Auf den zweiten Blick - Jodi Picoult - E-Book

Auf den zweiten Blick E-Book

Jodi Picoult

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Beschreibung

Der Polizist Will liest in Los Angeles eine junge Frau auf, die nicht weiß, wer sie ist. Er hilft ihr und versucht, ihre Identität herauszufinden. Bald meldet sich Alex Rivers, der berühmte Schauspieler, und identifiziert sie als seine schwangere Frau Cassie. Als er ihr den liebevollen Ehemann vorspielt, kehren in ihr bedrohliche Erinnerungen an die Beziehung mit ihm zurück …

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Für meine Mutter – meinen größten Fan, meine erste Leserin, mein Forum, meine Freundin

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christoph Göhler

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

6. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95982-7

© 1994 Jodi Picoult Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Picture Perfect«, Putnam's Sons, New York 1994 Deutschsprachige Ausgabe: © 2002 Piper Verlag GmbH, München © der deutschen Übersetzung: 1996 Wilhelm Goldmann Verlag, ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagfotos: Michèle Constantini / Photo Alto

     1993     

Vor langer Zeit lebte an den Ufern des Atlantiks ein großer Indianerkrieger mit Namen Strong Wind. Er hatte Zauberkräfte – er konnte sich unsichtbar machen –, und so konnte er in den Lagern der Feinde umberwandern und ihre Geheimnisse stehlen. Er wohnte zusammen mit seiner Schwester in einem Zelt, das am Meer stand, umweht von einer leichten, steten Brise.

Sein Ruf als Krieger reichte weit, und viele Mädchen hätten ihn gern geheiratet. Aber Strong Wind wollte nichts wissen von ihrem törichten, verführerischen Lächeln und von ihren falschen Beteuerungen, die einzig Richtige für ihn zu sein. Er sagte, daß er das erste Mädchen heiraten würde, das ihn abends heimkommen sah.

Diese Prüfung hatte er ersonnen, um herauszufinden, wie ehrlich ein Mädchen war. Viele Mädchen wanderten zusammen mit seiner Schwester über den Strand, wenn die Sonne zischend im Meer versank, weil sie sein Herz einfangen wollten. Strong Winds Schwester konnte ihn immer sehen, selbst wenn er für alle anderen unsichtbar war. Wenn ihr Bruder sich näherte, wandte sie sich an das Mädchen, dessen Augen den Horizont absuchten. »Siehst du ihn?« Und jedesmal begann das Mädchen an ihrer Seite hastig zu lügen, ja, da komme er. Strong Winds Schwester fragte dann: »Womit zieht er seinen Schlitten?« Es kamen viele Antworten: Mit dem Fell eines Karibus. Mit einem langen, knorrigen Stock. Mit einem starken Hanfseil. Strong Winds Schwester hörte die Antworten und erkannte, daß sie nur geraten waren. Und sie wußte, daß ihr Bruder dieses Mädchen, dessen Spuren sich neben ihren in den nassen Sand drückten, nicht zur Frau wählen würde.

Im Dorf gab es einen mächtigen Häuptling, einen Witwer mit drei Töchtern. Eine war viel jünger als die beiden anderen. Ihr Gesicht war lieblich wie der erste Sommerregen; ihr sanftes Herz hätte den Schmerz der ganzen Welt lindern können. Zerfressen von Eifersucht, nutzten die älteren Schwestern ihr sanftmütiges Wesen aus. Sie versuchten von ihrer Schönheit abzulenken, indem sie ihre Kleider in Fetzen rissen, ihr das glänzende schwarze Haar abschnitten und die weiche Haut auf ihren Wangen und ihrem Hals mit glühenden Kohlen versengten. Ihrem Vater erzählten sie, das Mädchen habe sich all das selbst angetan.

Wie die anderen Mädchen im Dorf versuchten auch die beiden älteren Schwestern, Strong Wind durch die Abenddämmerung kommen zu sehen. Sie standen mit seiner Schwester am Strand, ließen die Wellen über ihre Beine spülen und warteten. Wie jedesmal fragte Strong Winds Schwester, ob sie ihn sähen, und sie logen, ja, sie sähen ihn. Die Schwester fragte, womit er seinen Schlitten ziehe, und sie antworteten, mit einem Lederriemen. Als sie in sein Zelt traten, zitterten die Eingangsklappen im Wind. Sie hofften, Strong Wind zu sehen, der sich über sein Essen beugte, aber sie sahen überhaupt nichts. Strong Wind hatte ihre Lügen gehört und blieb unsichtbar.

Als die jüngste Tochter des Häuptlings an den Strand ging, um Strong 'Wind zu sehen, rieb sie sich das verbrannte Gesicht mit Erde ein, um ihre Narben zu verstecken, und flickte ihren Rock mit Baumrinde. Auf dem Weg zum Strand kam sie an anderen Mädchen vorbei, die sie auslachten und sie eine Närrin schalten.

Aber Strong Winds Schwester wartete schon auf sie, und als die Sonne schwer am Himmel hing, nahm sie das Mädchen mit ans Wasser. Als Strong Wind seinen Schlitten näher zog, fragte seine Schwester: »Siehst du ihn?« Das Mädchen antwortete: »Nein«, und Strong Winds Schwester zitterte, weil das Mädchen die Wahrheit sagte. »Siehst du ihn jetzt?« fragte sie wieder.

Erst antwortete das Mädchen nicht, aber ihr Gesicht war dem Himmel zugewandt, und ihre Augen leuchteten wie Feuer. »O ja«, hauchte sie schließlich. »Und er ist wunderbar. Er tanzt auf den Wolken und trägt den Mond auf seiner Schulter.«

Strong Winds Schwester schaute sie an. »Womit zieht er seinen Schlitten?«

»Mit dem Regenbogen.«

Auch sie schaute jetzt in den Himmel. »Und aus was ist seine Bogensehne gemacht?«

Das Mädchen lächelte, und die Nacht wusch über ihr Gesicht. »Aus der Milchstraße«, antwortete sie. »Und die strahlendsten Sterne dienen ihm als Pfeilspitzen.«

Strong Winds Schwester begriff, daß ihr Bruder sich dem Mädchen zeigte, weil sie als erste zugegeben hatte, ihn nicht zu sehen. Sie nahm das Mädchen mit heim, badete sie und strich mit der Hand über die verletzte Haut, bis alle Narben verschwunden waren. Sie sang, bis dem Mädchen das Haar wieder dicht und schwarz über den Rücken fiel. Sie schenkte der Häuptlingstochter ihre eigenen schönen Kleider und führte sie in Strong Winds Zelt.

Am nächsten Tag heiratete Strong Wind die Häuptlingstochter, und sie wanderte mit ihm über den Himmel und schaute auf ihr Volk hinab. Die beiden Schwestern des Mädchens waren zornig und drohten den Geistern mit erhobener Faust und begehrten zu wissen, was geschehen war. Strong Wind beschloß, sie dafür zu bestrafen, daß sie seiner Braut so viel Leid zugefügt hatten. Er verwandelte sie in Espen und versenkte ihre Wurzeln tief in der Erde. Seit jenem Tag zittern die Blätter der Espen, weil sie sich vor dem Wind fürchten. Wie leise er sich auch nähert, sie beben, weil sie seine große Macht und seinen Zorn nicht vergessen können.

Legende der Algonquin-Indianer

1

Das erste, was der Friedhofsgärtner sah, als er sich um den kleinen Friedhof hinter St. Sebastian kümmern wollte, war die Leiche, die jemand zu begraben vergessen hatte.

Sie lag längs auf einem Grab, den Kopf an den Grabstein gelehnt und die Arme über dem Bauch gekreuzt. Sie war fast so bleich wie die sieben verwitterten Granitsteine um sie herum. Der Friedhofsgärtner atmete tief durch, ließ seinen Spaten fallen und bekreuzigte sich. Er schlich sich an die Leiche heran, beugte sich vor und legte seinen Schatten über sie.

Irgendwo über ihm schrie eine Möwe, und im selben Augenblick schlug die Frau die Augen auf. Der Friedhofsgärtner fuhr herum und rannte durch das eiserne Tor auf die lärmerfüllten Straßen von Los Angeles hinaus.

Die Frau blinzelte in den Himmel. Sie wußte nicht, wo sie war, aber es war ruhig; und da ihr der Schädel dröhnte, war sie dankbar dafür. Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie hierhergeraten war.

Sie setzte sich auf, betastete den Grabstein und kniff die Augen zusammen, weil die Buchstaben vor ihren Augen tanzten und verschwammen. Sie zog sich langsam hoch und stützte sich auf den Stein, um nicht wieder umzufallen. Dann beugte sie sich vor und würgte, eine Hand auf den Magen gepreßt und mit Tränen in den Augen, als ihr der Schmerz in die Schläfen schoß.

»Eine Kirche«, sagte sie laut. Der Klang ihrer Stimme ließ sie zusammenfahren. »Das ist eine Kirche.«

Sie ging ans Tor und sah Autos und Busse vorbeifahren. Sie hatte schon drei Schritte auf die Straße hinaus gemacht, als sie merkte, daß sie nicht wußte, wohin sie gehen sollte. »Denk nach«, befahl sie sich. Sie legte sich die Hand auf die Stirn und spürte klebriges Blut.

»Himmel«, sagte sie. Ihre Hand zitterte. Sie suchte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch. Es war eine abgetragene Bomberjacke; sie konnte sich nicht daran erinnern, sie gekauft zu haben. Statt des Taschentuchs förderte sie eine Tube Lippenpomade und zwei Dollar vierundzwanzig Kleingeld zutage. Sie ging zurück in den Friedhof und suchte hinter den Grabsteinen nach einem Notizbuch, einem Rucksack, irgendeinem Hinweis.

»Ich bin überfallen worden«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Ich bin bestimmt überfallen worden.« Sie lief zum Pfarrhaus und hämmerte mit der Faust gegen die Tür, aber die war verschlossen. Sie kehrte zum Tor zurück. Am besten würde sie zur nächsten Polizeiwache gehen und dort erzählen, was passiert war. Sie würde ihre Adresse angeben, und dann würde sie anrufen …

Wen würde sie anrufen?

