Im Spinnennetz der Geheimdienste - Patrik Baab - E-Book

Im Spinnennetz der Geheimdienste E-Book

Patrik Baab

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Beschreibung

Warum starb Uwe Barschel? Geheimdienste wie CIA, FSB, Mossad oder BND sind für uns schlicht eine verbotene Zone, in der nicht nur diskret spioniert, sondern auch die blutige Drecksarbeit streng geheim erledigt wird. Robert E. Harkavy und Patrik Baab werfen mit ihrem Buch ein helles Licht auf die verdeckten Operationen dieser Schattenkrieger. Am Beispiel der bis heute ungeklärten Todesfälle von Olof Palme, Uwe Barschel und William Colby beleuchten sie die Strippenzieher und Hintergründe. Sie haben Quellen aus fünf verschiedenen Geheimdiensten angezapft, zahlreiche ehemalige Geheimdienstler interviewt und führen die drei Todesfälle zusammen vor dem Hintergrund der Iran-Contra-Affäre und eines Schattenkrieges der CIA, dessen größter Teil immer noch im Dunkeln liegt. Ein spannender Spionage-Thriller, der leider finstere Realität ist.

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Seitenzahl: 662

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Ebook Edition

Patrik Baab, Robert E. Harkavy

Im Spinnennetz der Geheimdienste

Warum wurden Olof Palme, Uwe Barschel und William Colby ermordet?

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Kapitel von Robert E. Harkavy wurden von Sarah Eichhoff aus dem Englischen übersetzt.

Den Autoren sind sämtliche Klarnamen bekannt.

ISBN 978-3-86489-745-0

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2019

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Vorwort
Einleitung
Kapitel 1
Olof Palme
Eine sonderbare Begegnung
Blut im Schnee
Das mysteriöse Umfeld des Mordes
Ermittlung oder Vertuschung?
Bernt Carlsson und das Lockerbie-Attentat
Die Suche nach dem Motiv
Schweden im Kalten Krieg
Iran-Contra
Die CIA und der Waffenschmuggel
Karl-Erik Schmitz und der schwedische Waffenhandel
Israel, Iran, Irak und die Stasi
Die Südafrika-Spur
Die Befehlskette: Pegasus
Der Hebel: Stay-behind
Das Mordkommando
Kapitel 2
Uwe Barschel
Ein Tatort, der nicht existiert
Der Reporter und die Leiche
Schlampige Tatort-Arbeit
Lückenhafte Vernehmungen
Die Kieler Affäre
Eine fragwürdige Obduktion
Der mysteriöse Robert Roloff
Ankunft in Genf
Ein Passagier namens R. Gates
Gran Canaria
Ein deutscher Agent
Der Kalender des Waffenschiebers
Flug in den Tod
Tödliche Gifte, verwirrender Tatort
Kieler Affäre, zweiter Teil
Die Schubladenaffäre
Die Stasi und die SPD
Stasi-Agenten in Genf
Der junge Barschel
Eine vielversprechende Nachwuchskraft
Werner Kaltefleiter – ein Politologe und die Dienste
Kiel und die konservativen US-Netzwerke
Ulrike Schumacher – eine Schattenkriegerin?
Ein mysteriöses Notariat
Hinweise auf Waffengeschäfte
CIA-Seilschaften
Uwe Barschel und die CIA
Barschel – ein Doppelleben
Spuren in den Embargohandel
»Moneten-Müller«
Eine mysteriöse Maklerin
Barschel – ein Aufsteiger
Kontakte zu Adnan Kashoggi
Heimliche Reisen hinter den Eisernen Vorhang
Waffen gegen Geiseln
Diskrete Treffen im Hotel Vier Jahreszeiten
»Geheimakte Mossad«
Abolhassan Banisadr und der Fall Barschel
Der Iran und die U-Boote
Barschel und der Südafrika-Deal
Die U-Boot-Blaupausen und die DDR
Dunkle Geschäfte hinterm Eisernen Vorhang
Ein Fahrer erinnert sich
Eugene Hasenfus packt aus
Die Spur führt zur »Enterprise«-Gruppe
Deutschland – eine Drehscheibe des Waffenhandels
Iran-Contra und die DDR
Das Hotel der Spione
Brisante Aussage der Kellnerin
Schieber aus Ost und West
Eine Razzia in Malmö
Das Netzwerk der Waffenhändler
Karl-Erik Schmitz und die CIA
Barschel und das Lager der IMES
Bürgerrechtler besetzen das Waffenlager
Die DDR, Schweden und Iran-Contra
Erria und Pia Vesta
Barschel – der Treuhänder
Der mysteriöse Tod des Bernd Barschel
Barschel in Jena
Zwei Brüder im Embargohandel?
Reagans Wirtschaftskrieg
Mysteriöse Kur in der CSSR
Ein brisantes Dossier des StB
Barschel und Iran-Contra
Endspiel
Variante 1: Selbstmord
2. Variante: Sterbehilfe
3. Variante: Mord
Die Südafrika-Spur
Die Mossad-Spur
Die Stasi-Spur
Die Iran-Spur
Die CIA-Spur
Der Tatort – eine Inszenierung
Kapitel 3
William Colby
Eine Karriere mit dunklen Flecken
Mutmaßungen und mögliche Motive
Der Mord an John F. Kennedy
Der Skandal um die Franklin Credit Union
Die Nugan Hand Bank
Colby, Palme und Barschel
Ausblick: Ein amerikanischer Schattenkrieg
Hintergrund 1: Kalter Krieg
Hintergrund 2: Die Iran-Contra-Affäre
Gemeinsamkeit 1: Stay-behind
Gemeinsamkeit 2: Covert Action
Gemeinsamkeit 3: Secret Service Subcontracting
Gemeinsamkeit 4: Plausible Deniability
Gemeinsamkeit 5: Targeted Killings
Gemeinsamkeit 6: Clean-up Operations
Gemeinsamkeit 7: Coverups
Gemeinsamkeit 8: CIA-Recruitment
Gemeinsamkeit 9: Pegasus
Nach dem Kalten Krieg
Dank
Anmerkungen
Literatur
Anhang
1. Karten von Stockholm
2. Abu Talb/Hamid Dadashniejad
3. BfV, Quelle Glasschüssel
4. Eine Kellnerin meldet Barschels Aktivitäten im Hotel Neptun
5. Auswertungsbericht des STB, nachbearbeitet vom Nachrichtendienst der Tschechischen Republik Bezpenostní informaní služba
6. Protokoll des »Secret Operations Planning Staff« (SOPS) von Stay-behind vom 15.12 1985 zum geplanten Mord an Olof Palme
Namensregister

© privat

Patrik Baab ist Politikwissenschaftler und Journalist beim NDR und hat u.a. an den ARD-Filmen »Der Tod des Uwe Barschel – Skandal ohne Ende« (2007), »Der Tod des Uwe Barschel – Die ganze Geschichte« (2008) sowie »Uwe Barschel – Das Rätsel« (2016) mitgewirkt. Er ist Lehrbeauftragter für praktischen Journalismus an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin.

© privat

Robert E. Harkavy ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der State University Pennsylvania und Gast-Professor an der Uni Kiel mit einer Förderung der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Er hat mehrere Bücher über Waffenhandel, Kriegsführung in der Dritten Welt und Verteidigungspolitik geschrieben, war Berater des Pentagon und hat zum Zeitpunkt des Mordes an Olof Palme für das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) in Stockholm gearbeitet. Er hat einen Doktortitel in »Internationale Beziehungen« der Universität Yale.

Vorwort

Dieses Buch trifft beim akademischen Mainstream weithin auf demonstrative Ignoranz. Geschadet hat es ihm nicht. Das Interesse der Leserinnen und Leser hält an. Deshalb haben die Autoren die Ehre und das Vergnügen, eine vierte, ergänzte und überarbeitete Auflage zu präsentieren. Seit Veröffentlichung der ersten Auflage 2017 hat der Gegenstand dieser Studie – politische Morde und ihre Vertuschung – nichts von seiner Bedeutung verloren. Ganz im Gegenteil: Selten war dieses Thema so aktuell wie heute. Das zeigen die Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi – dessen Onkel Adnan Kashoggi auch eine Schlüsselrolle in unserer Recherche zukommt – am 2. Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul, die Polonium-Vergiftung des ehemaligen FSB-Agenten und späteren Mitarbeiters des MI6, Alexander Litwinenko, am 1. November 2006 in London oder der Giftgasanschlag am 4. März 2018 in Salisbury auf Sergej Skripal, den früheren Offizier des russischen Militärgeheimdienstes GRU und Doppelagenten, der beim MI6 vom späteren Chef des Unternehmens »Orbis Business Intelligence Ltd.« Christopher Steele, geführt wurde. Vieles an diesen Fällen ist bis heute ungeklärt. Das zeigt: Vertuschungsmaßnahmen und interessengeleitete Irreführung der Öffentlichkeit sind Teil des Spiels. Im Hintergrund treffen aber in allen drei Fällen politische Interessen, Machtspiele und geheimdienstliche Intrigen aufeinander. Die spätere Wissenschaftlerin am Stockholm Peace Research Institute Connie Wall fragte als junges Mädchen ihren Vater, den hochrangigen CIA-Offizier Robert Bullock, warum der Dienst Menschen umbringe. Seine Antwort war: »Das machen alle!«1

Bei zahlreichen Lesungen, Diskussionen und Interviews haben wir die Ergebnisse dieses Buches vorgestellt: Nicht nur im Fall Palme, sondern auch beim Tod von Uwe Barschel und William Colby handelt es sich um Mord. In allen drei Fällen waren keine Einzeltäter unterwegs, sondern Killerteams. Es handelt sich also um organisierte Kriminalität. In allen drei Fällen sind Geheimdienste verwickelt. Die Befehlsketten enden jeweils in der Politik. Es handelt sich also nicht nur um organisierte Kriminalität, sondern um politische Verbrechen – um Staatskriminalität. Alle drei Fälle hängen miteinander zusammen, sind eingebettet in denselben historischen Kontext – die Iran-Contra-Affäre. In allen drei Fällen haben wir es in der Folge weniger mit einer Ermittlung als vielmehr mit einer Vertuschung zu tun.2 Bislang sehen wir keinen Anlass, daran etwas zu korrigieren. Vielmehr werden unsere Überlegungen durch weitere Recherchen und neuere Ermittlungsergebnisse bestätigt. So fand der amtierende schwedische Generalstaatsanwalt Krister Petersson, seit Februar 2017 auch Voruntersuchungsleiter der Palme-Ermittlungen, heraus, dass der nach dem Mord an Olof Palme am 28. Februar 1986 beschuldigte angebliche Einzeltäter Christer Pettersson gar nicht am Tatort war, Belastungszeugen von Polizeibeamten bestochen und zahlreiche Spuren nicht verfolgt worden waren. Christer Pettersson könne also nicht der Mörder gewesen sein. Der schwedische Chefermittler sieht eine militärische Elitegruppe hinter dem Mord.3 Damit bricht die Einzeltätertheorie – erstmals auch amtlich bestätigt – in sich zusammen.

