michael ­Hruschewskyj, den ersten Präsidenten der unabhängigen Volksrepublik Ukraine im Jahr 1917. Als Historiker war er der führende Kopf der ukrainischen Nationalbewegung und setzte der Idee eines einheitlichen ostslawischen Geschichtsstromes den Gedanken einer separierten Entwicklung von Russen und Ukrainern entgegen – eine Vorstellung, die der russische Präsident Wladimir Putin vehement bestreitet.16 Beide Überlegungen werden heute zur politischen Legitimation instrumentalisiert.

Nach der Oktoberrevolution wurde die ukrainische Volksrepublik mit Beschluss des ukrainischen Zentralrats vom 20. November 1917 gegründet, als Teil einer föderativen russischen Republik. Anfang 1918 schloss die Volksrepublik einen Separatfrieden mit den Mittelmächten. Am 28. Februar marschierten deutsche und österreichisch-ungarische Truppen in die Ukraine ein und rückten vor bis auf die Krim und Rostow am Don. Die Zentralna Rada – das politische Entscheidungsorgan – lieferte jedoch weniger Weizen, als im Frieden von Brest-Litowsk zugesagt. Daraufhin unterstützten die Mittelmächte den Putsch des zaristischen Generals Pawlo Skoropadskyj. Er verfolgte eine nationalistische, rechtsgerichtete Politik und befand sich im Krieg mit der prosowjetischen Regierung in Charkow, die sich im Dezember 1917 gegründet hatte. Ein bolschewistischer Aufstand in Kiew im Januar 1918 mündete in den Sowjetisch-Ukrainischen Krieg. Nach dem Abzug der Mittelmächte nahmen die Bolschewiki Kiew ein und riefen am 14. Januar 1919 die Ukrainische Sowjetrepublik aus. Von diesem Kampf um Kiew erzählt Michail Bulgakow in seinem Roman Die weiße Garde. »Alles wird vorübergehen: Leiden, Qualen, Hunger, Blut und Massensterben. Das Schwert wird verschwinden, aber die Sterne werden auch dann noch da sein, wenn von unseren Leibern und Taten auf Erden kein Schatten mehr übrig ist.«17

Ende 1922 wurde die Ukrainische Sowjetrepublik Gründungsmitglied der Sowjetunion. Da die Bolschewiki in diesem ländlichen Raum nur wenige Anhänger hatten, fügten sie russische Gebiete hinzu, um ihre Macht zu festigen – darunter die Regionen um Charkiw, Luhansk und Donezk. Es ging aber auch darum, eine wirtschaftlich tragfähige Sowjetrepublik zu schaffen – und die Ukraine mit der Wirtschaftskraft des Donbass zu industrialisieren. Deshalb wurde von 1927 bis 1931 unterhalb der Dnjepr-Stromschnellen nahe der ukrainischen Stadt Saporischschja das damals größte Kraftwerk Europas mit einer Leistung von 350 000 PS gebaut. Bereits Radós Führer durch die Sowjetunion wies auf das staatliche Wasserkraftwerk hin.18 Die Energie des Flusses sollte später für Aluminium-, elektrometallurgische und elektrochemische Betriebe genutzt werden, der Dnjepr wurde zu einer durchgehenden Wasserstraße. Zur Planwirtschaft gehörte auch die Industrialisierung des Grenzlandes. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde in der Ukraine kein einziges Kraftwerk komplett neu gebaut. Im Donbass hatte es 1918/19 schon die Donezker-Kriworoger Sowjetrepublik gegeben. An diese Tradition knüpften die Separatisten 2014 an.19 Es sind teilweise die Gebiete, die aus russischer Sicht Ende 2022 wieder in die Russische Föderation integriert wurden.

Im Schatten des Russischen Bürgerkrieges wird ein weiterer Krieg in westlichen und in russischen Geschichtswerken zur Fußnote, obwohl er den Gang der Weltgeschichte geändert hat: der Polnisch-Sowjetische Krieg. Der Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 zeichnete die politische Landkarte Europas neu. Dazu gehörte auch die Neugründung eines polnischen Staates. Für ein paar Wochen im Sommer 1920 hing das Schicksal Europas an einem Autodidakten in der Rolle des polnischen Oberbefehlshabers und einem russischen Nihilisten an der Spitze einer zerlumpten und zugleich bedrohlichen Meute namens Rote Armee: Józef Piłsudski gegen Michail Tuchatschewski. »Der Zwist hatte seine Ursprünge in der langen Geschichte jahrhundertealter Kämpfe zwischen Russland und Polen«, schreibt der Historiker Adam Zamoyski, »um die Kontrolle über die riesigen Weiten von Weißrussland und der Ukraine, die zwischen ihnen lagen. Es ging nicht so sehr um Geländegewinne als vielmehr um Russlands Bedürfnis, einen Anschluss an Europa zu erzwingen, und Polens Ziel, genau das zu verhindern«.20

Dieser Krieg war den Russen von Piłsudski aufgezwungen worden und er begann als klassischer Eroberungsfeldzug. Am 8. Mai 1920 rückten polnische Truppen in Kiew ein. Ziel war, ein Großpolen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer militärisch durchzusetzen.21 Der Westen, insbesondere Frankreich, unterstützte Piłsudski. Umgekehrt war in Moskau die Idee der Weltrevolution die treibende Vorstellung der Bolschewiki.22 Wieder wurden die Kämpfe hauptsächlich in der Ukraine ausgefochten, und wieder ging es um mehr: Die Bolschewiki strebten danach, aus der Isolation ihres Landes auszubrechen und eine Verbindung zwischen deutscher Technik und russischen Bodenschätzen zum gegenseitigen Nutzen herzustellen. Genau das, was neben Polen auch Großbritannien und die Vereinigten Staaten bis heute verhindern wollen. Umgekehrt ist die Ukraine eine riesige Fläche flachen Landes, über die erst das Napoleonische Frankreich, dann das Deutsche Kaiserreich und schließlich Nazideutschland ihre Angriffe auf Russland und die Sowjetunion geführt haben. So wird sie zu einem Pufferstaat mit enormer strategischer Bedeutung für den Westen und für Moskau.23 Der in Odessa geborene Isaak Babel wird als Reporter der Reiterarmee von General Budjonny zugeteilt. Er beschreibt die »Ukraine in Flammen«: »… ein Feld des Schreckens, übersät mit zerstückelten Gefallenen, unmenschliche Grausamkeit, unvorstellbare Wunden, eingeschlagene Schädel, junge weiße nackte Körper blinken in der Sonne, verlorene Notizbücher verstreut, einzelne Blätter, Soldbücher, Evangelien, Menschenleiber im Korn … Ich bin auf einer großen, nicht enden wollenden Totenmesse.«24

Der Polnisch-Sowjetische Krieg endete nach einer katastrophalen Niederlage der Roten Armee vor Warschau mit dem Frieden von Riga vom 18. März 1921. Dieser Kompromiss hatte erhebliche Auswirkungen auf die Ukraine: Polen erhielt ganz Galizien, die polnisch-sowjetische Grenze verlief nun von Nord nach Süd bei Riwne. Warschau ließ die ukrainische Nationalbewegung fallen, die östliche Ukraine wurde Sowjetrepublik. Das Ende dieses Krieges bedeutete auch, dass die Doktrin der Weltrevolution genauso gescheitert war wie die großpolnischen Träume von Marschall Piłsudski. Sein Herz ist auf dem Friedhof Rasos in Vilnius begraben – eine bleibende Reminiszenz an die Idee eines Großpolens.