Sie starrte auf einen Bus, der an der Haltestelle an der Straßenecke seufzend zum Stehen kam. Sie wußte nicht, wo sie war. Sie wußte nicht, wo die nächste Polizeiwache war.

Sie wußte nicht einmal, wie sie hieß.

Sie begann, auf einem Fingernagel zu kauen, und trat hinter das Tor zurück, wo sie sich sicherer fühlte. Sie kniete neben dem Grab nieder, auf dem sie gelegen hatte, und ließ ihre Stirn gegen den. kühlen Grabstein sinken. Vielleicht kam ja der Priester bald zurück, dachte sie. Vielleicht würde jemand vorbeikommen und ihr helfen. Vielleicht sollte sie einfach hierbleiben.

In ihrem Kopf begannen Paukenschläge zu dröhnen, die ihr den Schädel zu spalten drohten. Sie sank zu Boden, lehnte sich wieder an den Grabstein und zog ihre Jacke zu, weil der Boden kalt war. Sie würde warten.

Sie öffnete die Augen, hoffte auf eine Antwort, aber sie sah nichts als die Wolken, die den Himmel wie Narben überzogen.

Es gab zuwenig Platz in Kalifornien.

Wie ein Hämmern tief in der Kehle spürte er die Klaustrophobie. Der zischende Asphalt unter seinen Reifen und die viel zu dicht gedrängten Apartmentblocks ließen ihm keine Luft zum Atmen. Deshalb fuhr er immer weiter nach Westen, um den Ozean zu finden, und das möglichst noch vor Einbruch der Dämmerung. Er hatte ihn noch nie gesehen. Er kannte ihn nur von Bildern und von den Erzählungen seiner Mutter und seines Vaters.

Ihm fielen Geschichten ein, die ihm sein Vater erzählt hatte und die er damals nicht geglaubt hatte: von Indianern im letzten Jahrhundert, die man eingesperrt hatte und die über Nacht gestorben waren, weil sie die Enge nicht ertrugen.

Ihm fielen die Statistiken des Büros für Indianische Angelegenheiten ein, denen zufolge sechsundsechzig Prozent aller Indianer, die ihr Reservat verließen, zurückkehrten, weil sie nicht in der Stadt leben konnten. Natürlich war er kein richtiger Sioux. Aber er war auch kein richtiger Weißer.

Er roch ihn, bevor er ihn sah. Der Wind trug ihm den Salzwassergeruch zu. Er parkte den rostigen, gebrauchten Pick-up am Straßenrand und rannte die Dünen hinunter. Er hörte erst auf zu laufen, als seine Turnschuhe unter Wasser waren und die Gischt seine Jeans wie mit Tränen befleckte.

Eine Möwe kreischte.

William Flying Horse stand mit ausgebreiteten Armen im Wasser, die Augen fest auf den Pazifik gerichtet, aber was er sah, waren die gestreiften Ebenen und sanften Hügel Dakotas, die ihm nie eine Heimat gewesen waren.

Im Pine-Ridge-Reservat in South Dakota nahm man die Route 18, wenn man in den Ort fuhr, und wenn man irgendwo anders hinwollte, orientierte man sich an natürlichen Wahrzeichen oder an verrosteten Autoskeletten, da es sonst kaum Straßen gab. Aber Will war erst seit drei Tagen in Los Angeles und mußte sich noch zurechtfinden.

Er hatte ein kleines Reihenhaus in Reseda gemietet, nah genug am Los Angeles Police Department, um nicht lang pendeln zu müssen, und weit genug, um nicht das Gefühl zu haben, an seinen Job gefesselt zu sein. Er brauchte erst morgen anzufangen – den Papierkram hatte er brieflich erledigt –, und er hatte vorgehabt, die freie Zeit zu nutzen, um L. A. kennenzulernen.

Will schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Wo zum Teufel war er? Er tastete unter dem Vordersitz nach der Karte, die er vor ein paar Minuten auf den Boden gefegt hatte. Er kniff die Augen zusammen, um die winzigen roten Sträßchen zu erkennen, aber die Innenbeleuchtung im Pick-up war mit als erstes ausgefallen, deshalb lenkte er den Wagen unter eine Straßenlaterne und hielt an. Im Halbdunkel stierte er auf die Karte. »Scheiße«, sagte er. »Beverly Hills. Hier war ich vor einer Stunde.«

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wünschte er sich, er hätte mehr indianisches Blut.

Er gab seinem wasicuŋ-Erbe die Schuld an seinem mangelhaften Orientierungssinn. Sein Leben lang hatte man ihm Geschichten vom Vater seines Großvaters erzählt, der die gottverdammten Büffel schon bei der leisesten Brise riechen konnte. Und als die Frau, die sein Vater liebte, ihn ohne ein Wort verlassen hatte, war er da nicht meilenweit geritten, allein von seiner Eingebung geleitet, bis er sie gefunden hatte? Verglichen damit konnte es doch nicht so schwer sein, den San Diego Freeway zu finden!

Einmal, als Will noch ein Kind gewesen war, war er seiner Großmutter in die Wälder gefolgt, um Wurzeln und Blätter für ihre Medizin zu sammeln. Er hatte die Pflanzen gepflückt, auf die sie deutete, Zeder und Kalmus und wildes Süßholz. Er hatte ihr nur kurz den Rücken zugedreht, da war seine Großmutter verschwunden. Eine Weile war er im Kreis gelaufen, hatte versucht, sich ins Gedächtnis zu rufen, was ihm sein Vater über Fußspuren auf trockenem Laub, geknickte Zweige und dem Gespür für winzige Regungen in der schweren Luft erzählt hatte. Nach Stunden hatte seine Großmutter ihn gefunden; frierend kauerte er unter einer knorrigen Eiche. Wortlos hatte sie ihn an der Hand genommen und heimgezogen. In Sichtweite der kleinen Holzhütte war sie stehengeblieben und hatte Will am Kinn gepackt. »Du«, hatte sie geseufzt. »So weiß.«

Er war erst zehn gewesen, aber von diesem Augenblick an hatte er begriffen, daß er nie wie seine Großeltern sein würde. Für sie und für alle anderen würde er immer ein iyeska, ein Mischblut, bleiben. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre hatte er sich so weiß wie nur möglich benommen. Wenn er nicht zum Volk seines Vaters gehören konnte, hatte er sich überlegt, dann schloß er sich eben dem seiner Mutter an. Er lernte wie besessen, um später aufs College gehen zu können. Er sprach ausschließlich Englisch, selbst bei seinen Großeltern, die beide Lakota sprachen. Er nickte, wenn seine weißen Bosse die Sioux als faule Säufer bezeichneten, und wenn es ihn bei solchen Bemerkungen eiskalt überlief, dann hüllte er sich in seine Gleichgültigkeit wie in einen Mantel.

Jetzt war er also weiß. Er war nicht mehr im Reservat, er hatte nicht vor, dorthin zurückzukehren, und um aus Beverly Hills herauszufinden, würde er das gleiche tun wie jeder andere Weiße: Er würde an einer Tankstelle halten und sich den Weg erklären lassen.

Will legte den Gang ein, steuerte den Pick-up wieder auf die Straße und fuhr weiter. Er staunte über den Reichtum in Beverly Hills – die schmiedeeisernen Tore und die rosa Marmorbrunnen, die blinkenden Lichter in den großen venezianischen Fenstern. In einem der Häuser fand eine Party statt. Will fuhr langsamer, um dem lautlosen Ballett der Kellner und Gäste zuzuschauen. Erst nach einer Weile bemerkte er die kreisenden Lichter des Streifenwagens, der hinter ihm angehalten hatte.

Kollegen, dachte er und stieg aus dem Pick-up, um nach dem Weg zu fragen. Es waren zwei Beamte. Einer war blond – mehr konnte Will nicht feststellen, bevor der Mann Wills Kopf gegen die Kabine des Pritschenwagens rammte und ihm den Arm auf den Rücken zog.

»Schau mal einer an, Joe«, sagte er. »Schon wieder so ein verdammter Scheißlatino.«

»Moment mal«, hörte Will sich krächzen, und schon schlug ihm der Polizist mit der freien Hand zwischen die Schulterblätter.

»Nicht frech werden, Pedro«, drohte er. »Wir beobachten dich schon seit zehn Minuten. Was hast du in so einer Gegend zu suchen?«

»Ich bin ein Cop.« Wills Worte fielen schwer auf den Straßenbelag.

Der Mann ließ sein Handgelenk los. Will stemmte sich vom Wagen weg und drehte sich um. »Zeig uns deine Marke.«

Will schluckte und sah ihm ins Gesicht. »Ich habe noch keine. Ich habe auch noch keinen Ausweis. Ich bin eben erst angekommen; ich fange morgen an.«

Der Beamte kniff die Augen zusammen. »Also, wenn ich keine Marke sehe, sehe ich auch keinen Cop.« Er nickte seinem Partner zu, der langsam zum Streifenwagen zurückging. »Und jetzt mach, daß du wegkommst.«

Will ballte und löste die Fäuste, während er den Rücken des Polizisten mit Blicken durchbohrte. »Ich bin einer von euch«, brüllte er und sah den Beamten hinter der dicken Windschutzscheibe des Streifenwagens lachen. Bevor er in den Wagen stieg, warf er einen letzten Blick auf die Leute auf der Party, die lachten und tranken, als wäre überhaupt nichts passiert.

Der Mond glitt hinter eine Wolke, als würde er sich schämen, und in diesem Moment erkannte Will zwei Dinge: Er konnte L. A. nicht leiden. Und er war kein Weißer.

Als sie aufwachte, war die Sonne untergegangen. Sie setzte sich auf und lehnte sich an den vertrauten Grabstein. Irgendwo im Osten bohrte sich ein Scheinwerferstrahl in den Himmel, und sie fragte sich, ob heute abend eine Preisverleihung stattfand – in L. A. gab es am laufenden Band welche.

