Auf der Schwarzen Liste des Himmels - Silvia Götschi - E-Book

Auf der Schwarzen Liste des Himmels E-Book

Silvia Götschi

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  • Herausgeber: Cameo
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

«Der Zug hatte mittlerweile an Tempo gewonnen. Das regelmäßige Klacken, wenn der Waggon über das Ende der einen und den Anfang der nächsten Schiene rumpelte. Er wehrte sich dagegen, einzuschlafen, dem friedlichen Dösen nachzugeben. Sah hinaus in die leere Landschaft, schaute zum Horizont, wo der Himmel die Felder küsste. Wo einzelne Bäume Wolken umarmten. Es hätte ein lebenswertes Leben sein können. Auch für ihn.» Eine Maschine der British Airlines stürzt unter verdächtigen Umständen in die unerreichbaren Tiefen der Keltischen See und reißt 228 Menschen in den Tod, ein Mädchen sieht jede Nacht zur Stunde des Wolfes seinen verschollenen Vater, eine betrogene Mörderin beweist Haltung, eine Polizistin und ihr Partner haben sowohl einander als auch den üblichen Verdächtigen eine Menge vorzuwerfen, und eine lang verstummte Autorin meldet sich wieder zu Wort.

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Seitenzahl: 567

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Silvia Götschi

Copyright ©2021 Cameo Verlag GmbH, Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Lektorat: Susanne Schulten, Duisburg

Umschlaggestaltung: André De Carvalho, Cameo Verlag GmbH, Bern

Layout und Satz: Rafael Schlegel, Cameo Verlag GmbH, Bern

ISBN: 978-3-906287-88-1

E-Book: CPI books GmbH, Leck

In großer Dankbarkeit

für Oswald Götschi – mein Erzeuger und geistiger Vater

und für Maria und Fredi – meine Eltern

Was immer du tun und erträumen kannst, du kannst damit beginnen. Im Mut liegen Schöpferkraft, Stärke und Zauber.

– Johann Wolfgang von Goethe

Der Schlüssel kam in einem Umschlag.

Der Schlüssel kam um zehn. Es war ein schöner Tag. Der Winter hatte sich verabschiedet und den zaghaften Annäherungen eines frühlingshaften Fluidums Platz gemacht. Eine neue Lebensfreude schälte sich aus dem letzten Grau der vergangenen Monate der Tristesse. Wo alles nicht wirklich existiert hatte. Wo die Tage im düsteren Niemandsland geschlummert hatten, die Nächte eisig gewesen waren.

Es war ein mit kleinen Luftkissen gepolsterter Umschlag in der Größe einer Postkarte. In einem glücklicheren Moment hätte er die kleinen Luftkissen zwischen seinen Fingern zerdrückt. Und dem knisternden Geräusch gelauscht. Dem Gesang aufplatzender Blasen. Die Adresse war von Hand geschrieben. Einen Absender gab es nicht.

Er kannte die Schrift.

Dass dieser Tag einmal anbrechen würde, hatte er verdrängt. Kaum mehr daran geglaubt und sich vorgestellt, ihn vergessen zu haben.

Der Schlüssel kam in einem Umschlag. Er riss den Innenteil auf. Der Schlüssel fiel auf den Tisch. Er verursachte ein schepperndes Geräusch. Ein langes Begleitschreiben fehlte, es gab nur die Aufforderung, dass er von nun an noch vierundzwanzig Stunden Zeit hätte, um seinen Auftrag zu erledigen.

Er hatte keine Sekunde gezögert, damals, als es um seine Zukunft ging. Sein Versprechen. Die Unterschrift unter dem Vertrag, der ihm das Leben rettete, das seiner Familie.

Er hatte seine Seele verkauft, als er am Abgrund stand. Dass ihm die Jahre danach geschenkt waren, wurde ihm erst jetzt bewusst.

Es brauchte nur einen Knopfdruck oder das Umlegen eines Schalters. Er war darauf getrimmt, wochenlang war es ihm eingebläut worden. Ein Anruf würde es sein, hatte man ihm später mitgeteilt, oder ein Hinweis im Briefkasten.

Der Schlüssel kam um zehn an diesem hoffnungsvollen Tag und traf ihn wie ein Hammerschlag.

Schon lange hatte er mit dem Gefühl gelebt, niemals aktiv werden zu müssen. Dass er sein Leben weiterhin genießen dürfte, seine Familie, sein Haus. Sein Eigen – für das er jetzt nun doch den Preis bezahlen musste.

Heute, an diesem ersten Frühlingstag.

– Aus «Der Schläfer» von Laura D. Bancroft

Eins

London am späten Nachmittag. Der Anwalt Logan Stoner stand in seinem Büro am Fenster, mit dem Telefonhörer am Ohr. Seit seinem Eintreffen heute Morgen hatte er den Anruf immer wieder hinausgezögert. Er war auf die Terrasse gestiegen und hatte die Sonne blutrot über den Dächern des Quartiers aufgehen sehen, eine Aprilsonne, brennend und explosiv. Stoner verabscheute diesen Tag. Den Anruf auch.

«Der Premier will aus der EU aussteigen!», sagte er.

«Wir haben Kenntnis davon», kam es unwirsch zurück. «Es ist an der Zeit, dem einen Riegel vorzuschieben. Ich nehme an, Sie rufen mich deswegen an.»

Stoner sah hinunter in die vollgestopften Straßen, die aussahen, als hätten sie kein Ende, in denen Busse, Taxis und Kleinwagen einander permanent und verbissen den Platz streitig machten. Seit sieben Uhr war dort unten die Hölle los – wie an jedem Tag.

Er betrachtete sein Bürogebäude, das die Fassaden des Glaspalasts gegenüber widerspiegelten. «Sein Berater Liam Keaton, dieser rechtsverdrehte Psychopath, bestärkt ihn in seinen Ideen auch noch. Ich habe gestern ein Schreiben aus Brüssel bekommen. Dort sieht man dieser Entwicklung mit äußerster Besorgnis entgegen. Wenn Großbritannien wieder autonom wird, könnten Dänemark und Schweden nachziehen. Ausgerechnet jetzt, wo wir mit den Norwegern verhandeln. Großbritannien tritt uns in den Hintern. Die Schweiz hat mit ihrer letzten Abstimmung negative Maßstäbe gesetzt. Weiß der Teufel, wie dieses Alpenvolk es immer wieder schafft, sich dem Rest von Europa zu widersetzen. Auf der Weltkugel sind sie höchstens als kleiner Fliegenschiss zu erkennen, wenn überhaupt. Diese sogenannten Eidgenossen! Sollte der Worst Case eintreffen, wären unsere Bemühungen um ein transatlantisches Abkommen für die Füchse. Wie auch immer: Sie haben alle Freiheiten, um diese Schussfahrt ins Chaos zu verhindern.»

«Können wir uns treffen?»

Stoner zögerte. Sein Blick verlor sich in der Ferne. Die Sicht war heute gestochen klar. Sie reichte bis zu den gigantischen Türmen der Canary Wharf mit dem HSBC-Tower, dem One Canada Square und dem Citigroup Center. «Warum sollen wir uns treffen? Machen Sie einfach Ihren Job!»

«Der Osten macht auch auf Konfrontation, wie die letzten Entwicklungen zeigen», hörte er. «Wir müssen uns sehen.»

Verdammt! Konnte er nicht einfach dem Mund halten? Vielleicht hätte er den Anruf auf den Abend verlegen sollen. Er hatte sich auf das Mittagessen gefreut, aber jetzt war ihm der Appetit vergangen.

«Ein gefundenes Fressen für Keaton», meinte er grimmig. «Er spricht bereits von einer neuen europäischen Großmacht, die es zu verhindern gilt. Er will keine Wiederholung der Geschichte. Er will Brüssel schwächen und die reichen Länder zur Umkehr zwingen. Wir müssen das mit allen Mitteln verhindern. Das wäre der Todesstoß für unsere Bestrebungen und hätte eine Destabilisierung Europas zur Folge.»

«Der Osten löst das Problem auf seine Weise», kam es zurück. «Die Annektierung gewisser Staatsteile war nur der Anfang. Sie werden systematisch weitermachen. Wann also treffen wir uns?»

Der gab wohl nie auf.

«Um zehn im Ministerium.» Stoner legte den Telefonhörer angewidert auf die Station zurück.

Eine Weile noch blieb er am Fenster stehen, das bis zum Boden reichte. Unter sich sah er die breiten Verkehrsadern, durch die sich dicht gedrängt die glänzenden Karosserien der zahllosen Autos wälzten, die London in den Kollaps zu treiben drohten. Sein Büro thronte wie ein hängender Garten über den Wohnblocks und Bürogebäuden der Mill Harbour. Es lag noch kein Jahr zurück, als er von der Newell Street hierhergezogen war. Er hatte sich noch nie auf eine dauerhafte Bleibe eingelassen. Es gab Momente, da musste er die Flucht ergreifen, weil man sein Gesicht kannte. Weil es mit seiner Ruhe dann vorbei war und ihm die Presse auflauerte, um ihn mit heiklen Fragen zu bombardieren. Diese oberflächlichen Journalisten, die bloß einer verdummenden Leserschaft gerecht wurden, die sich davor drückten, aktuelle Probleme objektiv anzugehen. Er hasste sie alle.

Stoner war ein Rastloser geworden. Ein einsamer Wolf im Dschungel der Großstadt.

Er wandte sich vom Fenster ab und sah auf sein Pult, auf dem sich die Akten der letzten Sitzungen stapelten. Den Überblick hatte er längst verloren. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. Er kannte das, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen drohte. Wenn sich die Dinge endgültig in eine andere Richtung entwickelten, als sie sollten. Er hätte sein Mandat schon längst gekündigt, wenn er nicht so verdammt abhängig gewesen wäre. Von denen, die mächtiger waren als er. Und vom vielen Geld, das ihm dadurch gewiss war.