Als studierter Kartograf weist Radó ganz sachlich auf die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine hin: die Kohlevorräte des Donezk-Beckens, die Magnet- und Brauneisenvorräte in Krywyj Rih, die fruchtbare schwarze Erde im Süden: »Der Boden des Südens, die humusreiche Schwarzerde und das dem Weizenanbau günstige Klima schufen hier eine der größten Kornkammern der Erde.«25 Für die gesamte Sowjetunion bilanziert er nüchtern: »Die ungeheuren Naturschätze des Landes bieten einen unbeschränkten Spielraum für die Entwicklung einer industriellen Tätigkeit.«26 Auch darum geht es bis heute: die Ukraine dem kapitalistischen Verwertungskreislauf von Russland endgültig zu entreißen und ihre Ressourcen dem westlichen neoliberalen Kapitalismus zugänglich zu machen.

Nach wie vor ist die Ukraine für Moskau genauso wie für die EU und die USA wirtschaftlich und militärisch von größtem Interesse. Sie ist heute nach Russland der zweitgrößte Flächenstaat Europas. Dort lebten vor dem Krieg 46 Millionen Menschen, davon waren 78 Prozent Ukrainer und 17 Prozent Russen. Der überwiegend von Ukrainern bewohnte Westen ist die Kornkammer des Landes, während der von Russen dominierte Osten das industrielle Zentrum bildet. Bergwerke und Schwerindustrie produzieren dort den Reichtum der Ukraine. Von jeher war der Osten die Einflusssphäre Moskaus. Auf der Krim liegen die Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte vor Anker. Umgekehrt versucht die Europäische Union, die Ukraine mit einem Freihandelsabkommen an sich zu binden, um ihre Absatzmärkte zu erweitern und leichteren Zugang zu den Bodenschätzen in der Ukraine zu gewinnen. Die Vereinigten Staaten streben eine Aufnahme des Landes in die NATO an. Sie wollen sich gegen die EU die Option auf die Schwarzerdeböden sichern und die Chance erhalten, in der Ukraine Mittelstreckenraketen zu stationieren, die Moskau direkt bedrohen können.

Die Ukraine – das ist ein Übergangsgebiet am Rande Europas und liegt doch mittendrin.27 Lwiw in der Westukraine war einmal ukrainisch, ungarisch, polnisch, österreichisch, russisch, deutsch, sowjetisch und schließlich wieder ukrainisch. Joseph Roth nennt sie 1924 eine Stadt der »verwischten Grenzen«, Galizien bezeichnet er als »das große Schlachtfeld des großen Krieges«.28 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts heißt Lwiw Lemberg und zählt etwa 160 000 Einwohner. Die Hälfte davon besteht aus Polen, an die 40 000 sind Juden, etwa 30 000 Ukrainer, rund 7 000 deutschsprachige Menschen. Daneben gibt es kleinere Bevölkerungsgruppen wie Griechen, Ungarn, Bulgaren, Rumänen, Italiener und Armenier. Die Stadt ist multikonfessionell und verständigt sich in vielen Sprachen, insbesondere Polnisch, Jiddisch, Ukrainisch und Deutsch. Die Kultur ist vielsprachig und kosmopolitisch.29 Hier leuchtet ein, so Joseph Roth, dass es »gewiss nicht der Sinn der Welt ist, aus ›Nationen‹ zu bestehen und aus Vaterländern, die, selbst wenn sie wirklich nur ihre kulturelle Eigenart bewahren wollten, noch immer nicht das Recht hätten, auch nur ein einziges Menschenleben zu opfern«. Doch es kommt anders. Das damals multikulturelle Lemberg ist heute eine von Flüchtlingen belagerte Fata Morgana.

Der »dreißigjährige Krieg, der 1914 begann und 1945 zu Ende ging«, so der Historiker Karl Schlögel, machte »aus der Stadt eines zivilen Nebeneinanders« einen »Ort der Ausrottungspolitik«.30 Nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns wird Lemberg für einige Monate Hauptstadt der Westukrainischen Volksrepublik. Im Sommer 1919 wird sie polnisch und bleibt bis 1939 Sitz einer Woiwodschaft. Die Rückkehr zum polnischen Staat wird begleitet von einem Pogrom gegen das jüdische Lemberg. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise ist mehr als ein Drittel der Stadtbevölkerung ohne Arbeit und Auskommen. 1936 wird auf demonstrierende Arbeitslose geschossen. Die Spannungen zwischen den Volksgruppen nehmen zu, antibourgeoise Ressentiments vermischen sich mit Antisemitismus. Lemberg, jetzt polnisch Lwów, wird von Entscheidungen zerrieben, die in Berlin und Moskau fallen. Drei Wochen nach dem deutschen Überfall auf Polen rückt die Rote Armee gemäß dem Molotow-Ribbentrop-Pakt in die Stadt ein, und das ehemals polnische Gebiet wird der UdSSR einverleibt. Die Galiziendeutschen werden ins Reich umgesiedelt, und 7 000 Lemberg-Deutsche verlassen die Stadt. Sie ist voller Flüchtlinge, die sich aus dem besetzten Polen gerettet haben; voller Menschen, die in den Augen Hitlers und Stalins verdächtig sind. Zu den Opfern zählen Polen und Ukrainer, die als Nationalisten verhaftet werden, sowie »Juden«, die als »bürgerliche Elemente« in Verdacht geraten, Hitlers fünfte Kolonne zu sein.

Am 22. Juni 1941 überfallen deutsche Truppen die Sowjetunion. Tausende Juden werden in letzter Minute vom NKWD liquidiert. Bereits am 30. Juni wird Lemberg von deutschen Truppen besetzt und zur Hauptstadt eines »Distriktes Galizien«. In der Stadt gibt es genügend Leute, die sich der Illusion hingeben, nun schlage die Stunde einer unabhängigen Ukraine. Wieder werden Juden zu Opfern, nun werden sie beschuldigt, »bolschewistische Agenten« zu sein. Mehr als 7 000 Lemberger Juden fallen einem von ukrainischen Nationalisten und SS inszenierten Pogroms zum Opfer. Innerhalb von zwei Jahren werden Zehntausende umgebracht. Im August 1941 sind beim Judenrat der Stadt etwa 119 000 Juden registriert. Im Frühjahr 1942 werden sie in einem Ghetto konzentriert und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Gleichzeitig beginnen die Deportationen nach Treblinka, Sobibor, Belzec und Auschwitz. Im Juni 1943 wird das Lemberger Ghetto geräumt. Das jüdische Galizien, mit den angrenzenden Gebieten Podolien und Wolhynien einst das größte und älteste Judenghetto Europas, hat damit aufgehört zu existieren. Deutsche Einsatzgruppen ermorden etwa drei Millionen Juden in der Ukraine.31 Im benachbarten Polen werden 2,7 Millionen Juden umgebracht.32

