Auf der falschen Seite - Wilhelm Schneider - E-Book

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Wilhelm Schneider

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Beschreibung

Nach der Wende fand ich auf dem Dachboden unseres Hauses in Kunrau Rechnungen, Ablieferungsscheine, Bilder und andere Dokumente aus den 40er und 50er Jahren. Sofort ist vor meinem geistigen Auge die Vergangenheit wieder lebendig geworden. Plötzlich waren die alten Bilder wieder da: Meine Mutter in der Küche beim Kuchenbacken; mein Vater in seiner schneidigen Arbeitsdienstuniform; die amerikanischen Bomberverbände am wolkenlosen Himmel; die über die an der Wohnzimmertür befestigten Europakarte wandernden Stecknadeln; der erste Neger meines Lebens; der russische Offizier Nikolai; unsere Kühe; unser Pferd Hansi; die Schweine, die nicht fürs Reiten geeignet waren; mein Vater beim Mähen der Wiesen und beim Schnapsbrennen; das Rübenverziehen auf endlosen Feldern; der große Apfelbaum im Garten; die Räucherkammer mit den Schinken und Würsten; die Schule; die erste Zigarette; das Internat und das Wichtigste, die erste Liebe. Als wäre es erst vor wenigen Tagen gewesen. Dabei liegt alles schon so weit zurück, in einer Zeit, die sich von der heutigen total unterscheidet, mit Umständen und Zuständen, die sich meine Frau und mein Sohn absolut nicht vorstellen können. Aber sie sollen einen Einblick in die vergangene Zeit erhalten, deshalb diese Zeilen.

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Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2014

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www.tredition.de

Wilhelm Schneider

Auf der falschen Seite

Kindheitserinnerungen

www.tredition.de

© 2014 Wilhelm Schneider

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7323-1893-3

Hardcover:

978-3-7323-1894-0

e-Book:

978-3-7323-1895-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für meine Frau Marie-Hélène und meinen Sohn Frédéric, die beide ganz anders aufgewachsen sind. Damit meine Beiden etwas über eine völlig andere Zeit erfahren, habe ich diese Zeilen niedergeschrieben.

Wilhelm Schneider

Glückliche Stunden sind die Diamanten des Lebens.

Prolog

„Wie war das damals eigentlich?“ Eine oft gestellte Frage.

Wenn in gemütlicher Runde junge Leute mit älteren Menschen ins Erzählen kommen, schwärmen die Älteren von vergangenen Zeiten. Damals war alles stets schöner und besser.

Ja, es ist wahr, man konnte früher nachts ohne Angst durch unser Dorf und den Schlosspark gehen, ohne dass man sofort von bösen Menschen überfallen und ausgeraubt wurde. Die Häuser, zumindest in unserem Dorf, brauchten damals während meiner Kindheit nicht verschlossen zu werden wenn man kurz einmal weg musste und überhaupt… es war natürlich alles besser gewesen. Immer? Sicher nicht immer, aber ein Dorf mit etwa 800 Einwohnern, wo jeder den anderen kennt, ist überschaubar. Fremde Bösewichte wären sofort aufgefallen.

Ich weiß allerdings nicht, ob die Aussagen über unser Dorf auch auf andere Regionen und die Städte übertragbar sind. Es könnte dort vielleicht anders als bei uns im Dorf gewesen sein.

Alles war früher nicht nur besser, sondern natürlich auch viel billiger als heute, werden die Alten behaupten. So kosteten 1943 ein Ei 0,12 RM, ein Bier 0,10 RM, 10 kg Kartoffeln 1,00 RM, ein Liter Milch 0,26 RM, ein Brötchen 0,05 RM, usw.

Hört sich alles preiswert an, dass aber der durchschnittliche Stundenlohn im gleichen Jahr bei 0,81 RM lag, wird geflissentlich verschwiegen, relativiert die ganze Sache aber gewaltig. Bei gleicher Relation entspricht heute dem Brötchenpreis von 0,27 Euro ein Stundenlohn von 4,45 Euro und bezogen auf die Milch 2,15 Euro. Dann lassen wir es lieber so wie es ist und trauern nicht vergangenen Zeiten nach. Es bringt auch nichts.

Aber auch aktuelle Themen, wie Kriminalität oder die heutige Technik, veranlassen bisweilen den älteren Gesprächspartner, ungefragt das Thema „früher“ aufzugreifen. Und dann wird behauptet, Kriminalität gab es damals nicht und technische Geräte waren viel solider gebaut. War das so? Berichte über Kriminalfälle wurden damals in staatlich kontrollierten Medien, es gab ja nur das Radio und die Zeitung, verbreitet. Und was die Qualität der alten Geräte betrifft, sie waren vielleicht ohne Sollbruchstellen, aber mit ihren eingeschränkten Fähigkeiten würde sie heute keiner mehr verwenden.

Ich bin am 30. August 1939 geboren und habe nur die letzten Jahre des Tausendjährigen Reiches sowie die letzten Kriegsjahre bewusst erlebt. Ich bin also unschuldig an Dingen, die damals und in den folgenden Jahren meiner Kindheit passierten.

Was war das für eine Welt, die mich damals erwartete? Der Aufbruch in ein Tausendjähriges Reich hatte bereits sechs Jahre vor meinem Erscheinen begonnen. Den Anfang hatte ich also verpasst, ebenso andere Marksteine. Folglich sind meine Kenntnisse über den Anfang des Tausendjährigen Reiches äußerst gering.

In den Kriegsjahren war unser Dorf von Bomben und Schießerei verschont geblieben. Ja, unser Dorf hat den Krieg völlig unbeschadet überstanden, abgesehen von einer größeren Anzahl Männer, die für Führer, Volk und Vaterland irgendwo verreckt sind.

Allerdings sehe ich vor meinem geistigen Auge noch heute die amerikanischen Bomberverbände über unser Dorf fliegen, als wäre es real und ich weiß noch heute, wie unser Luftschutzkeller und die nebenan eingelagerten Kartoffeln gerochen haben.

Tief beeindruckt hat mich später der Blick in unsere düstere Vergangenheit bei einem Besuch von Buchenwald, einer Hinterlassenschaft der Elite der arischen Rasse. Hier wird einem bewusst, was Ideologen und Demagogen aus Menschen machen können. Und hier kann man auch den Glauben an einen Gott endgültig verlieren.

Ein KZ-Überlebender hat das wie folgt ausgedrückt: „Ich habe über Jahre so viel unendliches Leid und erbarmungslose Brutalität gesehen. Ich weiß, da oben ist niemand, der sich für uns interessiert.“

Möge sich das bei uns nie wiederholen und mögen wir vor Neonazis, die nicht wissen, was sie verherrlichen, verschont bleiben. Sie verehren einen Tyrannen, brüllen „Ausländer raus“ und prügeln sinnlos auf Nichtarier ein. Und was wäre, wenn wir Deutschen zum Beispiel in unserem Urlaub in Thailand, Frankreich, Italien, Österreich, Holland und all den anderen beliebten Urlaubsländern mit dem Ruf „Deutsche raus!“ begrüßt würden? Und was ist mit Hartz IV oder ihrer „Stütze“, wenn die geschmähten Ausländer rufen: „Kauft keine deutschen Waren“ und dann tatsächlich nichts mehr kaufen? Was wird aus unserem Land, wenn unser Export, auf den wir dringend angewiesen sind, zusammenbricht?

Aber Menschen, die an einer eingeschränkten Gehirnleistung und einer damit einhergehenden ausgeprägten Gefühlskälte leiden, können kaum darüber nachdenken.