Vor zwei Jahrzehnten war er in den Vorstand seiner Partei gewählt worden, einer Mitte-links-Partei, die von Bristol aus agierte. Er hatte damals Ja gesagt. Das war ganz am Anfang gewesen, als er noch jung und voller Idealismus gewesen war, als er noch daran geglaubt hatte, etwas verändern zu können. Das Leben lebenswerter zu machen. Ein junger, aufstrebender Anwalt. Sie hatten ihn als Frischling in den Kreis der Silberrücken geholt. Er hatte nie herausgefunden, welche Kriterien ausschlaggebend gewesen waren. Nach der Anwaltsprüfung hatte er zuerst in einer kleinen Kanzlei in Bristol gearbeitet. Von einem Tag auf den anderen war er mit der Möglichkeit konfrontiert worden, seine Karriere voranzutreiben – nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik.

Eine überdurchschnittliche Entlöhnung hatte ihm gewinkt. Er wäre wirklich verrückt gewesen, hätte er dem entsagt. Mit siebenundzwanzig hatte er schon Ziele erreicht, die er sich nie gesteckt hatte.

Dass er aber nur ein Trabant sein würde, war ihm schon nach dem ersten Jahr klar geworden. Seine Ideale zerrannen. Er ging in den Fußstapfen derer, die vor ihm gingen. Und irgendwann war er einer von ihnen geworden – einer, der seine Authentizität schneller verloren hatte, als ihm lieb sein konnte.

Das Telefon schrillte. Stoner fuhr zusammen. Er musste den Klang wirklich leiser stellen.

«Ich bin’s.»

«Sie schon wieder? Ich dachte, wir hätten das hinter uns.»

«Ich muss noch etwas loswerden.»

«Was kann so wichtig sein, dass Sie mich nach meinem Anruf in so kurzer Zeit wieder behelligen?»

«Noch haben die Vereinigten Staaten ein großes Interesse daran, dass Europa stärker wird. Indem Europa sich nach Osten ausdehnt, schafft es wichtige strategische Punkte, die in der Öl- und Gasindustrie von großer Bedeutung sind. Das kann sich aber schnell ändern, sollte in den Staaten die Regierung wechseln und sollten die Republikaner an die Macht kommen. Sie wissen, welche Anwärter momentan auf der Liste stehen.»

Verdammt ja, er hatte recht. Nichts war absehbar. Wenn Europa zerfiel, würden sich die Bedingungen ganz schnell ändern.

Stoner schniefte laut und ungehalten. «Dass die Rechnung nicht immer aufgeht, hat sich in den letzten Monaten immer deutlicher abgezeichnet. Meine Aufgabe besteht in erster Linie darin, einen Balanceakt zu verhindern. Was den Demokratien entgleitet, fangen die Diktaturen auf. Das Volk müsse geführt werden, das ist die Ansicht des Gegners. Sie streben eine moderate diktatorische Demokratie an. Ich beobachte diese Entwicklung mit Besorgnis. Denn so abwegig ist die Idee nicht. Doch meine Bosse haben uns nicht fürs Denken engagiert.»

«Wen meinen Sie mit uns?»

Stoner fand es angebrachter zu schweigen. Wenn sein Gesprächspartner glaubte, ihn aus der Reserve locken zu können, hatte er sich getäuscht.

«Dass die USA näher am Abgrund stehen, als allgemein bekannt ist, davon sind unsere Auftraggeber überzeugt», tönte es aus der Leitung. «Die Chinesen und Inder seien auf dem Vormarsch, was Technologie und Industrie anbelangt. Europa müsse ihnen Paroli bieten – in jeder Hinsicht. Es gelte, noch mehr Länder hinzuzuziehen. Daher könne man keine Gegenspieler gebrauchen wie Keaton. Er sei gefährlich für die Entwicklung der Europäischen Union. Die Zeit sei reif, ihn aus dem Verkehr zu ziehen.»

Was erzählte er da? «Die Chinesen und Inder sind nicht wirklich kreativ. Die Chinesen kopieren den Westen, und die Inder sind höchstens in der Medizin weiter.»

«Wie bitte? Die Chinesen mischen in Afrika extrem mit. Sie gehen dort auf die Ressourcen los, binden die Afrikaner in ihre Geschäfte ein. Das macht den besseren Eindruck, verhindert jedoch, dass man ihnen auf die Finger schaut.»

«Sie haben ja recht. Das sind Gründe genug, um Europa zu stärken, ansonsten steht es auf verlorenem Posten …»

Stoner wartete eine Erwiderung erst gar nicht ab. Er knallte den Hörer auf die Gabel. Er musste vorsichtig sein. Auch wenn er Maßnahmen getroffen hatte, würde man ihn sehr wahrscheinlich abhören. Er wollte kein Risiko eingehen. Zudem verabscheute er es, wenn andere für ihn dachten. Es genügte, wenn sie seinen Auftrag ausführten, nur das taten, was er, der Mittelsmann, ihnen auftrug.

Vor allem aber wollte er sein sorgfältig entstandenes Konstrukt von niemandem zerstören lassen.

Stoner lebte zusammen mit seiner Frau in einer Vorstadtvilla und besaß ein Cottage im Süden von Somerset. Er saß in der Sportkommission der Bristol High School und setzte Unterschriften, war bei Sportanlässen anzutreffen, wo seine Geldgeber nicht wirklich hinpassten. Er unterzeichnete Stipendien und Förderbeiträge für minderbemittelte Sporttalente. Er war einer von vielen, die sich für das Gemeinwohl einsetzten. Im Hintergrund jedoch hielt er die Fäden für die in der Hand, die eine starke Europäische Union anstrebten und vor allem für deren Erhalt plädierten.

Stoner setze sich an sein Pult, das in einem Meer von Papier versank. Anstatt zu arbeiten, schob er einen Aktenberg zum anderen. Er war nicht bei der Sache, seine Konzentration befand sich auf dem Tiefpunkt. Oft arbeitete er während der Nacht an seinen Mandaten, weil er sich tagsüber der Politik widmete. Den aufgezwungenen Arbeiten, von denen er nie mehr loskommen würde. Sie drehten sich wie eine Spirale ins Immergleiche. Er vermochte bloß ihren Kurs zu bestimmen – ob in die Höhe oder in den Abgrund.

Während er am Pult saß, blickte er in das gespiegelte Grau des Computermonitors. Was er dort sah, befriedigte ihn nicht. In letzter Zeit hatte er abgenommen. Sein Gesicht war eingefallen, seine blauen Augen lagen in tiefen Höhlen. Er hatte seine Attraktivität verloren. Die Veränderung war schleichend vonstatten gegangen. Er würde sein Leben überdenken müssen, seine Ehe, die Beziehung zu seiner Frau. Das ganze beschissene Leben überhaupt.

Er erinnerte sich plötzlich, dass Patricia versprochen hatte, heute noch vorbeizukommen. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Sie stellte immer so hohe Ansprüche an ihn, war selten zufrieden mit dem, was sie besaßen. Sie strebte nach Vollkommenheit, angestachelt von den prominenten Frauen, die in London von sich reden machten. Sie mochte es, sich in der Aufmerksamkeit der High Society zu sonnen. Sie passte allerdings auch dorthin, denn sie war eine Augenweide. Stoner verehrte sie. Wenn er jedoch an die Anfänge ihrer Ehe dachte, war alles ein wenig einfacher gewesen. Mit der Zeit hatte Patricia jedoch Morgenluft gewittert. Sich in die Elite einzugliedern, war vor allem für sie nie schwierig gewesen – war sie doch eine Frau mit einer Bilderbuchkarriere: Mit vierzehn Jahren hatte ein Modefotograf sie in der London Underground entdeckt, sie von der Schule geholt und als Model groß herausgebracht. Mit achtzehn war sie ein gefragtes Mädchen geworden, das fortan auf den Titeln der Hochglanzjournale zu sehen war. Stoner hatte sie bei einer Spendengala kennengelernt, und ein Jahr später waren sie ein Paar geworden.

Von dem einfachen Häuschen, das sie am Anfang ihrer Ehe bewohnt hatten, waren sie in eine Villa am Stadtrand von London gezogen. Ein Anwesen mit Pool und einer Driving Range. Patricia hatte ihren privaten Golflehrer – Stoner ahnte, dass er sie nicht nur im Abschlagen, Chippen und Putten unterrichtete, und er hätte oft Grund genug gehabt, sie vor die Tür zu setzen. Denn das ganze Quartier sprach schon davon, wie er sich von seiner Frau ausnehmen ließ. Nur ging ihm das – um es ganz klar zu sagen – am Arsch vorbei.

Es klopfte. Die Tür ging auf, und Patricia stand da. Vollbeladen mit Tüten und Kartons.

«Wenn man vom Teufelchen spricht …»

Sie hörte es nicht.

Wenn sie nicht gerade Golf spielte, ging sie auf Einkaufstour, kam aber immer auf einen Schwatz bei ihm vorbei, falls sie in der Nähe war und er sich im Büro aufhielt.

Wie schön sie war. Fünfunddreißig, groß, schlank und durchtrainiert. Jeder Muskel ihres Körpers war das Produkt eines ausgeklügelten Trainings, das sie täglich absolvierte. Keine Kinder, denn die hätten ihrer perfekten Figur geschadet. Ihr kastanienbraunes Haar reichte ihr knapp zum Kinn. Und wenn sie, wie jetzt, die Retro-Sonnenbrille trug, sah sie aus wie eine Diva. Seine Frau. Für sie lohnte es sich, täglich durch den Sumpf von Kriminalität und Korruption zu waten und zugleich in der Liga der Mächtigen mitzuspielen.