Wie nicht anders zu erwarten, sind auch wir Autoren in die Nähe von »Verschwörungstheoretikern« gerückt worden. Davon betroffen war Robert E. Harkavy schon vor Jahren, als er im sogenannten »Leopold-Report« als »Desinformant, der die Palme-Ermittlungen sabotieren wolle«4 bezeichnet wurde. Die »intellektuelle Konfektionsindustrie«5 kann wohl nicht anders, als alles auszuscheiden, was über die herrschende Meinung hinausweist. Genau das Gegenteil ist richtig, wie auch im Falle des Waffenhändlers William Hermann.6 Was Robert E. Harkavy betrifft, so weiß es der schwedische Generalstaatsanwalt Krister Petersson besser: »In den Ermittlungsakten wird Harkavy als Nachrichtenfälscher bezeichnet. Aber ich fälle mein eigenes Urteil. Anders als der offizielle Ermittlungsbericht gehe ich nicht davon aus, dass Harkavy ein CIA-Agent ist.«7

Den Kritikern halten wir entgegen: Das meiste, was wir hier zusammengetragen haben, ist längst bekannt, wenn auch einem breiteren Publikum bislang schwer zugänglich, und unter Fachleuten keineswegs umstritten. Dies zeigt die Fülle der zitierten Studien und Belege. Lediglich an einigen entscheidenden Schnittstellen konnten wir neue Dokumente oder Zeitzeugen einführen. Die Erschließung dieser Quellen ist nicht dem Anklicken von Suchmaschinen, sondern gründlicher Vor-Ort-Recherche an einer Vielzahl von Schauplätzen geschuldet.

Für diese mehrjährige Suche haben sich zwei Autoren zusammengetan, die manches unterscheidet. Der eine, Robert E. Harkavy, ordnet sich politisch dem konservativen, republikanischen Lager zu. Der andere, Patrik Baab, sieht sich im politischen Spektrum der Vereinigten Staaten eher auf der demokratischen Seite. So war dem Autorenteam die Möglichkeit zur permanenten Gegenrecherche gegeben – und damit die Chance, Politisch-Tendenziöses zu vermeiden. Was uns über die Grenzen der politischen Standpunkte hinweg eint, ist das Wissen, dass russische, polnische, britische, französische, kanadische und amerikanische Soldaten mit ihrem Blut Deutschland Hitlers Willkürherrschaft entrissen haben – ein Beispiel für einen gelungenen Regime-Wechsel. Auch steht für beide Autoren das Existenzrecht des Staates Israel außerhalb jeder Diskussion.

Anders als der frühere Fraktionsgeschäftsführer der CDU im schleswig-holsteinischen Landtag, Günther Potschien, der insbesondere Beobachtungen aus gelebter Zeitgenossenschaft schildert und versucht, aus den charakterlichen Schwächen von Uwe Barschel dessen Freitod abzuleiten, führen wir unsere in zahlreiche Organisationen reichenden Netzwerke zusammen und bemühen uns um eine multiperspektivische Darstellung, die eine Vielzahl von Zeitzeugen und geheimdienstlichen Dokumenten einbezieht. Dies erlaubt es, auch jene Dimensionen des historischen Geschehens zu beleuchten, die sich dem Auge des zeitgenössischen Betrachters entzogen haben. Für uns ist deshalb die Mord­theorie kein Versuch, von Barschels Fehlverhalten abzulenken. Ganz im Gegenteil: Sein brennender Ehrgeiz und seine Skrupellosigkeit erscheinen uns als Voraussetzungen seiner geheimdienstlichen Verstrickung und seines Doppellebens, in dem die Motive für seinen gewaltsamen Tod zu suchen sind.8

Dem schwedischen Journalisten Jan Stocklassa fällt das Verdienst zu, zum Mordfall Olof Palme erstmals den Nachlass des Autors Stieg Larsson ausgewertet zu haben. Darüber hinaus stützt er sich auf persönliche Recherchen und eine Reihe von Zeitzeugen vor allem in Schweden und Südafrika.9 Seinen Überlegungen zur Identifizierung eines neuen, bislang nicht berücksichtigten Einzeltäters folgen wir nicht. Vielmehr scheinen uns geheimdienstliche Dokumente zu belegen, dass der schwedische Ministerpräsident einer von höchster Stelle befohlenen geheimdienstlichen Operation zum Opfer fiel.

Natürlich ist uns bewusst, dass der Verweis auf eine Vielzahl von Zeitzeugen mit durchaus gegensätzlichen Einschätzungen und auf Belege aus mehreren Geheimdiensten die Kritiker nicht zufriedenstellen wird. Wenn in akademischen Zirkeln, in der Presse oder im Umfeld der Bundesregierung von »Verschwörungstheorien« gesprochen wird10 dann geht es meist um etwas Anderes: strategische Kommunikation. Dabei spielen immer auch persönliche Interessen eine Rolle. Diese verbinden sich meist mit einem materiellen Hintergrund, wie der Suche nach Bündnispartnern für die Gewinnung von Drittmitteln, mit politischen Loyalitäten oder transatlantischen Seilschaften. Immer geht es auch um ein »Wording«, von dem man sich einen Schub für die eigene Karriere verspricht. Selbstverständlich werden diese Parolen von keinem »verschwörerischen Zentralkomitee«, so Guillaume Paoli, gesteuert: »Die Antwort ist (…) womöglich schlimmer: Es liegt an dem gleich formatierten Denkrahmen.«11 So entsteht das Meinungskartell einer recherchefernen Konsenskultur, das sich nicht scheut, unliebsame Positionen auszugrenzen – vorauseilender Gehorsam im Zuge der Selbst-Gleichschaltung.

So entsteht ein Ausgrenzungsdiskurs mit dem Ziel, eine informelle Kontaktsperre gegen jene zu verhängen, die unliebsame Rechercheergebnisse vorlegen oder dabei helfen, sie in die Öffentlichkeit zu tragen. In solchen Szenarien der Kontaktvermeidung nimmt die fachliche und politische Auseinandersetzung einen viralen Charakter an. Sie wird in den Kategorien von Ansteckung und Kontamination geführt. Alle, die im Mainstream nicht mitziehen, werden in eine Art Sippenhaft genommen für die tatsächlichen oder angeblichen Verfehlungen anderer.

Deshalb all jenen, die mit falsifikatorischem Killerinstinkt zur Jagd auf vermeintliche »Verschwörungstheorien« blasen, zum Geleit: Der Begriff »Verschwörungstheorie« wurde 1948 von dem Philosophen Karl Popper in die akademische Diskussion eingebracht – für ihn ein Beispiel für irrationale Gesellschaftstheorien. Er verstand darunter die Vorstellung, einflussreiche Machtgruppen seien für gesellschaftliche Missstände wie Weltwirtschaftskrisen verantwortlich.12 Damit ist Poppers Ansatz geeignet, alle sozialen Kausalketten zu vernebeln, die nicht in sein eigenes Weltbild passen. 1967 wurde der Begriff »Verschwörungstheorie« im Zusammenhang mit dem Mord an John F. Kennedy in die politische Diskussion eingeführt – von der CIA. Der Geheimdienst verfolgte damit das Ziel, in der Öffentlichkeit Hinweisen entgegenzuwirken, der beschuldigte Lee Harvey Oswald könne nicht als Einzeltäter gehandelt haben. Vielmehr seien Mitarbeiter der CIA selbst in den Mord verwickelt gewesen.13 Ein Befund, der Jahre später durch die Studie von Lamar Waldron bestätigt wurde.14 Es handelt sich also – wie schon bei Popper – um einen politischen Kampfbegriff. Seine analytische Reichweite ist dabei gering. Denn es wird nicht gesagt, wer sich mit wem gegen was zu welchem Zweck verschworen haben soll.

Der Begriff »Verschwörungstheorie« ist analytisch unscharf und eignet sich daher nicht zur erkennungsdienstlichen Behandlung der Wirklichkeit. Versteht man aber unter einer Verschwörungstheorie die Vorstellung, dass eine unsichtbare Hand im Hintergrund das Geschehen im sozialen Raum lenkt, ohne dass die Akteure dies merken, dann bleibt dieses Buch davon unberührt. Denn die Autoren nennen Handlungsträger, Befehlsketten, Hintermänner und ihre Interessen.