„Tritt eine Idee in einen hohlen Kopf, so füllt sie ihn völlig aus, weil keine andere da ist, die ihr den Rang streitig machen könnte“, wusste schon Charles-Louis de Montesquieu, französischer Schriftsteller und Philosoph (1689 – 1755)

Je älter man wird, je mehr man gesehen und erlebt hat, umso mehr verliert man den Glauben, dass die Menschen dazulernen und diese Welt einmal besser wird. Hoffentlich irre ich mich. Aber fallen nicht selbst heute noch viele Menschen auf Demagogen herein? Fallen nicht ganze Regionen Terrormilizen zum Opfer, ohne dass wir versuchen, den Rückfall ins finsterste Mittelalter zu verhindern. Normalerweise sind wir Menschen mit einem gut funktionierendem Verstand ausgestattet und wir sollten ihn, wenn er denn schon vorhanden ist, auch nutzen, um für eine bessere Welt zu sorgen!

Falls junge Menschen wissen möchten, wie das Leben vor ihrer Zeit aussah, als es noch keinen Fernseher, keine Computer, keine Handys und keine Plastiktüten gab, empfehle ich die Lektüre dieses Buches. Ältere Menschen werden bei der Lektüre sagen: „Ja, so war das damals.“

Noch eine Bitte, bevor Sie weiterlesen: Verzeihen Sie mir im Voraus meinen Sarkasmus, der manchmal mit mir durchgegangen ist.

Mit freundlichen Grüßen

Wilhelm Schneider

Aus dem „Buch vom 30. August“ 1939:

Wetter: Herrlich warm ist der Sommer im Monat August im Jahr 1939. Hohe Temperaturen füllen die Biergärten.

Politik: In Berlin wird ein Ministerrat für die Reichsverteidigung gebildet. Der sechsköpfige Rat wird von Generalfeldmarschall Hermann Göring als Vorsitzendem geleitet.

Dies war der Tag, an dem ich das Licht der Welt erblickte, wie man so zu sagen pflegt. Eine Welt, die auf den ersten Blick einen ganz befriedigenden und normalen Eindruck machte. Aber es stellte sich später heraus, der Eindruck täuschte.

Vor meiner Zeit

Man schrieb den 30. August 1939.

Das Wetter war, wie im “Buch vom 30. August“ festgehalten, an diesem Tag herrlich warm und die Biergärten waren völlig überfüllt.

Dem Führer des Deutschen Reiches, Adolf Hitler, ging es zu dieser Zeit ausgezeichnet. Er war wegen seiner Planungen für das arische Millennium zwar sehr beschäftigt, aber das schöne Wetter war zu verlockend. Also unterbrach er seinen schöpferischen Arbeitseifer und rang sich zu einer kurzen Pause durch.

So saß er nun mit seinem Freund Hermann, einem etwas beleibten Parteigenossen, in einem der überfüllten Biergärten in der Nähe der Reichskanzlei unter einer großen Linde vor einem kühlen Bier und war mit sich und der Welt fast zufrieden. Etwas lag ihm allerdings noch auf der Seele und ließ ihm keine Ruhe.

„Hermann“, sagte der Führer an seinen dicken Begleiter gewandt, „Es wird Zeit, ich muss meinen von der Vorsehung bestimmten geschichtlichen Auftrag erfüllen. Lass uns nachher gleich damit weitermachen!“

Hermann nickte. „Mein Führer, befiel, alle folgen dir. Lass uns etwas Neues, etwas Gigantisches beginnen, die Zeit ist reif für große Taten.“

„Gut“, sagte der Führer. „Wir trinken nur das Bier aus und dann beginnen wir mit der Planung für die nächsten neunhundertvierundneunzig Jahre.“

Richtig, sechs Jahre des Tausendjährigen Reiches waren ja bereits vorüber!

Lassen wir die beiden im Biergarten und sehen uns an, was bisher Wichtiges seit der Machtergreifung in den Jahren vor meiner Geburt geschehen war.

Bereits in seinem Buch „Mein Kampf“ hatte Adolf Hitler geschrieben: „Ich habe einen geschichtlichen Auftrag und den werde ich erfüllen, weil die Vorsehung mich dazu bestimmt hat.“

Leider hatten nur wenige sein Buch bisher tatsächlich gelesen, weil dieses, allen arischen Deutschen heilige Buch, sofort ungelesen und unbeschmutzt einen Ehrenplatz im Bücherregal erhielt.

Aber der Führer hatte das mit der Vorsehung oft genug im Großdeutschen Rundfunk betont. Somit waren alle informiert. Er sagte sinngemäß, den Deutschen würden großartige Zeiten bevorstehen.

Nach diesen Ankündigungen waren alle gespannt, was die Vorsehung nun speziell für das deutsche Volk bereithalten würde und sie ließen den Führer gewähren. Somit wurde dieser von der Vorsehung auserkorene Mann zum Führer der Deutschen und etwas später auch zum Führer der Österreicher.

Bisher war das ganze Volk mit den letzten sechs Jahren, so wie es den Anschein hatte, sehr zufrieden, jedenfalls fast das ganze Volk.

Endlich hatten die Deutschen wieder ein Idol, das sie wie einen Abgott verehren konnten, einen Hoffnungsträger, einen Heilsbringer zum Anfassen, der eine goldene Zukunft für die nächsten tausend Jahre versprach. Das war etwas anderes, als der Gott der Kirchen, der sich seit Moses nicht mehr gemeldet und später auch seinen Sohn in dessen dunkelster Stunde vor gut zweitausend Jahren im Stich gelassen hatte.

Nur die Nichtarier waren etwas skeptisch, was die Zukunft betraf. Für sie schien noch kein Konzept zu existieren. Und sie fragten sich einerseits, wer das mit dem geschichtlichen Auftrag des Führers und das mit der Vorsehung eigentlich gesagt hatte? Vielleicht der etwas eigenartige Stellvertreter des Führers, Rudolf Hess? Der befasste sich nebenbei mit Okkultismus und Sterndeuterei! Aber auch des Führers treuer Knecht Heinrich Himmler war ähnlich veranlagt und sah sich als Reinkarnation eines arischen Königs. Auch er zählte sich zu den von der Vorsehung Auserwählten. Die Nichtarier wurden auch dadurch etwas irritiert, dass der Führer immer nur von den Ariern sprach, denen eine Führungsrolle in einer neuen Welt zufallen sollte. Was war dann mit den anderen? Und das waren nicht wenige! Einige von denen, die keinen Arier-Nachweis vorweisen konnten, hatten sich schon einmal im Ausland umgesehen. In Amerika, so hieß es, sollte es auch ganz schön sein. Sie fürchteten, dass mit glorreicher Zukunft nicht ihre Zukunft gemeint war. Sie sollten Recht behalten.

Wie dem auch sei, der Führer war nun schon seit sechs Jahren, seit Beginn des Tausendjährigen Reiches, dabei, seine Visionen zu realisieren. Alles sollte von Grund auf neu und im Laufe der Zeit monumental und riesig werden, ein Reich sollte es werden, das die Welt noch nicht gesehen hatte. Und er hatte ja auch bereits nach wenigen Jahren massenhaft Erfolge vorzuweisen. Alle Deutschen hatten nach einer langen Durststrecke wieder Arbeit. Zum Beispiel beim Autobahnbau oder im Arbeitsdienst.

Der Aufbruch in ein Tausendjähriges Reich hatte bereits sechs Jahre vor meiner Geburt begonnen. Den Anfang hatte ich also verpasst, ebenso einige Highlights.