«Logan, sieh mal, was ich heute gefunden habe. Versace hat an der Oxford Street ein neues Geschäft eröffnet.» Patricia stellte einen Schuhkarton auf den Bürotisch, schob den Deckel zur Seite und griff nach einem Stoffsack. Sie nestelte am Bändel, der ihn an der Öffnung zusammenhielt und zog ein paar High Heels heraus. «Zwölf Zentimeter Absatz, ein Traum. Echtes Lackleder. Die passen zu meinem neuen Abendkleid. Hübsch, nicht?»

Stoner wusste, dass Patricia die Schuhe nicht seinetwegen gekauft hatte. Was hätte er sagen sollen? Er liebte seine Frau. Trotz ihrer Verschwendungssucht und ihrer Flatterhaftigkeit.

«Morgen Abend sind wir bei den Pommeroys eingeladen. Julian wird vierzig.» Patricia streifte ihre flachen Schuhe von den Füßen und zog sich die High Heels an.

«Morgen Abend kann ich nicht.»

«Aber ich habe es dir schon vor einem Monat gesagt. Hast du es denn nicht in deiner Agenda eingetragen?»

«Es ist etwas dazwischengekommen, was ich nicht verschieben kann.» Stoner bedauerte das. Zu gern wäre er neben ihr ins Rampenlicht getreten. Wenngleich er neben seiner Frau eine traurige Falle machte.

«Dann werde ich allein hingehen», sagte Patricia.

«Ich kann es dir nicht verübeln, jetzt, wo du diese Dinger gekauft hast.» Stoner machte eine abfällige Geste in Richtung ihre Füße. Er hasste ihre Kaufsucht. Aber es gelang ihm nie, ihr deswegen eine Moralpredigt zu halten oder lange böse zu sein. Er liebte sie einfach zu sehr.

Patricia sah ihn an, kam um das Pult herum, schob die Akten beiseite und setzte sich auf den freigewordenen Platz. Sie roch nach Zitrusfrüchten. Und als sie die Beine vor ihm spreizte, strömte Hitze auf ihn zu.

«Verdammt, Patty, ich sollte arbeiten.» Aber der Blick blieb ihm nicht lange verwehrt – wie immer trug sie keinen Slip.

«Komm schon, Baby. Ein kleines Dankeschön für die Schuhe.» Sie zog ihn am Gürtel eng zu sich heran und griff nach der Schnalle, um den Dorn aus der Öse zu ziehen.

«Wenn jemand kommt …»

«Es wird niemand kommen. Deine Vorzimmerdame habe ich in die Pause geschickt.»

«Aber das Telefon könnte klingeln.»

«Dann lass es klingeln.» Sie griff in seinen Hosenbund und tastete sich weiter nach unten. «Da rührt sich schon was.»

Er liebte ihr raues Lachen. «Du kleines Luder, du …» Er reckte sich, die Hose rutschte über seine Knie. Patricia half ihm bei den Boxershorts. Seine Männlichkeit strebte ihr entgegen. Als sie nach seinem Penis griff, war sie vor Verlangen schon ganz nass geworden. Er spürte es. Sie zog ihn zu sich.

«Du schaffst es doch immer wieder, du raffinierte kleine Hexe …»

«Ich wäre sonst über mich selbst enttäuscht», gab sie kokett zurück.

Er bohrte sich in sie. Sie schlang die Beine um seinen Leib und stieß die Absätze in seinen Rücken, während ihr Oberkörper sich nach hinten beugte. Sie hatte ihre Bluse aufgeknöpft. Runde, wohlgeformte Brüste trotzten der Schwerkraft. Ihre Knospen richteten sich auf wie nicht ganz reife Kirschen. Er stöhnte auf unter diesem Anblick, unter dem Schmerz. Er wollte sie küssen. Sie wehrte sich. Das törnte ihn noch mehr an.

Ihr Rhythmus wurde schneller.

Er verlor die Kontrolle über sich.

«Du hast keine Übung mehr», rügte sie, als er von ihr abließ.

«Du hast mich verrückt gemacht. Du raubst mir die letzte Reserve. Wie soll ich nur weiterarbeiten?»

«Lass dir etwas einfallen.» Sie reinigte sich mit einem Taschentuch.

«Ich habe einen politischen Auftrag.»

«Politik und Sex – die treibende Kraft des Mannes.» Sie packte die flachen Schuhe in den Stoffsack ein, schnürte ihn zu und legte ihn zurück in den Karton.

Stoner schüttelte nur den Kopf.

Sie griff nach den restlichen Taschen und Kartons, drehte sich auf dem Absatz um und stöckelte zur Tür. Noch einmal ein Blick zurück. «Hasta luego, Baby.»

Die Tür fiel ins Schloss. Was blieb, war der Geruch seiner Frau wie etwas Unwirkliches, als hätte es sie nie gegeben.

Stoner saß da wie ein geprügelter Hund. Trotz der schnellen Entspannung. Er wusste, dass Patricia auf dem Weg zum Golfkurs war und sie nach dem Kurs im Minimum eine Verlängerung von einer Stunde eingerechnet hatte. Er hätte sie deswegen schon längst in die Wüste schicken müssen. Aber er tat es nicht. Er zog Boxershorts und Hose hoch, arrangierte den Gürtel. Griff sich wohlwollend in den Schritt.

Politik und Sex – und ein Weib wie seines. Sie würde ihn eines Tages noch ganz zerstören. Aber sie war großartig dabei.

Das Klingeln des Telefons riss ihn abermals aus seinen Gedanken. Das ist Timing, ging ihm durch den Kopf. Als er den Hörer von der Gabel nahm, fiel sein Blick kurz auf das Display. Er hätte den Anruf besser nicht annehmen sollen. «Sie schon wieder?»

«Ja, verdammt. Ich schon wieder. Haben Sie die Nachrichten gehört?»

«Ich arbeite im Büro.»

«Fuck. Ich dachte, Sie sind multitasking.»

«Worum geht’s eigentlich?» Stoner lehnte sich zurück. Er hatte dieses Getue so satt.

«Keaton ist tot.»

Zwei

Er war allein, und das war gut. Er brauchte kein Publikum. Nicht für diese Sache. Er wusste, wo das Schließfach lag. Er hatte es selbst ausgesucht, vor Jahren, als er sein Leben aufgegeben, seine Familie in die Hände höherer Mächte gelegt hatte. Er hatte den Preis akzeptiert, ohne zu wissen, wie hoch er ausfallen würde. Jetzt würde er ihn bezahlen müssen. Mit Zins und Zinseszins.

Um zu überleben. Um seine Familie zu schützen. Ein Versprechen hatte er gegeben, damals, als ihm das Wasser bis zum Hals stand. Als er nicht mehr weiterwusste und alles, was er einmal aufgebaut hatte, auseinanderzufallen, für immer zu zerbrechen drohte.

Die Zeiten waren schwierig gewesen. Er hätte es wohl kaum geschafft, allein über die Runden zu kommen. Er war es seiner Familie schuldig gewesen. Ihr und seinen Freunden und all denjenigen, die ihm etwas bedeuteten.

10Stunden früher

«Diane!»

Keine Antwort.

«Diane!»

«Mum ist im Garten.» Maddie sprang vom oberen Stockwerk die Treppe herab, indem sie zwei Tritte auf einmal nahm. Ihre langen blonden Haare flatterten nach hinten und erzeugten etwas Unbezähmbares, beinahe Exotisches.

Jake Hemingway machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Er drückte auf den Knopf, während er die Tasse unter den Kolben hielt – dachte er zumindest. Die Schönheit seiner Tochter lenkte ihn ab. Wie gebannt blickte er ihr entgegen. Der heiße Kaffee tröpfelte über seine rechte Hand. «Shit!» Er ließ die Tasse fallen, sie kippte zur Seite, der Kaffee ergoss sich über die Küchenkombination. «Das kommt davon, wenn man ein so hübsches Kind hat.»

«Dad, du weißt doch, dass Männer nie zwei Dinge auf einmal tun können.» Maddie stand neben ihm und bezirzte ihn mit ihren veilchenblauen Augen. Nur Maddie hatte solche Augen. «Dad, hast du dich verbrüht?» Sie griff nach einem Lappen, presste ihn auf den Kaffee und wischte ihn weg. «Hast du?»

«Nein, nicht der Rede wert.» Er musterte sie nachdenklich. «Müsstest du nicht schon längst in der Schule sein?»

Maddie wrang den Lappen im Schüttstein aus. «Dad, bist du blöd. Heute ist doch Samstag.»

«Ach ja, habe ich ganz vergessen.» Er war zerstreut. «Heute ist Samstag, und ich muss zu einer Konferenz fahren. Ich würde den Tag so gerne mit euch verbringen.»

«Wohin musst du denn?» Maddie schnappte sich ein Brötchen vom gedeckten Frühstückstisch, biss hinein und stellte sich kauend neben ihren Vater.

Ein Luftzug streifte die beiden. Die Tür, die auf die Terrasse führte, schwang auf, und Diane erschien im Rahmen. Die eine Hand hatte sie in die Seite gestemmt, mit der anderen fuhr sie sich über die Stirn und blies gleichzeitig eine Strähne weg. Sie sah umwerfend schön aus. Sie maß keine eins fünfundsechzig, aber wenn sie einen Raum betrat, beherrschte sie ihn, als wäre sie drei Meter groß. Eine mächtige Aura umgab sie, die fast absurd wirkte, weil diese Frau so zart war. «Maddie, du bist auch schon wach?»

«War das nicht deine Idee? Du willst, dass ich heute die Gartenbeete umsteche. Zudem muss Dad zu einer Konferenz.» Maddie biss wieder in ihr Brötchen.

«Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht mit vollem Mund sprechen», tadelte Diane ihre Tochter. «Und bitte setz dich an den Tisch, wenn du isst. Was sind denn das für Manieren?»

«Mum, jetzt hab dich nicht so. Du hast mich etwas gefragt. Ich habe dir geantwortet.» Maddie schmiegte sich an ihren Vater. «Dad wird uns gleich verlassen. Ich wollte ihm nur auf Wiedersehen sagen.»

«Vielleicht setzen wir uns alle hin.» Diane warf ihrem Mann einen schnellen Blick zu. «Bitte sei so gut, und gieß einen Earl Grey auf.» Dann überlegte sie es sich anders. «Können wir uns kurz unter vier Augen unterhalten?»

«Wenn du meinst.» Jake folgte ihr vor die Küchentür. Er sah zurück zu Maddie und zwinkerte ihr zu.

Diane zog die Tür ins Schloss. «Ich möchte nicht, dass du dich immer zwischen Maddie und mich stellst. Ich erziehe unsere Tochter, und du lässt ihr alles durch. Nein, du schweigst dann, das ist noch schlimmer.»

«Ist das nicht normal? Ich sehe sie ja so selten.»

«Sie nutzt das aus.» Diane versetzte ihrem Mann einen sanften Hieb. «Das ist das Los der Mütter, die zu Hause bleiben. Vielleicht hätte ich sie besser im Griff, wenn ich auswärts arbeiten ginge.»

«Dieses Thema hatten wir doch schon.» Jake schüttelte den Kopf. «Ich möchte nicht, dass meine Frau auswärts arbeitet. Das hast du nicht nötig. Ich verdiene genug für uns drei.»

Diane gab es offensichtlich auf. «Komm, gehen wir frühstücken. Ich wasche mir nur schnell die Hände.»

Maddie hantierte mit dem Kolben, als Jake in die Küche zurückkehrte. Sie öffnete die Büchse mit dem Kaffeepulver, schöpfte mit dem dafür vorgesehenen Maßlöffel die erforderliche Menge und kippte diese in den Kolben. Mit einem gekonnten Dreh ließ sie den Kolben an der Maschine einrasten, einer echten italienischen Kaffeemaschine. «Einen gestreckten Milden oder einen Espresso?»

«Mum trinkt nur Tee.»

«Nein, ich meine, für dich.» Maddie grinste. «Und? Hast du auf der Konferenz auch etwas zu sagen? Oder musst du dir die langweiligen Floskeln deiner Mitarbeiter anhören?»

Jake schubste seine Tochter sanft. Er mochte es, wie sie lachte. «Untersteh dich. Das ist eine ernste Angelegenheit. Es geht darum, dass wir …»

«Ihr steht noch immer da?» Diane trat in die Küche. Sie setzte sich und ließ sich von Maddie den Tee servieren. «Was wolltest du uns mitteilen?» Sie gab ein Stück Zucker in die Tasse, rührte um, kippte ein halbes Kännchen Milch dazu, legte den Löffel zurück und führte die Tasse zum Mund. Sie ließ Jake dabei nicht aus den Augen.

«Wir sind mit unserer Druckerei nicht mehr zufrieden. Heute haben wir eine Krisensitzung.»

Diane stellte die Tasse zurück. «Ach, und dafür musst du an einem Samstag weg?»

«Es geht nur heute. Der Chef von Kendall Print und sein Stellvertreter wollten gemeinsam vorsprechen. Ich meine, hier geht es um eine Menge Geld. Wenn sie uns als Kunden verlieren, wird ihre Firma ein echtes Problem haben. Vielleicht hoffen sie darauf, noch etwas retten zu können.»

«Und? Glaubst du, es gibt etwas zu retten?»

«Du interessierst dich auf einmal für die Firma?» Jake musste schmunzeln. «Was ist denn in dich gefahren?»

«Ich interessiere mich eben für eure Kunden.»

«Und warum?»

«Du hast mir den Chef von Kendall Print mal vorgestellt. Ich fand ihn sympathisch.»

«Andrew Kendall?»

«Ja, den meine ich.»

«Mit Sympathie allein kann man keine Geschäfte machen.»

«Aber es erleichtert einiges. Wo liegt dann das Problem?»

Diane gab nicht auf, während Maddie ihre Eltern scharf beobachtete. Ihre Augen bewegten sich zwischen ihnen hin und her wie bei einem Tennisspiel.

«Wenn du es unbedingt wissen willst: Kendall Print liefert in letzter Zeit eine lausige Arbeit ab. Schon zum wiederholten Mal mussten wir Prospekte zurückschicken, weil die Farbqualität nicht stimmte. So etwas können wir unseren Kunden nicht zumuten. Das ist eine Blamage.»

«Aber Dad, die landen ja sowieso im Abfalleimer. Oder schaust du dir Werbeprospekte so genau an?»

Jake fuhr mit dem Handrücken über die Wange seiner Tochter. Es hatte keinen Zweck, über Geschäftliches zu diskutieren. Es reichte, wenn dies in der Agentur geschah. Zudem bedurfte es bei Maddie immer diverser Erklärungen. Sie war ein wissbegieriges Kind. «Am Abend bin ich wieder zurück. Versprochen. Und morgen werden wir einen Ausflug machen. Überleg dir schon mal, wohin wir fahren wollen.» Er trank den Kaffee aus, erhob sich und stellte die Tasse in den Schüttstein.

Er nahm Diane in die Arme, zog ihren Kopf an seine Schultern und inhalierte den Duft ihres Haars, das ein wenig nach Kräutern roch. «Passt gut auf euch auf. Und keine Dummheiten mit der Leiter. Die Sprossen sind morsch. Vielleicht solltest du mal eine neue Leiter kaufen. Die kostet ja nicht alle Welt. Es gibt auch Aluleitern, die sind genauso stabil wie Holzleitern, wenn nicht besser.» Kurz hielt er inne, überlegte sich, dass das keine gute Idee war. «Nein warte, ich werde dir die Leiter besorgen. Nächste Woche, am Montag vielleicht, nach der Arbeit, da kann ich noch im Supermarkt vorbeischauen.»

Diane schüttelte seufzend den Kopf. «Ich liebe dich, Jake Hemingway.»

«Ich weiß.» Er löste sich von ihr. Ein Blick auf die Uhr. Er war spät dran. «Ich muss dann mal.» In der Garderobe griff er nach dem Autoschlüssel und dem Aktenkoffer. «Bis bald, meine Liebsten. Bis bald.»

«Was war das denn?» Maddie stand jetzt mit offenem Mund und auf Zehenspitzen an der Küchenkombination. Sie sah aus dem Fenster direkt auf den Vorplatz und auf ein gelbes Meer von Narzissen.

«Ach, du kennst doch Dad.»

«Aber so lange hat er noch nie gebraucht, um sich von dir loszureißen. Ihr tut immer so wie Frischverliebte. Wie peinlich.»

Für ihre Tochter war im Moment alles peinlich. Aber das quittierte Diane lediglich mit einem Schmunzeln. «Das erste sonnige Wochenende, seit sich der Winter verabschiedet hat. Ich an seiner Stelle hätte auch keine Lust, in schlecht gelüfteten Räumen herumzusitzen.»

«Der Vater von Kimberly leidet unter einem Burnout», wusste Maddie in altklugem Tonfall zu berichten. «Wenn Dad so weitermacht, erwischt es ihn auch noch. Joe Preston ist jetzt immer zu Hause. Kimberly erzählte mir, dass das für ihre Mum ganz schön nervig sei. Er arbeitet zwar nicht, schaut ihr aber andauernd auf die Finger, wenn er nicht gerade vor der Glotze schläft.»

«So weit wird es mit deinem Dad und mir nicht kommen. Setz dich noch etwas zu mir. Wir wollen doch diesen Morgen genießen.»

«Und dann muss ich dir im Garten helfen.» Maddie schmollte und sah zu, wie ihr Vater den Wagen aus der Garage fuhr. Seit einem halben Jahr gehörte ihm ein neuer Kombi. Dunkelblau mit hellen Ledersitzen, fünf Türen und genügend Stauraum. Damit Diane bei seiner Abwesenheit nicht auf den gewohnten Komfort verzichten musste, hatte er ihr kommentarlos einen Kleinwagen gekauft. Diane hatte sich gewundert, wo er das Geld herhatte. Eine Gehaltserhöhung, hatte Jake gesagt und einige Tage später noch einen draufgegeben: Er ließ einen befreundeten Architekten kommen und besprach mit ihm eine sanfte Renovation ihres Hauses.

«Woran denkst du?» Maddie wandte sich an ihre Mutter.

«An deinen Vater. Wenn es ihn nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.»

* * *

«Hat irgendjemand einen Befehl erteilt?» Abdullah Omar Brown – Sohn eines irischen Unterhändlers und einer Ägypterin – erhob sich aus dem Bürostuhl. Seine sonst so sonore Stimme krächzte. Während er sich im Spiegel betrachtete, der an der Wand gegenüber hing, konnte er beobachten, wie sein Gesicht die schrecklichen Züge einer Fratze annahm. In seiner Linken hielt er ein iPhone. «Es war zu früh, Abbas. Zu früh.»

«Die Liquidation geht nicht auf unser Konto», antwortete die Stimme an seinem Ohr.

«Dann sage mir, auf wessen.»

«Bei Allah, ich werde es herausfinden.»

«Bin ich eigentlich nur von elenden Stümpern umgeben?»

«Allahu akbar.»