Sie zog sich hoch und ging langsam auf das Tor zu. Bei jedem Schritt sagte sie sich einen anderen Frauennamen vor, in der Hoffnung, daß ihr Gedächtnis auf einen anspringen würde. »Alice«, sagte sie. »Barbara. Cicely.« Sie war bei Marta angelangt, als sie auf die Straße trat – den Sunset Boulevard, wie sie augenblicklich erkannte, und sie begriff, daß sie Fortschritte machte, denn das war ihr vorhin nicht eingefallen. Sie setzte sich an den Bordstein, unter das Schild, auf dem der Name des Priesters von St. Sebastian und die Messezeiten und Beichtgelegenheiten standen.

Sie wußte, daß sie nicht zur Gemeinde gehörte, daß sie nicht einmal katholisch war, aber sie hatte das Gefühl, daß sie hier schon gewesen war. Um genau zu sein, sie hatte das Gefühl, daß sie sich hier versteckt oder Zuflucht gesucht hatte. Wovor war sie wohl weggelaufen?

Achselzuckend gab sie den Gedanken auf und schaute in die Ferne. Auf der anderen Straßenseite warb am Ende des Blocks eine Reklametafel für einen Kinofilm. »Tabu«, las sie laut. Sie fragte sich, ob sie den Film gesehen hatte, weil ihr der Titel so vertraut vorkam. Die Tafel zeigte einen Mann in tiefem Schatten, aber trotzdem war leicht zu erkennen, daß es sich um Alex Rivers handelte, Amerikas Liebling. Die Liste seiner Erfolge reichte vom Actionthriller bis zur Shakespeareverfilmung, und ihr fiel ein, daß sie irgendwo gelesen hatte, sein Bekanntheitsgrad sei größer als der des Präsidenten. Er lächelte sie an. »In Ihrem Filmtheater«, las sie und hörte, wie ihre Stimme dabei stockte.

Als Will später an diesen Augenblick zurückdachte, wurde ihm klar, daß die Eule schuld gewesen war. Wenn er nicht gebremst hätte, weil er die Eule rufen hörte, hätte er bestimmt nicht angehalten; und wenn er nicht angehalten hätte, hätte er nicht all die falschen Entscheidungen getroffen.

Durch einen Glücksfall war er auf den Sunset Boulevard gelangt, aber wenn er auch wußte, daß der Sunset Boulevard irgendwann auf den Freeway stieß, so wußte er doch nicht, ob er in die richtige Richtung fuhr. Er war an zwei Tankstellen vorbeigekommen, aber beide waren geschlossen, und inzwischen war sein rechtes Auge fast zugeschwollen, und er wollte nur noch in sein Bett kriechen und vergessen, wieso er überhaupt nach Kalifornien gekommen war.

Er war gerade an einem McDonald's vorbeigefahren, als er den Ruf hörte, klar und durchdringend wie den Schrei eines Kindes. Will hatte oft Eulen gehört, aber nicht, seitdem er South Dakota verlassen hatte. Wie viele im Reservat glaubten auch seine Großeltern, daß Vögel künftige Ereignisse ankündigten. Da Vögel fliegen konnten, waren sie näher an der Geisterwelt als die Menschen; man schlug also vielleicht eine Warnung oder ein Versprechen einer höheren Macht in den Wind, wenn man die Botschaft eines Vogels ignorierte. Will hatte, getreu seiner ablehnenden Haltung der Sioux-Kultur gegenüber, den Falken, Adlern und Raben nie Bedeutung beigemessen, aber er brachte es einfach nicht über sich, Eulen nicht zu beachten. Eulen waren, wie seine Großmutter sagte, Todesboten.

»Vielleicht ist es der Wagen«, sagte er laut, und fast im gleichen Moment hörte er es wieder: einen schrillen Schrei, der ihm an den Eingeweiden zerrte.

Er trat auf die Bremse. Knapp hinter ihm scherte ein Lieferwagen aus, dessen Fahrer ihn durch das offene Fenster beschimpfte. Will ließ den Wagen vor eine katholische Kirche rollen und blieb im Halteverbot stehen.

Er stieg aus, trat auf den Bürgersteig und blickte zum Himmel auf. »Okay«, sagte er sarkastisch. »Und jetzt?«

Die Frau, die aus dem Tor neben der Kirche trat, hatte eine schwache weiße Aura, wie ein Geist. Sie erblickte Will und ging ein bißchen schneller. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Verdutzt starrte Will sie an. Sie reichte ihm gerade bis zur Schulter, und an ihrem Skalp klebte verkrustetes Blut. Sie kam auf ihn zu, bis sie nur noch Zentimeter von ihm entfernt war, und schaute auf den Bluterguß über seinem Auge. Sie streckte die Hand aus, diese Frau, die Will noch nie gesehen hatte, und strich mit den Fingern über sein Gesicht. Noch nie hatte er so etwas gespürt: Die Berührung war ruhiger als ein Atemzug. »Du auch?« flüsterte sie, dann verdrehte sie die Augen und sank zu Boden.

Will fing sie auf und setzte sie auf den Beifahrersitz seines Pickups. Als sie sich zu rühren begann, rutschte er so weit wie möglich an die Fahrertür, denn er war sicher, daß sie schreien würde, wenn sie in dem Auto eines Fremden zu sich kam. Aber sie schlug nur die Augen auf und lächelte so freundlich, daß Will ihr Lächeln unwillkürlich erwiderte.

»Ist alles in Ordnung?« fragte er.

Sie schluckte, fuhr sich mit der Hand übers Haar und strich es aus ihrem Gesicht. »Ich glaube schon«, sagte sie. »Haben Sie lang gewartet?«

Sie klang, als würde sie ihn schon ewig kennen. Will mußte grinsen. »Nein«, antwortete er, »ich bin bloß zufällig vorbeigekommen.« Er sah sie kurz an. »Hören Sie«, sagte er, »wenn Sie auf jemanden warten, kann ich bei Ihnen bleiben, bis er da ist.«

Die Frau erstarrte. »Sie kennen mich nicht?« Will schüttelte den Kopf. »O Gott.« Sie rieb sich die Augen. »Gott.« Unter Tränen sah sie zu ihm auf. »Damit wären wir zu zweit.«

Will fragte sich, in was er da reingeraten war – saß hier in seinem Auto mit einer Frau, die entweder verrückt war oder so high, daß sie nicht klar denken konnte. Er lächelte zögernd und wartete darauf, daß sie in die Wirklichkeit zurückfand. »Sie meinen, Sie kennen mich auch nicht.«

»Ich meine, ich kenne mich nicht«, flüsterte die Frau.

Will blickte aufmerksam in ihre klaren Augen und dann auf die verklebte Platzwunde über der Schläfe. Amnesie, dachte er. »Sie wissen Ihren Namen nicht mehr?« Automatisch begann er mit der Routinebefragung, die man ihm bei der Stammespolizei in South Dakota beigebracht hatte. »Können Sie sich daran erinnern, was Ihnen zugestoßen ist? Wie Sie hierhergekommen sind?«

Die Frau senkte den Blick. »Ich kann mich an gar nichts erinnern«, sagte sie tonlos. »Wahrscheinlich sollte ich zur Polizei gehen.«

Sie sagte das, als habe sie ein Kapitalverbrechen begangen. Will mußte lächeln. Er konnte sie in die Stadt zur Academy bringen, der Zentrale des Los Angeles Police Department. Selbst wenn sein Name noch nicht offiziell auf dem Dienstplan stand, konnte er bestimmt ein paar Fäden ziehen: die Vermißtenlisten durchgehen, nachsehen, ob tatsächlich jemand nach ihr suchte. Er rutschte auf seinem Sitz herum und verzog das Gesicht, weil Schmerz durch seine Schläfe schoß. Er mußte an den blonden Polizisten in Beverly Hills denken und fragte sich, ob sie am Montag wohl alle so wären.

»Ich bin die Polizei«, sagte Will ruhig. Und noch während er die Worte aussprach, ahnte er, daß er diese Frau nicht zum Police Department bringen würde – nicht nach dem, was ihm vorhin passiert war, nicht gleich jedenfalls.

Ihre Augen wurden schmal. »Haben Sie eine Marke?«

Will schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich bin eben erst hergezogen. Ich wohne in Reseda. Ich fange morgen an.« Er fing ihren Blick auf. »Ich werde mich um Sie kümmern«, sagte er. »Vertrauen Sie mir?«

Sie ließ den Blick über das scharf gezeichnete Gesicht und das schwarze Haar wandern, in dem das Licht spielte. Niemand sonst war gekommen. Doch als er aufgetaucht war, war sie ohne Zögern zu ihm gelaufen. Bei jemandem, der sich nicht auf seine Vernunft, sondern nur auf seinen Instinkt verlassen konnte, hatte das bestimmt etwas zu sagen. Sie nickte.

Er streckte die Hand aus. »Ich bin William Flying Horse. Will.«

Sie lächelte. »Jane Doe.« Sie legte die Fingerspitzen in seine Handfläche, und bei dieser Berührung öffnete sich ihm mit einem Schlag diese fremde Stadt. Will mußte an das Lied der Eule denken und an dieses Geschenk, das ihm im wahrsten Sinn des Wortes in den Schoß gefallen war. Und als er die Frau wieder anschaute, spürte er, daß sie von nun an irgendwie zu ihm gehörte.

2

Oktober ließ sie jedesmal aus. Sie sollte die Monate in umgekehrter Reihenfolge aufsagen, so wollte es der Arzt in der Notaufnahme, aber sie sprang immer wieder von November zu September. Sie wurde rot und sah zu dem Mann auf, der sie untersuchte. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich versuche es noch mal.«

Vom anderen Ende des Zimmers, wo er seit zehn Minuten zuschaute, kam Will aus seiner Ecke geschossen. »Himmel«, explodierte er. »Mir fehlt überhaupt nichts, und selbst ich würde dabei durcheinanderkommen.« Wütend funkelte er den Arzt an. Er hatte die Frau zur Notaufnahme gebracht, weil das der korrekten polizeilichen Vorgehensweise entsprach, wenigstens in South Dakota, aber jetzt kamen ihm Zweifel. Will kam es so vor, als machten sie diese dämlichen Übungen nur noch verrückter.