Da war zum Beispiel die Olympiade in Berlin! 1936 hatte der Führer die Nationen der Welt mit perfekt organisierten Olympischen Spielen überrascht. Sie waren ein voller Erfolg gewesen. Die ganze Welt war beeindruckt.

Auch die Autobahnen durch das Reich waren inzwischen fast fertig. Das war sehr praktisch. Man konnte jetzt schnell von einem Ende des Reiches zum anderen fahren. Und es gab KDF-Schiffe für Kraft durch Freude, auf denen arische Mädchen, die im BDM, dem Bund Deutscher Mädchen waren, so auch meine Mutter, und später auch Soldaten Ausflüge nach Helgoland und anderswohin machten.

Nur in den vom Führer in Auftrag gegebenen Lagern war noch einiges zu tun. Da lag man etwas hinter dem Plan. Er würde mal mit Himmler sprechen müssen, damit es vorangeht.

Apropos Lager. Diese Lager in verschiedenen Regionen des Reiches waren wohl als Ferienlager und Freizeitparks für Nichtarier gedacht, jedenfalls haben viele patriotische Deutsche diese Einrichtungen damals offensichtlich als solche angesehen. Andere waren überzeugt, es wären wahrscheinlich Schulungs- oder Umschulungslager, in denen Seminare und Fortbildungslehrgänge abgehalten würden.

Über den Toren prangte in großen Lettern jeweils das Motto des Lagers: „Arbeit macht frei“ (Auschwitz) oder „Jedem das Seine“ (Buchenwald). Hörte sich doch gut an. Man sagt doch: Arbeit hat noch niemandem geschadet. Und wenn im anderen Fall jeder das bekommt, was ihm zusteht, was kann man dagegen sagen?

Die Animateure, Ausbilder und Kursleiter hatte man ebenfalls bereits ausgesucht und ihnen schicke schwarze Uniformen verpasst. Allerdings, die Totenköpfe auf den Kragenspiegeln waren nicht jedermanns Sache, sahen ein bisschen gruselig aus und erinnerten entfernt an Halloween-Kostüme.

Ja, die Organisation und die Errichtung dieser Lager machten aber auch viel Arbeit. Das kostet Zeit. So ein Lager, in dem später einmal mehr als zwanzigtausend Menschen leben sollten, erforderte eine genaue Planung und es gab viele Details zu bedenken.

Viele Architekten, Konstrukteure und Forscher haben sich im Auftrag von Herrn Himmler mit Begeisterung um die Optimierung der Lager bemüht, und das Ergebnis der Schufterei war einmalig. So etwas gab es in der ganzen Welt bisher noch nicht. Nur in der Sowjetunion hatte Stalin Hitlers Idee aufgegriffen und inzwischen ebenfalls Lager errichtet. Allerdings nicht so perfekt wie die deutschen Lager.

Was da aber auch alles an Kleinigkeiten bedacht werden musste.

Selbst bei der Ernährung würden Ernährungsberater nach dem Motto Nicht zu fett und nicht zu viel, darauf achten, dass niemand zu dick würde.

Eines der wichtigsten Anliegen der Erschaffer eines neuen Deutschlands war dem Anschein nach Sauberkeit sowohl in hygienischer, als auch, darüber hinaus, in geistig-moralischer Hinsicht.

So hat man sich sogar auf oberster Ebene um Nebensächlichkeiten, wie zum Beispiel die Hygiene der Lager, Gedanken gemacht, denn die Lager sollten natürlich sauber und ungezieferfrei sein. Wie schnell konnten sich unter zwanzigtausend Lagerbewohnern Epidemien ausbreiten! Nicht auszudenken.

Aus diesem Grunde hatten die Organisatoren der Lager unter anderem die chemische Industrie gebeten, ein spezielles, besonders wirksames Allzweckdesinfektionsmittel für diese Lager zu entwickeln, den Wirbelwind. Als es dann später geliefert wurde, hatte sich aus dem Wirbelwind A ein Zyklon entwickelt, genauer gesagt Zyklon B.

Hier ein weiteres Beispiel: Für den Einsatz des neuen Desinfektionsmittels mussten entsprechende Großdesinfektionsanlagen entwickelt werden und so waren Ingenieure damit beschäftigt, universell einsetzbare Anlagen zu konzipieren, in denen alle Arten von Ungeziefer mit dem neuen Zyklon B vertilgt werden konnten. Bei einem so großen Umschulungslager, in dem ständig ganze Züge neuer Kursteilnehmer eintreffen würden, war das unbedingt notwendig. Wer weiß, was da alles eingeschleppt wurde.

Andere Ingenieure haben sich zur gleichen Zeit mit der Konstruktion spezieller Hochleistungsöfen beschäftigt, die zu einer Batterie in einer Reihe nebeneinander gestellt werden konnten. Damit war man auf Notfälle vorbereitet, falls es einmal zu einer Epidemie mit hochansteckenden, resistenten Bakterien oder Viren kommen sollte.

Ein namhafter Elektrokonzern lieferte spezielle Stromgeneratoren für Elektrozäune. Nein, nicht solche, mit denen heute die Kühe veranlasst werden, die Weide nicht zu verlassen, da genügt eine Autobatterie. Nein, das waren Zäune mit 380 Volt! Damit sollten wohl eventuelle Eindringlinge, die unbedingt am Lagerleben teilnehmen wollten, vom Lager ferngehalten werden, damit es dort ruhig blieb.

Und so gab es noch viele weitere Beispiele dafür, dass man selbst Kleinigkeiten nicht dem Zufall überlassen hat. Die deutschen Forscher und Ingenieure hatten jedenfalls zur damaligen Zeit alle Hände voll zu tun.

Man kann diese Ergebnisse deutscher Ingenieurskunst heute noch unter anderem in Buchenwald besichtigen.

Auch die medizinische Wissenschaft kam in dieser Zeit zu einer ungeahnten Blüte. Bestimmte medizinische Forschungsstudien konnten sehr gut in diesen Lagern durchgeführt werden, da hier viele unterschiedliche Menschen zusammen kamen. Wichtige Fragen wurden hier geklärt. Zum Beispiel: Was passiert, wenn man einem Menschen eine größere Menge Benzin in die Blutbahn spritzt? Oder: Wie lange kann ein Mensch in 2°C kaltem Wasser überleben? Wann tritt der Exitus ein?

Und der Dr. Mengele hat sich noch viele andere Experimente ausgedacht, um die Reaktionen des menschlichen Körpers auf Chemikalien zu testen, wie auch das Verhalten unter Extrembedingungen zu ermitteln.

Nationalsozialistische Rassenforscher hatten inzwischen die Rassentheorie des Führers bestätigt und festgestellt, dass es neben der arischen Herrenrasse noch andere, aber minderwertigere Rassen gab, zum Beispiel die jüdische und die slawische Rasse. Zu der slawischen Rasse zählte man der Einfachheit halber alles, was östlich des Deutschen Reiches lebte. Diese Rassen waren auf Grund der Forschungsergebnisse nicht so wertvoll wie die arische Herrenrasse. Die Angehörigen dieser anderen Rassen waren aber bestens für Mengeles Versuche geeignet.

Alle wurden fotografiert und vermessen. Größe und Kopfumfang, die Haar- und Augenfarbe notiert und dann wurden in den Lagern Menschen auseinandergenommen, um den Unterschied zwischen den Rassen zu finden. Das heißt, die arischen Menschen nicht. Das musste man nicht. Man wusste ja, dass die Arier etwas Besonderes waren.