«Das gefällt mir nicht.» Brown nahm sich zusammen. «Irgendjemand pfuscht uns ins Handwerk.» Er tigerte in seinem Salon auf und ab. Durch die hohen, mit Tüll verhängten Fenster schimmerten die grauen Mauern des gegenüberliegenden Gebäudes hindurch, in welchem die Büros der Metropolitan Police untergebracht waren. Vor drei Jahren war er mit seiner Familie in das Luxusappartement gezogen. Ein Zufall, hätte man meinen können, weil er so nun in der Nähe seiner Feinde wohnte. Denn dass er mit dem Metropolitan Police Service auf Kriegsfuß stand, hatte mit seiner Vergangenheit zu tun. Und die sah düster aus. Das tat zwar auch die Gegenwart, doch in der sah man die dunklen Flecke nicht mehr. Zumindest wusste Brown sie gut zu verbergen. Und so stand er an jedem Morgen für eine Weile mit entblößtem Oberkörper an seinem Schlafzimmerfenster, das sich genau gegenüber dem Bürofenster des Police Chief Superintendents befand. Er war sogar dreist genug, dem Superintendent, falls er zu selben Zeit an seinem Fenster auftauchte, zuzuwinken. Er liebte diese Spielchen. Er liebte die Provokation.

«Abbas, ich höre erst wieder von dir, wenn du mir eine konkrete Lösung für das Problem liefern kannst.»

«Aschhadu an la ilaha illa llah.»

Als es an der Tür klopfte, drückte Brown den Aus-Knopf, öffnete das Gehäuse des iPhones und entnahm ihm die SIM-Karte. Diese ließ er in seiner Jackentasche verschwinden. Er würde sie später in der Toilette hinunterspülen.

«Abdull?» Die grazile Schönheit mit dem seidig schwarzen Haar schritt leichtfüßig auf ihren Mann zu. «Ist alles in Ordnung?»

Er spürte, wie über sein kantiges, von einem schwarzen Bart bedecktes Gesicht Röte schoss. Es passte ihm nicht, dass seine Frau ihn in dieser Gemütsverfassung sah. Sie war seine Lieblingsfrau unter allen seinen Frauen. Er hatte sie vor vier Jahren geehelicht und bereits drei Kinder mit ihr.

«Wir werden heute eine Familienfeier begehen.» Er versuchte, locker zu werden, was ihm halbwegs gelang. Familie und Geschäft musste er rigoros trennen. «Ich lege die Organisation ganz in deine Hände, Fadime. Besprich das Dinner mit George. Er soll alles in die Wege leiten.»

Fadime ahnte bestimmt, dass er sich nicht grundlos eine solche Veranstaltung wünschte. Sie sollte von seinen Problemen ablenken. Sie kannte ihn gut genug, fragte aber nicht. Sie würde eine Familienfeier vorbereiten, wie er das von ihr gewohnt war – perfekt und mit einem reichhaltigen orientalischen Essen. Und alle ihre Verwandten einladen.

«Und wann gedenkst du zu feiern?», fragte sie.

«Heute Abend. Sollte das ein Problem sein?»

«Nein, Abdull. Kein Problem. Und wo wirst du so lange hingehen?» Ihr Blick war voller Traurigkeit.

«In die Stadt», sagte er. «Ich muss wieder zur Ruhe kommen.» Er würde seinen Zorn abreagieren müssen. Fadime hatte dies zu akzeptieren. Er wusste nur nicht genau, wie weit sie mittlerweile in sein zweites Leben eingeweiht war. Brown sah ihr nach, als sie das Büro verließ. In der Garderobe griff sie nach ihrer Abaya und zog sie sich über.

Brown wollte keine unnötigen Gedanken an seine Frau verschwenden. Seine Mutter hatte sich sehr für die Heirat eingesetzt. Denn Fadime stammte aus einer reichen Familie aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Fadimes einflussreicher Vater, Scheich Zyad von Dubai, hatte Abdullah die Übernahme des Kraftstoffgiganten Livsey & Boaden in Aussicht gestellt und ihn später mit den richtigen Leuten zusammengeführt. Dass Brown eigentlich nicht das Kaliber besaß, das Zyad von seinem Schwiegersohn erwartet hatte, störte ihn nicht. Es waren andere Mächte im Spiel gewesen, uralte Geschichten, die Zyad mit Browns Mutter verbanden.

Im Zyads Windschatten konnte sich Brown ausleben. Seine Tankstellen-Shops funktionierten gut ohne ihn. Dafür hatte der Scheich früh genug gesorgt, indem er die richtigen Pächter gesucht hatte. Brown ließ er lediglich als Aushängeschild fungieren, als verspielter, den schönen Dingen des Lebens zugetaner Mann, der die Finger von nichts lassen konnte.

Zyad hatte Brown in der Hand. Er benutzte ihn als seine ganz persönliche Marionette. Er hatte Abdullah geködert und gedrillt und ihn zum Lakaien des Teufels gemacht.

* * *

Der Samstag endete mit einem spektakulären Sonnenuntergang hinter den Hügeln der Cheddar Gorge. Der Himmel zerbröselte zu orangefarbenen Sprenkeln und die Baumspitzen sahen aus wie Scherenschnitte vor dem opulenten Drama dieses Naturtheaters. Maddie hielt ihre Pentax in der Hand und fotografierte. Sie liebte Sonnenuntergänge. In ihrem Zimmer hingen neben Bildern von Beyoncé und James Blunt Sonnenuntergänge in allen möglichen Varianten. Meistens mit einem schemenhaften Vordergrund. Am liebsten mochte sie das küssende Paar am Strand – ein Bild von Diane, das sie während ihrer Teenagerzeit schon in ihrem Zimmer aufgehängt hatte. An den Ecken war es beschädigt.

Sieben Uhr abends, und sie saßen noch immer im Garten.

«Glaubst du nicht, es wäre langsam an der Zeit, dass Dad nach Hause kommt?» Maddie legte ihre Kamera auf den Tisch, wo eisgekühlter Tee und drei Gläser standen. «Hast du ihn auf seinem Handy erreicht?»

«Die Combox ist eingeschaltet. Er möchte gewiss nicht gestört werden.»

«Seit bald zwölf Stunden.»

«Eine Marathonsitzung.»

«An einem Samstag? Mum, das glaubst du doch selbst nicht.»

«Maddie, wir warten einfach noch ein wenig. Es ist ja nicht das erste Mal, dass er an einem Samstag so lange wegbleibt.»

«Ich habe Hunger. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet und bloß einen Apfel gegessen.»

Diane hatte mit Absicht nichts zu Mittag gekocht. Sie wollte das Essen auf den Abend verlegen, an dem sie in aller Ruhe zusammen am Tisch sitzen würden. Bei Kerzenschein und schöner Musik. Ihrer gemeinsamen Musik. Every Time I Close My Eyes. Wie früher, als sie nicht voneinander hatten lassen können.

Dass Jake nichts von sich hören ließ, kam ihr seltsam vor. Sie versuchte, von ihrer Nervosität abzulenken. «Sieh ihn dir an. Haben wir nicht einen schönen Garten? Das erfordert von Zeit zu Zeit einen gewissen Einsatz. Danke, dass du mich in meiner Arbeit unterstützt hast.»

«Ist ja gut, sonst wärst du jetzt noch dran. Aber im Gegensatz zu dir habe ich keinen grünen Daumen. Immer nur gärtnern, da würde ich mit der Zeit balla balla.» Maddie wedelte mit der rechten Hand vor ihrem Gesicht herum.

«Aber du freust dich doch auch über den Garten, oder?»

«Mum, ich hole mir ein belegtes Brot.»

«Ich komme auch ins Haus. Es wird kühl.» Diane war enttäuscht. Sie hatte sich solche Mühe gegeben: vom frühen Morgen an den Garten vom Winterdreck befreit, Stauden geschnitten, verdorrtes Unkraut ausgerissen. Samen gesetzt, Blumen gepflanzt, den Komposthaufen neu angelegt. Mit Maddie gestritten, denn ihre Tochter war alles andere als eine Perfektionistin, hatte aber einen sturen Kopf und differenziertere Ansichten als sie. Im Ofen schmorte seit Stunden ein Roastbeef. Der Kartoffelgratin stand bereit und musste nur noch aufgewärmt werden. Der Tisch im Wohnzimmer war festlich gedeckt, mit Kerzen und Rosen aus dem Gewächshaus. Sie hatten ein Vermögen gekostet.

Fünfzehn Jahre Diane und Jake.

Heute war ihr Hochzeitstag.

Maddie stellte den Fernseher an. «Willst du dir etwas ansehen? Eine Talkshow vielleicht? Oder den fünften Kanal? Da wird ein Film über die Königsfamilie gezeigt. Ich glaube, der jüngste Spross der Royals hat eine Neue.»

«Was du nicht sagst.» Diane schritt zum Backofen und schaltete ihn aus. «Lauwarmes Roastbeef ist fast noch besser als heißes.»

«Wir könnten doch schon essen.»

«Warten wir noch etwas.» Diane kehrte zurück ins Wohnzimmer, ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen. Sie hatte schon geduscht, sich schön zurechtgemacht – ein geblümtes Etuikleid, schlicht und elegant. Jake hatte es ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt. Er brachte ihr stets Kleider nach Hause. Er habe ein Auge dafür, sagte er immer. Ihre blonden Haare hatte sie hochgesteckt wie damals an ihrem Hochzeitstag in der Saint Mary Redcliffe Church. In Bristol, wo sie herkamen. Die Kirche – ein Kraftort. Diane erinnerte sich, wie ihr die Härchen auf den Armen zu Berge gestanden waren. Sie hatte geweint vor Glück, wegen der Überzeugung, das Richtige zu tun, des Lichts, das sie nie heftiger gespürt hatte und dieser Energie, die aus allen Ecken geströmt war. Ein Fest der Liebe war es gewesen mit all ihren Verwandten und Freunden. Und sie in ihrem wunderschönen Kleid. Weiß mit rosa Applikationen. Nach der Messe ein Blumenregen, weiße Lilien, Rosenblüten. Die Stretch-Limousine, die sie nach Southampton brachte, wo sie ihre Flitterwochen starteten.