»Sie hat in den vergangenen Stunden mindestens zweimal das Bewußtsein verloren«, erklärte der Arzt leidenschaftslos. Er hielt ihr einen Füller vor die Nase. »Was ist das?«

Sie verdrehte die Augen. Sie war schon gefragt worden, wo sie sich befand, welcher Tag heute war, wie der Präsident hieß. Sie hatte in Dreierschritten vorwärts und rückwärts gezählt und eine kurze Liste von Obst- und Gemüsesorten auswendig gelernt. »Das ist ein Füller.«

»Und das?«

»Eine Füllerkappe.« Sie warf Will einen Blick zu und grinste. »Oder doch eine Kuh?« Als der Doktor sie mit großen Augen ansah, lachte sie. »Das war ein Witz«, beschwichtigte sie ihn. »Nur ein kleiner Witz.«

»Sehen Sie?« sagte Will. »Sie kann Witze machen. Es geht ihr gut.« Er verschränkte die Arme. Er fühlte sich nicht wohl. Krankenhäuser machten ihn nervös, seit er neun Jahre alt gewesen und sein Vater in einem gestorben war. Drei Tage nach dem Autounfall, seine Mutter war schon begraben, hatte Will mit seinem Großvater im Krankenhaus gesessen und darauf gewartet, daß sein Vater wieder zu sich kam. Stundenlang hatte er auf die schlaffe braune Hand seines Vaters gestarrt, die sich scharf gegen das weiße Laken, das weiße Licht und die weißen Wände abhob. Und er hatte gewußt, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis sein Vater sich zu jenem Ort aufmachen würde, wo er hingehörte.

»Also gut.« Der Tonfall des Arztes ließ Jane wie auch Will aufhorchen. »So wie es aussieht, haben Sie eine leichte Gehirnerschütterung, sind aber schon wieder auf dem Weg der Besserung. Wahrscheinlich werden die älteren Erinnerungen vor den neueren wiederkommen. An die paar Minuten vor und nach dem Schlag werden Sie sich vielleicht nie erinnern.« Er sah Will an. »Und Sie sind …?«

»Officer William Flying Horse, Los Angeles Police Department.«

Der Arzt nickte. »Erklären Sie den Leuten, die sie abholen, daß sie die Nacht über beobachtet werden sollte. Sie sollen sie alle paar Stunden wecken und ihre Reaktion testen; Sie wissen schon, sie fragen, wer sie ist, wie sie sich fühlt und so weiter.«

»Einen Moment«, sagte Jane. »Wie lange wird es dauern, bis ich mich erinnere, wer ich bin?«

Der Arzt lächelte zum ersten Mal, seit er vor einer Stunde mit der Untersuchung begonnen hatte. »Das weiß ich nicht. Vielleicht ein paar Stunden; vielleicht ein paar Wochen. Aber bestimmt wartet Ihr Mann schon in der Stadt auf Sie.« Er schob den Stift zurück in die Jackentasche und tätschelte ihr die Schulter. »Er wird Sie im Nu über alle Einzelheiten aufklären.«

Der Arzt öffnete die Tür des Untersuchungsraums und marschierte mit wehendem Kittel hinaus.

»Mann?« fragte sie. Sie starrte auf ihre linke Hand und betrachtete den schlichten Reif mit den Diamanten, in denen sich das Neonlicht brach. »Wie konnte ich das bloß übersehen?«

Will zuckte mit den Achseln. Ihm war der Ring genausowenig aufgefallen. »Können Sie sich an ihn erinnern?«

Jane schloß die Augen und versuchte, ein Gesicht, eine Geste, vielleicht eine Stimme heraufzubeschwören. Sie schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich nicht verheiratet.«

Will lachte. »Nun, wahrscheinlich würde jede zweite Ehefrau in Amerika alles für so einen Schlag auf den Kopf geben.« Er ging zur Tür und hielt sie ihr auf. »Kommen Sie.«

Den ganzen Weg zum Parkplatz spürte er sie einen Schritt hinter sich. Als sie am Pick-up angekommen waren, schloß er ihre Tür zuerst auf und half ihr beim Einsteigen. Er ließ den Motor anspringen und schnallte sich an, bevor er zu sprechen begann. »Also, wenn Ihr Mann Sie sucht, kann er Sie erst nach vierundzwanzig Stunden als vermißt melden. Wir können gleich auf die Wache fahren, wenn Sie das möchten, oder wir können morgen früh hinfahren.«

Sie starrte ihn an. »Warum wollen Sie mich nicht zur Polizei bringen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie wollen sich davor drücken«, bemerkte Jane. »Das höre ich Ihnen an.«

Will schaute starr geradeaus und legte den Rückwärtsgang ein. »Da haben Sie sich verhört.« Ein Muskel zuckte in seiner Wange. »Sie haben die Wahl.«

Sie betrachtete sein Profil, eine gemeißelte Silhouette. Sie fragte sich, womit sie ihn so verärgert hatte. Zumindest im Augenblick war er ihr einziger Freund. »Ich glaube, ich sollte mich erst ein bißchen ausruhen«, meinte sie bedächtig, »vielleicht fällt mir ja alles wieder ein, wenn ich aufwache. Vielleicht sieht dann alles anders aus.«

Will sah sie an, registrierte das Beben und die Hoffnung in ihrer Stimme. Obwohl er diese Frau überhaupt nicht kannte, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte, legte sie ihr Schicksal in seine Hand. So viel hatte man ihm noch nie anvertraut. »Vielleicht«, sagte er.

Jane war wieder eingeschlafen, als sie das Haus in Reseda erreichten. Will trug sie durch die Wohnung ins Schlafzimmer, legte sie auf die unbezogene Matratze und deckte sie mit der einzigen Decke zu, die er bislang ausgepackt hatte. Er zog ihr die Schuhe aus, aber nicht mehr. Sie war die Frau eines anderen Mannes.

In einem Kurs über Stammeskultur, den Will auf dem Oglala Community College hatte belegen müssen, um seinen Abschluß zu bekommen, hatte man Will erzählt, welche Strafe die Sioux in den Tagen des Büffels einer Ehebrecherin zugedacht hatten. Will war entsetzt gewesen: Wenn die Frau mit einem anderen Mann davongelaufen war, hatte der Gatte das Recht, ihr die Nasenspitze abzuschneiden und sie dadurch bis an ihr Lebensende zu zeichnen. Für Will schien das in krassem Widerspruch zu allem zu stehen, was er über die Sioux wußte. Schließlich war ihnen die Vorstellung, Land zu besitzen, unbegreiflich. Sie glaubten daran, Freunden im Unglück mit Geld, Essen und Kleidern zu helfen, selbst wenn das bedeutete, daß sie sich dadurch selbst in Armut stürzten. Und doch betrachteten sie eine Ehefrau als Besitz, den Ehemann als Besitzer.

Er beobachtete die schlafende Jane. In gewisser Hinsicht beneidete er sie. Sie hatte ihre Vergangenheit so leicht abstreifen können – während Will darum kämpfen mußte, die eigene Geschichte aus seinem Gedächtnis zu streichen.

Will legte einen Finger auf Janes Kragen, wo Blut eingetrocknet war. Er würde kaltes Wasser holen und den Fleck einweichen. Er strich ihr das Haar aus der Stirn und betrachtete ihr Gesicht. Sie hatte ganz gewöhnliches braunes Haar, eine kleine Nase, ein energisches Kinn. Sommersprossen. Sie war nicht die atombusige Blondine seiner Jugendträume, aber sie war auf schlichte Weise hübsch. Bestimmt hatte jemand schon Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu finden.

Er nahm die Hand von ihrem Hals, weil er einen Waschlappen holen wollte, aber plötzlich schoß ihre Hand hoch, und ihre Finger schlossen sich mit Lichtgeschwindigkeit um sein Handgelenk. Lieber Himmel, dachte er, Reflexe wie ein Puma. Sie schlug die Augen auf und sah sich gehetzt um wie ein Tier in der Falle. »Psst«, flüsterte Will beruhigend. Als er vorsichtig die Hand aus ihrem Griff zu befreien versuchte, ließ Jane ihn los. Sie legte die Stirn in Falten, als wisse sie nicht genau, warum sie ihn festgehalten hatte.

»Wer sind Sie?« fragte sie.

Will ging an die Tür und machte das Licht aus. Er schaute weg, weil sie sein Gesicht nicht sehen sollte. »Das wollen Sie nicht wirklich wissen«, sagte er.

Wills früheste Erinnerung hatte damit zu tun, wie er seinen Vater aus dem Gefängnis abgeholt hatte.

Er war drei, und er wußte noch genau, wie seine Mutter ausgesehen hatte, als sie vor dem Sheriff gestanden war. Groß und stolz und sehr, sehr blaß, selbst in dem schummrigen Licht. »Da liegt ein Mißverständnis vor«, sagte sie. »Mr. Flying Horse ist bei mir angestellt.«

Will verstand nicht, warum seine Mutter behauptete, daß sein Vater für sie arbeitete, obwohl sie doch wußte, daß er für Mr. Lundt auf der Ranch arbeitete. Er verstand auch nicht, was ein »tätlicher Angriff« sein sollte, und er glaubte, daß man mit einer »Körperverletzung« eher ins Krankenhaus als ins Gefängnis kam. Der Sheriff, ein Mann mir rosigem Blumenkohlgesicht, sah Will scharf an und spuckte dann genau vor seine Füße. »Kein Mißverständnis, Ma'am«, widersprach der Sheriff. »Sie kennen diese gottverdammten Indianer.«

Das Gesicht seiner Mutter erstarrte zu Stein, und sie zückte ihre Börse, um die Strafe zu bezahlen, die man seinem Vater auferlegt hatte. »Lassen Sie ihn raus«, zischte sie, und der Sheriff drehte sich um und verschwand in einem Gang. Will sah ihn kleiner werden; jedesmal, wenn er an einem Fenster vorbeikam, blinkte die Pistole an seiner Hüfte.