Die Qualität einer Theorie misst sich für uns daran, wie genau sie die Realität beschreibt. Man darf also unterscheiden zwischen einer Verschwörungstheorie und einer realen Verschwörung. Die Iran-Contra-Affäre – um die es hier im weiteren Sinne geht – ist eine reale Verschwörung gewesen. Dies hat eine Untersuchungskommission des US-Parlaments klar belegt.15 Im Kern beschreibt die Iran-Contra-Affäre eine komplexe politische Intrige zur Umgehung von Parlamentsbeschlüssen und internationalem Recht. Ihr Ziel war es, in Teheran festgehaltene amerikanische Geiseln dadurch frei zu bekommen, dass umfangreiche Waffenlieferungen, insbesondere Panzerabwehrraketen vom Typ TOW, gemeinsam mit Israel an die Islamische Republik Iran durchgeführt wurden. Der Iran befand sich zu dieser Zeit im Krieg gegen den Irak. Dies geschah verdeckt, denn die Vereinten Nationen hatten ein Waffenembargo gegen Teheran verhängt. Die Einnahmen aus den geheimen Waffenverkäufen an den Iran wurden an die rechtsgerichteten Contra-Rebellen in Nicaragua weitergeleitet, um sie im Kampf gegen die sandinistische Regierung zu unterstützen. Diese Waffengeschäfte liefen zu Tarnungszwecken zum großen Teil über Drittländer. Dazu gehörten Südafrika sowie eine Reihe europäischer Staaten, darunter auch Schweden und die beiden deutschen Staaten. Der historische Kontext selbst liefert also den Stoff für eine Verschwörung. Einer »Verschwörungstheorie« bedarf es hier nicht.16

Vielleicht mag auch der weiterführende Hinweis hilfreich sein, dass es in der Welt der Geheimdienste nicht nur um Spionage geht. Die meisten Dienste haben einen umfassenden Kampfauftrag. Für den Mossad ist dieser umfassende Kampfauftrag quasi Gründungsvoraussetzung.17 Für die CIA bildet sich dieser Auftrag in den Direktiven des Nationalen Sicherheitsrates NSC 4/A (Dezember 1947), NSC 10/2 und 10/5 (Juni 1948 und Oktober 1951), NSC 158 (Juni 1953) und NSC 5412 (März 1954) gleich nach der Gründung des Geheimdienstes ab. Dem umfassenden Geheimdienstkrieg kam im letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges noch einmal besondere Bedeutung zu.18 Zu einem Gesamtbild gehört aber auch: Selbst die gezielten Tötungen dieser Geheimdienste können nicht verglichen werden mit dem stalinistischen Terror19 und dem industrialisierten Massenmord der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie.20 Die Opfer des sowjetischen Innenministeriums NKWD gehen in die Millionen21 und werden nur noch überragt von den Massenmorden unter Beteiligung von Reichssicherheitshauptamt, SS und SD.22 Wenn heute irgendwo auf der Welt Geheimdienste kontrolliert werden, dann in den Vereinigten Staaten. Insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland gibt es nichts Vergleichbares zum Bericht des US-Senats über die Folterpraktiken der CIA.23

Bei unseren Betrachtungen berücksichtigen wir durchgehend alternative Erklärungsmodelle. Wir greifen auf Dokumente und Zeitzeugen aus einer ganzen Reihe von Geheimdiensten zurück. Ermittlungsakten aus mehreren Ländern kommen dazu. Zusammen wird so ein Blick in die Schattenwelt der Geheimdienste möglich. Doch das Gesamtbild bleibt unklar und verschwommen.

Seit Veröffentlichung der ersten Auflage haben sich weitere Quellen gemeldet, kritische Leserinnen und Leser gaben wichtige Hinweise. Die Autoren selbst haben weiter recherchiert und versucht, den veränderten Forschungsstand vor allem in Europa und den USA zu berücksichtigen. Wir bitten alle, die der vierten Auflage ihr Interesse entgegenbringen, um weitere Informationen. Denn wenn fast alle Beteiligten ein Interesse an einer Vertuschung haben, werden wichtige Zusammenhänge von der Geschichte meist totgeschwiegen.

Patrik Baab und Robert E. Harkavy, April 2019

Einleitung

Dieses Buch erzählt von Schattenkriegern und ihren Opfern. Es führt den Leser in jene verbotene Zone der Geheimdienste, in der nicht nur diskret spioniert, sondern die Drecksarbeit erledigt wird. Wir öffnen ein kleines Fenster in den Maschinenraum des Kalten Krieges und blicken dahin, wo er zu einem heißen, schmutzigen Krieg geworden war. Für Journalisten, Politikwissenschaftler und die Öffentlichkeit sind die CIA, der Mossad, der Bundesnachrichtendienst, das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, der tschechoslowakische STB, die schwedischen Geheimdienste, der frühere KGB (heute FSB) oder der sowjetische Militärgeheimdienst GRU eine solche verbotene Zone. Dies gilt in besonderer Weise für ihre verdeckten Operationen. Alle diese Machenschaften sind streng geheim. Die Namen jener Schattenkrieger, die sie ausführen, bleiben weitgehend unbekannt. Nur in seltenen Fällen gelangen die Akteure solcher Geheimaktionen ans Licht der Öffentlichkeit, und das meist nur durch dummen Zufall. Selbst dann wird selten mehr als ein kleiner Teil des wirklichen Geschehens enthüllt.

Wir lenken den Blick auf drei ungeklärte Todesfälle in der Endphase des Kalten Krieges: auf einen Mord, der nie aufgeklärt wurde; einen angeblichen Suizid, der schwerlich einer gewesen sein kann; einen mysteriösen Unfall, der sich so nicht zugetragen haben kann. Diese drei Beispiele – Olof Palme, Uwe Barschel, William Colby – zeichnen wir nach vor dem Hintergrund einer weltweiten Verschwörung, die nie ganz aufgeklärt wurde: der Iran-Contra-Affäre.

In dieser Schattenwelt sieht der Leser keine James-Bond-Figuren, die mit der Waffe in der Hand den Kommunismus bekämpfen. Er schaut auf Männer in Schlips und Kragen und Frauen im Kostüm, die hinterm Schreibtisch über Leben und Tod anderer entscheiden. Es sind jene Geheimdienstbürokraten, die Falschinformationen streuen, Briefkastenfirmen gründen, Drogengelder waschen, Kriegswaffen schmuggeln, die Ziele von Marschflugkörpern auswählen, Staatsstreiche planen, Mordaufträge erteilen – und die manchmal selbst dabei absahnen. Wir begeben uns tief in die menschlichen Niederungen von Machthunger und Gier, von Skrupellosigkeit und Zynismus. Alle Staaten dieser Welt werden nicht müde zu beteuern, dass ihre Dienste sich an Recht und Gesetz halten. Und doch gibt es diese verbotene Zone nicht nur da, wo der Mossad ein Mordkommando hinschickt.

Politische Morde – das sind Morde, die von politisch Verantwortlichen in Auftrag gegeben werden. Es sind Morde aus politischen Motiven. Und oft sind andere politisch Verantwortliche das Ziel. Es sind Täter, die zu Opfern werden. Und manchmal werden auch Opfer zu Tätern. Die Opfer verstricken sich – oft aus politischer Überzeugung, manchmal aus Gewinnsucht und Eitelkeit, aus dem Bedürfnis nach Macht oder Machterhalt. Und manchmal ist es auch die Versuchung des Intellektuellen, im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Auch unsere drei Protagonisten – Palme, Barschel, Colby – waren überzeugt, einer guten Sache zu dienen.

Am 28. Februar 1986 wurde Olof Palme erschossen. Es geschah kurz vor Mitternacht am Sveavägen, einer Hauptstraße im Zentrum von Stockholm, als er mit seiner Frau aus dem Kino kam und nach Hause ging. Unbegleitet von Sicherheitskräften hatten sich Olof und Lisbet Palme zusammen mit ihrem Sohn und dessen Freundin einen Film angesehen. Der Mörder war aus dem Eingang einer Kunstwarenhandlung getreten. Nach der Tat floh er zu Fuß durch eine schmale Gasse und über einen langen Treppenaufgang in die Seitenstraßen. Es ist unklar, ob dort ein Fluchtfahrzeug auf ihn wartete. Manche wollen dicht am Tatort Männer mit Funkgeräten – Handys gab es noch nicht – gesehen haben. Aber auch das ist ungeklärt. Etliche Passanten wurden Zeuge des Mordes, doch ihre späteren Beschreibungen des Täters blieben unscharf und wichen stark voneinander ab. Trotz intensiver Suche wurden am verschneiten Tatort erst mit großer Verspätung zwei Kugeln entdeckt. Möglicherweise waren sie dort erst nach dem Mord abgelegt worden. Und die Tatwaffe blieb verschwunden.

Später wurden diverse Theorien über Hintergrund und Motiv des Mordes präsentiert. Es ist gut möglich, dass der Mörder nur am Ende einer langen Kette von Mittelsmännern stand und gar nicht wusste, für wen er arbeitete. Möglicherweise hat er Helfer gehabt. Als Drahtzieher im Hintergrund wurden die unterschiedlichsten Kräfte ins Spiel gebracht, darunter die CIA, der Mossad, das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, der russische Geheimdienst KGB, Südafrika, Iran, Irak, der chilenische Diktator General Pinochet, Kroaten, die militante Kurdische Arbeiterpartei PKK, Anhänger des rechten US-amerikanischen Politaktivisten Lyndon LaRouche, rechtsextremistische Polizisten aus Stockholm, Auftragskiller des schwedischen Rüstungskonzerns Bofors, belgische und französische Waffenhändler oder auch ein psychisch gestörter Einzeltäter. Buchstäblich alle diese Kräfte gerieten zeitweise in den Fokus polizeilicher Ermittlungen. Sie dauern seit 30 Jahren an – ohne Ergebnis.

1988 wurde Christer Pettersson, ein psychisch gestörter, alkohol- und drogenabhängiger Straßengangster, dessen Strafregister auch Körperverletzung und eine vorsätzliche Tötung umfasste, festgenommen. 1989 wurde er vor Gericht gestellt und verurteilt. Manche Beobachter sahen darin ein abgekartetes Spiel verzweifelter Ermittlungsbehörden, andere nur einen Ausdruck von Frust und Stümperei. Denn in zweiter Instanz wurde er freigesprochen. 1997 ging die Staatsanwaltschaft in Berufung. Doch das Hohe Gericht lehnte eine neue Verhandlung ab, da keine neuen Beweise vorlagen.

Die ganze Affäre wurde in Schweden zum Gegenstand beinharter Auseinandersetzungen und sorgte noch jahrelang für Schlagzeilen. Eine Theorie, ein Gerücht, ein Beweisstück folgte dem anderen. Und allmählich wurden die Schweden des Falles überdrüssig. Dennoch bleiben bis heute ernste Zweifel, ob es vielleicht doch eine vom Regierungsapparat gesteuerte Vertuschungsaktion gegeben hat – mit dem Ziel, die Ermittlungen massiv zu behindern.