Ein Märchen hatte begonnen.

Maddie drückte planlos auf der Fernbedienung herum. Diane ließ es ihr für heute durchgehen. Sie würde sie ein andermal dafür ins Gebet nehmen. Sie mochte es nicht, wenn ihre Tochter wahllos durch die Sender zappte. Wozu gab es Programmhefte? Die konnte man studieren, einen Film auswählen, und dann den Kanal.

Auf einmal hielt Maddie inne. Mit dem Gerät in der Hand starrte sie auf den Bildschirm, wo verpixelte Bilder einen Schneesturm erzeugten. Ab und an, kaum identifizierbar, hörte man einen Ton aus dem Rieseln heraus, immer wieder durch ein Zischen unterbrochen. Eines technischen Defektes wegen? Es war nicht klar.

Dann plötzlich dieser Blick aufs Meer.

Ein Umriss auf Wasser. Der Schatten eines Hubschraubers, der über unregelmäßige Schaumbordüren zuckte. Die Stimme des Nachrichtensprechers in emotionsloser Gleichgültigkeit. In dieser kalten Monotonie, welche Stimmen von Nachrichtensprechern an sich haben. Ein Bericht den Berichten gleich, wie sie täglich in den Äther geschickt wurden.

Bruchstückhaftes Zusammenfügen einzelner Wortfetzen. Das Meer, unheimlich und träge jetzt wie flüssiges Blei. Der rotierende Schatten darauf. Die Suche nach etwas, was dem Zuschauer verborgen blieb. Ein Spiel, das es zum Geheimnis machte, zur spannenden Unterhaltung an diesem Abend.

Schnitt.

Eine Fallblattanzeigetafel. «Flug LHR London Heathrow – New York JFK Airport: cancelled!»

Abgebrochen!

Ausgefallen!

Gelöscht!

Schnitt. Vom Schrecken verzerrte Gesichter im Fokus von Kameras. Heftige Gesten. Und der Zuschauer dazu aufgefordert, dem Unbegreiflichen ins Gesicht zu sehen. Allmählich ein Bild, das sich wie ein Puzzle zusammenfügte. Hier war eine große Tragödie Wirklichkeit. Eine Zeit lang blieb der Ton vollständig aus.

Wie gebannt starrte Maddie auf den Bildschirm, während Diane auf dem Sofa ihre Beine anzog. Maddie musste sich in ihrer Flugangst wieder einmal bestätigt sehen. «Bin ich froh, müssen wir in nächster Zeit nicht fliegen.»

«Ach Maddie, als du klein warst, hat es dir doch nie etwas ausgemacht.»

«Ich habe lieber festen Boden unter den Füßen.» Sie sah Diane eindringlich an. «Wo bleibt eigentlich Dad? Hast du in der Firma schon angerufen?»

«Hat er nicht gesagt, dass die Sitzung außerhalb der Firma stattfindet?»

«Ich erinnere mich nicht.»

Dann Nachrichten aus aller Welt. In einer Kohlegrube in China hatte es eine Explosion gegeben. Man rechnete mit über fünfzig Toten. Vor Lampedusa war ein Boot mit Flüchtlingen gekentert. Zwölf Tote und über vierzig Vermisste. Es gab auch Überlebende. In Ostafrika bahnte sich eine neue Hungersnot an. Man sprach von einer humanitären Katastrophe. Überall übten Staatsoberhäupter sich zudem im Säbelrasseln. Die Politik brachte offensichtlich täglich neue Psychopathen hervor. Zuletzt die Hiobsbotschaft, dass Liam Keaton in der Unglücksmaschine gesessen habe.

Diane spürte ein vages Stechen in der Brust.

Immer dieselben beklemmenden Nachrichten. Das Leben war schrecklich geworden, die Welt stand in Flammen. Diane wollte es nicht mehr hören.

Maddie sprang auf. «Wo ist dein iPhone? Ich werde Dad eine SMS senden. Die wird er sicher lesen.»

«Du hast doch ein eigenes.»

«Ach Mum, mein Guthaben ist fast aufgebraucht. Ich muss sparsam sein. Bis Monatsende geht’s noch fünf Tage.»

Zwanzig Uhr. Die Nacht brach in einem monochromen Licht über die Landschaft herein. Das Roastbeef war am Erkalten, der Fernseher aus.

Diane hatte sich aufs Sofa gelegt, neben sich die Rotweinflasche, die sie im Beisein von Jake hatte öffnen wollen – einen kalifornischen Roten. Er war bereits zur Hälfte ausgetrunken. Maddie hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen. Sie müsse noch Hausaufgaben erledigen, die Gartenarbeit habe ihren Zeitplan durcheinandergebracht. Sie hatte gefragt, ob Diane ihr später bei Mathe helfe. Recht und Gegenrecht. Ausgerechnet Diane, die sich gegen Zahlen sträubte. Aber mit Maddie würde sie rechnen, und wenn es bis nach Mitternacht ginge.

Der fünfzehnte Hochzeitstag.

Mathe – und Jake war noch nicht zurück. Every Time I Close My Eyes.

Dass er sich nicht meldete, das passte gar nicht zu ihm. Er hätte sie in einer Pause benachrichtigen können – Marathonsitzung hin oder her.

Der fünfzehnte Hochzeitstag und der Verdacht, Jake könnte ihn in den Armen einer anderen Frau verbringen.

Dieser Gedanke. Plötzlich war er da gewesen. Nicht zum ersten Mal. Je später der Abend wurde, desto schlimmere Formen nahm dieser Gedanke an. Diane suchte in ihrer Handtasche nach Notizblock und Schreibstift.

Zaghaft hatte sie wieder mit dem Schreiben begonnen. Ein erster Versuch. Ob es ihr gelingen würde, ihre Inspirationen aufs Papier zu bringen? Noch zitterten ihre Finger, wenn sie den Stift hielt.

Jake trifft sich oft mit tollen, erfolgreichen Frauen. Er isst mit ihnen zu Mittag und spricht über Geschäftliches. Manchmal auch abends. Wie wir schon gelacht haben über diese Frauen. Wie Jake sie mir beschrieben hat. Ihre unterkühlte Art. Schön und erfolgreich – aber Eisklötze. Ob er sich noch nie in eine verliebt habe, hatte ich wissen wollen. Nein, die seien wie Kerle. Zudem habe er die schönste und beste Frau der Welt. Die anderen ließen ihn kalt. Ich kann es nicht ganz nachvollziehen. Ich muss ihm einfach vertrauen.

Warum ist er dann nicht da?

An unserem Hochzeitstag?

Und warum nimmt er meinen Anruf nicht entgegen?

Die Wohnzimmeruhr schlug neunmal. Sie hatte einen vertrauten, dumpfen Klang. Manchmal hörte Diane sie nicht, wie alles, was sie an Wiederholungen im Alltag nicht mehr wahrnahm. Sie merkte, dass sie kurz eingenickt war. Von oben dröhnte der Bass, Technosound in voller Lautstärke. Sie hatte noch nie begriffen, wie es möglich war, zu solcher Musik Matheaufgaben zu lösen. Sie erhob sich. In der Küche wickelte sie das Roastbeef in Frischhaltefolie und stellte es auf einem Teller in den Kühlschrank. Die Weinflasche war leer.

Benommen blickte Diane aus dem Fenster auf den Vorplatz, wo man die gelben Narzissen in der Dunkelheit nicht mehr sehen konnte. Die einzige Laterne verschluckte mehr Licht als dass sie welches spendete. Diane war betrunken. Sie war es sich nicht gewohnt, so viel Wein auf einmal zu trinken. Und dann auch noch auf leeren Magen, an diesem Abend, den sie sich so anders vorgestellt hatte.

Irgendwann fuhr ein Wagen in die Einfahrt. Sie hörte die Kieselsteine unter den Rädern knirschen.

Dianes Vorfreude war einer schrecklichen Traurigkeit gewichen. Ihr Inneres sträubte sich, jetzt noch auf heile Welt zu machen. Wenn Jake sie umarmen wollte, würde sie ihn wegstoßen. Was fiel ihm ein, sie einfach so aus seinen Gedanken zu streichen? Sie hörte Autotüren zufallen – zwei waren es. Jake hatte bestimmt Besuch mitgebracht. Als Ablenkung. Oder zur Verteidigung, damit sie ihn nicht beschimpfte. Damit sie gute Miene zum bösen Spiel machte. Diane, Liebes. Schau, wen ich mitgebracht habe. Alles Gute zu unserem Hochzeitstag.

Jemand klingelte.

Das war nicht Jake.

Diane blieb im Wohnzimmer stehen. Den Stich in ihrer Mitte versuchte sie zu ignorieren.

«Mum, es hat geklingelt.» Maddie sprang über die Treppe ins Erdgeschoss. Trotz der lauten Musik schien sie den Ton gehört zu haben. «Machst du nicht auf? Dad hat vielleicht den Schlüssel vergessen – oder ihn verloren. Du weißt ja, wie er manchmal ist. Mit den Gedanken und so … Oder vielleicht ist es Benny.»

«Benny?» Kurz löste sich Dianes Starre.

«Ach, ein Schulkollege. Nicht das, was du denkst.»

Konnte sie überhaupt noch denken? «Das will ich doch hoffen. Du bist ja erst vierzehn.»

Maddie öffnete die Tür. Diane hörte sie leise sprechen. Dann wandte sich ihre Tochter zu ihr um. «Mum, es ist nicht Benny. Die wollen zu dir.»