Wills Mutter ging neben ihm in die Hocke. »Glaub ihm kein Wort«, erklärte sie. »Dein Vater wollte nur helfen.«

Jahre später erfuhr er, daß Zachary Flying Horse in einer Bar gewesen war, als es zu einem Zwischenfall kam. Eine Frau war von zwei Kerlen belästigt worden, und als Zachary sich einmischte, waren die beiden auf ihn losgegangen. Die Frau war weggelaufen, und als die Polizei kam, stand Zacks Wort gegen das von zwei Weißen.

Zachary kam hinter dem Sheriff aus dem Gefängnisgang. Er rührte seine Frau nicht an. »Missus«, sagte er ernst. »Will.« Er nahm den Jungen auf die Schultern und trug ihn hinaus in die heiße Sonne Dakotas.

Sie gingen einen halben Block weit, ehe Wills Vater ihn von. seinen Schultern hob und seine Mutter an sich drückte. »O Anne«, seufzte er in ihr Haar. »Es tut mir so leid, daß du das mitmachen mußt.«

Will zupfte seinen Vater am Flanellhemd. »Was hast du denn getan, Pa?«

Zack nahm Will an der Hand und ging weiter. »Ich wurde geboren«, sagte er.

Die Nachricht, die Will ihr hinterlassen hatte, war unmöglich zu übersehen: Sie lag mitten auf dem Toilettendeckel neben einem frischen Handtuch, Zahnpasta, einem Zwanzigdollarschein und einem Schlüssel. Jane, ich bin in der Arbeit. Ich werde mich nach Ihrem Mann umhören, und ich werde versuchen, Sie später anzurufen. Der Kühlschrank ist leer, wenn Sie also Hunger haben, müssen Sie zum Supermarkt (3 Blocks nach Osten). Hoffentlich geht es Ihnen besser. Will.

Sie putzte sich die Zähne mit dem Finger und las die Nachricht noch einmal. Er hatte nicht geschrieben, was sie tun sollte, wenn sie aufwachte und ihren Namen und ihre Adresse wieder wußte. Nicht daß das einen Unterschied gemacht hätte, da sie sich immer noch an nichts erinnerte. Wenigstens hatte sie Glück im Unglück gehabt. Die Chance, auf dem Sunset Boulevard einem Drogensüchtigen oder einem Zuhälter in die Arme zu laufen, war wesentlich größer, als an jemanden von außerhalb zu geraten – noch dazu jemanden, der einer Fremden seinen Hausschlüssel und zwanzig Dollar überließ, ohne irgendwelche Fragen zu stellen oder irgendeine Gegenleistung zu erwarten.

Ihre Augen leuchteten auf. Sie konnte sich revanchieren; sie konnte für ihn auspacken. Ihr Einrichtungsgeschmack entsprach vielleicht nicht dem seinen – tatsächlich hatte sie keine Ahnung, was für einen Geschmack sie hatte –, aber bestimmt fand er es nett, wenn er heimkam und die Töpfe und Pfannen eingeräumt waren und die Handtücher im Schrank lagen.

Voller Eifer machte Jane sich an die Arbeit, Wills Haus aufzuräumen. Sie räumte die Küche und das Bad und den Putzschrank ein, aber erst als sie sich ans Wohnzimmer wagte, mußte sie wirklich kreativ werden. Dort lagen, in zwei Kisten verpackt und sorgfältig mit Zeitungspapier umwickelt, verschiedenste indianische Artefakte. Sie packte erst wunderschöne, mit Stachelschweinborsten bestickte Mokassins aus, dann eine lange, gegerbte und mit Jagdszenen bemalte Tierhaut. Sie stieß auf einen aufwendig gearbeiteten Quilt und einen Fächer aus Federn und ein rundes, perlenbesetztes Medaillon. Ganz unten in der Kiste lag ein kleiner, mit Perlen und bunten Federn besetzter Lederbeutel, auf den ein laufendes Pferd gemalt war. Er war mit einer Sehne zugebunden, und obwohl sie sich alle Mühe gab, schaffte sie es nicht, den Beutel zu öffnen und hineinzuschauen.

Sie wußte nicht, wozu die meisten dieser Objekte dienten, aber sie behandelte alles mit äußerster Vorsicht. Langsam wurde ihr Will vertrauter. Sie sah die nackten Wände an und dachte: Wenn ich weit fort wäre, würde ich etwas haben wollen, was mich an zu Hause erinnert.

Niemand hatte sich auf der Academy nach einer Vermißten erkundigt. Will verbrachte den Tag damit, vom Captain anderen Kollegen im Police Department vorgestellt zu werden, seine Marke abzuholen und die Formalitäten zu erledigen. Als er seine Waffe ausgehändigt bekam, fragte der Beamte, der seine Personalien aufnahm, ob er nicht lieber einen Tomahawk wolle; sein neuer Partner fand es wahnsinnig komisch, ihn Crazy Horse zu nennen, aber das war nichts Neues für Will. Dem Beamten, der ihm ein blaues Auge geschlagen hatte, begegnete er nicht; Beverly Hills war allerdings ein eigener Bezirk. Als ihn ein paar kichernde Sekretärinnen fragten, wie er zu dem Bluterguß gekommen sei, zuckte er die Achseln und sagte, ihm sei jemand in die Quere gekommen.

Es war schon vier Uhr vorbei, als er sich endlich ein Herz faßte und an die Tür seines neuen Captains klopfte, um ihm von Jane zu erzählen. »Kommen Sie rein«, sagte Watkins und winkte Will zu sich. »Na, finden Sie sich schon zurecht?«

Will schüttelte den Kopf. »Es ist anders hier.«

Watkins grinste. »In South Dakota sind wir hier jedenfalls nicht«, meinte er. »Ein paar Verkehrsvergehen von irgendwelchen Filmstars, ein Drogeneinsatz, und schon sind Sie ein alter Hase.«

Will rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ich wollte mit Ihnen über einen Vermißtenfall sprechen«, sagte er. »Eigentlich wollte ich wissen, ob –« Er verstummte und rieb sich mit den Händen über die Schenkel, um Haltung zu bewahren. Es gab keinen Königsweg, die Tatsache zu erklären, daß er die Bestimmungen umgangen hatte; Jane hätte eigentlich schon längst auf dem Revier sein und fotografiert werden müssen. »Ich habe gestern abend eine Frau gefunden, die unter Amnesie leidet. Wir sind ins Krankenhaus gefahren, aber weil es schon so spät war, habe ich sie nicht gleich hergebracht.« Will sah den Captain an. »Ist Ihnen irgendwas darüber zu Ohren gekommen?«

Der Ältere schüttelte bedächtig den Kopf. »Da Sie noch nicht im Dienst waren«, erklärte er, »werde ich Ihnen keine Vorhaltungen machen. Aber sie muß aufs Revier kommen und befragt werden.« Watkins musterte Will nachdenklich, und Will begriff, daß er den Captain gegen sich eingenommen hatte, auch wenn er ihm scheinbar vergeben hatte. »Vielleicht steht ihr Gedächtnisverlust in Zusammenhang mit einem Verbrechen.« Watkins schaute Will scharf an. »Ich nehme an, Sie wissen, wo sie sich aufhält. Ich schlage vor, Sie bringen sie so schnell wie möglich her.«

Will nickte und ging zur Tür. »Und, Officer«, rief Watkins ihm nach, »von jetzt an halten Sie sich an die Spielregeln.«

Den ganzen Weg zurück nach Reseda zerrte Will an seinem Uniformkragen. Das verdammte Hemd erwürgte ihn noch. Er würde es keine Woche lang tragen können. Als er in seine Straße einbog, fragte er sich, ob Jane eingefallen war, wie sie hieß. Er fragte sich, ob sie immer noch da war.

Sie empfing ihn an der Tür in einem seiner weißen Sonntagshemden, das sie an der Taille zusammengeknotet hatte, und in seinen Joggingshorts. »Und – sucht jemand nach mir?« fragte sie.

Will schüttelte den Kopf, trat ins Haus und blieb wie erstarrt stehen. Er überblickte die ordentlich aufgestapelten, leeren Kisten und die Zeugnisse seiner Herkunft, die für jeden deutlich sichtbar an den Wänden hingen.

Der Zorn kam so schnell, daß er ihn nicht mehr verbergen konnte. »Wer zum Teufel hat Ihnen erlaubt, in meinen Sachen zu wühlen?« brüllte er und stampfte über den Teppich in die Wohnzimmermitte. Er wirbelte herum, um Jane mit seinem Blick festzunageln – und sah sie dicht an die Wand gekauert und die Hände über den Kopf erhoben, als müsse sie einen Schlag abwehren.

Sein Zorn war wie weggeblasen. Er blieb ruhig stehen und wartete, bis er wieder klar sehen konnte. Er sagte kein Wort.

Jane senkte die Arme und stand steif auf, aber sie schaute Will nicht in die Augen. »Ich wollte Ihnen für alles danken, und so schien es mir am besten.« Ihre Augen wanderten über die Wand, wo der kleine Lederbeutel neben der gemalten Jagdszene hing. »Ich könnte ja alles umhängen, wenn Sie die Sachen lieber anderswo haben wollen.«

»Ich will sie nirgendwo haben«, knurrte Will und nahm die Mokassins vom Kaminsims. Er zog einen leeren Karton heran und begann, die Sachen hineinzuschleudern.

Jane kniete sich neben die Kiste und versuchte, die zerbrechlichen Stücke so zu stapeln, daß sie nicht zerdrückt wurden. Sie mußte vorsichtig sein; sie mußte es richtig machen. Sie strich mit den Fingern über die Federn des kleinen Lederbeutels. »Was ist das?«

Will warf kaum einen Blick auf das Ding in ihrer Hand. »Ein Medizinbündel«, sagte er.

»Was ist darin?«

Will zuckte mit den Achseln. »Die einzigen, die das wissen, sind mein Ururgroßvater und sein Schamane, und die sind beide tot.«

»Es ist schön«, sagte Jane.