Die Vernichtung der galizischen Juden hatte eine besondere Qua­lität, aber sie bleibt nicht die einzige ethnische Mordwelle. 1930 beginnt die »Organisation Ukrainischer Nationalisten« (Orhanizatsiya Ukrainskykh Nationalistiv – OUN), 1929 in Wien gegründet und von Deutschland finanziert, eine Terror- und Sabotage-Kampagne. Ihr fallen Ukrainer zum Opfer, die in Polen Schutz gefunden hatten, und Polen, die sich mit der Ukraine solidarisierten. Die polnische Regierung reagiert darauf mit aller Härte. Als der polnische Innenminister Bronisław Pieracki 1934 von einem OUN-Aktivisten in Warschau ermordet wird, errichtet sie in Bereza Kartuska bei Brzesc ein Isolationslager für subversive und unerwünschte Personen. Ein Abkommen zwischen der Regierung in Warschau und der »Ukrainischen Nationaldemokratischen Allianz« (Ukraińskie Zjednoczenie Narodowo-Demokratyczne – UNDO), deren Polenhass durch die stalinistischen Morde im sowjetischen Teil der Ukraine gedämpft wurde, kann die Extremisten unterminieren. Aber 1939 wittern die ukrainischen Nationalisten wieder ihre Chance – als fünfte Kolonne der Deutschen.33 Bis 1942 löst die »Organisation Ukrainischer Nationalisten« die leichter steuerbare UNDO ab und schafft die »Ukrainische Aufständische Armee« (Ukrajinska Powstanska Armija – UPA), die sich eine ethnische Säuberung zum Ziel setzt und in den Polen den Hauptfeind sieht. In den Jahren 1943 bis 1945 tötet die UPA in Wolhynien und Ostgalizien zwischen 60 000 und 100 000 Polen auf bestialische Weise.34

Am 27. Juli 1944 erobern die Armeen des sowjetischen Generals Iwan Konew Lemberg erneut. Stalin sieht die Zukunft in ethnisch getrennten Staatsgebilden, und der bevorzugte Weg dahin sind Massendeportationen. Noch einmal gibt es einen Aderlass, als der größte Teil der polnischen Bevölkerung nach Polen ausgesiedelt und die ukrainische Bevölkerung in den sowjetischen Teil des Landes verfrachtet wird. »Faktisch die gesamte Bevölkerung von Lwow«, so Adam Zamoyski, »wurde in die Ruinen des früher deutschen Breslau (jetzt Wroclaw) umgesiedelt.«35 Zehntausende werden des Nationalismus verdächtigt und nach Osten deportiert, insbesondere Polen und Ukrainer. In das im Krieg entvölkerte Lwow, wie die Stadt jetzt auf Russisch heißt, ziehen andere Menschen ein. Polen wird nach Westen verschoben und verliert die Westukraine. Noch bis in die 1950er-Jahre dauern die Scharmützel mit den Untergrundkämpfern der Ukrainischen Nationalarmee an. Heute ist Lwiw eine ukrainische Stadt und als Ergebnis der ethnischen Segregation Zentrum eines verstärkten ukrainischen Nationalismus.36

Im Osten der Ukraine, dem seit 1918 sowjetischen Teil, sah Radó 1928 die Konflikte zwischen den Volksgruppen gelöst: »Die Autonomie der einzelnen Völker«, schreibt er in seinem Reiseführer, »ihr freiwilliger Zusammenschluss in einem Bund ist die Form, die das Nationalitätenproblem in der Sowjetunion löste. Die Sicherung der Macht der herrschenden proletarischen Klasse der vereinigten Nationalitäten wird durch das Rätesystem gewährleistet.«37 Tatsächlich versuchen die Bolschewiki, ein Aufflackern des Nationalitätenstreits zu verhindern, und machen Zugeständnisse. So wird die ukrainische Sprache in den Schulen erst gefördert und dann erzwungen. Doch nach seiner Machtübernahme schränkt Stalin den Prozess der ­Korenisazija – der sowjetischen Nationalitätenpolitik – wieder ein. Ab 1929 sorgt eine zunehmend brutale Politik für ein Ende der kulturellen Autonomie. Schriftsteller wie Walerjan Pidmohylnyj verschwinden im Straflager und werden ermordet.38 In der später als Holodomor bezeichneten Hungerkatastrophe ab 1931 sterben Millionen Menschen in der Ukraine, aber auch in anderen Regionen, und die ukrainische Nationalbewegung stirbt vielerorts gleich mit.39 Bis heute dauert der Streit an, ob es sich um einen gezielten Völkermord an den Ukrainern, einen Genozid, gehandelt hat oder eine Folge der Zwangskollektivierung in allen Getreideanbaugebieten.40

Radós Optimismus gerät in den Knochenmühlen des 20. Jahrhunderts zur Illusion. Statt kultureller und politischer Autonomie erhält die Ukrainische Sowjetrepublik mehr Land: Zwischen 1939 und 1954 werden ihr ehemals polnische, slowakische, rumänische und russische Gebiete zugeschlagen. Ironie der Geschichte: Die Ukraine in den Grenzen nach ihrer Unabhängigkeit 1991 ist eine Erfindung von Josef Stalin. Stalins Nachfolger Chruschtschow übergibt schließlich im Jahr 1954 die Krim an die Ukraine. Die Abtretung der Halbinsel an Kiew wird allerdings von den Parlamenten der UdSSR, Russlands und der Ukraine in der kommunistischen Epoche nie bestätigt. Im Prozess der Auflösung der Sowjetunion stimmen mehr als 90 Prozent der Krim-Bevölkerung im Januar 1991 dafür, sich der Autorität Moskaus zu unterstellen und nicht der Hoheit Kiews: Sie votieren für den Verbleib in der Russischen Föderation als Autonome Republik. Im Dezember desselben Jahres stimmt eine Mehrheit der Ukrainer für die Unabhängigkeit. Die Krim gehört fortan als autonome Republik zur Ukraine. Doch schon damals wandten sich viele Krim-Bewohner gegen die Zugehörigkeit zum neuen Staat.

Im Grenzland bleibt durch die Jahrhunderte hinweg das Nationalitätenproblem ungelöst. Bis heute kreuzen sich in der Ukraine die Linien der nationalen und sozialen Konflikte, was sich auch in der Literatur widerspiegelt. Rose Ausländer und Paul Celan kommen aus Czernowitz. Der große ukrainische Dichter Iwan Franko war in vielen Sprachen zuhause: Russisch, Polnisch, Ukrainisch, Deutsch, Bulgarisch und Tschechisch. Für ihn war Sprache nicht Identität, sondern eine Brücke, über die er andere erreichen konnte. Das Miteinander der Kulturen war ihm wichtig – ein ukrainischer Nationaldichter und doch kein Nationalist. Franko war sich bewusst, dass die multikulturellen Überlagerungen außergewöhnliche Leistungen hervorbringen, wenn Menschen in friedlicher Konfrontation aus ihrer Differenz zu lernen vermögen. Doch in diesem multiethnischen Raum die Volksgruppen gegeneinander in Stellung zu bringen, gleicht dem Anzünden einer Zigarette in einer Halle voller Benzindämpfe.