Diane näherte sich dem Flur, sah Konturen im Rechteck der Tür: zwei ihr nicht bekannte Menschen, eine Frau, ein Mann. Maddie sauste wieder Richtung Treppe. «Ich bin gerade an einer Arbeit.» Die schien sehr wichtig. Diane vermutete, dass ihre Tochter ihre Mathematikaufgaben über Instagram löste. Dort hatte sie absolut keine Kontrolle. Sie blickte ihr nach, ihrer Tochter, die ihr manchmal wie ein Sack voller Flöhe vorkam. Maddie hier und Maddie dort. Maddie war überall. Kaum zu bändigen.

Diane stand reglos.

«MrsHemingway?» Die Frau sprach sie zuerst an. Jung, burschikos, ein rundes Gesicht. Die Haare standen ihr vom Kopf ab. Pflegeleicht, durchfuhr es Diane. «Mein Name ist Rose Eliot. Das ist mein Kollege Peter Clancy.»

Sie waren angezogen wie Mitglieder der Heilsarmee. Graue Flanellhose, ebenbürtiges Jackett, ein nicht mehr ganz weißes Hemd, das augenscheinlich die Waschvorgänge nicht ganz unbeschadet überstanden hatte.

Diane musterte sie.

«MrsHemingway?» Eliot hielt den Kopf leicht schräg.

Wie sie ihren Namen sagte. Wie der Mann ihr in die Augen sah. Oder besser: durch sie hindurch. Diane kam sich vor, als stünde sie entblößt da. Instinktiv verschränkte sie die Arme vor der Brust.

«Treten Sie ein.» Sie wandte den Besuchern den Rücken zu, ging ins Wohnzimmer zurück – wie in Trance. Sie spürte, dass etwas nicht so war, wie es hätte sein müssen. Dass die Fremden ihr eine Nachricht überbringen mussten, die sie nicht erfahren wollte.

«MrsHemingway, setzen Sie sich bitte.»

Als hätte es einen Unterschied gemacht, als könnte man sitzend besser damit umgehen. Mit der Nachricht, die sie gleich zu hören bekommen würde. Es misslang ihr, irgendwelche Bilder zu produzieren. Eine dumpfe Leere hatte sich in ihrem Kopf ausgebreitet.

Diane ließ sich auf dem Rand des Sofas nieder. Die beiden Fremden blieben stehen. Die Situation lud sich immer weiter mit Spannung auf, während Diane um Haltung rang. Ob man ihr ansah, dass sie beschwipst war?

Die Rotweinwolke schwappte durch ihr Gehirn wie ein trübes, schlammiges Gewässer.

«Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihrem Mann etwas zugestoßen ist.»

Die Worte kamen von irgendwoher.

Etwas zugestoßen ist!

Etwas!

Zugestoßen!

Ist!

Dianes Kopf fühlte sich an, als würde jemand mit einem Hammer dagegenschlagen. Es gab nur eine Möglichkeit, diese drei Wörter zu verdrängen: Reden! Sofort!

«Jake ist mit seinem Wagen gefahren. Er ist ein guter Automobilist, hat sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Er fährt sicher – nie zu schnell.»

Dad, warum überholen dich immer alle anderen Autofahrer?

Ich bin ein Easy Rider, schon vergessen?

«Ist jemand in ihn reingefahren? Einer dieser Rowdys, von denen man so viel hört? Ist er am Steuer eingeschlafen? Er war in letzter Zeit oft sehr müde. Das kommt von den Überstunden. Sein Chef fordert ihn. Verlangt oft mehr, als er verträgt. Mein Mann sagt nie etwas.»

Vielleicht hoffte er insgeheim, doch noch Partner zu werden, Firmenmitinhaber von Skyblue.

«Er hatte einen Unfall.»

«Selbstverschuldet?», war das Einzige, was Diane danach hervorbrachte.

Clancy verneinte. Diane sah ihm an, dass er zögerte.

«Kann ich ihn sehen? Ist er schwer verletzt? Wo liegt er?»

«Es ist etwas komplizierter», sagte Rose, sehr vorsichtig, so schien es.

«Ist er tot?» Diane wollte schreien, doch sie brachte vorerst keinen Laut über die Lippen. Dann, nach einem Zögern: «Nein, das ist absolut unmöglich. Ich liebe Jake. Ich hätte es gespürt. Ich habe schon von Menschen gehört, die den Tod ihrer Angehörigen voraussahen. Vorausspürten. Schmerzen hatten. Ich bin eins mit Jake. Wir sind Yin und Yang. Ich hätte es gespürt …»

Rose suchte nach Worten.

Clancy dagegen schien nicht um den heißen Brei herumreden zu wollen. «Er ist bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Sie haben sicher in den Nachrichten davon gehört. Die Medien sind oft schneller als erlaubt. Es tut uns sehr leid.»

Pause.

Es tut uns sehr leid.

Als würde man mit diesem Allerweltssatz die Wirkung des Gesagten abmildern können. Clancy hatte seinen Auftritt gut einstudiert.

Diane lachte. Es klang fast befreit. «Das muss ein Irrtum sein. Mein Mann ist heute nicht geflogen. Er ist nicht verreist. Er hatte eine Konferenz. Er wird bald zurückkommen.»

«Wir haben von British Airlines die Passagierliste bekommen.» Clancy legte einen Bogen Papier auf den Tisch. «Der Name Jake Alfie Hemingway steht auch drauf. Die Passnummer und sein Geburtsdatum. Er hat doch am siebzehnten Dezember Geburtstag, oder?» Clancy sah aus, als würde er sich im Zweifel an dieser Möglichkeit festhalten.

Jake Alfie.

Jakes Eltern hatten Humor gezeigt. Nicht nur bei der Namensgebung. Leider waren sie früh gestorben. Der Name «Alfie» war geblieben. Seine engsten Freunde nannten ihn manchmal so, wenn sie ihn ärgern wollten.

«Mum, was ist los?» Maddie stand plötzlich wieder neben ihr. Diane hatte sie nicht kommen hören. «Mum, sag ihnen, dass Dad am siebzehnten Dezember Geburtstag hat. Er ist im Sternzeichen des Schützen geboren. Eine Woche vor Weihnachten. Er wird in diesem Jahr vierzig. Im chinesischen Horoskop ist er ein Hase.»

«Das ist richtig … Ich meine, das Geburtsdatum stimmt. Aber er hat heute kein Flugzeug bestiegen. Mein Mann ist nicht geflogen.»

Diane ließ den Morgen Revue passieren.

«Jake hatte sich geduscht und rasiert, bevor ich in den Garten ging. Da war kein Koffer, kein Kulturbeutel, den er ansonsten für seine Reisen einpackt. Nur der Aktenkoffer stand im Flur. Den nimmt er immer mit, wenn er zur Arbeit fährt. Eine Konferenz am Samstag – selbst das ist nichts Außergewöhnliches. Jake muss ab und zu den Samstag opfern. Arbeit, die er nicht hinausschieben darf, ungeduldige Kunden. Es gibt immer irgendwelche Gründe. Nichts Abnormales also.»

«MrsHemingway?» Rose schreckte sie aus ihren Spekulationen auf. «Es tut uns sehr leid. Wir würden gerne etwas für Sie tun. Sollen wir einen Arzt rufen?»

«Aber weshalb? Ich bin völlig okay.»

War sie das?

Sie spürte, wie alles in ihr Widerstand leistete. Jeder Gedanke war einer zu viel. Sie wollte es nicht zulassen, dass ihre Vermutungen zu Bildern wurden, dass das Schlimmste Gestalt gewann. «Jake hat eine Konferenz. Es wird einfach sehr spät werden. Aus irgendeinem Grund kann er mich nicht anrufen. Das ist zwar noch nie geschehen, aber es gibt immer ein erstes Mal. Wie damals, vor siebzehn Jahren, als wir uns geküsst haben. Vor siebzehn Jahren, als die Welt noch in Ordnung war. In Bristol war’s, auf dem Bahnhof, da haben wir uns zum ersten Mal geküsst …»

Die nächste halbe Stunde verbrachte Diane wie unter dem Einfluss von Drogen. Maddie hatte sich neben ihre Mutter gesetzt. Sie begriff nichts wirklich. Das, was sie vor nicht allzu langer Zeit im Fernsehen gehört und gesehen hatten, bekam auf einmal ein Gesicht. Ein nahes.

Flug BA443, auf dem Weg von London Heathrow nach JFK New York, war vom Radar verschwunden, nachdem die Maschine die Südspitze von Irland überflogen hatte. Ortszeit 12.53Uhr. Eine letzte Meldung aus dem Cockpit kurz davor. Anfrage in Cork für eine Notlandung. Grund unbekannt. Zweihundertsechzehn Passagiere und zwölf Besatzungsmitglieder im Atlantik verschollen. Tief auf dem Meeresgrund. Wahrscheinlich keine Überlebenden.

«Das ist alles ein großer Irrtum», versuchte Diane von dieser Hiobsbotschaft abzulenken. «Mein Mann ist heute nicht geflogen. Er hat mir nicht gesagt, dass er fliegen wird. Er hätte es mir gesagt, wenn es so gewesen wäre. Er fuhr kurz nach sieben hier los. Schon deswegen kann er nicht in London in ein Flugzeug gestiegen sein.»

«Mum!» Maddie schmiegte sich an ihre Mutter. «Mum, wird Dad nie mehr zurückkommen?»

«Er wird bestimmt zurückkommen. Ich spüre es. Er ist noch nie weggegangen, ohne mir etwas zu sagen. Er kommt bald zurück. Das ist alles nur eine Verwechslung. Ein Rätsel, das sich bald auflösen wird.»

Die beiden Beamten blickten einander wortlos an.

Maddie sprang vom Sofa. «Sind Sie eigentlich von der Polizei?»