»Es ist nutzlos«, schoß Will zurück. »Es soll den Träger beschützen, aber mein Ururgroßvater wurde von einem Büffel aufgespießt.« Er drehte sich um, sah, wie Janes Finger das Bündel betasteten, und seine Miene entspannte sich, als sie zu ihm aufschaute. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte nicht so explodieren. Ich will bloß nicht, daß dieses Zeug hier an der Wand hängt, wo ich es ständig sehen muß.«

»Ich dachte, es würde Ihnen gefallen, etwas zu haben, was Sie an Ihre Herkunft erinnert«, erklärte Jane.

Will ließ sich auf den Boden sinken. »Genau davor bin ich weggelaufen«, gestand er. Er seufzte, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und versuchte das Thema zu wechseln. »Wie geht es Ihnen?«

Sie blinzelte, weil ihr erst jetzt auffiel, daß er ein blaues Polizeihemd mit dem Abzeichen am Oberarm trug. »Sie tragen eine Uniform«, platzte sie heraus.

Will schmunzelte. »Was haben Sie denn erwartet – Federschmuck?«

Jane stand auf und reichte Will die Hand, um ihn hochzuziehen. »Mir ist wieder eingefallen, wie man kocht«, sagte sie. »Möchten Sie was essen?«

Es gab Brathähnchen, Bohnen und Ofenkartoffeln. Will trug das Tablett ins Wohnzimmer, wo er es auf dem Boden abstellte, wählte für jeden ein Bruststück und legte das Fleisch auf zwei Teller. Er erzählte ihr von seinem ersten Arbeitstag, und sie erzählte ihm, wie sie sich auf dem Weg zum Supermarkt verlaufen hatte. Die Sonne blutete durch die Fenster und umriß ihre schwarzen Silhouetten, während sich ein entspanntes Schweigen breitmachte.

Will pickte mit den Fingern in den Hähnchenresten und nagte die Fleischreste von den Knochen. Plötzlich spürte er Janes Hand auf seiner. »Warten Sie, ich will ziehen«, sagte sie mit glänzenden Augen, und er merkte, daß er das Gabelbein in der Hand hielt.

Er zog, und sie zog. Immer wieder rutschten ihnen die weißen Knochen durch die fettigen Finger, bis er schließlich das größere Stück in der Hand hielt. Enttäuscht lehnte sich Jane an ein paar aufgestapelte Kisten. »Was haben Sie sich gewünscht?«

Er hatte sich ihr Gedächtnis zurückgewünscht, aber das verriet er ihr nicht. »Wenn man es verrät, erfüllt es sich nicht«, sagte er zu seiner Überraschung. Er lächelte Jane an. »Das hat meine Mutter immer gesagt. Sie war die letzte, die das mit mir gespielt hat.«

Jane zog die Knie an die Brust. »Lebt sie in South Dakota?«

Er hätte ihre Frage fast nicht gehört, so versunken war er in seine Erinnerung an das weiche Kinn seiner Mutter und den Glanz in ihrem Kupferhaar. Im Geist sah er ihre Hand und seine an den beiden Enden des Gabelbeins einer Hühnerbrust: er hätte gern gewußt, ob sich ihre Wünsche jemals erfüllt hatten. Will sah auf. »Meine Mutter starb, als ich neun war, zusammen mit meinem Vater bei einem Autounfall.«

»O wie schrecklich«, entfuhr es Jane, und Will war verblüfft, wie bedrückt sie klang, wo es doch um eine Fremde ging.

»Sie war eine Weiße«, hörte er sich sagen. »Nach dem Unfall lebte ich bei den Eltern meines Vaters im Reservat.«

Sobald er zu sprechen begann, griff Jane auf den Servierteller und zog ein paar Knochen aus dem Haufen, den Will dort abgelegt hatte. Sie leerte sie auf ihren Teller und schob sie dort scheinbar vollkommen geistesabwesend herum. Plötzlich schaute sie auf und lächelte ihn an. »Erzählen Sie weiter«, bat sie. »Erzählen Sie mir, wie sich Ihre Eltern getroffen haben.«

Will hatte diese Geschichte schon oft erzählt, weil sie sich so warm um die Herzen der Frauen schmiegte, daß sie danach wie von selbst in sein Bett purzelten. »Meine Mutter war Lehrerin im Ort Pine Ridge, und mein Vater sah sie eines Tages, als er für seinen Boß auf der Ranch Futter besorgte. Und weil sie eine Weiße war und er ein Lakota, wußte er nicht, warum sie ihn so anzog, und noch weniger, was er tun sollte.« Wie hypnotisiert beobachtete er Janes Hände, die zwei Knochen zusammendrückten. »Jedenfalls gingen sie ein paarmal aus, und dann kamen die Sommerferien, und sie meinte, daß ihr alles viel zu schnell gehe. Also verschwand sie einfach, ohne meinem Vater zu verraten, wohin.«

Jane legte fünf Knochen säuberlich nebeneinander am Tellerrand ab. »Ich höre zu«, sagte sie.

»Ich weiß, es klingt blöd, aber mein Vater sagte, er sei damals die Zäune abgeritten, und da hätte er es einfach gewußt. Also machte er sich mitten am Tag auf, Richtung Nordnordwesten, auf einem geliehenen Pferd und ohne eine Ahnung zu haben, wohin er eigentlich ritt.«

Jane schaute auf, und ihre Hände kamen zur Ruhe. »Hat er sie gefunden?«

Will nickte. »Ungefähr fünfunddreißig Meilen entfernt in einem Restaurant, wo sie auf eine Freundin wartete, die sie dort abholen und heim nach Seattle fahren sollte. Mein Vater setzte sie vor sich auf das Pferd und wickelte seine Satteldecke um sie beide.«

Will hatte diese Geschichte als Kind so oft gehört, daß er auch jetzt noch die Stimme seiner Mutter und nicht sich selbst hörte. »So haben sich vor vielen Jahren die Menschen aus meinem Volk verliebt«, erklärte mir dein Vater, und er zog die Decke so fest, daß wir unseren Herzschlag teilten. »Ich wäre nachts zu dir gekommen, und wir hätten in dieser Decke draußen gesessen, und die Sterne wären Zeugen gewesen, wenn ich dir erklärt hätte, daß ich dich liebe.«

»Mein Gott«, seufzte Jane. »Das ist das Romantischste, was ich je gehört habe.« Sie zog die nächste Handvoll Knochen von dem Tablett zwischen ihnen. »Ist Ihre Mutter mit ihm zurückgeritten?«

Will lachte. »Nein, sie fuhr nach Seattle. Aber sie hat ihm den ganzen Sommer über Briefe geschrieben, und ein Jahr später haben sie geheiratet.«

Jane lächelte und wischte sich die Hände an einer Serviette ab. »Wieso wird das heute nicht mehr so gemacht? Heute fummelt man auf der High-School hinten in einem Sedan herum und hält sich für verliebt. Niemand wird mehr vom Sturm der Leidenschaft hinweggefegt.« Kopfschüttelnd stand sie auf, um die Teller hinauszutragen. Sie hob den fast leeren Servierteller hoch und ließ ihn dann fallen, hörte ihn klirren und das Fett spritzen.

Auf ihrem Teller hatte sie das Skelett des Hühnchens ausgelegt. Die Knochen waren sorgfältig aneinandergefügt, an manchen Stellen sogar wieder in die Gelenke gedrückt. Die Flügel waren säuberlich an die Rippen angelegt; die kräftigen Beinknochen nach hinten gestreckt.

Sie preßte sich die Hand auf die Stirn, als ein Strom von Fachbegriffen und Bildern ihr Gehirn überschwemmte: der schlanke Armknochen eines Ramapithecus, eine Backenzahnreihe und Schädelfragmente, grüne Zelte in Äthiopien, unter denen Tische mit Hunderten von katalogisierten Knochen standen. Biologische Anthropologie. Sie hatte ganze Monate auf Ausgrabungen verbracht, in Kenia und Budapest und Griechenland, hatte die Menschheitsgeschichte zurückverfolgt. Es war ein so wesentlicher Teil ihres Lebens, daß es erschreckend war, wie ein Schlag auf den Kopf ihn auslöschen konnte.

Vorsichtig berührte sie den Oberschenkelknochen des rekonstruierten Hähnchens. »Will«, sagte sie, und als sie aufsah, strahlten ihre Augen. »Ich weiß, was ich arbeite.«

3

Jane hatte Will besser gefallen, bevor sie sich daran erinnert hatte, daß sie Anthropologin war. Immer wieder versuchte sie ihm ihr Fachgebiet zu erklären. Die Anthropologie, sagte sie, erforsche, wie der Mensch sich in seine Umgebung einfügt. Soviel verstand er, aber was sie sonst noch erzählte, war für ihn nur Kauderwelsch. Während sie Montag abend zur Polizeizentrale fuhren, gab sie ihm einen kurzen Abriß über die besten Methoden, ein Skelett auszugraben. Als Watkins sie befragte, meinte sie, bis jemand sie abholen käme, könne sie gern bei der Gerichtsmedizin aushelfen. Und jetzt, am Morgen darauf, versuchte sie, während Will sich durch eine Schale Corn-flakes schaufelte, ihm die Evolution des Menschen zu erläutern.

Sie zog Linien über ihre Serviette und benannte jede einzelne Abzweigung. Will ahnte allmählich, warum ihr Mann sich nicht blicken ließ. »Das ist mir zuviel«, sagte er. »So früh am Morgen kann ich nicht mal rechnen.«

Jane ging nicht darauf ein. Als sie fertig war, seufzte sie und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Mein Gott, es tut so gut, etwas zu wissen.«

Will war der Meinung, daß es wahrscheinlich Wissenswerteres gab, aber das sagte er nicht. Er deutete auf einen Punkt auf der Serviette. »Warum sind sie ausgestorben?«

Jane runzelte die Stirn. »Sie konnten sich nicht in die Umwelt einfügen«, sagte sie.

Will schnaubte. »Ach ja? Kann ich meistens auch nicht.« Er griff nach seinem Hut und wollte gehen.