Wer auch immer sich im Gebiet der heutigen Ukraine auf dem schwankenden Grund von Krieg, Bürgerkrieg und politischem Terror wieder ein Leben aufbauen musste, war von dem Gefühl vollständiger Machtlosigkeit traumatisiert. Auf diesem Gefühl der Ohnmacht gedeihen Ressentiments und Hass gegen alles Fremde und Andere, verbunden mit dem Wunsch nach Rache für all das erlittene Unrecht und Leid – bis heute.41 In der Westukraine, in Galizien, so schreibt Karl Schlögel, »ist der Nationalismus schon eine tödliche Gefahr, während er anderswo gerade modern wird«.42

Mit dem Zerfall der Sowjetunion bekam auch der ukrainische Nationalismus neue Nahrung. Der Westen verschloss davor die Augen und ließ die Ultranationalisten gewähren. Im Grunde folgte er der Strategie, die in Jugoslawien bereits funktioniert hatte: Nationalitätenkonflikte fördern, um dann bei gewalttätigen Auseinandersetzungen unter dem Vorwand des Selbstbestimmungsrechts der Völker politisch und militärisch zu intervenieren und so neue Regionen in die eigene wirtschaftliche und politische Einflusszone hineinzuziehen. Die vielbeschworene Selbstbestimmung lässt man für die Menschen im Donbass oder auf der Krim aber nicht gelten; dort spricht man dann von »Annexion«.

Mit den Nachfolgekriegen im ehemaligen Jugoslawien und der völkerrechtswidrigen Intervention der NATO gegen Serbien wurde klar, dass die neue neoliberale Weltordnung den Krieg – ob als Stellvertreterkrieg, Regimewechsel-Operation oder Wirtschaftskrieg – als »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« wieder rehabilitiert hatte.43 Der preußische General Carl von Clausewitz, von dem diese Formulierung stammt, wusste, dass jeder Krieg eine Vorgeschichte auf der politischen Bühne hat und keinesfalls einfach vom Himmel fällt. Doch seit dem Ende der Systemkonfrontation sind die Spannungen zwischen Russland, den USA und dem von Deutschland dominierten Europa noch nie so dramatisch eskaliert wie 2021. Noch nie war die Gefahr eines Nuklearkrieges so hoch. Hier kulminieren Entwicklungen, die vor drei Jahrzehnten begonnen haben und nun in einer historischen Kollision zu enden drohen.

Die Europäische Union befand sich seit 1990 im Aufschwung. 2002 wurde die gemeinsame Währung Euro eingeführt. Bereits in den 1990er-Jahren ging die EU über zu einer gemeinsamen Außenpolitik, beschloss im Jahr 2000, innerhalb eines Jahrzehnts zum weltweit dynamischsten Hightech-Raum zu werden, und strebte eine gemeinsame Militärpolitik an. Anschließend beschloss sie, sich eine gemeinsame Verfassung zu geben. Nach der Erweiterung um Österreich sowie Finnland und Schweden nahm sie die Osterweiterung in den Blick. Sie wurde in zwei Runden vollzogen, 2004 und 2007. Damit schloss die EU die wirtschaftliche Ostexpansion seit 1990 ab. Damals hatten vor allem deutsche Unternehmen jene Länder, die sich weg von Russland und nach Westen orientierten, wirtschaftlich intensiv durchdrungen. Die Bundesrepublik war meist größter Handelspartner und bedeutendster Investor geworden.44

In den 2000er-Jahren nahm die deutsche Wirtschaft nicht nur Russland in den Blick, sondern auch jene Länder, die zwischen der nach Osteuropa erweiterten EU und Russland lagen: Belarus, die Ukraine und Moldawien sowie die Staaten des Südkaukasus Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Bereits in den 1990er-Jahren hatte sie die Länder erschlossen, die zuvor der Moskauer Hegemonialsphäre angehörten. Jetzt zielte sie mit Belarus und der Ukraine auf jene Länder, die einst der Sowjetunion selbst angehört hatten. »Mit dem Versuch, sie der EU zu assoziieren«, so Jörg Kronauer, »drangen Berlin und Brüssel in hohem Maß getrieben von den Interessen der deutschen Wirtschaft in Russlands engstes Einflussgebiet vor.«45 Doch inzwischen war der Aufschwung der EU ins Stocken geraten. 2005 scheiterten die Referenden über die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden. Mit der globalen Finanzkrise und der darauffolgenden Eurokrise geriet das Finanzsystem der EU-Länder in schwieriges Fahrwasser. Mit den Ansätzen zu einer gemeinsamen Militärpolitik in Syrien, Libyen und in Mali scheiterten auch Versuche, prowestliche und proeuropäische Regierungen zu installieren. 2016 trat Großbritannien als erster Mitgliedsstaat aus der EU aus.

Dagegen hatte Russland seine schlimmste Zeit in den 1990er-Jahren längst hinter sich. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion war auch die Wirtschaft kollabiert. Die Armut grassierte, wenige Oligarchen rissen sich ehemaliges Volksvermögen unter den Nagel und kämpften mit Mafiamethoden bis hin zum Mord um die Macht. Im Inneren drohte weiterer Zerfall, vor allem die Abspaltung Tschetscheniens. Viele Versuche der Präsidenten Jelzin und Putin, eine Annäherung an den Westen zu erreichen, wurden abgeblockt. Stattdessen rückte die NATO mit ihrer Osterweiterung in zwei Wellen immer weiter an die russische Grenze vor.46 Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 wollten die US-Amerikaner die Weichen für einen Beitritt von Georgien und der Ukraine stellen. Aber in der Erkenntnis, schreibt Jörg Kronauer, »dass die NATO-Mitgliedschaft die Ukraine nicht – wie gewünscht – deutscher, sondern US-Hegemonie unterwerfen würde, stellte sich Berlin quer«.47

Seit dem Amtsantritt von Präsident Wladimir Putin ist Russland wieder langsam auf die Beine gekommen. Trotz der Finanzkrise 2008 zog das Wachstum an, die Armut ging zurück, und der Regierung gelang es, die Oligarchen einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Der Export von Öl und Gas spülte Einkünfte in den Staatshaushalt und ermöglichte dessen Konsolidierung. Die Streitkräfte wurden reorganisiert. Als im August 2008 Georgien mit dem Beschuss der abtrünnigen Republik Südossetien, wo russische Truppen mit der Kontrolle des Waffenstillstandes betraut waren, herausforderte, holte Moskau zum Gegenschlag aus. Russische Truppen vertrieben die georgischen Streitkräfte aus der völkerrechtlich zu Georgien gehörenden Republik Südossetien. Der Konflikt mit dem Westen begann von Neuem.