Halt, ein paar Arier waren doch dabei. Das waren sogenannte Kommunisten und man wollte sehen, ob diese einen auffallenden Defekt hatten.

Wenn Sie nicht zu zart besaitet sind, ist ein Rundgang durch das Lager Buchenwald sehr zu empfehlen. Äußerst sensible Menschen sollten indes besser bei Goethe und Schiller im schönen Weimar bleiben, da der Besuch des völlig anders gearteten Buchenwald zu größeren Schlafstörungen führen könnte.

Aber ein normal empfindender, gerechtigkeitsliebender Mensch kann in Buchenwald viel Unbekanntes sehen und etwas über den damaligen Umgang mit Mitbürgern lernen.

Interessant wären hier eventuell auch theoretische Rollenspiele. Man könnte dabei zum Beispiel wahlweise in die Rolle unterschiedlicher Menschentypen schlüpfen.

Wer bereits im Kindergarten den anderen Kindern die Schippe weggenommen, die Sandburgen zertrampelt, die Spielkameraden schon mal verprügelt und die Kumpel gern herumkommandiert hat, wird hier wohl am liebsten in die Rolle des Lagerkommandanten schlüpfen.

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, Fantasie haben, stellen Sie sich einmal vor, Sie wären einer der fünfzehn Menschen, die der Lagerleiter Erich Koch für ein Sieben-Tage-Experiment ausgewählt hatte. Das heißt, fünfzehn Menschen wurden eine Woche lang in einer Einzelzelle des „Bunkers“, das ist das Gebäude gleich links neben dem Haupteingang mit den Blechen über den Fenstern, damit kein blendendes Sonnenlicht in die Zellen fällt, ohne Verpflegung und ohne Wasser eingeschlossen. Sieben lange Tage und sieben unendlich lange Nächte!

So eine Einzelzelle ist nicht besonders groß, schätzungsweise eineinhalb Meter breit und etwa zweieinhalb Meter lang. Es können auch zwei mal drei Meter sein. Wer es genau wissen will, kann es selber in Buchenwald nachmessen. Die Toilette war, ebenso wie der Wasserhahn, dummerweise auf dem Gang und für die Eingeschlossenen während des Experiments nicht erreichbar. Und die Tage schlichen gemächlich dahin.

Endlich, nach einer Woche, hat der Lagerleiter Koch persönlich die Tür wieder geöffnet und soll das, was er vorfand, als Bestätigung für seine Untermenschen-Theorie gefunden haben, so wurde berichtet.

Oder stellen Sie sich vor, Sie gehören zu einem der Erschießungskommandos, die täglich vom Kommandanten aussortiertes „unwertes Leben“ exekutiert haben.

Oder aber sie werden in die Kategorie Unwertes Leben eingruppiert und von dem Erschießungskommando erschossen. Danach liegen Sie auf dem Wagen mit der riesigen, körperlangen Schaufel und werden in einen der Verbrennungsöfen geschoben… Eine äußerst unangenehme Vorstellung.

Und auch das Handwerk war an der Ausstattung des Lagers beteiligt.

Besonders beeindruckend ist die Arbeit eines kreativen Tischlers, die man im medizinischen Untersuchungsraum des umgebauten Pferdestalls besichtigen kann.

Hier wurde ausgesuchten Neuankömmlingen von freundlichen Krankenpflegern bei etwas zu lauter Hintergrundmusik, die alle Räume des umgebauten Pferdestalls erfüllte, erklärt, sie müssten zunächst ärztlich untersucht werden. Das leuchtet ein.

Der jeweils ausgewählte Neue wurde dann im Ankunftsraum aufgefordert, sich auszuziehen und seine Sachen ordentlich zusammenzulegen. Nach der Untersuchung könne er sie wieder abholen. Danach ging er in das Untersuchungszimmer am anderen Ende des langen Ganges, wo ihn ein Mann in weißem Kittel, offenbar der Arzt, erwartete und den Ablauf der Untersuchung erklärte.

Als erstes sollte er sich vor eine Messlatte stellen, damit man messen konnte, wie groß er ist. Und hier kommt der Tischler ins Spiel.

Die breite Messlatte war eine Spezialanfertigung und vom Tischler in dem Bereich zwischen eineinhalb bis etwas über zwei Meter mit einem unauffälligen, etwa zwei Zentimeter breiten Schlitz versehen worden. Sie stand an einer Wand, hinter der sich ein zweiter Raum befand. Von dort konnte man genau da, wo die Messlatte stand, unbemerkt für den Patienten, eine schmale Klappe in der Wand öffnen. Durch die Hintergrundmusik waren eventuelle Nebengeräusche übertönt.

War der Neuankömmling vom Mann im weißen Kittel vor der Messlatte richtig platziert, nahm der SS-Mann im hinteren Raum seine Pistole und gab dem ahnungslos vor ihm Stehenden durch den Schlitz in der Latte einen Genickschuss.

Damit waren weitere Untersuchungen überflüssig geworden.

In einem weiteren Nebenraum stand eine riesige Wanne, in die der unerwartet Verblichene entsorgt und mit weiteren, vor ihm vermessenen Patienten zur Verbrennungsanlage gebracht wurde. Die ordentlich zusammengelegten Sachen des plötzlich Verschiedenen kamen in die Kleiderkammer.

Eine kompetente Führerin kann Ihnen bei einem Rundgang noch wesentlich mehr Einzelheiten über das aufregende Lagerleben erzählen. Eines kann die Führerin heute allerdings nicht mehr vermitteln: den eigentümlichen Geruch von verbranntem Menschenfleisch, der im Tausendjährigen Reich täglich über dem Lager hing.

Hier noch eine persönliche Anmerkung nur für Nostalgiker, die trotz allem, was wir seither wissen, das bereits nach zwölf Jahren untergegangene Tausendjährige Reich auch heute noch glorifizieren und ihm nachtrauern. Ich meine hier die geistigen Nachkommen der Nazis, sich auserwählt fühlende, gewaltbereite Menschen ohne Intellekt, ohne Gefühl und Mitleid, dazu geistig außergewöhnlich lethargisch.

Das sind die Individuen, die bei Demonstrationen immer rufen: „Ausländer raus!“ und dabei vergessen, dass sie selber bereits in Holland oder Österreich Ausländer sind.

Das sind die Kreaturen, die Juden am liebsten umbringen würden, ohne zu wissen warum und dabei vergessen, dass diese Mitbürger nur einen anderen Glauben haben und zufällig nicht in eine katholische oder evangelische Familie hineingeboren worden waren. Bedenke: Niemand kann sich vor seiner Geburt die Eltern, das Land und die Religion aussuchen.

In diesem Zusammenhang eine weitere, rein theoretische Überlegung: Was wäre, wenn zum Beispiel der Diktator eines uns feindlich gesonnenen, totalitären Staates ebenfalls Lager mit den üblichen Einrichtungen für Bewohner eroberter Gebiete baut und mit den Insassen so verfährt, wie Himmler mit den Juden, zum Beispiel mit Neonazis, die er aus einem unerklärlichen Grunde nicht mag, sie selektiert und mit einem Stern markiert? Dann würde es für diese äußerst unangenehm werden. Sie würden erfahren, was Juden im Tausendjährigen Reich mitgemacht haben. Vielleicht würde eine solche Überlegung den engen Horizont der Neonazis erweitern? Ich glaube es allerdings nicht.