Janes Augen leuchteten auf, als sie ihn ansah. »Ich würde zu gern wissen, ob ich etwas wirklich Bedeutendes entdeckt habe, etwas wie das Lucy-Skelett oder diese Gletschermumie in den Tiroler Alpen.«

Will lächelte. Er stellte sich vor, wie sie im roten Wüstensand über einer Ausgrabungsstelle kauerte, ganz von ihrer Arbeit eingenommen. »Wenn Sie möchten, können Sie ja im Garten graben«, sagte er.

An jenem Dienstag morgen ließ die Polizei Janes Bild mit der Bitte um sachdienliche Hinweise in der L. A. Times abdrucken, und Jane erinnerte sich an die Entdeckung »ihrer« Hand.

Als Will gegangen war, machte sich Jane auf den Weg zur nächsten Stadtbücherei. Es war nur eine Zweigstelle, aber sie hatte eine kleine, gut sortierte Abteilung mit archäologischen und anthropologischen Büchern. Sie suchte sich das neueste Buch heraus, hockte sich an den polierten Tisch und begann zu lesen.

Die vertrauten Wörter riefen Bilder in ihrem Gedächtnis wach. Sie sah sich, wie sie in England, auf dem Land, neben einer offenen Grube kniete, in der wild durcheinander die Überreste einer archaischen Eisenzeitschlacht lagen. Sie erinnerte sich, Erde von den Knochen gebürstet zu haben; die Scharten auf einem Brustbein betastet zu haben, die von Lanzen und Pfeilspitzen geschlagen worden waren; an eine Wirbelsäule, die nur eine Enthauptung so sauber durchtrennt haben konnte. Sie hatte damals als Assistentin gearbeitet, entsann sie sich: die Fundstücke mit Tusche beschriftet, Tabletts voller Knochen zum Trocknen in die Sonne getragen.

Dann blätterte Jane um und sah »ihre« Hand. Genau wie damals, als sie sie in Tansania entdeckt hatte, versteinert in einer Schicht Sedimentgestein und einen steinernen Faustkeil umklammernd. Zu Hunderten hatten Anthropologen Tansania auf der Suche nach Überresten von den Steinwerkzeugen durchkämmt, zu deren Entwicklung die ersten Menschen ihrer Meinung nach intellektuell fähig gewesen waren. Sie war dem Beispiel ihrer Kollegen gefolgt und war nach Afrika gefahren, um eine vergessene Ausgrabungsstätte wieder zu öffnen.

Sie hatte gar nicht gesucht, als sie die Hand gefunden hatte. Sie hatte sich einfach nur umgedreht, und da lag sie, genau auf Schulterhöhe, so als habe sie die ganze Zeit nach ihr greifen wollen. Eine versteinerte Hand zu finden war ein außergewöhnlicher Glücksfall; dünne Knochen blieben nur selten erhalten. Damit Skelette versteinern konnten, durften weder Tiere noch Wasser, noch Erdbewegungen ihre Ruhe stören, und wenn Teile eines Skeletts verlorengingen, dann meistens die Extremitäten.

Noch während sie die Hand ausgrub, war ihr klar, daß sie damit den Durchbruch geschafft hatte. Sie hatte gefunden, wonach alle gesucht hatten. Säuberlich hatte sie den Faustkeil und die mehreren hundert Knöchelchen beschriftet, sie gereinigt und mit Kunstharz präpariert.

Jane widmete sich wieder dem Buch und las die Erläuterung neben dem Foto. Diese Hominidenhand mit Faustkeil wird auf über 2,8 Millionen Jahre v. Chr. datiert und ist das damit älteste Beweisstück für die Verwendung von Steinwerkzeugen (Barrett u. a., 1990).

Barrett. War das ihr Nachname? Oder hatte sie damals nur als Assistentin für jemanden gearbeitet, der ihre Entdeckung für sich beanspruchte? Sie schlug im Register nach, aber Barrett wurde nirgendwo sonst aufgeführt. In den anderen Büchern wurde die Hand nicht einmal erwähnt; dazu war der Fund zu neu.

Innerlich bebend ging sie zur Auskunftstheke und wartete, bis die Bibliothekarin von ihrem Computer aufsah. »Guten Tag«, sagte sie und ließ ihr strahlendstes Lächeln aufblitzen. »Können Sie mir vielleicht helfen?«

Als sie aufs Revier kam, kauerte Will an einem Schreibtisch, der viel zu klein für ihn schien, und wühlte in einem Stapel Papiere, »Polizeiberichte«, grummelte er. »Ich hasse diesen Scheiß.« Er schob die Blätter mit dem Arm beiseite und deutete auf einen Stuhl. »Haben Sie Ihr Bild schon gesehen?« Will hielt die Zeitung hoch.

Jane schnappte sie ihm aus der Hand und überflog den Text. »Guter Gott«, murmelte sie. »Das klingt, als sei ich ein Findelkind.« Sie warf die Zeitung auf den Schreibtisch. »Und Sie wurden mit Anrufen überschwemmt?«

Will schüttelte den Kopf. »Nur Geduld«, tröstete er sie. »Es ist noch nicht mal Mittag.« Er schob seinen Bürostuhl zurück und kreuzte die Füße auf der Schreibtischplatte. »Außerdem gewöhne ich mich langsam daran, Sie als Haushälterin zu haben.«

»Dann sollten Sie sich allmählich nach einem Ersatz umsehen«, sagte sie und schob ihm die Kopie der Buchseite zu. »Das ist meine Hand.«

Will setzte sich auf, warf einen Blick auf das verschwommene Bild und pfiff leise. »Für Ihr Alter haben Sie sich aber gut gehalten«, meinte er.

Jane riß ihm die Kopie wieder aus der Hand und strich sie an der Schreibtischkante glatt. »Ich habe diese Hand in Afrika entdeckt«, erklärte sie. »Vielleicht bin ich ja diese ›Barrett‹.«

Will zog die Brauen hoch. »Sie haben das entdeckt?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Barrett, wie?«

Sie zog die Schultern hoch. »Ich bin mir noch nicht sicher. Vielleicht heißt auch nur der Wissenschaftler so, der die Ausgrabungen geleitet hat.« Sie deutete auf die Textstelle. »Ich könnte auch (u. a.) sein. Ich habe die Bibliothekarin dazu überredet, mir mehr Material zu besorgen.« Sie strahlte. »Morgen nachmittag müßte ich wissen, wer ich bin.«

Will lächelte sie an. Er fragte sich, was er wohl tun würde, wenn sie ihn allein ließ und in ihr eigenes Leben zurückkehrte. Er fragte sich, wie leer ihm sein Haus wohl vorkommen würde, wenn nur noch ein Mensch darin lebte, und ob sie ihn manchmal anrufen würde oder nicht. »Also«, sagte er, »dann sollte ich Sie wohl lieber Barrett nennen.«

Sie hielt inne und sah ihn an. »Ehrlich gesagt habe ich mich an Jane gewöhnt.«

Herb Silver war Frühaufsteher und hatte schon um sechs Uhr am Pool gefrühstückt: Tomatensaft, Grapefruitsaft und eine Havanna. Er blinzelte in die Sonne, schlug die Times auf und starrte auf das Bild auf Seite drei, bis ihm die Zigarre unbemerkt aus dem Mundwinkel ins flache Beckenende fiel. »Ach du Scheiße«, sagte er und zog das Funktelefon aus der Bademanteltasche. »Ach du große Scheiße.«

Für keinen anderen Schauspieler hätten sie die Dreharbeiten unterbrochen, aber er war einer der Produzenten und der Hauptdarsteller in Personalunion, und wenn sie Geld verschwendeten, dann wäre es seins. Er wischte sich mit dem Arm über die Stirn und verzog das Gesicht, als Schminke den Ärmel seines Samtwamses verschmierte. Es hatte verdammte zwanzig Grad in Schottland, aber der Ausstatter hatte im Rittersaal der Burg für die Dreharbeiten zu Macbeth hundert Fackeln aufstellen lassen. Logischerweise konnten sie keine Einstellung abfilmen, ohne daß ihm der Schweiß in die Augen lief.

Jennifer, seine verhuschte kleine Assistentin, stand mit dem Handy neben einer überzähligen Rüstung. Er nahm ihr das Telefon aus der Hand und entfernte sich ein paar Schritte von ihr und der People-Reporterin, die über die Dreharbeiten berichtete. »Herb«, sagte er, immer noch mit Shakespeare-Akzent, »ich hoffe für dich, daß es wichtig ist.«

Er wußte, daß es sich um einen echten Notfall, eine Oscarnominierung oder ein phantastisches Angebot handeln mußte, wenn ihn sein Agent bei den Dreharbeiten anrief. Aber für den Oscar war er dieses Jahr bereits nominiert worden, und seine Rollen suchte er sich seit ewigen Zeiten selbst aus. Seine Finger umklammerten das Gerät fester, während er darauf wartete, daß das transatlantische Rauschen aufhörte.

»… Zeitung heute morgen, und da war sie …«, hörte er.

»Was?« brüllte er. Die Techniker und Darsteller um ihn herum hatte er völlig vergessen. »Ich verstehe kein Wort!«

Herbs Stimme drang klar an sein Ohr. »Da ist ein Bild von deiner Frau in der L. A. Times, auf Seite drei«, sagte er. »Die Polizei hat sie aufgelesen. Sie weiß nicht mehr, wie sie heißt.«

»Herr im Himmel.« Sein Puls raste. »Was ist passiert? Ist alles in Ordnung mit ihr?«

»Ich habe es eben erst gelesen«, antwortete Herb. »Auf dem Bild sieht sie ganz okay aus. Ich wollte dich gleich anrufen.«

Er seufzte ins Telefon. »Unternimm nichts. Ich bin …« – er hielt inne und rechnete kurz nach – »morgen früh um sechs da.« Plötzlich klang seine Stimme rauh. »Ich will der erste sein, den sie sieht«, sagte er.