2013/14 versuchten Berlin und die EU mit allen Mitteln, die Assoziierung der Ukraine durchzusetzen. Währenddessen arbeitete Washington weiter darauf hin, das Land in die NATO aufzunehmen. Beide forcierten die Proteste auf dem Maidan, die sich ursprünglich gegen die endemische Korruption der Regierung von Präsident Wiktor Janukowytsch richteten.48 Das Ziel war, eine prowestliche Regierung ans Ruder zu bringen. Im »Kampf um Kiew« (Jörg Kronauer)49 waren sich die westlichen Mächte nicht einig, sondern konkurrierten darum, wer künftig in der Ukraine den Ton angeben wird. Der beste Beweis dafür ist der Wutausbruch der damaligen Europabeauftragten im ­US-Außenministerium, Victoria Nuland, die sagte, man habe ja schon fünf Milliarden Dollar in den Regimewechsel in der Ukraine gesteckt, und rief: »Fuck the EU!« Moskau musste hilflos zuschauen, wie es dem Westen gelang, die Regierung zu stürzen und Janukowytsch aus dem Amt zu jagen. Allerdings reagierte Russland mit einem zweiten harten Gegenschlag: Es sicherte das Referendum auf der Krim militärisch ab und nahm die Halbinsel in die Russische Föderation auf. Washington und die EU wiederum waren nicht gewillt nachzugeben und erhöhten den Druck, indem sie Sanktionen verhängten und aufrüsteten.

Der Zusammenprall 2013/14 prägt die machtpolitische Konstellation bis heute: Ein zweiter Kalter Krieg hatte begonnen. Dabei kämpft der Westen Seite an Seite, aber nicht geschlossen. Berlin versuchte weiterhin, Sonderinteressen durchsetzen, und hielt bis Ende 2021 an der Erdgaspipeline Nord Stream 2 fest. Diese sollte der deutschen Industrie weiter einen Wettbewerbsvorteil durch günstiges Gas verschaffen und das Land zu einer Erdgasdrehscheibe im Westen der Union machen. Doch die Pipeline wurde nicht nur von Washington, sondern auch innerhalb der EU immer heftiger bekämpft, von US-orientierten Staaten wie Polen, den baltischen Ländern und Frankreich, die die deutsche Dominanz in der EU schwächen wollten. Das Aus kam aber erst, als mit den Grünen übereifrige Transatlantiker in Regierungsämter aufrückten, die von »Partnership in Leadership« (Annalena Baerbock) und »dienender Führung« (Robert Habeck) an der Seite Washingtons fantasierten. Die Anschläge auf Nord Stream 1 und Nord Stream 2 wurden von dem Investigativjournalisten Seymour Hersh und dem US-Ökonom Jeffrey Sachs klar Washington zugeordnet.50

Geschlossen waren die politischen Eliten Deutschlands in der Frage, wer in der Ukraine das Heft in der Hand haben sollte. Diese Führungsrolle wollte sich die Bundesrepublik 2014 mit dem sogenannten Normandie-Format sichern, an dem die USA nicht beteiligt waren. Aber was den Bürgerkrieg im Donbass ab 2014 betraf, wurden keine echten Fortschritte erzielt. Unterstützt von den US-Amerikanern, weigerte sich die Regierung in Kiew, das Minsker Abkommen mit einem Waffenstillstand und einer relativen Autonomie der Gebiete Donezk und Luhansk umzusetzen. Stattdessen ließ sie die russischsprachige Zivilbevölkerung beschießen.

Nach sieben erfolglosen Jahren scherte Russland 2021 aus und verhandelte direkt mit den US-Amerikanern. Nun erhöhte Moskau den Druck, weil die NATO die Ukraine auch ohne förmliche Mitgliedschaft immer enger einband und das Land systematisch aufrüstete. Doch mit einer perspektivisch möglichen Stationierung von NATO-Mittelstreckenraketen, gegen die Russland keinen wirksamen Verteidigungsschirm hätte, war für Moskau eine rote Linie überschritten. Mit dem Ausscheren Russlands aus dem Normandie-Format verlor Berlin auch seine Führungsrolle. Der Einflussverlust von Deutschland und der EU wiegt umso schwerer, da Russland seine Stellung in Ländern am Rande des EU-Aktionsraums wie Syrien, Libyen und Mali festigen konnte. Moskau vermochte seinen Einfluss zu konsolidieren, während Washington die einzige Weltmacht bleiben will, und für die Europäer läuft es nicht wirklich rund. Das ist die Ausgangslage.

Das große Spiel um die Dominanz in Eurasien hat erneut begonnen. Washington eskaliert den Konflikt mit Russland, aber auch jenen mit China. Deutschland und die EU, außenpolitisch weitgehend erfolglos und nicht in der Lage, russische und chinesische Einflussgewinne in ihrer unmittelbaren Umgebung zu verhindern, lehnen sich wieder stärker an Washington an. Russland und China werden so von den Westmächten aneinandergedrängt. Beide haben auch Differenzen: Moskau fürchtet die wirtschaftliche Überlegenheit Chinas, während Peking Russlands militärische Aktivitäten für allzu provokativ ansieht. Doch von den USA und dem von Deutschland dominierten Europa in die Enge getrieben, nähern sie sich an, bereiten die Abwehr drohender Finanzsanktionen vor und halten gemeinsame Manöver ab. All diese Konfliktlinien kulminieren im Krieg in der Ukraine.

Die Karten in Radós Reiseführer zeigen die Ergebnisse dreier Kriege: des Ersten Weltkrieges, des Russischen Bürgerkrieges und des Polnisch-Sowjetischen Krieges. Darauf sind die Grenzen der Ukraine nach dem Frieden von Riga 1921 zu sehen. Sie schneiden das Land in einen großen sowjetischen und einen deutlich kleineren polnischen Teil. In den Waffengängen des 20. Jahrhunderts wurden diese Grenzen nach Westen verschoben. Radós Karten zeigen: Im Krieg geht es um Geländegewinne und Einflusszonen, also um Geografie. Und Geografie wird dargestellt auf Karten. Die Kartografie von Sándor Radó zeigt vor allem reale Machtverhältnisse – Machtverhältnisse, die heute wieder in Bewegung geraten sind.

Staatliche und mediale Propaganda bereiten derweil die Menschen, vor allem in Deutschland, auf einen Waffengang vor und polemisieren gegen angebliche Kriegsmüdigkeit. Das 21. Jahrhundert fängt da an, wo das lange 19. Jahrhundert endete: in der Kriegshysterie. Nur steht diesmal die Menschheit am nuklearen Abgrund. In der Ukraine tobt ein Krieg, der mit der Denkweise des 19. Jahrhunderts, aber mit den Waffen des 21. Jahrhunderts geführt wird. Es ist ein Tanz auf dem Vulkan.

Beim Blättern in Radós Führer durch die Sowjetunion wird deutlich: In der Ukraine bündeln sich die Konflikte der europäischen Geschichte wie unter einem Brennglas. Dabei zeigt sich: Kein einziges der Probleme, die aus dem Zerfall der Sowjetunion entstanden sind, wurde gelöst. Geschrieben nach einem fürchterlichen Krieg, ist Radós Reiseführer getragen von der Hoffnung, nun könne alles besser werden. Die Hoffnung ist zerstoben, die Kriege nicht. Mit diesen Gedanken breche ich auf – zu Reisen in ein zerrissenes Land, in dem jeder seine eigene Wahrheit kennt. Sie führen ins Auge eines politischen Orkans, aus dem ich wiederkehre als ein anderer.