Uwe Barschel war der kometenhafte Aufsteiger der CDU in Schleswig-Holstein. Manche sahen den jungen Ministerpräsidenten auf bestem Weg ins Kanzleramt. Aber er verstrickte sich während des Landtagswahlkampfs 1987, in dem es um seine Wiederwahl ging, in einen schmutzigen Politskandal. Die Barschel-Pfeiffer-Affäre sorgte für das vorzeitige Ende seiner politischen Karriere. Am 2. Oktober trat er von seinem Amt zurück. Danach flüchtete er zusammen mit seiner Frau zu einem Kurzurlaub auf Gran Canaria, wo er seinen Auftritt vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Kiel vorbereiten wollte. Von Gran Canaria flog er allein weiter nach Genf. Am 11. Oktober 1987 wurde er in Zimmer 317 des noblen Hotels Beau Rivage tot in der Badewanne gefunden – neunzehn Monate nach dem Mord an Olof Palme. Sehr bald schon ging die Genfer Polizei von Selbstmord aus, vermutlich auch unter dem Druck bundesdeutscher und amerikanischer Stellen, die offenbar ein nachdrückliches Interesse an dieser Darstellung gehabt haben. Möglicherweise hatten sie allen Grund zu befürchten, Uwe Barschel könnte reden über jene geheimen und rätselhaften Aktivitäten, an denen er teilhatte, insbesondere über seine Rolle als Kontaktmann zwischen dem Bundesnachrichtendienst und der CIA auf der einen Seite und dem Staatssicherheitsdienst der DDR und dem tschechoslowakischen STB auf der anderen Seite bei geheimen Waffengeschäften hinter dem Eisernen Vorhang und dem illegalen Transfer von U-Boot-Technologie in den Apartheidstaat Südafrika, gegen den die Vereinten Nationen ein Embargo verhängt hatten. Zahlreiche heimliche Reisen über die schwer bewachte Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, insbesondere nach Rostock-Warnemünde, aber auch nach Jena und ins Heilbad Piešt’any in der damaligen SSR sind bekannt geworden. Augenzeugen berichten, dass er in Rostock unter anderem mit Vertretern des Ministeriums für Staatssicherheit verhandelte, das im nahegelegenen Kavelstorf ein großes Waffenlager unterhielt. So bizarr, wie das alles erscheint – manches spricht dafür, dass es sich um klandestine Operationen der CIA gehandelt hat, von denen auch das Bundeskanzleramt wusste.

Klar ist eines: Barschel führte ein ausgeprägtes Doppelleben. Er war in geheimdienstliche Operationen verstrickt und spielte eine Rolle im illegalen Waffenhandel. Wir werden darauf zurückkommen und dann versuchen, hierzu neue Rechercheergebnisse anzubieten und teilweise zu einer Neuinterpretation im internationalen Zusammenhang zu gelangen.

Der Fall Barschel und seine Langzeitwirkung stellen ohne Frage einen der größten Politskandale in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands dar. Der mysteriöse Tod hat – genauso wie der unaufgeklärte Mord an Olof Palme – eine unübersehbare Fülle kontroverser Debatten ausgelöst. Auch diese Theorien werden wir vergleichend analysieren. Presseberichte, Filme und Bücher drehen sich vor allem um die Frage, ob es sich beim Tod in Genf um Selbstmord oder um Mord gehandelt hat. Die meisten Autoren, die dem Fall nachgegangen sind, gehen mittlerweile davon aus, dass Barschel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermordet wurde. Offen bleibt auch hier die Frage: von wem und warum? Als mögliche Auftraggeber wurden auch hier abwechselnd die CIA, der Mossad, die Stasi und der Iran verdächtigt – allesamt Kräfte, die in den Iran-Contra-Waffenhandel verwickelt waren. Und dem BND wurde unterstellt, voll im Bilde gewesen zu sein und bei der Vertuschung geholfen, wenn nicht sogar bei dem Mord sekundiert zu haben. Aber die offizielle Version, beim Tod von Uwe Barschel habe es sich um Selbstmord gehandelt, wurde niemals ganz aufgegeben.

Manches spricht dafür, dass ein dritter Mord im April 1996 mit jenem an Olof Palme und dem Tod von Uwe Barschel in Verbindung steht. Es handelt sich um das mysteriöse Ende des früheren CIA-Chefs William Colby. Auch hier schossen zahlreiche Spekulationen, Kontroversen und unterschiedliche Theorien ins Kraut. Auch hier wurden weder Mörder noch Mordwaffe gefunden. Und hier besteht nicht einmal Klarheit darüber, wie Colby umgebracht worden ist. Er kann vergiftet, erdrosselt oder zu Tode gefoltert worden sein.

Zwanzig Jahre zuvor war Colby auf Druck des damaligen US-Außenministers Henry Kissinger von Präsident Gerald Ford als CIA-Direktor gefeuert worden. Seither lebte der inzwischen 76-Jährige ruhig und zurückgezogen in einem schlichten Wochenendhaus, einer alten Austernfischerhütte in Rock Point im US-Bundesstaat Maryland, gelegen am Potomac kurz vor dessen Mündung in die Chesapeake Bay, die ihm als Zweitwohnsitz diente. An jenem 27. April 1996 hielt sich Colby dort alleine auf. Seine Frau, eine leitende Mitarbeiterin des Außenministeriums, besuchte gerade ihre Mutter in Houston. Der offiziellen Version zufolge brach Colby in der Dämmerung zu einer Paddeltour mit seinem Kanu auf, ließ eine angebrochene Mahlzeit und ein halbleeres Glas Wein auf dem Tisch stehen und ebenso den eingeschalteten Computer zurück – ein seltsames Verhalten für einen Mann, der als ordentlich und penibel galt.

Einige Tage später wurde sein Kanu am Strand ganz in der Nähe seines Hauses gefunden. Trotz eines Großeinsatzes rund um die Uhr mit Booten, Hubschraubern und Suchtrupps tauchte seine Leiche erst acht Tage danach auf, nur 40 Meter von der Stelle entfernt, an der das Boot angetrieben worden war. Die Polizei vor Ort und die zuständige Gerichtsmedizin sprachen von einem Bootsunglück. Colby habe einen Herzinfarkt erlitten und sei aus dem Kanu gestürzt. Weder die Bundespolizei FBI noch die CIA wollten eigene Ermittlungen aufnehmen.

Erst einige Zeit später gelang mehreren Journalisten trotz der amtlichen Nebelkerzen der Nachweis, dass es sich um einen Mord gehandelt haben muss. Denn Colbys Kanu war mit Sand gefüllt, damit es nicht auf See hinaustreiben konnte. Seine Leiche wurde acht Tage später an einem Platz gefunden, der bereits mehrfach abgesucht worden war, und er konnte offensichtlich nicht die ganze Zeit über im Wasser gelegen haben. Rettungsweste und Paddel blieben verschwunden, und ein rätselhaftes Abschleppseil war noch am Kanu befestigt. Aber auch hier bleibt die Frage offen, wer der Mörder war und welches Motiv er gehabt haben mag.

Colby war alles andere als ein unbescholtener Mann. In seiner aktiven Zeit fungierte er als Leiter der berüchtigten Operation Phoenix in Vietnam, bei der – je nach Quelle – zwischen 20 000 und 50 000 angebliche Vietcong-Anhänger, Dorfälteste und andere Funktionäre ermordet worden waren. Er selbst gestand mindestens 20 000 Morde ein und hielt dies für bedauerlich, aber in einem schmutzigen Krieg für unvermeidlich.1 Möglicherweise ist das Mordmotiv darin zu suchen, dass er sich in der CIA unbeliebt gemacht hatte, als er eine ganze Reihe von Agenten feuerte und bei seinen Auftritten vor mehreren Untersuchungsausschüssen des Kongresses die Abgeordneten über verdeckte Operationen der Agency informierte: Bestechung ausländischer Politiker2, Mordkommandos, die Mitwirkung bei politischen Umstürzen, und so weiter.

Vielleicht sollte man bei der Suche nach Motiven und Gründen jedoch eher Colbys Spätphase genauer unter die Lupe nehmen, jene Jahre nach seinem Ausscheiden aus der CIA, in denen er sich in ein angeblich ruhiges, anonymes Leben als Rechtsanwalt zurückgezogen hatte. Denn so ruhig dürfte dieses Leben gar nicht gewesen sein. Colby war tätig als generalbevollmächtigter Rechtsanwalt der berüchtigten australischen Nugan Hand Bank. Als sie 1980 zusammenbrach, wurde einer der beiden Geschäftsführer in Australien ermordet, während der andere spurlos verschwand und erst 2015 unter falschem Namen in Idaho wieder auftauchte. Viele der Figuren, die später in die Iran-Contra-Affäre verwickelt waren, wie der legendäre CIA-Mann Ted Shackley – auch er tief verstrickt in das Phoenix-Programm in Vietnam –, hatten in unterschiedlicher Weise Verbindungen zur Nugan Hand Bank. Durch seine Position als generalbevollmächtigter Anwalt konnte Colby tiefe Einblicke in die Waffen- und Drogengeschäfte der Bank gewinnen. Er machte auch Deals mit dem früheren KGB-General Oleg Kalugin, genauso wie Vincent Cannistraro, der Oliver North und anderen Beteiligten an der Iran-Contra-Affäre nahestand.3 Alles deutet darauf hin, dass es bei Colbys Tod – ähnlich wie im Falle Barschel – darum ging, jemanden zum Schweigen zu bringen, von dem zu befürchten war, er könne – aus Gewissensgründen oder aus Kalkül – etwas ausplaudern.

Auf den ersten Blick scheinen die drei Todesfälle nichts miteinander zu tun zu haben. Sie wurden in verschiedenen Ländern begangen, zwischen dem ersten und dem letzten liegt ein Zeitraum von zehn Jahren. Dennoch gibt es bestechende, spannende Verbindungslinien. Tatsächlich sind in den ersten beiden Fällen mögliche Zusammenhänge schon ansatzweise beschrieben worden. Was die vorhandenen kausalen Zusammenhänge verbindet, ist der Iran-Contra-Skandal. Am US-Kongress vorbei wurden Iran in einem komplizierten Geflecht politischer Geheimoperationen Waffen verkauft und die Erlöse genutzt, um die antisandinistischen Contra-Rebellen in Nicaragua mit Waffen zu versorgen, während gleichzeitig US-Geiseln in der Hand der Hisbollah im Libanon freigelassen werden sollten. Diese Geschäfte wurden zu Geheimhaltungszwecken meist über Drittländer abgewickelt. Die Forschung dazu ist kaum noch übersehbar, und doch bleiben weite Teile der Verschwörung bis heute im Dunkeln.