«Vom … Care Team», antwortete Rose.

«Dürfen Sie denn das?»

«Was denn, meine Liebe?»

«Einfach so über uns herfallen und so etwas erzählen?»

«Das ist unsere Aufgabe.»

«Ich möchte so etwas nicht tun. Ich werde nach dem Gymnasium Anglistik studieren. Ich schreibe gute Aufsätze, hat meine Lehrerin gesagt. Ich werde schöne Geschichten schreiben und in die Fußstapfen meines Namensvetters treten.» Sie warf Diane einen fragenden Blick zu. «Oder meiner Mum. Ich werde nie schlechte Nachrichten überbringen. Mein Dad ist so stolz auf mich.»

«Manchmal geht es nicht anders.»

«Macht das Ihnen Spaß?»

Rose wurde das Ganze zusehends unangenehmer. «Was denn?»

«Uns anzulügen. Dad hat uns versprochen, morgen einen Ausflug zu machen. Ich würde so gern wieder einmal in den Norden fahren. Oder an die Küste. Morgen soll noch einmal schönes Wetter sein. Eine Seltenheit in unseren Breitengraden, nicht wahr? England gilt als Land mit extrem viel Regen.» Maddie verzog ihren Mund zu einem sanften Lächeln, während sie Diane ansah. «Mum hat heute den Garten auf Vordermann gebracht. Ich habe ihr dabei geholfen. Für Dad, wissen Sie. Er liebt schöne Blumen. Im Sommer blüht es hier immer sehr üppig.»

Maddie. Wie sie von der frühreifen Vierzehnjährigen plötzlich wieder zum Kind wurde.

Diane blickte sie sorgenvoll an. Alles andere war vergessen. Der Flugzeugabsturz. Jakes Abwesenheit. Sein Versäumnis, sie anzurufen.

«Es gibt keine Verbindung zu Jake! Es ist eine Verwechslung! Sie haben sich in der Tür geirrt.» Sie musste es ihnen sagen, weil Maddie ihr kleines Mädchen war.

«Ist wirklich alles in Ordnung?» Rose Eliot – die Frau mit den Igelhaaren.

«Kommen Sie. Ich werde Ihnen zeigen, dass mein Mann nicht verreist ist.» Diane schlug den Weg Richtung Treppe ein. «Kommen Sie. Im Badezimmer steht alles an seinem gewohnten Platz. Sein Rasierzeug. Er rasiert sich immer mit Pinsel und Rasiermesser. Er ist ein sinnlicher Mann. Im Schrank hangen alle seine Kleider, mit Ausnahme des Anzugs, den er heute trägt. Der Koffer ist noch da. Er ist nicht verreist.»

Rose Eliot ging ihr nach, vergewisserte sich, dass stimmte, was Diane sagte. Die beiden Frauen kehrten zurück. Rose sah ihren Kollegen an, hob die Schultern. «Wir sollten wieder gehen. Wir lassen Ihnen unsere Nummer da, falls Sie Hilfe benötigen», sagte sie.

Einstudiertes Gerede. Aus dem Mund dieser Leute, die sich Care Team nannten. Diane sagte nichts mehr. Sie waren in ihr Haus eingedrungen. Sie hatten sich das Recht herausgenommen, ihren Tag zu zerstören, ihr Leben, ihre Zukunft. Einfach so. Ohne ersichtlichen Grund.

Maddie schlug hinter den Beamten die Tür zu. «Dad wird wiederkommen. Ich habe ihm eine SMS gesandt. Er wird sie mir beantworten, wie er das immer macht.»

«Maddie!»

«Dad liebt mich. Er würde mich nie alleinlassen.»

«Maddie!»

«Er würde auch dich nicht einfach so alleinlassen. Er weiß, dass du ohne ihn nicht zurechtkommst.»

«Maddie!» Diane ergriff die Oberarme ihrer Tochter. Und schüttelte sie kräftig. «Maddie! Wir setzen uns jetzt und reden miteinander, okay?»

«Ich will nicht reden.» Als plötzlicher Schrei: «Ich will, dass Dad kommt.» Das hatte etwas Animalisches an sich. Sie lief auf das Sofa zu, ließ sich gestreckt darauf fallen und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Alles fühlte sich unwirklich an. Maddies Weinen. Ihre eigene Ohnmacht. Die Tatsache, dass sie nicht wusste, welchen Schritt sie als Ersten tun musste. Ob es überhaupt noch Schritte gab oder ob der Weg hier bereits endete.

Sie fühlte sich wie in einer Zwischenwelt. Zwischen Träumen und Aufwachen. Verstehen wollen und Nichtbegreifen. «Alles ist ein großer Irrtum. Oder ein Zufall. Oder ein Traum, aus dem wir gleich aufwachen werden.» Sie bohrte sich mit dem rechten Zeigefinger in die linke Handfläche. Der Fingernagel hinterließ eine Delle – es war kein Traum.

Anne, das war ihr nächster Gedanke. «Ich muss Tante Anne anrufen.» Diane stolperte zum Telefon im Flur. Sie wählte. Es war halb elf.

«Ich habe es soeben erfahren.» Annes Stimme glich einem Wispern.

«Was hast du erfahren?»

«Dass mein Bruder tot ist.»

«Das ist nicht wahr. Er ist nicht tot. Er hat dieses Flugzeug nie bestiegen. Wer hat dir diesen Unsinn erzählt? Das ist eine Verschwörung. Irgendjemand will uns schaden.»

«Die Polizei war da.»

«Die Polizei? Nicht die Opferhilfe vom Flughafen? Peter Gady oder Laddy oder ähnlich. Den Namen der Frau weiß ich nicht mehr. Beamte, du weißt schon.» Diane lachte verzweifelt. «Warum die Polizei?»

«Weil sie systematisch die Hinterbliebenen kontaktieren.»

«Aber du bist keine Hinterbliebene.»

«Er war mein Bruder.»

«Es ist eine Verwechslung.»

«Ich werde zu dir kommen. Die Polizei war bei mir, weil sie sich Sorgen um dich macht. Die Beamten meinten, dass ich dich in den nächsten Tagen nicht alleinlassen darf. Wie geht es Maddie?»

«Sie weint.» Diane warf ihrer Tochter einen mitfühlenden Blick zu.

«Ich bin morgen früh bei dir. Mache jetzt nichts Unüberlegtes.»

«Was sollte ich schon tun? Ich warte. Jake und ich sind heute seit fünfzehn Jahren verheiratet. Schon vergessen? Du warst doch auch dabei. Erste Brautjungfer. Anne, du hast so schön ausgesehen. Tyler Edward hat dich damals bezirzt. Alle dachten, dass du die Nächste bist. Aber nein, du bist ledig geblieben. Jedem das seine. Und hör zu: Jake wollte mich sicher mit irgendetwas Schönem überraschen. Wie er das immer tut an unserem Hochzeitstag. Er wird mir ein Wochenende schenken oder Ferien in Norwegen. Dort wollten wir schon immer mal hin. Er wird wiederkommen. Ich spüre es. Er ist nicht tot. Ich liebe ihn.»

«Du kannst nicht davonlaufen.»

«Das tue ich nicht. Ich lasse mich aber auch nicht herunterziehen. Jake ist nicht verreist. Basta!»

Diane legte auf.

Das Wohnzimmer hatte seinen Glanz verloren. Die schönen Landhausmöbel wirkten farblos, wie leere Kulissen. Die Blumen an den Vorhängen wie von Geisterhand verwischt, die Rüschen an den Kissen waren verschwunden. Alles tauchte in einen Nebel ein, verschmolz mit dem trüben Licht von draußen.

Vor vierzehn Jahren hatten sie dieses Haus gefunden, kurz vor Maddies Geburt. Ein leerstehendes Anwesen, in das sie und Jake sich auf der Stelle verliebt hatten. Es hatte einer Erbengemeinschaft gehört, die es loswerden wollte. Ein Glücksfall: die Tafel vor dem verwilderten Garten, ein paar Zeilen in krakeliger Schrift, dass man das Grundstück mitsamt Haus kaufen könne, für einen Spottpreis. Eine ruhige Gegend, kaum jemand, der sich hierher verirrte. Wer wollte sich denn schon in dieser Abgeschiedenheit niederlassen?

Niemand außer Diane und Jake.

Sie hatten sich verlaufen, weil sie vor Übermut und Glück nicht mehr wussten, wie sie sich benehmen sollten. Sie hatten sich auf ihr erstes Kind gefreut. Es sollten viele Kinder werden. Sie waren aus Bristol hierhergefahren, hatten im Mascall’s Wood geparkt, waren immer weiter in die Wildnis geraten, bis sie vor diesem Grundstück standen. Ein Südstaatenhäuschen, das ein Amerikaner im letzten Jahrhundert gebaut hatte. In einem verwunschenen Garten, ein wenig verfallen, jedoch mit viel Charme.

Jake hatte sich von dem Anblick fast nicht mehr erholt.

Innerhalb eines Jahres hatten sie ihr Liebesnest eingerichtet, den Ort, an dem Maddie zusammen mit ihren Brüdern und Schwestern aufwachsen sollte. In ihrem Haus mit dem Bogeneingang und den Säulen, der Veranda, den Sprossenfenstern und Erkern, der Schaukel im Garten und dem Mammutbaum, dessen Äste weit über das Dach reichten.

Jedes Jahr hatten sie etwas investiert. Zuerst für das Kinderzimmer, die Fenster, dann für das Badezimmer. Es folgten die Wände, das Wohnzimmer und die übrigen Räume. Erst vor einem halben Jahr waren die Böden und die Küche ersetzt worden – eine sanfte Renovation, von Jakes Lohn bezahlt, weil er mehr verdiente als üblich. Weil er sehr viel mehr verdiente.