3.Ostwärts: Nach dem Angriff

3.1. Moskau: Auf eigene Faust

Wir erreichen die Grenze nach Einbruch der Nacht. Vor dem Krieg gab es hier kilometerlange Staus; jetzt kaum ein Auto. Fast leere Alleen, von doppelten Baumreihen gesäumt, führen durch die endlosen Wälder Masurens, in denen der Herbst die Blätter von hellgrün zu gelb verfärbt. An der Grenze zwischen Polen und dem Oblast Kaliningrad warten 20 Fahrzeuge. Eine Füchsin klappert die Autos ab, in der Hoffnung, von den Wurstbroten der Reisenden zu profitieren. Es ist der 17. September 2022, Tag elf der ukrainischen Gegenoffensive. Für die Russen läuft es nicht gut. Sieben Monate nach ihrem Überfall auf das Nachbarland werden ihre Truppen in weiten Teilen der Front zum Rückzug gezwungen; nur so entgehen sie der Einkesselung. Im Soundsystem singt Sergei Schnurow: »Ich habe meiner Frau ein blaues Auge geschlagen, und wenn sie sich bei der Polizei beschwert, dann werde ich denen sagen: Moment mal, sie wollte in die NATO! Das war keine Dresche, das war eine Spezialoperation!«51 Der Sänger aus Sankt Petersburg ist nicht bekannt für zarte Töne; doch in Russland lässt man ihn singen.

Nach fast drei Stunden sind wir an der Reihe. Pässe her, alle raus, alle Türen auf! Misstrauisch betrachten die russischen Zöllner unsere deutschen Pässe. Ein Grenzer schnauzt uns an: »Was hängt da rum? Auseinanderstehen, Gesicht zu mir!« Es dauert, der Pass wird eingelesen, ebenso das Touristenvisum. Wir reisen auf eigene Faust, niemand hat uns geschickt, niemand hat uns gebeten. »Warum doppelte Einreise nach Russland?« »Wir wollen von Rostow weiter nach Donezk!« »Aha, die Herren sind vergnügungssüchtig!«

Das zweifelhafte Vergnügen war lange geplant. Im September 2021 besuchte ich den Westen der Ukraine, Lemberg, Chust, am Rande der Karpaten. Auf langen Wanderungen, beim Durchwaten reißender Flüsse, beim Blick auf holprige Schlaglochpisten kam mir die Idee, das zu tun, was ich am besten kann: darüber schreiben. Weitere Reisen im Jahr darauf sollten dem Buch Form und Richtung geben. Doch dann kam der russische Einmarsch. Von Westen her war kein Durchkommen mehr in den Donbass, dazwischen lag die Front. Zunächst wollte ich abkürzen – über Kiew nach Dnipro und dann nach Odessa. Doch meine Freunde hatten keine Zeit, da war ein Haus zu bauen, das vor dem Winter fertig werden musste. Wer, wenn nicht sie, könnte mich begleiten? Es gibt Reisen, die sollte man besser nicht allein antreten.

Wer solche Touren macht, braucht nicht nur starke Nerven. Im Vorteil ist, wer Russland schon ein wenig kennt, die Sprache spricht, nicht gleich als Ausländer auffällt, ein paar Kontakte und über Freunde und Verwandte Zugang zu russischen Konten hat. Denn die westlichen Sanktionen sorgen dafür, dass Geldautomaten bei deutschen Kreditkarten korrekt melden: »Ihre Bank antwortet nicht!« 5 000 Dollar im Bauchgurt – das Geld reichte vielleicht nur bis zum Checkpoint irgendeiner Miliz im Donbass, wo sich die Summe in Lösegeld verwandeln könnte.

Bei Freunden in Frankfurt lernte ich Sergey kennen. Er zeigte die gelassene Entschlossenheit, die gebraucht wird auf einer solchen Reise. Sergey ist ein Experte für Kaffeemaschinen und kann genau erklären, wie heiß die Brühe sein muss und wie der Schaum auf einem guten Kaffee aussehen sollte. Bekannten in Kaliningrad hat er gebrauchte Kaffeemaschinen verkauft. Handeln kann man mit allem, und das Durchwursteln wird auch zum Prinzip unserer Reise: Alle Direktflüge nach Russland sind gestrichen; wir müssen die Sanktionen umgehen. Deshalb fahren wir mit dem Wagen nach Kaliningrad, lassen das Auto bei Freunden, nehmen die Aeroflot-Maschine nach Moskau und buchen dort ein Zweier-Coupé für die 25-stündige Zugfahrt nach Rostow am Don. Wie es dann weitergeht – keine Ahnung. Eines wissen wir aber: In einem Krieg mit Tausenden von Toten kommt es auf zwei Leichen mehr oder weniger auch nicht an. Sollte uns etwas zustoßen, wird kein Hahn danach krähen. Deshalb beschließen wir, eine Art Video-Tagebuch zu machen. So wissen wenigstens Freunde und Bekannte, dass wir noch am Leben sind.

Zum damaligen Zeitpunkt zählte das UNHCR mehr als 7,5 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in ganz Europa, davon fast 2,9 Millionen in Russland.52 Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nicht ausreisen, sie müssen kämpfen. Asyl für ukrainische Kriegsdienstverweigerer gibt es nur in Russland. Überall Familien, die durch den Krieg zerbrechen. Wir lassen die Grenze hinter uns und fahren Richtung Kaliningrad. Sergei Schnurow singt: »Wie gut haben wir gelebt, ach wie gut haben wir gelebt, wie gut haben wir damals schlecht gelebt« – vor dem Krieg.53 Das Hotel Baltika ist ein alter, aber sauberer sowjetischer Schuppen direkt am Tschistyi Prud, dem früheren Lauther Mühlenteich. Die Türen sind neoklassisch aus Holz, das Bad hat Röhren statt Heizkörper. Beim Frühstück überfällt uns im Speisesaal eine Schülergruppe auf Klassenfahrt. Sie kommen aus Gwardeisk – »Gardestadt« – an der Pregel, etwa 35 Kilometer weiter östlich. Hier in Kaliningrad sollen sie Kulturgeschichte kennenlernen, besuchen den Dom, das Kant-Museum und sammeln Bernstein. Sie tragen das gelbe Halstuch ihrer Schule und frühstücken in zwei Schichten unter alten Wandteppichen mit deutschen Bauernmotiven: Fässer, Pferde, Kutscher. An den runden Tischen geht es bei Eiern, Krautsalat, Kartoffeln und Tee ruhig und diszipliniert zu. Die Busreise, hören wir, wird vom Staat bezahlt. Einen Eigenbeitrag gibt es nicht. Im Fahrstuhl freut sich die Putzfrau, dass ich Deutscher bin; Deutsch, das hat sie mal in der Schule gelernt. Der Krieg findet hier nur in den Fernsehnachrichten statt.