Welche besondere Rolle haben die drei Akteure Palme, Barschel und Colby im Rahmen der Iran-Contra-Affäre gespielt? War William Colby gar zentrales Glied einer Befehlskette in Washington, an deren anderem Ende Uwe Barschel und Teile seines Umfelds in Kiel, aber auch höchste Regierungskreise in Stockholm standen? Und war, wie der US-Journalist Kenneth R. Timmerman behauptet, ihr Tod die Blutspur einer weltweiten »Säuberungsaktion«, mit der unliebsame Zeugen und abtrünnige Helfer einer politischen Verschwörung aus dem Weg geräumt werden sollten, weil ihre Enthüllungen die politische Zukunft von US-Präsident Ronald Reagan und vor allem die seines Vizepräsidenten George H.W. Bush hätten gefährden können?

Im Fokus steht hier der Zusammenhang des Mordes an Olof Palme mit dem Tod von Uwe Barschel in Genf und der Rolle von William Colby. Dennoch zog die Affäre weitere Kreise, die nicht ausgeblendet werden sollten. Natürlich gibt es in weiten Teilen der Literatur und der Internet-Blogs über »Verschwörungstheorien« die Tendenz, unendlich viele wirre Zusammenhänge herzustellen, bis buchstäblich alles mit allem irgendwie zusammenhängt. Manchmal jedoch mag es sich lohnen, Entlegenes und Disparates miteinander zu kombinieren. So stellt die Literatur zum Mord an John F. Kennedy Verbindungen her zum Vietnamkrieg, zum Schweinebucht-Desaster, zu den Anschlagsversuchen auf Fidel Castro, zu geheimdienstlichen Intrigen im Kalten Krieg, Machtkämpfen innerhalb der Mafia, der Rolle des organisierten Verbrechens in Hollywood und Las Vegas sowie zu seiner Affäre mit Marilyn Monroe. Dies trifft auch auf den Palme-Barschel-Colby-Nexus zu. Soweit es Belege für diese Spuren gibt, werden wir dem nachgehen; dagegen lassen wir aus, was offensichtlich an den Haaren herbeigezogen erscheint.

Es gibt auch Hinweise, dass in den Jahren nach dem Mord an Palme und Barschels Tod in Genf eine Reihe von Personen in deren Umfeld auf mysteriöse oder überraschende Weise ums Leben kam. Das ist durchaus eine Parallele zum Kennedy-Mord. Auch hier wurden in der Folgezeit fünfzehn bis zwanzig Personen ermordet oder zumindest sehr wahrscheinlich ermordet. Teilweise kamen sie durch Schusswaffen, andere bei Unfällen, durch Herzinfarkte, Krebserkrankungen oder bei angeblichen Suiziden ums Leben. Einer davon könnte möglicherweise auch William Colby gewesen sein. In keinem einzigen Fall wurde jemand angeklagt oder verurteilt. Ähnlich liegen die Dinge im Fall Barschel. Hier sei nur der Schweizer Detektiv Jean-Jacques Griessen erwähnt, der nach eigenen Angaben kurz davor war, den Tod des ehemaligen Ministerpräsidenten aufzuklären. Er erlitt angeblich einen Herzinfarkt im Zimmer einer Zürcher Prostituierten, eine Version, die kaum ein Kenner von Griessen glaubt. Der Filmemacher Allan Francovich, der in einer bemerkenswerten Dokumentation die Rolle der CIA beim Lockerbie-Attentat beleuchtete und einen weiteren Dokumentarfilm über den Palme-Mord plante, starb an der Gepäckausgabe des Flughafens von Houston/Texas. Angebliche Todesursache war auch hier eine Herzattacke. Die schwedische Journalistin Cats Falck, die den Waffengeschäften Schwedens mit der DDR und damit der Nord-Süd-Pipeline auf der Spur war, wurde zusammen mit einer Freundin in ihrem Wagen aus dem Stockholmer Hammarby-Kanal gezogen. Auch hier deutet einiges eher auf einen Mord als einen Unfall hin.

Bei unseren drei Fällen handelt es sich um drei der wichtigsten politischen Morde (dazu zählen auch die Anschläge auf die Kennedy-Brüder John F. und Robert sowie der auf Martin Luther King) in der westlichen Welt im vergangenen Jahrhundert. Alle drei – darin dem Mord an John F. Kennedy vergleichbar – sind bis heute nicht aufgeklärt. Wie wir zeigen werden, folgten ihnen massive Vertuschungsaktionen von Seiten der jeweiligen Regierungen, in unseren Fällen insbesondere der Regierungen Schwedens, Westdeutschlands und der Vereinigten Staaten. Sie mögen losgelöst voneinander und unverbunden erscheinen, aber es gibt gute Gründe anzunehmen, dass sie allesamt zu den Ausläufern der Iran-Contra-Affäre gehören. Insoweit existiert ein innerer Zusammenhang zwischen ihnen: Sie sind Teil einer einzigen Geschichte.

In allen anderen politischen Mordfällen in der westlichen Welt des vergangenen Jahrhunderts – wir nehmen hier einmal Staatsstreiche und Putschversuche aus – ist etwas über die Mörder und ihre politischen Motive im Hintergrund bekannt. Dies trifft beispielsweise auf den Mord am deutschen Außenminister Walter Rathenau 1922 in Berlin zu, aber auch auf Reinhard Heydrich, der 1942 in Prag von tschechischen Partisanen ermordet wurde, auf den Anschlag auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand 1914 in Sarajewo, auf Leo Trotzki, den Stalin 1940 in Mexiko mit einem Eispickel erschlagen ließ, oder auf den Chilenen Orlando Letelier und dessen Freundin Ronni Karpen Moffitt, die die Geheimpolizei des Diktators Pinochet 1976 in Washington ermordet hat. Mit Blick auf die Dritte Welt wären die Mordanschläge auf Anwar as-Sadat 1981 in Ägypten, auf König Abdullah von Jordanien 1951 in Jerusalem, auf Jitzchak Rabin 1995 in Tel Aviv, auf Indira und Rajiv Ghandi 1984 in Neu-Delhi und 1991 bei Madras, auf Benazir Bhutto 2007 in Rawalpindi, auf den irakischen König Faisal II. und seinen Premierminister Nuri-as Said 1958 in Bagdad sowie die Flut von Attentaten auf höchster Regierungs- und Militärebene in Japan vor Beginn des Zweiten Weltkrieges zu erwähnen. In allen diesen Fällen konnten die Täter ausfindig gemacht und die politischen Motive geklärt werden. In Afrika fanden zahlreiche Staatsstreiche statt, die mit Mordanschlägen in Verbindung standen. Aber die drei von uns ausgewählten Fälle ragen heraus. Denn so wie beim Attentat auf John F. Kennedy konnten hier die Täter nie ausfindig gemacht, kein Schuldiger zur Verantwortung gezogen, die politischen Motive hinter den Morden nie ganz geklärt werden. Sie waren nicht einmal Gegenstand ernsthafter Debatten. Dies soll sich mit diesem Buch ändern.

Tote können nicht mehr sprechen. Das ist in allen drei Fällen der Grund, warum sie sterben mussten. So bleiben als Quellen Dokumente, Zeitzeugen und Weggefährten. Wir haben streng vertrauliche Dokumente mehrerer Geheimdienste herangezogen und ausgewertet. Wir haben mit Geheimdienstlern, Ex-Spionen und Geheimdienstkontrolleuren aus sieben verschiedenen Staaten gesprochen. Kaum einer war bereit, vor Mikrofon und Kamera Auskunft zu geben. Die meisten wollten anonym bleiben, manche nicht einmal indirekt zitiert werden. Ihre Hinweise und Informationen gehen in dieses Buch auch da ein, wo eine Quellenangabe fehlen muss. Wenn auch die Herkunft als geheim gestempelter Dokumente rückverfolgbar ist, so kann ihre Echtheit letztendlich nicht überprüft werden. Dies ist das Dilemma einer Studie über die Schattenwelt der Geheimdienste. Aus vielen kleinen Teilen und Versatzstücken setzt sich ein Puzzle zusammen, und wir glauben, ein Gesamtbild zu erkennen. Aber der Leser sollte immer im Auge behalten, dass noch viele Teile fehlen und uns verborgen bleiben. Wir wissen nicht, welche und was sie zeigen. Das Bild als Ganzes – es existiert noch nicht.

Kapitel 1

Olof Palme

Eine sonderbare Begegnung

Am späten Nachmittag des 24. Dezember 1989 verlässt Robert Harkavy die Penn State University und fährt nach Hause. Wie immer zur Weihnachtszeit ist es bereits dunkel in Pennsylvania, die Straßen sind verschneit. Auf der East College Avenue hält er noch einmal an zum Tanken. Beim Bezahlen kauft er noch eine New York Times und schaut aufs Titelblatt. Der Aufmacher ist ein Artikel von Michael Wines: »Portrait of Pan Am Suspect: Affable Exile, Fiery Avenger« (»Porträt des Pan-Am-Verdächtigen: freundlicher Flüchtling und Racheengel«). Es geht um den mutmaßlichen Täter des Flugzeugattentats von Lockerbie am 21. Dezember 1988. Daneben ein Foto – angeblich der arabische Terrorist Mohammed Abu Talb (siehe Foto 1 auf Seite 384). Robert Harkavy erkennt den Mann sofort. Dieses Gesicht hatte er schon einmal gesehen, damals in Stockholm. Aber war das wirklich Abu Talb?

Es war im August 1985 in Stockholm. Die Weißen Nächte waren schon vorbei. Trotzdem wurde es nachts kaum dunkel. Kurz nach Mitternacht verlässt Robert Harkavy seine Wohnung und läuft die Döbelnsgatan entlang Richtung Bolaget, einem beliebten Nachtcafé, das erst gegen 4:00 Uhr schließt. Mit einem Fulbright-Stipendium arbeitet er am Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) – der erste amerikanische Konservative, der bei SIPRI einsteigt. Bereits die Umstände, unter denen Robert E. Harkavy zu dem als amerikakritisch geltenden Institut kommt, sind bemerkenswert.