Und was Unterschiede zwischen den Rassen nach der nationalsozialistischen Rassentheorie anbelangt: Sie stimmt doch nicht, es gibt keine. Wenn ein Chirurg einen Menschen operiert, oder ein Pathologe einen Toten seziert, wird er einen Juden nicht von einem Katholiken oder Protestanten unterscheiden können. Genetisch ist alles gleich aufgebaut. Auch dunkelhäutige Menschen haben an der gleichen Stelle die gleichen Organe in der gleichen Farbe, und sie funktionieren genauso wie bei mir und dir. Religionsgemeinschaften sind keine Rassen. Es gibt keine jüdische Rasse, genauso wenig gibt es eine katholische oder eine protestantische Rasse. Unterschiede im Verhalten der Menschen werden erst durch Ideologien und Religionen hervorgerufen und können aus friedlichen Erdenbürgern wahre Monster machen. So kann es zum Beispiel passieren, dass ein deutscher Katholik zum Islam konvertiert und im Namen eines imaginären Gottes frühere Freunde ohne Skrupel umbringen würde. Und wie war es zur Zeit der Inquisition unter den gläubigen Katholiken? Und in Kriegen generell?

Man kann ethnische Unterschiede als Rassenmerkmal anführen, das sagt jedoch nichts über den gesellschaftlichen Wert eines weißen, schwarzen, gelben oder roten Menschen aus. Entscheidend für den Wert eines Menschen sind der Charakter und die Intelligenz.

Den nationalsozialistischen Nostalgikern fehlt wegen des offensichtlich ungewöhnlich niedrigen IQ die Gabe, Zusammenhänge komplexerer Systeme zu erkennen. Somit erübrigt es sich für diese Zeitgenossen allerdings, nach Buchenwald zu fahren. Sie begreifen absolut nicht, worum es dort wirklich ging und was falsch daran war und wer dort die eigentlichen Untermenschen waren. Wären diese Mitbürger eventuell die idealen Lagerinsassen, von mir aus gut verpflegt, aber weggesperrt?

Alle anderen Besucher werden nach dem Rundgang nur einen Wunsch haben: Mögen uns Menschen wie Adolf Hitler und seine Gesinnungsgenossen, ebenso auch andere Diktatoren und Demagogen für alle Zeiten erspart bleiben!

Das gleiche gilt insbesondere auch für religiöse und pseudo-religiöse Eiferer verschiedenster Couleur!

Aber verlassen wir das etwas triste Lager in Buchenwald und verscheuchen wir diese unangenehmen Gedanken. Man kann den Ausflug nach Buchenwald, wie erwähnt, mit einem Besuch des nahegelegenen Weimar verbinden. Das hellt die Stimmung wieder auf.

Weimar ist ebenfalls geschichtsträchtig, allerdings in völlig anderer Weise. Es ist wesentlich vergnüglicher und amüsanter, durch Weimar zu schlendern. Dort können Sie sich in einem Café bei einem Cappuccino und einem Stück Torte von Buchenwald erholen. Wenn Sie dann anschließend die doch erheblich geschmackvolleren und bequemeren Wohnstätten von anderen großen Deutschen, wie Goethe und Schiller, besichtigen, werden die Bilder von Buchenwald vielleicht langsam verblassen.

Allerdings fürchte ich, das Gesehene und Gehörte wird ungewollt lange nachwirken, es nistet sich irgendwo in unserem Gehirn ein. Man kann das Gesehene leider nicht, wie bei einem Computer, mit einem Klick im Gehirn löschen. Und das ist auch gut so!

Ich bin jetzt etwas abgeschweift. Tauchen wir noch einmal in die Vergangenheit ein.

Das arische Deutschland sollte zu jener Zeit von Grund auf sauber werden, optisch und moralisch. Da der Führer ein Künstler, er hatte tatsächlich Bilder gemalt, und ein Schöngeist war, ließ er seine Vorstellungen mit Unterstützung des Volkes und seinem Architekten Albert Speer nach und nach umsetzen.

So sollte das Großdeutsche Reich auch eine eigene, großartige, arische Architektur bekommen. Manche sprechen heute von Gigantomanie. Ist das berechtigt? Ich meine ja.

Das vom Führer für die spätere Hauptstadt Germania geplante größte Bauwerk der Welt, die Halle des Volkes ist leider nicht mehr realisiert worden. In ihr hätte der Petersdom Platz gefunden. Heutige Architekten haben sich noch einmal mit diesem Vorhaben und insbesondere mit der Statik dieses geplanten Riesenbaus und der Belastung des Untergrundes befasst. Das Ergebnis wird für Hitlerfans ernüchternd sein. Dort, wo die Halle des Volkes in Berlin gebaut werden sollte, ist der Untergrund für die ungeheuren Belastungen nicht geeignet, er ist nicht fest genug, es hätte Fels sein müssen. Der Bau wäre in den Untergrund eingesunken. Und bei der geplanten Spannweite der übergroßen Halle hätte es leider wegen des gewaltigen Gewichts der freitragenden Kuppel größte Probleme mit der Statik gegeben. Der Zusammenbruch des Gebäudes war vorprogrammiert und hätte viele tausend Tote gefordert.

Weniger Probleme mit der Statik hätte wahrscheinlich das Deutsche Stadion in Nürnberg bereitet, da es nicht überdacht war. Es sollte für die nächsten tausend Jahre das größte Stadion der Welt werden. 400.000 Arier hätten dort Platz gefunden! 1933 wurde mit dem Bau begonnen. Später hätte man dann dort vielleicht Gladiatorenkämpfe wie im alten Rom mit Gladiatoren aus den eroberten Gebieten veranstalten können.

Ich greife auch hier wieder etwas vor: Das Stadion wurde bis zum Ende des Tausendjährigen Reiches im Jahre 1945 nicht fertig.

Um die Pläne für die vorgesehene Erneuerung umsetzen zu können, mussten dafür allerdings erst einmal ein paar störende Gebäude in den Städten entfernt werden. Zunächst wurden deshalb die aus der Sicht des Führers nicht in das Stadtbild deutscher Städte passenden jüdischen Synagogen, die ausgerechnet dort standen, wo die aktuelle Planung etwas anderes, großes Neues vorsah, im Rahmen einer architektonischen Verschönerungsaktion unter Beifall der Bevölkerung in der Reichskristallnacht niedergebrannt. Reichskristallnacht hört sich doch ganz gefällig an, oder? Auf jeden Fall besser als Pogromnacht. Und ein Feuer kann ja auch ganz unterhaltsam sein, solange nicht das eigene Haus brennt.

Die meisten christlichen Kirchen waren eigentlich, wenn man ehrlich ist, auch nicht viel schöner als die Synagogen, sie konnten jedoch vorerst stehen bleiben, obwohl sie meistens an wichtigen zentralen Stellen errichtet worden waren. Anscheinend gab es noch keine Abrissliste für Kirchen. Doch wer kannte schon die geheimen, langfristigen Pläne des Führers?

Ein weiterer seiner vielen Pläne war, das deutsche Volk, zu dem er auch die Österreicher zählte, wieder zu seinen arischen Wurzeln zurückzuführen. Die vielen Feuer in der Reichskristallnacht gehörten dazu und waren auch beim größten Teil der Bevölkerung auf Zustimmung gestoßen. Erinnern wir uns, hatten nicht schon die alten Germanen, die Arier, in grauer Vorzeit zur Sonnenwende gern um ein großes Feuer getanzt?