Wir wollen russische SIM-Karten kaufen. Deshalb fahren wir in die City von Kaliningrad – und finden uns in Königsberg wieder. Hinter sowjetischen Plattenbauten in schlechtem Zustand präsentiert sich die Metropole der russischen Exklave als moderne Großstadt. Die Bauruine des »Hauses der Sowjets« gilt heute als Symbol für das Scheitern der Sowjetunion, ein Teil der Kaliningrader Schizophrenie. Im Einkaufszentrum Plaza sind die Läden voll und gut besucht. Was im Stadtkern ein halbes Jahr totalen Krieges völlig zerstört hat, ist nun wieder aufgebaut und orientiert sich an den alten hanseatischen Gebäuden. Man versucht, das feine Gewebe der Bürgerhäuser, Kontore, Cafés und Buchhandlungen nachzuahmen, das durch die Luftangriffe im August 1944 und sowjetische Planungswut plattgemacht wurde.54 Eine Stadt an einer historischen Bruchstelle, die wieder nach Westen geblickt hat, wird nun durch die Sanktionen gegen Russland wieder vom Westen abgeschnitten und zur Frontstadt an der NATO-Außengrenze. In Kaliningrad hat man darauf gewartet, nach dem Ende des ersten Kalten Krieges wieder zur Brücke zwischen den Völkern zu werden; man hat vergeblich gewartet.

Für die berühmteste Tochter der Stadt, Hannah Arendt, gibt es hier kein Denkmal. Als Enkelin aus dem Russischen Reich nach Preußen eingewanderter Juden wurde sie 1906 geboren. Vielleicht muss man vom östlichen Rande des Deutschen Reiches und aus einer wohlhabenden Stadt der Kaufleute auf die Krise der bürgerlichen Welt blicken, um die Vernichtungsenergie übersehen zu können, die der Zerfall bürgerlicher Klassenstrukturen und der europäischen Staatenwelt freisetzen konnte: »Die erste Explosion war wie der Starter einer Kettenreaktion, die bis heute nicht zum Halten gebracht werden konnte … Nichts, was seit dem Ersten Weltkrieg sich wirklich ereignete, konnte wieder repariert werden, und kein Unheil, nicht einmal der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, konnte verhindert werden. Jedes Ereignis hatte die Qualität einer Katastrophe, und jede Katastrophe war endgültig.«55 Heute, am Rande einer neuen Katastrophe, erscheinen mir diese Sätze ganz aktuell: Die Epoche der Weltenbrände ist längst nicht vorbei.

In Kaliningrad führt nun ein trotziger Behauptungswille Regie: Wir haben schon einmal einen totalen Krieg überstanden, das hier werden wir auch überstehen. Den berühmtesten Sohn der Stadt, Immanuel Kant, zeigt man stolz chinesischen Touristengruppen. Fast alle, die heute nach der Zeit der Vertreibungen und Umsiedlungen hier leben, haben ihre familiären Wurzeln anderswo. Irgendwie scheint der Philosoph zu einer Art verbindendem Element, zum Fluchtpunkt regionaler Identität zu werden. Sein Denkmal steht in einem Park vor der Universität, die seit 2005 seinen Namen trägt, umbenannt zum 750. Jahrestag der Stadtgründung in Anwesenheit von Präsident Wladimir Putin und dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Vor dem Denkmal stehend denke ich an Kants Galgenhumor, mit dem er seine Schrift »Zum ewigen Frieden« einleitet. Er verweist auf ein holländisches Gasthaus, das diesen Namen führt und dessen Schild einen Friedhof zeigt.56 Dahin haben wir es wieder gebracht: Ein weiteres Mal müssen wir uns entscheiden, ob wir Frieden halten oder auf dem Friedhof enden wollen. Im Geist höre ich den Alten von Ferne lachen. Seine sechs Präliminarartikel sind bis heute ein schöner Traum: »Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.«57 Im ersten der sechs Artikel geht es Kant um den Unterschied zwischen echtem und unechtem Frieden. Ein Friedensschluss, der die Kriegsgründe nicht beseitigt, kann nicht halten. Ich denke an die Minsker Verhandlungen um einen Frieden im Donbass, während US-Amerikaner und Briten die Ukraine hochgerüstet und schrittweise an NATO-Standards herangeführt haben. »Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.« Der fünfte Artikel formuliert das Prinzip der Nichteinmischung. Für eine Intervention kann es, so Kant, keine Rechtsgrundlage geben, solange der betroffene Staat nicht die Rechte eines anderen verletzt. Innere Unruhen wie der Bürgerkrieg im Donbass seit 2014 oder unrechtmäßige Zustände stellen keinen Grund für ein militärisches Eingreifen dar. Putins Angriffskrieg steht mir vor Augen. Immanuel Kant gehörte einst der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg an. Das Zeitalter der Aufklärung endete in Kriegen. Heute hält Königsberg Ost und West wieder den Spiegel der Aufklärung vor die Nase, doch keiner will hinsehen.

Danach im Restaurant »ХМЕЛЬ« (Hopfen) in der Innenstadt von Kaliningrad Borschtsch mit Speck und Roggenbrot, dazu zwei Gläser kalter Meerrettich-Schnaps. Vielleicht war das der Anfang vom Ende. Lautes Trommeln an der Tür reißt mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Völlig derangiert raffe ich mich auf. Sergey steht in der Tür: »Sieh zu, dass du in die Gänge kommst, die Maschine nach Moskau wartet nicht!« Am Vorabend hatten wir den Wagen bei Freunden abgestellt. Die Frau von Maxim ließ es sich nicht nehmen, uns gleich noch zu bekochen. Gäste aus Deutschland sind selten geworden, es gibt viel zu erzählen von diesseits und jenseits der Grenze. Ich bastele mit den Kindern Papierflieger zwischen den Wodkarunden. Bei der dritten Flasche – Filmriss vor der Garderobe. Am nächsten Morgen tickert Maxim: »Hitler kaputt!«