Im Frühjahr 1985 arbeitet Harkavy als Gastprofessor an der Universität Kiel. Dort erreicht ihn ein Anruf von Frank Blackaby. Der SIPRI-Direktor bittet Harkavy, nach Stockholm zu kommen.1 Blackaby steht unter Druck. Einer seiner Mitarbeiter, der linksgerichtete Neuseeländer Owen Wilkes, hatte im Rahmen eines Forschungsprojektes über Militärbasen im Ausland einen Artikel über OMEGA, ein Kommunikationssystem für U-Boote, geschrieben. Dabei befasste er sich auch mit US-Stützpunkten in Übersee. Owen Wilkes wollte herausfinden, ob Schweden den Vereinigten Staaten die Nutzung einige seiner Militärbasen gestattete. So reiste er auch auf die Insel Gotland, wo er Radarstationen fotografierte. Wilkes wurde verhaftet und – obwohl andere SIPRI-Mitarbeiter wie Connie Wall deutlich machten, dass er alles andere als ein Spion war – wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit für die Sowjetunion angeklagt. So geriet auch SIPRI-Chef Frank Blackaby unter Verdacht, ein Sympathisant Moskaus zu sein, und versuchte sich mit einer dezidiert konservativen Stellenbesetzung abzusichern. Dafür schien ihm Robert E. Harkavy der richtige Verteidigungsexperte, denn der Amerikaner gehörte zum Kreis der Neo-Konservativen um Paul Wolfowitz und schrieb an einem Buch über exterritoriale Militärbasen.2

Als Harkavy bei einem Empfang von Neocons in Washington erwähnte, dass er ein Angebot von SIPRI habe, stieß dies nicht gerade auf Begeisterung. Er ging trotzdem – und setzte die Arbeit von Owen Wilkes fort. Gestützt auf dessen Unterlagen, fand er heraus, dass die USA tatsächlich schwedische Militärstützpunkte nutzten, insbesondere Karlskrona und Muskö, eine streng geheime Basis für U-Boote und Zerstörer. Wie vor ihm der Neuseeländer kam auch Harkavy zu dem Ergebnis, dass das offiziell neutrale Schweden heimlich in die NATO-Strategie integriert war. Owen Wilkes kam später ums Leben, angeblich durch eigene Hand. Die näheren Umstände sind nicht geklärt.

An jenem Sommerabend im August 1985 in Stockholm findet sich Robert E. Harkavy an der Bar des Bolaget neben einer jungen Frau und einem Araber wieder. Man kommt ins Gespräch. Die Frau ist eine Schwedin, etwa 24 Jahre alt, sehr schlank, blond, die fließend Englisch spricht. Der Araber ist etwa 30 Jahre alt, sein Englisch ist schlecht, er hinkt, und er gibt sich als Marokkaner aus. Als das Bolaget schließt, diskutieren die drei noch eine Zeitlang auf der Straße weiter. Dem Araber – vielleicht war er angetrunken – rutscht heraus, er arbeite »für das amerikanische Militär und die NATO«. Ein junger Araber im neutralen Schweden, der für das US-Militär und das westliche Bündnis arbeitet? Eine seltsame Sache. Ein Taxi kommt, der Araber und die junge Schwedin steigen ein, Harkavy geht nach Hause. Ein halbes Jahr später wird Olof Palme ermordet. Ein Zeuge berichtet, der Mörder sei ein Araber, der hinkt.

Am Silvestertag 1989 sucht Robert Harkavy die schwedische Botschaft in Washington auf. Dort, in einem Restaurant im Watergate Building, spricht er mit zwei Sicherheitsleuten über den Araber im Bolaget und das Foto. Ein paar Wochen später trifft er den schwedischen Botschafter Anders Thunborg. Kurz darauf meldet er sich bei der CIA, um seine Beobachtung auch dem Geheimdienst mitzuteilen. In Washington trifft er zweimal einen Offizier, der sich David Bresset nennt. Dann redet er im Marriott Key Bridge Hotel auf halbem Weg nach Langley, dem Sitz der CIA-Zentrale, mit Vincent Cannistraro, dem Chef der Antiterrorgruppe. Der wirkt nicht glücklich, als er die Geschichte mit dem Treffen im Bolaget hört. Später erfährt Harkavy von Freunden beim Geheimdienst, er habe einen Alarm ausgelöst und sei auf einer »burn list« der CIA gelandet.

Ein paar Monate später besucht Harkavy wieder Stockholm. Im Hauptquartier der Stockholmer Polizei in der Polhemsgatan 30 will er die seltsame Sache mit dem Araber und dem Foto nun auch zu Protokoll geben. Er wird von drei Beamten vernommen. Der eine, Kent Rasmussen, war von der SÄPO, der Sicherheitspolizei, an die CIA »ausgeliehen« worden und machte sich später mit einer Sicherheitsfirma selbständig. Die beiden anderen sind Bengt Odmark und ein »Roger«. Lange Zeit später hört Harkavy, im Abschlussbericht der Palme-Kommission sei er erwähnt worden als »amerikanischer Professor, der die Ermittlungen behindert und im Auftrag der CIA missgeleitet habe«. Die schwedische Polizei spannt auch die Presse ein, um Harkavy als Schwindler hinzustellen.

Lange vorher schon hat der Dagens Nyheter-Reporter Olle Alsén Harkavy ein Polizeifoto von Abu Talb gegeben, der seit 1989 wegen zweier Bombenanschläge in Kopenhagen und Amsterdam in Schweden eine lange Freiheitsstrafe verbüßte (siehe Foto 2 auf Seite 384). Doch dieses Foto von Abu Talb zeigt offenbar einen anderen Mann. Harkavy will sichergehen und besucht die Redaktion von Reuters in Stockholm. Dort soll das Original des Fotos aus der New York Times zu finden sein, das angeblich Abu Talb zeigt. Doch schockiert kehrt eine Reuters-Mitarbeiterin aus dem Archiv zurück. Das Originalfoto ist verschwunden: »So etwas hat es hier noch nie gegeben!«

1994 sieht Robert Harkavy den Dokumentarfilm The Maltese Double Cross von Allan Francovich. Der macht die CIA für den Bombenanschlag von Lockerbie mitverantwortlich. Auch ein Foto von Abu Talb taucht in dem Film auf. Darauf ähnelt er weniger dem Mann auf dem Reuters-Bild in der New York Times, sondern eher dem auf dem Fahndungsfoto der schwedischen Polizei. Harkavy nimmt Kontakt zu Francovich auf. Auch der recherchiert jetzt den Mord an Olof Palme. Die beiden bleiben in Verbindung. Kurz vor seinem Tod am 23. März 1997 schickt er Robert Harkavy einen Brief. Darin befindet sich ein Foto, das einen offenbar aus dem Nahen Osten stammenden Mann zeigt (siehe Foto 3 auf Seite 384). Francovich hat Hinweise, es handle sich um den Mörder von Olof Palme. Auf der Rückseite des Fotos eine handschriftliche Notiz: »Hamid Dadashnijad, geboren 1953 in Teheran«.

Blut im Schnee

Olof Palme wurde 1986 in einer eiskalten Nacht Ende Februar auf einer Hauptverkehrsstraße in der Stadtmitte von Stockholm erschossen (siehe die Karte auf Seite 381). Nach einem Kinobesuch war er gerade mit seiner Frau auf dem Nachhauseweg.3 Der Mörder floh in eine Gasse, lief eine lange Treppenflucht hinauf und verschwand in einem alten Stockholmer Viertel voller enger Straßen. Er wurde von einigen Personen gesehen, doch zumeist nur aus großer Entfernung. Die Mordwaffe blieb verschwunden. Vor einem Zivilgericht angeklagt wurde ein betrunkener oder von Drogen betäubter Psychopath namens Christer Pettersson. Der Schuldspruch stützte sich lediglich auf Indizienbeweise. Das Urteil wurde später durch Berufung an einem höheren Gericht aufgehoben. Inzwischen ist er längst tot, möglicherweise ermordet.

Seither schossen eine Fülle von Theorien über den Hintergrund des Mordes aus dem Boden: ein »einsamer verrückter Killer«, rechte »Faschistenbullen«, Kurden, Amerikaner, Israelis, Chilenen, Süd-Afrikaner, Iraker, Iraner, Kroaten, Auftragskiller der schwedischen Rüstungsindustrie, Waffenschieber, die Haubitzen nach Indien verkauften. Die gesamten Ermittlungen wirken im Nachhinein so, als ob sie wie von einer unsichtbaren Hand behindert und blockiert worden wären. Die meisten Schweden hatten schon die Hoffnung aufgegeben, jemals eine Antwort zu erhalten. Doch im Februar 2018 erklärte der schwedische Generalstaatsanwalt und Palme-Ermittler Krister Petersson, dass sich der damals angeklagte Christer Pettersson gar nicht am Tatort befunden habe und die Einzeltätertheorie damit in die Irre gehe. Die Zeugen, die Pettersson belastet hatten, seien von offizieller Seite dafür bezahlt worden: »Bei diesen Ermittlungen gibt es viele Merkwürdigkeiten. Im Falle Christer Pettersson muss man sich fragen, ob die Polizei ein Motiv hatte, ihn zu belasten. Sie hat Zeugen manipuliert, und beim Blick in die Akte erkennt man, dass sie sich eine gute Geschichte zurechtgelegt hatte. Aber ein schlüssiges Gesamtbild ergibt sich daraus nicht.« Damit bricht die Einzeltätertheorie in sich zusammen. Krister Petersson wird so möglicherweise zum ersten Ermittlungsleiter im Fall Palme, der nicht Teil einer Vertuschung ist. 4

Fast alle Aktivitäten und Geschäftstermine von Olof Palme an diesem schicksalhaften 28. Februar 1986 sind analysiert worden. Der Ministerpräsident ging abends mit seiner Frau ins Kino. Sie trafen sich dort mit einem ihrer Söhne und dessen Freundin. Der chronologische Ablauf vom Zeitpunkt des Mordes um 23:21:20 Uhr bis zur Abfahrt des Krankenwagens um 23:27:50 Uhr wurde auf die Minute bzw. Sekunde genau untersucht. Detailliert sind auch die Rollen und Handlungsweisen zahlreicher Zeugen, der Polizei und des Krankenwagenpersonals betrachtet worden.