Die wiederentdeckte Freude der neuzeitlichen Arier am mythischen Feuer brachte die Organisatoren der Reichskristallnacht auf eine weitere Idee, die auch prompt umgesetzt wurde.

Wenn das Volk, wie man in der Reichskristallnacht sehen konnte, auch heute noch soviel Freude am Feuer hatte, sollte man dann nicht gleich einen Schritt weiter gehen und zum Beispiel Bücher unliebsamer, oder nicht arischer Autoren mit Tanz um ein weiteres nächtliches Feuer den lodernden Flammen übergeben?

Jawohl, „der undeutsche Geist wird aus den Büchereien ausgemerzt.“ (7. These wider den undeutschen Geist, Mai 1933)

Gedacht, getan. Man erklärte den arischen Volksgenossen, welche Bücher nicht in den arischen Bücherschrank gehörten. Darunter waren zum Beispiel Berthold Brecht, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky und andere. Das Volk war offensichtlich von dieser Idee begeistert und sortierte endlich mal die verstaubten Bücherschränke.

Und so versammelte sich das Volk eines Abends wieder vor den prasselnden Feuern, die die im Feuermachen erfahrene SA entzündet hatte.

Feierlich wurden dann bei diesen in allen Städten spontan organisierten Events die Namen der unerwünschten Autoren von einem SA- oder SS-Mann vorgelesen. Währenddessen trat ein Volksgenosse nach dem anderen vor und übergab seine aussortierten Bücher unter dem Jubel der Anwesenden dem lodernden Feuer.

Auch dies war ein großes Volksfest, wie es verschiedene alte Filmaufnahmen zeigen.

Allerdings hegte der von Hause aus etwas misstrauische Führer den leisen und wohl nicht unbegründeten Verdacht, dass in manchem Bücherschrank vielleicht noch einige solcher unerwünschter Bücher schlummerten. Das musste bei nächster Gelegenheit einmal kontrolliert werden. Darum könnten sich die Blockwarte oder Schornsteinfeger, die Zugang zu allen Räumen in allen Wohnungen hatten, kümmern.

Doch im Moment warteten allerdings andere, größere Aufgaben auf ihre Umsetzung.

So wie es schien, stand zu dieser Zeit der größte Teil des Volkes hinter ihm, dem begnadeten österreichischen Anstreicher und Postkartenmaler. Jedenfalls jubelten ihm bei seinen Auftritten die Volksmassen enthusiastisch zu, wie man das ebenfalls noch heute in alten Filmaufnahmen aus der Zeit des Tausendjährigen Reiches sehen kann. Man sah bei Auftritten des Führers viele tausende hingebungsvolle Frauen, die kurz vor einer Ohnmacht zu stehen schienen und den Führer mit verklärtem Blick anhimmelten, wie heutzutage die pubertierenden Teenager ihre aktuellen Idole.

Der Führer war überwältigt von so viel Verehrung. Ist ja auch verständlich, würde mir genauso gehen, wenn mir soviel Zuneigung und Liebe entgegengebracht würde.

Folgerichtig sagte er sich, diese Begeisterung muss man ausnutzen, schließlich muss ich meinen geschichtlichen Auftrag realisieren und das deutsche Volk zu ungeahnten Höhen führen. Die Zeit ist reif für neue große Taten, die die Welt bewegen werden.

Ich werde gleich einmal mit Hermann sprechen.

Dem Führer ging es gut, das hatten wir bereits am Anfang festgestellt. Zudem konnte er ab heute, dem 30. August 1939, optimistisch in die Zukunft sehen. Kein deutscher Volksgenosse musste Angst vor eventuellen Feinden haben, da von nun an der Generalfeldmarschall Hermann Göring als Vorsitzender des Ministerrates für Reichsverteidigung für die Sicherheit unserer Heimat zuständig war.

Der Generalfeldmarschall war ein ehrgeiziger, tatendurstiger Vollblutgermane und eine imponierende, Respekt einflößende Persönlichkeit, ein Mann von Format, zumindest vom Umfang her. Es gab Kritiker, die meinten, für einen echten Germanen hätte er nicht die richtige Figur. Im Moment beschäftigte ihn aber ein ganz anderes Problem. Wovor sollte er uns mit seinem neuen Verteidigungsrat verteidigen? Das war noch nicht so ganz klar definiert, dies musste erst noch konkretisiert und genau festgelegt werden. Nein, der neu gegründete Rat konnte ja nicht tatenlos wie ein Kaffeekränzchen nur herum sitzen und belanglose Schwätzchen halten. Wenn man nun schon einen Verteidigungsrat hat, muss dieser auch etwas Richtiges zu tun bekommen. Irgendwo musste doch, verdammt nochmal, ein Feind zu finden sein, vor dem wir verteidigt werden mussten! Aber Hermann war sich sicher, bei reiflicher Überlegung würde sich schon etwas Wichtiges für das neue Gremium finden lassen.

Der Führer kannte seine Mitarbeiter und insbesondere Hermanns Tatendrang und so fragte er deshalb gutgelaunt seinen Freund, der gerade das dritte Bierglas an seinem Mund hatte: „Na, mein lieber Hermann, hast du schon eine Vorstellung, wovor du uns verteidigen willst?“

„Mein Führer“, meinte Hermann, setzte sein Bierglas ab und wischte sich den Schaum vom Mund. „Warte bis morgen, ich habe da eine Idee! Sie wird dir gefallen.“

Anmerkung: Mit dem Schaum meine ich hier den Bierschaum!

Hermann dachte im ersten Moment an die riesige Sowjetunion, dort lebten ja keine Arier. Das Land könnte man gut gebrauchen. Wie man immer wieder hören und lesen konnte, waren wir Deutschen ein Volk ohne Raum. Dort, hinter dem Ural, könnte man zum Beispiel riesige Weizenfelder anlegen und Lager nach der Art von Buchenwald einrichten, in denen die Landarbeiter untergebracht würden. Alles nur noch ein paar Nummern größer.

Und so träumte Hermann von endlosen Weizenfeldern am Kaukasus, auf denen braungebrannte, nichtarische Arbeiter fröhlich bei der Arbeit sangen.

Zu schade, der Traum ließ sich im Moment leider nicht realisieren, denn unser genialer Führer hatte gerade mit Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, auch Stalin genannt, einem anderen weisen Führer eines noch größeren Reiches, einen Nichtangriffspakt geschlossen. Infolgedessen hatte Hermann hier zurzeit leider keinen Ansatzpunkt. Wirklich schade, sinnierte er. Nun, vielleicht später, es war ja noch nicht aller Tage Abend. Ich werde das Thema jedenfalls in einem passenden Augenblick unter vier Augen mit dem Führer besprechen. Zunächst muss ich jedoch erst einmal etwas anderes finden.

„Und?“ Der Führer riss Hermann aus seinen Träumen.

„Mein Führer, ich werde dir morgen einen Plan vorlegen.“

Und siehe da, schon tags darauf gab es tatsächlich für den Generalfeldmarschall und seine Mitarbeiter überreichlich zu tun. Urplötzlich schien direkt nach der Bildung des Verteidigungsrates allerhand in der Luft zu liegen.

Plötzlich war sie da, die furchtbare Bedrohung unseres arischen Volkes!

Unser östlicher Nachbar, das mächtige, slawische Polen hatte gerade heute, am 30. August 1939, überraschend die Generalmobilmachung angeordnet. Nun war es klar, Polen wollte uns überfallen! In diesem Moment war durch die Generalmobilisierung in Polen für den Führer und für den Generalfeldmarschall die Tür für weit größere Aufgaben, die man jetzt angehen konnte, geöffnet worden.