Der Fahrer des Taxis legt vom Flughafen Scheremetjewo Richtung Innenstadt im Moskauer Stoßverkehr bei strömendem Regen ein solches Rennen hin, dass ich nicht weiß, ob meine Schweißausbrüche vom Restalkohol oder von der Todesangst kommen. Im Hotel in der Kadaschewskaja lege ich mich erst mal aufs Bett und atme tief durch. Am Abend treffen wir unseren Freund Andrej, schießen schnell ein Erinnerungsfoto auf der Rolltreppe der U-Bahn und fahren zu einem kasachischen Restaurant, Tschaichania Nr. 1, am Puschkinskaja-Platz. Wir bestellen Lammsuppe und anschließend einen Spieß. An diesem Abend gibt es keinen Schnaps, sondern zwei Karaffen Mors, ein Fruchtsaft, der aus Waldbeeren gewonnen wird. Andrej ist Mitte 30 und hat sich nun »endlich«, wie er sagt, verlobt. Er hat gerade eine neue, größere Wohnung etwas außerhalb des Rings bezogen. Er arbeitet als IT-Spezialist und für einen Onlineshop. »Hier schütteln wir über die Deutschen den Kopf. Ihr habt euch selbst den Gashahn abgedreht und gebt Putin die Schuld. Geht’s noch?« Von den Sanktionen hält er wenig: »Das kommt hier nicht an. Auch im IT-Bereich gibt es alles zu kaufen. Wir erhalten die Sachen aus China, die Europäer sind aus dem Markt, das ist alles.« Das deckt sich nicht nur mit unseren Beobachtungen; auch US-Studien sehen das so.58 Im zentralen Kaufhaus GUM, in das wir uns am Nachmittag vor Regenschauern und eiskaltem Wind auf dem Roten Platz gerettet haben, sind nach wie vor Schweizer Uhren, Porzellan aus dem saarländischen Merzig, Luxusklamotten aus Italien, Waschmaschinen, die in Polen gefertigt werden, oder koreanische Flachbildschirme und chinesische Computer erhältlich. Mangel herrscht nicht. Im Pkw-Bereich steigern infolge der Sanktionen chinesische Fabrikate ihre Marktanteile. Westliche Luxuskarossen gelangen über Kasachstan oder China nach wie vor nach Russland. Die Lieferanten schlagen die Kosten der längeren Transportwege einfach auf den Preis.59 Die meisten Länder des globalen Südens – China, Indonesien, Brasilien, Indien, Südafrika – schlossen sich den Sanktionen der NATO-Länder nicht an. Die Türkei verdoppelte ihre Ölimporte gegenüber 2021. Der russische Anteil an Indiens Ölimporten stieg im gleichen Zeitraum von 1 Prozent auf 21 Prozent. Das Monatsvolumen von Chinas Russlandhandel erhöhte sich um zwei Drittel, jenes der Türkei verdoppelte sich, Indien verdreifachte seinen Hansel mit Russland und die russischen Exporte nach Brasilien verdoppelten sich.60 Der russische Außenhandel wuchs um 8,1 Prozent.61 Aber die russische Energiewirtschaft ist abhängig von westlichem Anlagenbau. Präsident Putin kündigte deshalb an, dass bis zum Jahr 2025 80 Prozent der Ausrüstungen im Öl- und Gasbereich in Russland hergestellt werden sollen.62

Russland ist es auch bisher nicht gelungen, eine eigene Digitalindustrie aufzubauen. Das Land ist von westlichen Technologien abhängig und hat keine eigene Halbleiter-Industrie. Anders als Andrej haben mehrere Tausend IT-Spezialisten Russland verlassen. Berichte, dass die russische IT-Branche in Schwierigkeiten kommt, weil die Zulieferung westlicher Halbleiter-Chips ausfällt, kann Andrej aber derzeit nicht bestätigen. Nur die Preise seien leicht gestiegen. Stattdessen weist er daraufhin, dass in der globalisierten Welt Abhängigkeiten in beide Richtungen wirken. Die Halbleiter-Branche im Westen ist abhängig von Neon-Gas aus Russland. Denn Chip-Laser brauchen diese Materialien etwa bei der Belichtung der Halbleiter, und hier drohen eben Lieferengpässe.63 Wir stimmen mit Andrej überein, dass sich der Wirtschaftskrieg im Westen stärker auswirkt als in Russland, einem energieautarken Land, das nun an den gestiegenen Öl- und Gaspreisen auf dem Weltmarkt sogar noch kräftig verdient, während Wirtschaftsvertreter in Deutschland vor einer Deindustrialisierung warnen, weil das deutsche Geschäftsmodell eben zum Teil auf billiger Energie aus Russland beruht. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Peter Adrian, wird wenig später sagen: »Wenn die Energiepreise nicht deutlich sinken, gehen spätestens in sechs Monaten bei Zehntausenden Betrieben hierzulande die Lichter aus.« Damit drohe ein Wohlstandsverlust unbegreiflichen Ausmaßes.64 Der geopolitische Experte Jacques Baud geht davon aus, dass sich der Westen verschätzt habe und eine schwere Rezession drohe, deren Ursachen zwar vor dem Krieg liegen, die aber durch die Sanktionen verschärft werde.65 Der Bundesregierung lagen im November 2022 keine Erkenntnisse zur Wirkung ihrer Russland-Sanktionen vor.66 Das deckt sich auch mit den Ergebnissen der Ökonomen: Die russische Wirtschaft bricht kaum ein, die Ukraine verarmt rapide und der Westen droht den Wirtschaftskrieg zu verlieren.67 Auf dem Nachhauseweg blödeln wir herum, Andrej lacht: »Hier in Putins Totalitarismus können wir an der Bushaltestelle das Handy aufladen und haben sogar WLAN!« Ja, in Moskau geht das, denke ich. Aber im sibirischen Krasnojarsk, wo Sergey herkommt? Zum Abschied umarmen wir uns: auf Wiedersehen in Moskau – wenn wir im nächsten Jahr noch leben.

Vor meinen Füßen steht ein Bild von Darja Dugina. Es zeigt eine junge Frau von 29 Jahren mit dunklen Haaren und Seitenscheitel, über deren linkem Auge ein dunkler Schatten liegt. Die Journalistin starb am 20. August 2022 bei einem Autobombenanschlag. Der Anschlag galt offenbar ihrem Vater, dem rechtsnationalistischen Philosophen Alexander Dugin, in dessen Wagen sie nach Hause fahren wollte. Beide hatten ein patriotisches Festival besucht. Darja Dugina rechtfertigte immer wieder öffentlich den Militäreinsatz in der Ukraine: »Was jetzt dort passiert, ist ein Versuch der Russen, die Zivilisten vor dem Tod zu schützen.«68 US-Geheimdienste vermuten die Ukraine hinter dem Mord. Welche Rolle spielten sie?

Vor dem schwarzgerahmten Foto von Darja Dugina liegen Blumen, daneben eine niedergebrannte Kerze. Das Foto ist an den Sockel einer drei Meter hohen Bronzeplastik gelehnt, die sich im kleinen baumbestandenen Skwer Mstislaw Rostropowitsch zwischen Bolschaja Nikitskaja und Twerskaja vor dem Trubel der schlaflosen Metropole versteckt. Der Bildhauer Alexander Liugin zeigt einen wilden Löwen mit mächtiger Mähne, die Augen aufgerissen wie erstarrt, gebändigt von einem Engel, der rittlings auf ihm sitzt. Die Flügel weit ausgebreitet, blickt dieser Engel seitwärts dem Besucher entgegen, schützend beide Hände erhoben: Weltliche und geistliche Macht begegnen sich. Ich sehe in dieser Plastik den Engel, der den Propheten Daniel in der Löwengrube rettet, in die ihn Babylons König Darius hat werfen lassen. Daniel war wegen seines Glaubens von Neidern denunziert worden, weil er in der Gunst des Königs stand.69

Das Buch Daniel erzählt von Macht und Größenwahn, Intrigen und Treue, Aufstieg und Untergang von Weltreichen. Es ist ein spannendes, politisches Buch der Bibel. Es führt in die Vorstellungswelt jener Leute, die wir gleich in der Nähe des Parks treffen werden. Dass hier, in diesem Park, vor dieser Bronze, das Bild von Darja Dugina steht, ist kein Zufall. Russland, eingekreist von den wilden Löwen des Westens und der NATO