Am Morgen seines letzten Tages nahm Olof Palme um 11:00 Uhr einen Termin von womöglich entscheidender Bedeutung wahr: ein Treffen mit dem irakischen Botschafter Muhammad as-Sahhaf. Mehr als anderthalb Jahrzehnte später, im Frühjahr 2003, wurde dieser Botschafter als Saddam Husseins Propagandaminister wegen seiner irrwitzigen Falschmeldungen über den Verlauf der US-Invasion unter dem Namen »Bagdad Bob« oder »Comical Ali« bekannt. Das Treffen mit Palme dauerte eine Stunde. Nach 13:00 Uhr erschien Palme zu spät zu einem anderen Termin. Das war ungewöhnlich für ihn. Er wirkte durcheinander. Laut Bondeson soll er, an seinem Bürofenster stehend, gewitzelt haben: »Man weiß nie, was vielleicht da draußen auf mich wartet.«5 Hatte das etwas mit seinem Treffen mit dem irakischen Botschafter zu tun? Hatte sich der Botschafter etwa über Berichte beklagt, denen zufolge es heimliche Waffenlieferungen des schwedischen Rüstungskonzerns Bofors an den Iran gab, obwohl die doch offiziell gestoppt worden waren? Aber Palme kann nach diesem Treffen auch einfach weitere Telefonate geführt haben, die ihn aus irgendeinem Grund irritiert und beunruhigt haben.

Am Abend gegen 18:30 Uhr entschloss sich Palme kurzfristig zu einem Kinobesuch. Im Kino Grand wollte er sich Die Gebrüder Mozart ansehen. Es gibt Presseberichte, denen zufolge Palme unmittelbar vor dem Verlassen seiner Wohnung noch mit seiner angeblichen Geliebten Emma Rothschild in Boston telefoniert haben soll.6 Einige Polizeiermittler und Journalisten sind davon überzeugt, dass, wer auch immer Palme getötet haben mag, sein Telefon abgehört haben muss. Denn der Täter musste wissen, in welches Kino Palme gehen würde, wenn er einen Anschlag vorbereiten wollte. Einige behaupten, es sei die schwedische Polizei selbst gewesen, die sein privates Telefon abgehört hat. Dazu gehört auch Ole Dammegard. Er macht sogar eine besondere Gruppe von Polizisten, die »Anti-Palme-Polizei«, für die Tat mitverantwortlich. 1986 war es wahrscheinlich nur den USA und der UdSSR möglich, Telefongespräche über Satelliten zu belauschen. Natürlich kann auch das Telefon von Emma Rothschild in Boston verwanzt gewesen sein. Wenn man einmal absieht vom Christer-Pettersson-Szenario, also dem Szenario eines Mordes durch einen psychopathischen Einzeltäter, und einen geplanten Anschlag voraussetzt, dann ist offensichtlich, dass ein gründlich vorbereiteter Mord von der genauen Kenntnis von Palmes Weg zum Kino abhing. Über ein verwanztes oder von Satelliten abgehörtes Telefon kann die Verabredung mit seinem Sohn mitgehört worden sein.

Palmes Apartment lag in der Stockholmer Västerl

nggatan, einer engen Straße in einem dichtbesiedelten Viertel der Altstadt voller Restaurants und Geschäfte. Von dort gingen Palme und seine Frau eine kurze Strecke bis zur U-Bahnstation Gamla Stan. Presseberichten zufolge sollen ein oder mehrere verdächtige Männer am Eingang ihres Wohnhauses gesehen worden sein. Diese Information kann aber auch nur reines Hörensagen sein. Dammegard schreibt, Zeugen hätten Männer mit Handfunkgeräten in der Nähe von Palmes Apartment gesehen. Mobiltelefone gab es damals noch nicht. Andere Zeugen berichteten von einem weiteren Walkie-Talkie-Mann in der U-Bahnstation.

Die Palmes kamen ohne Zwischenfälle bis zum Kino und reihten sich in die Schlange an der Kinokasse an wie jeder andere auch. Was dann geschah, wurde von Bondeson in all seiner Komplexität und Variantenvielfalt detailliert wiedergegeben. Spätere Berichte reden von einem seltsamen Mann, der sich vor und während der Vorstellung vor dem Kinoeingang herumgetrieben haben soll (siehe die Karte auf Seite 382) Bis heute ist unklar, ob es ihn wirklich gegeben hat. Er wurde später nach dem Namen des Kinos als »Grand-Mann« bezeichnet. Manche leiteten daraus ab, dass er der Killer gewesen sein muss. Diesem Ansatz zufolge soll sich der Grand-Mann bereits zuvor eine Waffe besorgt haben und sei nun Palme nach Verlassen des Kinos gefolgt, um ihn ein paar Häuserblocks weiter zu töten. Andere Theorien besagen, der Grand-Mann sei der Späher eines Killerteams gewesen. Denn sein Aussehen unterschied sich Zeugen zufolge von dem des Täters. Dieser Späher habe mit dem Mörder kommuniziert, sobald die Palmes aus dem Kino gekommen seien und es ersichtlich wurde, dass sie zu Fuß nach Hause gehen und nicht die U-Bahn nehmen würden. Bondeson und Dammegard gehen nicht auf die weiteren unzähligen Berichte von Walkie-Talkie-Männern in der Nähe des Kinos ein. Wenn sie existiert haben, ist es durchaus möglich, dass sie zu einem Mordkommando gehört haben. Dammegard zählt eine Reihe von Zeugenberichten über Polizeiautos auf, die um den Tatort herum gesichtet wurden. Einige davon sollen mit aufwendigen Kommunikationssystemen ausgestattet gewesen sein. Auch wenn wir davon ausgehen, dass der Grand-Mann nicht der Mörder war, spielt er trotzdem eine Schlüsselrolle bei der Beantwortung der Frage, ob Palme von einem Einzeltäter oder von einem Mordkommando getötet wurde, das möglicherweise aus politischen Gründen auf ihn angesetzt worden war.

Die Palmes liefen die Hauptverkehrsstraße Sveavägen hinunter und wechselten dann auf die andere Straßenseite. Vielleicht wollte sich Lisbet Palme ein Schaufenster ansehen. Die kommende Stichstraße hieß Tunnelgatan. Dort befand sich die nächste, ihrer Wohnung näher liegende Haltestelle der U-Bahnlinie, die sie auf ihrem Hinweg genommen hatten. Als sie sich dieser Straße näherten, tauchte plötzlich aus dem Dunkel ein Mann vor dem Dekorima auf, einem Geschäft für Künstlerbedarf. Er holte die Palmes von hinten ein. Dann feuerte er den ersten tödlichen Schuss, dann den zweiten, der Lisbet Palme angeblich streifte. Der Palme-Experte Lars Borgnäs betont – wie auch der Ermittler Roland Segerman –, dass der Mörder genau in eine bestimmte Stelle des Rückenmarks traf. Palme war sofort tot – ein Indiz für die Tat eines Profis: «Es war ein geplanter Auftragsmord. Der Mörder entfernte sich gehend, weil er sich sicher fühlte. So verhält sich ein Profikiller oder ein Soldat. Er war sich sicher, dass er die tödliche Stelle genau getroffen hatte. Das deutet auf einen Angehörigen von Spezialkräften.« 7

Mehrere Zeugen haben die Tat beobachtet: ein Taxifahrer, Personen in einem parkenden Auto, die gerade auf einen am Geldautomaten stehenden Mitfahrer warteten, und einige Fußgänger, die auf dem Sveavägen hinter den Palmes hergingen. Einige Zeugen haben später ausgesagt, dass sich Palme dort mit jemandem getroffen habe. Wenn es so war, dann stellen sich auch Fragen zu seinem Treffen mit dem irakischen Botschafter am Vormittag, insbesondere zu seiner Nervosität, seiner Verspätung beim Folgetermin und seinem teilweise paranoiden Verhalten am Nachmittag. Es ist auch nicht klar, warum die Palmes in dieser eiskalten Nacht zu Fuß gegangen sind. Wollten sie tatsächlich nur etwas frische Luft schnappen? Warum hatte Palme zuvor seine Leibwächter weggeschickt? Und warum wählten die Palmes bei diesem ungemütlichen kalten Wetter nicht einfach den kürzesten Weg nach Hause?

Bondeson kommt zu dem Schluss, Palme habe sich mit jemandem dort verabredet. Diesem Szenario zufolge lief der Mörder einen kurzen Weg mit Palme, legte seinen Arm um seine Schulter und erschoss ihn dann plötzlich.8 Mehrere Zeugen haben die Tat beobachtet: ein Taxifahrer, Personen in einem parkenden Auto, die gerade auf einen am Geldautomaten stehenden Mitfahrer warteten, und einige Fußgänger, die auf dem Sveavägen hinter den Palmes hergingen. Einige Zeugen haben später ausgesagt, dass sich Palme dort mit jemandem getroffen habe. Wenn es so war, dann stellen sich auch Fragen zu seinem Treffen mit dem irakischen Botschafter am Vormittag, insbesondere zu seiner Nervosität, seiner Verspätung beim Folgetermin und seinem teilweise paranoiden Verhalten am Nachmittag. Es ist auch nicht klar, warum die Palmes in dieser eiskalten Nacht zu Fuß gegangen sind. Wollten sie tatsächlich nur etwas frische Luft schnappen? Warum hatte Palme zuvor seine Leibwächter weggeschickt? Und warum wählten die Palmes bei diesem ungemütlichen kalten Wetter nicht einfach den kürzesten Weg nach Hause?

Der Tatort ist ein Albtraum für jeden Ermittler. Mehrere Zeugen haben den Mord gesehen, darunter ein Taxifahrer, eine Person im Auto, ein Mann und zwei junge Frauen, die hinter den Palmes hergingen. Ein anderer Mann kam aus einer Seitengasse und versuchte, dem Täter die Stufen der Tunnelgatan hinauf zu folgen. Zwei weitere Personen sahen den Killer weiter oben auf der Treppe laufen. Bei der Notfallzentrale und bei der Polizei gingen Anrufe ein. Zwei Polizeiautos erreichten dicht nacheinander den Tatort. Ein weiterer Einsatzwagen mit vier Polizisten parkte oben an der Treppe. Als der Mörder die Treppe hinaufgelaufen kam, waren sie gerade erst weggefahren.