Hermann, der Vorsitzende des Verteidigungsrates, war jetzt gezwungen, sofort zu handeln! Er konnte seine Flugzeuge schon mal warmlaufen lassen.

30. August 1939! Es wird langsam Zeit für mich.

Ich spürte es ganz deutlich, urplötzlich lag knisternde Spannung in der Luft. Die Haustürglocke schepperte, Leute liefen unstet im Haus hin und her, Türen klappten laut. Offenbar waren die Nachbarn gekommen. Jedenfalls wurden immer lauter werdende, hektische Gespräche geführt und irgendwelche wichtigen Neuigkeiten schienen alle zu erregen. Verstehen konnte ich zwar nichts, da die Worte nur sehr gedämpft und undeutlich an mein Ohr gelangten, trotzdem merkte ich, dass etwas Außergewöhnliches, offensichtlich jedoch nichts Gutes, kurz bevorstehen musste.

Die Nervosität, die meine Mutter erfasst hatte, übertrug sich jetzt auch voll auf mich.

Damit war auch für mich die angenehme Ruhe endgültig vorbei. Es herrschte schlagartig eine ungewohnte, mich furchtbar störende Hektik und es ging immerzu hin und her. Hinzu kam, dass es in meinem zwar warmen, aber doch sehr engen Domizil von Tag zu Tag unbequemer geworden war. Ich brauchte mehr Platz.

Mich ergriff unwiderstehlich eine bisher nicht gekannte, übermächtige Neugier und so beschloss ich, am Mittwoch, dem 30. August 1939, mittags, zehn Minuten nach eins, bei strahlendem Sonnenschein, das Licht der Welt zu erblicken.

Es wurde Zeit, ich musste in diesen geschichtsträchtigen Zeiten augenblicklich aktiv am Geschehen teilnehmen können.

Das war aber nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Mir fehlte bisher jede Erfahrung, in jeder Hinsicht, und ich musste zunächst erst einmal die dringendsten fundamentalen lebenswichtigen Tätigkeiten erlernen. Deshalb musste ich die jetzt nahenden Ereignisse der Weltgeschichte zunächst tatenlos an mir vorüberziehen lassen.

Die letzten neun Monate hatte ich ein gemütliches und ruhiges Leben gehabt. Ich war ja keinerlei Anstrengungen gewohnt. Ich musste nicht einmal selber atmen oder mich um die Ernährung kümmern. Ich habe die ganze Zeit nur gefaulenzt. Das musste das Schlaraffenland sein. Und jetzt stand plötzlich meine Geburt an. Das wurde eine sehr langwierige, furchtbar anstrengende Geschichte. Die Prozedur hat mich letztlich doch sehr mitgenommen. Ich war fix und fertig und danach tat mir alles weh. Dies war wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass man, um mich aus meinem bisherigen Aufenthaltsort heraus zu bekommen, sehr an mir herumgezerrt hatte. Allein hätte ich das, dass muss ich zugeben, auch nicht geschafft. Weitere Einzelheiten möchte ich hier übergehen, aber es war wirklich äußerst strapaziös für mich gewesen. Vielleicht erinnern Sie sich an Ihre eigene Geburt, dann wissen Sie, was ich durchgemacht habe.

Als ich endlich Luft bekam und die Augen öffnete, blendete mich eine ungewohnte, gleißende Helligkeit und es war mir trotz sommerlicher Temperaturen kalt.

Das erste, was ich erkennen konnte, war ein großes faltiges Gesicht, umrahmt von grauen Haaren. Zwei starke, fleischige Arme hielten mich hoch und zwei Augen musterten mich von oben bis unten, aber bei meiner Größe war alles schnell zu überblicken.

Und dann war ich allerdings völlig fassungslos. Die ältere Frau, die ich im ersten Moment als sehr freundlich eingeschätzt hatte, war alles andere als freundlich. Sie schlug mir, kaum dass ich da war, völlig unerwartet auf meinen nackten, ungeschützten Po. Und das ziemlich kräftig!

War das ein Schock. So kann der erste Eindruck täuschen! Sie schlug ein wehrloses Kind! Dabei hatte ich garantiert noch keine Zeit gehabt, irgendetwas gravierend Schlimmes anzustellen oder etwas Gravierendes falsch zu machen. Und trotzdem wurde ich brutal geschlagen. Das ging entschieden zu weit! Sofort habe ich meinen Unmut durch einen kräftigen Protestschrei zum Ausdruck gebracht. Mein Schmerzensschrei schien die Anwesenden im Nachbarraum aber nicht besonders zu irritieren.

Im Gegenteil! Im gleichen Moment erschienen zwei weitere ältere Frauen im Zimmer.

Wie ich dann aus dem Gespräch der Umstehenden heraushörte, war die brutale Schlägerin eine sogenannte Hebamme. Hebammen sind offensichtlich sadistische Frauen mit einer Lizenz zum Schlagen neugeborener Kinder. Ich kann aus eigener Erfahrung vor Hebammen nur warnen! Machen Sie einen großen Bogen um Hebammen! Lassen Sie sich mit einer Hebamme nur ein, wenn Sie Masochist sind.

Meine Hebamme war sehr neugierig und allem Anschein nach obendrein noch sehr geschwätzig, denn sie musste alles, was sie sah, sofort den Anwesenden lauthals verkünden: „Ein Junge, es ist ein gesunder Junge“, brüllte sie. Jedenfalls war es extrem laut für meine empfindlichen Ohren. Ja selbstverständlich, ich war ein Junge. Was hatte man denn sonst in einem arischen Haus erwartet?

Aus dem Nachbarzimmer hörte ich daraufhin aneinander stoßende Gläser klingen und jemand sagte: „Fritz, auf deinen Sohn.“ Der so Angesprochene antwortete darauf nur militärisch knapp: „Prost“.

Dann wurde ich gebadet, gemessen und gewogen. Endlich wurde ich angezogen und damit wurde mir wärmer. Schließlich war ich bisher immer 36°C gewohnt gewesen.

„Achtundfünfzig Zentimeter und dreitausendvierhundertfünfzig Gramm“, rief die Hebamme.

„Völlig normal“, sagte jemand. Ich wurde also als normal eingestuft.

Auf was hatte ich mich da nur eingelassen.

Inzwischen legte sich langsam die allgemeine Aufregung im Hause, die ich durch meine Ankunft offensichtlich verursacht hatte. Man schien mich schon erwartet zu haben. Jedenfalls hatte man für mich vorsorglich ein behaglich weiches Bett, das man bewegen konnte, vorbereitet. Das musste eine Wiege sein, denn jemand sagte, ich käme jetzt in die Wiege. Das Ding war wirklich nicht schlecht! Ich machte es mir darin bequem und dann begann jemand, die Wiege zu schaukeln. Das war sehr angenehm und ich dachte daran, nach den Strapazen ein wenig zu schlafen.

Doch davon konnte zunächst keine Rede sein. Ich war jetzt offenbar erst einmal zur Besichtigung freigegeben. Bevor ich schlafen konnte, erschienen über mir verschiedene große Gesichter, die auf mich einredeten. Von dem, was sie mir sagten, habe ich zwar kaum etwas verstanden, aber alle waren sehr liebenswürdig zu mir. Das merkte ich am Tonfall der Worte und dem freundlichen Gesichtsausdruck.