Er schaltete den Apparat aus, ohne sich zu verabschieden, und begann Jennifer mit Anweisungen zu bombardieren. Über ihre Schulter hinweg rief er seinem Koproduzenten zu: »Jo, wir müssen die Dreharbeiten für eine Woche unterbrechen – mindestens.«

»Aber …«

»Scheiß auf das Budget.« Er wollte sich schon auf den Weg zu seinem Wohnwagen machen, als er sich noch einmal umdrehte und Jennifer die Hand auf die Schulter legte. Sie hatte bereits den Hörer am Ohr und versuchte, einen Flug zu buchen. Das Haar fiel ihr wie ein Vorhang ins Gesicht. Als sie den Kopf hob, schaute er sie an, und sie sah etwas in seinen faszinierenden Augen, das außer ihr nur wenige Menschen gesehen hatten: stille Verzweiflung. »Bitte«, sagte er leise. »Setz Himmel und Erde in Bewegung.«

Jennifer brauchte einen Augenblick, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Noch Sekunden, nachdem er gegangen war, spürte sie die Wärme seiner Hand auf ihrer Schulter; das Gewicht seiner Worte. Sie schaltete das Telefon wieder ein und begann zu wählen. Alex Rivers sollte bekommen, was Alex Rivers brauchte.

Am Mittwoch klingelte um sieben Uhr morgens das Telefon. Will schleppte sich in die Küche, ein Handtuch um die Hüfte gewickelt. »Ja?«

»Watkins. Gerade hat mich das Revier angerufen. Dreimal dürfen Sie raten, wer eben aufgetaucht ist.«

Will sank auf den Küchenboden, während um ihn herum die Welt in sich zusammenstürzte. »Wir sind in einer halben Stunde da.«

»Will?« Er hörte Watkins' Stimme wie aus weiter Ferne. »Mein Gott, Sie haben's wirklich drauf.«

Er wußte, er würde Jane wecken und ihr sagen müssen, daß ihr Mann erschienen war und sie zurückhaben wolle; er wußte, er würde sie auf der Fahrt zur Academy aufmuntern müssen, weil sie das von ihm erwartete; aber er glaubte nicht, daß er das fertigbringen würde. Die Gefühle, die Jane in ihm geweckt hatte, gingen weit über das hinaus, was einem schicksalhaften Zufall angemessen war. Es gefiel ihm zu wissen, daß sie ihre Sommersprossen unter Babypuder zu verstecken versuchte. Es gefiel ihm, wie sie beim Reden gestikulierte. Er liebte es, sie in seinem Bett liegen zu sehen. Er sagte sich, daß er einfach die gleichgültige Maske aufsetzen würde, die er die letzten zwanzig Jahre getragen hatte, und daß sein Leben innerhalb einer Woche wieder in den alten Bahnen verlaufen würde. Er sagte sich, daß es von Anfang an klar gewesen war. Und gleichzeitig sah er Jane vor sich, wie sie beim Schrei der Eule aus dem Friedhof gelaufen kam, und wußte, daß er für sie verantwortlich bleiben würde, auch nachdem sie ihn verlassen hatte.

Sie schlief auf der Seite, einen Arm über den Bauch gelegt. »Jane«, sagte er und berührte sie an der Schulter. Er beugte sich über sie und rüttelte sie sanft. Erschrocken stellte er fest, daß Kissen und Decke nicht mehr nach ihm, sondern nach ihr rochen. »Jane, aufstehen.«

Sie blinzelte ihn an und rollte sich auf den Rücken.»Ist es soweit?« fragte sie, und er nickte.

Er machte Kaffee, während sie duschte, falls sie etwas im Magen haben wollte, bevor sie sich auf den Weg machten, aber sie wollte lieber gleich los. Schweigend saß er neben ihr im Pick-up, während sich um ihn herum die Worte auftürmten, die er ihr eigentlich hätte sagen wollen. Ich werde Sie vermissen, hatte er sich zurechtgelegt. Rufen Sie mal an. Falls irgendwas ist, dann wissen Sie ja, wo Sie mich finden können.

Jane starrte mit glasigen Augen auf den Freeway; ihre Hände hatte sie im Schoß verkrampft. Sie sprach kein Wort, bis sie auf den Parkplatz vor dem Polizeigebäude einbogen. Und dann redete sie so leise, daß Will erst glaubte, sich verhört zu haben. »Glauben Sie, daß er mich mag?«

Will hatte erwartet, daß sie sich Gedanken darüber machte, ob sie sich an ihren Mann erinnern würde, sobald sie ihn wiedersah, oder wo sie wohl wohnte. Diese Frage hatte er nicht erwartet.

Er hatte keine Gelegenheit mehr, ihr zu antworten. Eine Horde von Reportern kam auf den Pick-up zugerannt. Sie ließen Kameras aufblitzen und riefen Fragen, die sich zu unverständlichem Lärm vermengten. Jane preßte sich in den Sitz. »Kommen Sie«, sagte Will und legte ihr den Arm um die Schultern. Er zog sie zur Fahrertür. »Bleiben Sie ganz dicht bei mir.«

Wer zum Teufel war sie? Selbst wenn sie diese Barrett war, diese Anthropologin, selbst wenn sie diese Hand entdeckt hatte, kam ihm dieser Medienrummel ein bißchen übertrieben vor. Will führte Jane die Stufen hinauf und in die Eingangshalle des Reviers. Die ganze Zeit spürte er ihren warmen Atem auf seinem Schlüsselbein. Neben Captain Watkins stand Alex Rivers.

Will ließ seinen Arm von Janes Schultern sinken. Alex Rivers, verdammt noch mal. All die Reporter und Kameras hatten gar nichts mit Jane zu tun.

Wills Mundwinkel zuckte. Jane war mit dem berühmtesten Filmstar Amerikas verheiratet. Und sie hatte das vollkommen vergessen.

Zuerst merkte sie nur, daß Will nicht mehr an ihrer Seite war. Einen Moment war sie überzeugt davon, allein nicht stehen zu können. Sie fürchtete sich davor, aufzustehen und sich all diesen Menschen zu stellen, aber irgend etwas hielt sie auf den Beinen, und sie mußte herausbekommen, was das war.

Sie hob den Kopf und wurde von Alex Rivers' Augen festgehalten.

Tabu.

»Cassie?« Er machte einen Schritt auf sie zu, dann noch einen. Unwillkürlich trat sie näher zu Will. »Erkennst du mich?«

Natürlich erkannte sie ihn; jeder kannte ihn, mein Gott, er war schließlich Alex Rivers. Sie nickte, und in diesem Augenblick wurde ihr bewußt, wie fehlerhaft ihre Wahrnehmung geworden war. Immer wieder verschwamm sein Gesicht vor ihren Augen wie eine sommerliche Luftspiegelung über heißem Asphalt. Mal schien er glänzend und überlebensgroß; dann kam er ihr wieder wie ein ganz normaler Mensch vor.

Einen winzigen Augenblick, bevor er die Hand nach ihr ausstreckte, vereinten sich Cassies Sinne in einer umfassenden Wahrnehmung. Sie spürte die Wärme, die seine Haut ausstrahlte, sah das Licht in seinen Haaren glänzen, hörte das Flüstern, das sie beide umhüllte und aufeinander zuschob. Sie roch den sauberen Sandelholzduft seiner Rasiercreme und die Stärke in seinem Hemd. Zaghaft legte sie die Arme um seinen Leib; sie wußte genau, wo ihre Finger auf die Muskeln in seinem Rücken treffen würden. Die Anthropologin, dachte sie, erforscht, wie der Mensch sich in seine Umgebung einfügt. Sie schloß die Augen und ließ sich in die vertrauten Empfindungen fallen.

»Mein Gott, Cassie, ich hatte ja keine Ahnung. Herb hat mich in Schottland angerufen.« Sein Atem strich über ihr Ohr. »Ich liebe dich, pichouette.«

Dieses Wort ließ sie zurückweichen. Sie sah zu ihm auf, zu diesem Mann, von dem jede Frau in Amerika träumte, und trat einen Schritt zurück. »Hast du ein Bild?« fragte sie leise. »Eins, das uns irgendwo zusammen zeigt?«

Sie fragte sich nicht, warum sie vor einigen Tagen, als sie nicht klar denken konnte, Will so vorbehaltlos vertraut hatte und warum sie jetzt einen Beweis wollte, bevor sie sich von Alex Rivers wegbringen ließ. Alex legte kurz die Stirn in Falten und zog dann sein Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche. Er reichte ihr ein Hochglanzfoto, ein Hochzeitsbild.

Er war der Bräutigam, und sie war die Braut, ohne jeden Zweifel, und sie sah glücklich und sicher und behütet aus. Sie gab Alex das Bild zurück. Er steckte das Portemonnaie wieder ein und streckte ihr die Hand entgegen.

Sie starrte darauf.

Im Hintergrund hörte sie eine Sachbearbeiterin kichern. »Scheiße«, sagte die Frau, »wenn sie nicht will, gehe ich mit.«

Sie legte ihre Finger in Alex' Hand und beobachtete, wie sich seine Miene schlagartig aufhellte. Die senkrechte Sorgenfalte zwischen seinen Brauen glättete sich, die zusammengekniffenen Lippen entspannten sich zu einem Lächeln, und seine Augen begannen zu strahlen. Sie brachten den ganzen Raum zum Leuchten, und Cassie stockte der Atem. Er will mich, dachte sie. Mich.

Alex Rivers ließ ihre Hand los und legte seinen Arm um ihre Taille. »Wenn deine Erinnerung nicht zurückkommt«, flüsterte er ihr zu, »dann sorge ich eben dafür, daß du dich ganz von neuem in mich verliebst. Ich fliege mit dir nach Tansania und bringe deine ganzen Knochenfunde durcheinander, und du kannst eine Schaufel nach mir werfen …«

»Ich bin Anthropologin?« schrie sie.

Alex nickte. »So haben wir uns kennengelernt.«

Sie platzte fast vor Glück. Ihre Hand. Es war also doch ihre Hand; und wie durch ein göttliches Wunder schien Alex Rivers sie zu lieben und …

Will. Sie drehte sich um, sah ihn ein paar Schritte entfernt stehen und löste sich aus Alex' Arm. »Ich