Wie unter diesen Bedingungen nicht anders zu erwarten, herrschte unmittelbar nach dem Mord Verwirrung und Chaos. Die Ereignisse folgten blitzartig aufeinander. Das zeigen die Zeitleisten, die Bondeson, Dammegard und der spätere Ermittlungsleiter Hans Holmér angelegt haben. Der erste Polizeibus erreichte den Tatort nur vier Minuten nach dem Mord. Der Krankenwagen wurde etwas mehr als zwei Minuten nach der Tat gerufen. Eine Minute später wurde der Polizeialarm ausgelöst. Kurz danach erreichte der Krankenwagen den Tatort. Er verließ ihn nur sechseinhalb Minuten nach den Schüssen. Alles ging sehr schnell. Nicht nur Dammegard kommt zu dem Ergebnis, dass gerade wegen des kurzzeitigen Durcheinanders und der Verzögerungen bei den Einsatzkräften die Polizei in den Mord verwickelt gewesen sein muss. Allerdings scheint uns die Ankunft des ersten Polizeifahrzeugs nach weniger als vier Minuten keine Verzögerung zu sein.

Eher könnte man vielleicht der Einsatzleitung der Polizei vorwerfen, nicht alle Polizeibezirke gleichzeitig und effektiv alarmiert zu haben. Immerhin reagierten aber einige Kriminalbeamte, die gerade Dienst hatten. Über Funk gaben sie an alle Taxi- und Busfahrer in Stockholm-Mitte Informationen über den Mord weiter. Auch eine grobe Täterbeschreibung wurde durchgegeben. Schwerwiegender mag gewesen sein, dass die Polizei versäumte, Straßensperren auf allen aus Stockholm führenden Hauptverkehrsachsen zu errichten. Es wurden auch keine Kontrollen in abgehenden Zügen oder auf Fähren Richtung Finnland durchgeführt. Der öffentlich-rechtliche Fernsehsender SVT wurde erst sehr spät informiert und brachte in seinem Nachtprogramm weiterhin Rockmusik. Aber natürlich hätte der Mörder gefasst werden müssen, bevor er in den engen Straßen der Stockholmer Altstadt verschwand. Der Türsteher einer Szene-Bar in der Nähe des Tatorts hat einem der Autoren später erzählt, ein Einsatzteam der Polizei sei auf der Suche nach dem Mörder in den Laden gestürmt. Sie hatten einen Tipp bekommen – falscher Alarm. Der Täter war im Schutz der Nacht längst verschwunden. Ob oder wie lange er seine Waffe noch bei sich hatte, ist unbekannt. Dammegard zufolge hat er seinen Revolver an den rechtsextremen Polizisten Carl Ostling weitergereicht. Dann habe der Mörder in einem Fluchtauto entkommen können.

Es ist erstaunlich, wie sehr allein die Beschreibungen des Mörders voneinander abweichen, wie er aussah und wie er gekleidet war. Dies trifft ebenfalls auf den Grand-Mann zu, wobei völlig unklar ist, ob der überhaupt etwas mit dem Mord zu tun hatte. Einige der Zeugen beschreiben diesen Mann als eher klein und untersetzt, andere hingegen als eher schlank. Und die Beschreibungen des Täters verweisen zumeist auf einen großen, kräftigen Mann dunklen, vermutlich arabischen Typs in den Dreißigern, bekleidet mit einem dunklen schwarzen oder blauen Mantel und einer vielleicht beigen Tellermütze, was sich mit Dammegards Überzeugung deckt, der Mörder müsse arabischer Herkunft sein. Eine Frau, die ihm am oberen Ende der Treppe begegnete, glaubt allerdings fest, einen Nordeuropäer gesehen zu haben. Trug er eine kleine Tasche, um die Waffe zu verstecken? Trug er ein Pistolenhalfter? In einigen Presseberichten wurde behauptet, dass er beim Laufen gehinkt habe. Andere Zeugen sagen aus, er sei aufgestampft wie ein Elefant. Wieder andere erklärten einfach, er sei »irgendwie komisch« gelaufen, weil die Gehsteige und Straßen vereist waren.

Ob er nun hinkte oder nicht – das ist dann von Bedeutung, wenn die Spur zu einem Verdächtigen mit verletztem Bein oder angeborenem Gehfehler führt. Man kann sich natürlich fragen, warum ausgerechnet jemand mit einer Beinverletzung oder einer Gehschwäche für einen Mord hätte ausgewählt werden sollen, bei dem es darauf ankam, schnell wegzulaufen und 89 Treppenstufen zu erklimmen.

Im Mittelpunkt steht natürlich immer die Frage: Handelte es sich um einen Einzeltäter oder um eine Verschwörung? Der einzige Verdächtige, der namhaft gemacht und angeklagt wurde, war Christer Pettersson – in erster Instanz verurteilt, in zweiter freigesprochen. Wenn er tatsächlich der Täter gewesen wäre, hätte sein Motiv nichts mit Politik zu tun gehabt. Aber sogar in der schwedischen Polizei bezweifeln viele, dass irgendwer die Tat ganz alleine geplant und vorbereitet haben könnte. Dies wäre auch für einen nicht drogenabhängigen, klar denkenden Täter nicht so einfach möglich gewesen. Sogar die Ermittlungsbeamten der schwedischen Polizei pflegten über die Version vom »einsamen Irren« ihre Witze zu machen. In Wahrheit hätte im Lauf der Zeit den Ermittlern wohl nur noch das nachträgliche Geständnis eines von Gewissensbissen getriebenen Täters weiterhelfen können. Vielleicht nicht einmal das: An die 130 Personen legten am Telefon falsche Geständnisse ab.

Demgegenüber gehen viele Beobachter davon aus, dass bei einem so groß angelegten politischen Mord ein Team von mindestens drei bis fünf Personen beteiligt gewesen sein muss. Diese Vermutungen leiten sie auch aus anderen Mordfällen ab, wie zum Beispiel dem Attentat während der Olympischen Spiele in München 1972. Aus diesem Grund scheint auch die These eines Einzeltäters, der im Auftrag einer ausländischen Macht oder einer Organisation innerhalb Schwedens handelt, kaum haltbar zu sein.

Im Hinblick auf mögliche Strippenzieher auf Staatsebene beispielsweise in den USA, Israel oder Südafrika erscheint die Identität des Mörders als fast nebensächlich. Wenn hinter dem Mord tatsächlich ein staatlicher Auftraggeber gesteckt haben sollte, stand derjenige, der diesen Mord ausführte, nur am Ende einer langen Befehlskette von »Subunternehmern«. Es ist möglich, dass er gar nicht wusste, für wen er im Endeffekt arbeitete. Es kann auch sein, dass er im Nachhinein selber ermordet wurde – vielleicht Stunden, einen Tag oder mehrere Monate später.

Dammegard nennt den Mörder Abdul. Es ist ein falscher Name, der aber seine Überzeugung verdeutlicht, dass es sich bei dem Täter um eine Person aus dem Mittleren Osten handeln muss. Ihm zufolge war dieser Abdul nur die Spitze des Eisberges. Er glaubt, dass Menschen vieler Länder in die Aktion verwickelt waren, zum Beispiel aus Deutschland, Schweden, Chile, Italien und Südafrika.9

Für die Polizei und die Staatsanwaltschaft wurde auch Lisbet Palme ein ziemlich schwieriger Fall. Sie hatte am Tatort unter Schock gestanden und war hysterisch geworden.10 Über ihre psychische Entgleisung wurde nach dem Mord viel geschrieben. Sie war handgreiflich geworden gegenüber einer jungen Frau, die versuchte, ihren Mann wiederzubeleben. Weitere theatralische Szenen spielten sich im Krankenhaus und später beim Pettersson-Prozess ab. Dazu kommen noch ihr Oberklassen-Snobismus und die gänzlich fehlende Kooperationsbereitschaft gegenüber den Behörden. Schließlich identifizierte sie Pettersson bei einer polizeilichen Gegenüberstellung als den Täter. Vielleicht hatte man ihr das vorher eingeflüstert. Jedenfalls basierte die Anklage gegen ihn hauptsächlich auf ihrer Aussage.

Direkt neben dem Tatort befindet sich das Skandia-Gebäude, in dem Schwedens größter Finanzdienstleister residiert. Dort hat der PR-Mitarbeiter Stig Engström Überstunden gemacht. Später wird er »Skandia-Mann« genannt. Seiner Stechkarte zufolge hat er das Gebäude Sveavägen Nr. 44 genau um 23:21 Uhr verlassen. Er gibt an, nach ein paar Schritten einen Schuss gehört zu haben und dann noch einen zweiten Knall. Er hilft, das Opfer in Bauchlage zu bringen. Engström fragt die verwirrt umherlaufende Lisbet Palme, wohin der Täter geflohen ist. Sie zeigt auf die Stufen der Tunnelgatan und beschreibt den Mörder als einen Mann mit dunkelblauer Steppjacke. Auch auf sie sei geschossen worden. Die Polizei weigert sich zunächst, Stig Engströms Aussage aufzunehmen. Ermittlungsleiter Hans Holmér droht ihm und bezeichnet ihn als »Elefant im Porzellanladen«. Erst Monate später, im Juni, wird er befragt. Der Journalist Sven Anér macht Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Engström geltend. Denn später stellte sich heraus, dass ein Hintereingang des Skandia-Gebäudes während und nach dem Mord offen gelassen und das Alarmsystem ausgeschaltet war. Dennoch rät der schwedische Chefermittler Krister Petersson zur Vorsicht: »Für mich ist die unverschlossene Hintertür kein schlagender Beweis. Denn nach dem Kinobesuch überlegte das Ehepaar Palme zunächst, bei ihrem Sohn noch eine Tasse Tee zu trinken. Erst im allerletzten Moment entschieden sie sich, nach Hause zu gehen. Die Frage ist: Wer konnte das wissen? Deshalb ist die offene Hintertür für mich eine kalte Spur. Zudem waren damals – im Jahr 1986 – Überwachungskameras häufig außer Betrieb. Bislang existieren keine Beweise dafür, dass Überwachungskameras verdächtige Personen aufgezeichnet hätten.«11

Klar ist aber: Viele Jahre befand sich im Skandia-Gebäude das Hauptquartier der NATO-Geheimarmee »Stay-behind«, die in den 1950er Jahren auch im offiziell neutralen Schweden von der CIA aufgebaut worden war. Das Haus könnte also neben dem schwedischen Arm der Guerillatruppe auch ein CIA-Verbindungsbüro beherbergt haben.12