Mit den Begriffen „Mama“, „Papa“, „Oma“, „Opa“, „Tante Else“, „Onkel Bruno“, die immer wieder auftauchten und offensichtlich besonders wichtig waren, war ich noch überfordert. Ebenso mit den vielen anderen Erklärungen, zum Beispiel, ich würde ganz wie die Mama aussehen, nur die Augenpartie nicht. Jemand anderes meinte, die Nase ist ganz der Papa. Letzteres konnte nun aber wirklich nicht sein, denn ich hatte eine kurze Stupsnase, die von dem, den sie Papa nannten, war viel länger.

Es war alles sehr verwirrend und kompliziert und es wurde mir langsam egal, was weiter um mich herum geschah, ich musste das ganze jetzt endgültig erst einmal überschlafen.

Wenn ich gewusst hätte, was ich mir da eingebrockt hatte! Ich hätte meine Geburt verschoben!

Die folgenden Tage wurden etwas ruhiger, so dass ich mich erholen und mit meiner unbekannten Umgebung innerhalb des Hauses befassen konnte. Durch die regelmäßig über mir erscheinenden Gesichter hatte ich mich an die offensichtlich zum Hause gehörenden Mitglieder der Familie gewöhnt und ich wusste sie inzwischen optisch zu unterscheiden. Nur musste ich mir endlich merken, zu wem die Begriffe Papa, Omi und Opi gehörten und was die sich dahinter verbergenden Personen für Funktionen hatten.

„Mama“ war für mich bereits sehr schnell ein Begriff geworden. Das war diejenige Person, die für meine Ernährung zuständig war, das hatte ich sofort mitbekommen. Nur sie stillte meinen ständigen Hunger. Sie sorgte auch dafür, dass ich immer sauber war und gut roch, dank Penatenöl. Ansonsten wurde ich von jedem abwechselnd auf dem Arm durch die Wohnung getragen und gleichzeitig leicht geschüttelt. Dabei sagte mein Träger manchmal unverständliche Worte wie „heiteitei“ oder so ähnlich und kitzelte mich mit einem Finger am Bauch. Manchmal wurde auch gefragt: „Ei, wo ist denn der Kleine“, obwohl der Fragende mich auf dem Arm trug. Sehr seltsam.

Wenn mich jemand herumtragen wollte, fragte derjenige mich immer: „Soll Papa (Mama, Omi, Opi) mit dir spazieren gehen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten war ich schon auf dem Arm und es ging los. Das half mir beim Kennenlernen der verschiedenen Personen.

Bald konnte ich meine Träger doch auseinander halten. Mama war klar. Omi war die Frau mit grauen Haaren, die aber nichts zu meiner Ernährung beitrug. Opi hatte einen Schnurrbart, Papa hatte keinen.

Übrigens, mein Papa war einer dieser gutaussehenden, sportlich gestählten Arbeitsdienstmänner, die es heute nicht mehr gibt. Er sah in seiner Ausgehuniform mit dem Dolch an der Seite toll aus und damit hatte er meine Mama unheimlich beeindruckt. Die Arbeitsdienstmänner liefen immer akkurat gekleidet in der Öffentlichkeit herum, nicht so unordentlich, wie die Soldaten heute.

Später, nach Ende des „Tausendjährigen Reiches“, das ungefähr zwölf Jahre dauerte, musste meine Mutter ihn öfter daran erinnern, dass wir nicht im Arbeitsdienst waren, wenn er uns in der Art, wie er früher seine Gruppe Arbeitsdienstmänner kommandiert hatte, ebenfalls in einem gewissen Kommandoton ansprach und keine Diskussion zulassen wollte.

Doch jetzt möchte ich Ihnen erst einmal unser Haus vorstellen. In unserem Haus gab es zunächst mein Kinderzimmer mit einer bunten Tapete und einer rosa Lampe unter der Decke in meinem Blickfeld. Dabei passt rosa überhaupt nicht zu einem Jungen, blau hätte sie sein müssen. Ich denke, Sie stimmen mir darin zu.

Mein Zimmer lag direkt neben dem Schlafzimmer meiner Eltern, in das ich in den ersten Monaten oft zu meinen Mahlzeiten geholt wurde. In manchen Nächten hörte ich von dort auch laute Schnarchgeräusche. Wer da schnarchte, kann ich nicht sagen.

Durch den Flur ging es in ein großes, helles Wohnzimmer. Das sah sehr gemütlich aus. Es gab hier ein Buffet und eine Kredenz und Bilder an den Wänden. Auf einem großen Teppich stand ein Tisch mit einer gehäkelten Tischdecke, die hatte lange Fransen, bestens geeignet, um mich später bei meinen ersten Laufübungen daran hochziehen zu können. Vier Stühle standen um den Tisch verteilt und zwei Sessel unter den zwei Fenstern. Einer für Papa, einer für Mama. In einer Ecke stand eine große, schwarze Standuhr mit Westminsterschlag. Wenn man die obere Tür öffnete, konnte man an einem Faden ziehen, dann machte die Uhr „Bimbam“. Das machte Spaß.

In der Küche nebenan roch es intensiv nach frisch gebackenem Kuchen, aber der Kuchen war nicht zu sehen. Auf der rechten Seite der Küche war eine Tür, die zu einem kleinen Vorratsraum führte und dort hatte man offensichtlich den Kuchen versteckt, denn meine Mama ging mit einem Messer in den Vorratsraum hinein und kam kauend mit einem Stück Kuchen in der Hand wieder heraus. Das Stück Kuchen hat sie selber gegessen, ich habe nichts davon abbekommen.

Durch die Tür neben dem Fenster ging es auf den Hof. Eine Toilette gab es im Haus nicht. Dafür mussten alle quer über den Hof zu einem zwischen Garage und Scheune eingezwängten Holzhäuschen mit einem Herz in der Tür gehen. Aber das war für mich für die nächste Zeit kein Thema.

Ab und zu ertönte die Haustürglocke und eine Nachbarin wollte wissen wie es mir geht. Mir ging es gut. Man hätte ein Schild „Dem Kleinen geht es gut“ an die Haustür hängen können.

Seid einigen Tagen befanden wir uns im Krieg mit Polen. Das schien aber nicht besonders aufregend zu sein. Unsere Soldaten kamen gut voran, hieß es im Radio. Na, da hatten sich die Polen ja was eingebrockt. Hätten die Provokation lieber lassen sollen.

Auch einige junge Männer aus unserem Dorf waren bei den Blitzsiegen dabei, wie man hörte. Sie schrieben begeistert von ihren Erfolgen. Ansonsten merkte man in unserem Dorf nichts vom Krieg. Alles ging seinen gewohnten Gang.

An einem der nächsten Tage, es war ein Sonntag, wurde ein tolles Gefährt aus weißem Korbgeflecht auf Rädern ausgepolstert und ich hineingelegt. So konnte ich, im Kinderwagen liegend, den blauen Himmel mit den weißen Wolken bewundern.

Als erstes ging es auf den Hof und durch eine Tür zwischen Haus und Schuppen in unseren großen Garten.

Die Sonne schien und ich wurde in einer schattigen Laube aus grün gestrichenem Holz mit weißem Dach, die von einem riesigen Apfelbaum überragt wurde, geparkt. Im Innern der Laube waren die ringsum angebrachten Leinenvorhänge zugezogen und gaben ein angenehm gedämpftes Licht und schützten vor der Sonne. In der Mitte stand ein kleiner Tisch, der für vier Personen gedeckt war und es gab Kaffee und den Kuchen, den ich schon gerochen hatte. Ich musste allerdings wieder zusehen. Kaffee und Kuchen waren nur etwas für Erwachsene.