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Als Annie ihre Liebe für die Familie opfert, erkennt Charlotte ihre Fehler und will das Glück der Schwester retten Es sind die Jahre des Wiederaufbaus. Annie schuftet von früh bis spät, um mit ihren Eltern das zerbombte Häuschen wieder bewohnbar zu machen. Langsam scheint Frieden in die Bergbausiedlung einzukehren. Doch als Annies große Liebe, der amerikanische Soldat Nathan, plötzlich vor der Tür steht, sind manche Nachbarn empört und beschimpfen die junge Frau als Verräterin. Ein Mann denunziert Annies Vater sogar als Naziverbrecher – eine böse Lüge, aber die Familie droht zu zerbrechen. Annie und Charlotte müssen versuchen, die Unschuld des Vaters zu beweisen. Können sie dafür endlich ihren Zwist beenden? Hintergründe zur Entstehung der beiden Romane über die »Töchter des Ruhrpotts« Mülheim an der Ruhr ist die Heimat der Autorin Rebecca Maly. Als die studierte Archäologin 2021 in der Nähe von Mülheim eine Ausgrabung in einem Gefangenenlager aus dem Zweiten Weltkrieg durchführte, war sie von den Spuren der Inhaftierten, die unter widrigsten Bedingungen Schutzgruben in den Erdboden gegraben hatten, nachhaltig berührt. So wuchs ihr Wunsch, mehr über ihre Heimatstadt während jener Jahre zu recherchieren. Die Schicksale, auf die sie stieß, waren so spannend, dass sie diese Romane entwickelte.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
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© Piper Verlag GmbH, München 2023
Redaktion: Sarah Heidelberger
Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign
Covermotiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von AdobeStock, Shutterstock, akg-images / picture-alliance / dpa und Shelley Richmond / Arcangel
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Cover & Impressum
Zitat
Kapitel 1
Mülheim, Frühsommer 1945
Zur gleichen Zeit
Mülheimer Innenstadt
Kapitel 2
Sieben Jahre zuvor
Mülheim, Sommer 1938
Mülheim, Frühsommer 1945
Kapitel 3
Mülheim, Juni 1945
Zwei Jahre zuvor
Essener Kruppwerke, 1943
Kapitel 4
Mülheim, Juni 1945
Zwei Jahre zuvor
Essener Kruppwerke, August 1943
Kapitel 5
Zwei Jahre zuvor
Mausegattsiedlung, August 1943
Rheinberg, Juli 1945
Prisoner of War Transient Enclosure (PWTE) A1
Zwei Monate zuvor
Mausegattsiedlung, 21. Mai 1945
Kapitel 6
Mülheim, September 1945
Zehn Monate zuvor
Mülheim, November 1944
Kapitel 7
Ende August 1945
Amerikanische Besetzungszone, Limburg
Mülheim, Anfang September 1945
Bekleidungsgeschäft Klöppenstock
Kapitel 8
Mülheim, Anfang September 1945
Mülheim, Ende September 1945
Kapitel 9
Zehn Monate zuvor
Ruhrgebiet, November 1944
Nordeifel, November 1944
Eine Woche später
Kapitel 10
Mülheim, Anfang Oktober 1945
Zeche Wiesche, kurz zuvor
Kapitel 11
Innenstadt, zur gleichen Zeit
Kapitel 12
Mülheim, zwei Tage später
Kapitel 13
Zehn Monate zuvor
Mülheim, Weihnachten 1944
Zehn Monate später
Mausegattsiedlung, Oktober 1945
Zehn Monate zuvor
Ruhrgebiet, 30. Dezember 1944
Zehn Monate später
Mülheim, Polizeiwache Von-Bock-Straße, Oktober 1945
Kapitel 14
Wald bei Hürtgen, Januar 1945
Nahe der Rurtalsperre, Februar 1945
Acht Monate später
Mülheim, Mitte Oktober 1945
Kapitel 15
Acht Monate zuvor
Wald bei Hürtgen, Januar 1945
Zehn Monate später
Limburg an der Lahn, Oktober 1945
Kapitel 16
Acht Monate zuvor
Mülheim, Mausegattsiedlung, Februar 1945
Acht Monate später
Südlich von Köln, Oktober 1945
Kapitel 17
Hauptwache Mülheim, Oktober 1945
Sieben Monate zuvor
Ruhrgebiet, März 1945
Kapitel 18
Sieben Monate später
Mülheim, Oktober 1945
Sieben Monate zuvor
Diersfordter Wald, 24. März 1945
Kapitel 19
Sieben Monate später
Hauptwache Mülheim, Ende Oktober 1945
Sieben Monate zuvor
Lazarett Diersfordter Wald, 25. März 1945
Siedlung Mausegatt, fünf Tage später
Kapitel 20
Sieben Monate später
Mülheim, Ende Oktober 1945
Sieben Monate zuvor
Siedlung Mausegatt, 29. März 1945
Kapitel 21
Sieben Monate später
Mülheim, Ende Oktober 1945
Sieben Monate zuvor
Mülheim, 30. März 1945
Sieben Monate später
Mülheim, Anfang November 1945
Sieben Monate zuvor
Mülheim, 30. März 1945
Sieben Monate später
Mülheim, Anfang November 1945
Kapitel 22
Mülheim, zur gleichen Zeit
Sieben Monate zuvor
Mülheim, Anfang April 1945
Kapitel 23
Sieben Monate später
Mülheim, November 1945
Sieben Monate zuvor
Mülheim, 11. April 1945
Fünf Monate später
Mülheim, September 1945
Zwei Monate später
Siedlung Mausegatt, November 1945
Kapitel 24
Mülheim, November 1945
Acht Monate zuvor
Hürtgenwald, 27. März 1945
Kapitel 25
Acht Monate später
Hauptwache Mülheim, November 1945
Zur gleichen Zeit
Amtsgericht / Gefängnis Mülheim
Amtsgericht Mülheim, kurz zuvor
Epilog
Acht Monate später
Pädagogische Hochschule Kettwig, Juli 1946
Nachwort
Quellen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
»Gebt mir fünf Jahre, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen!«
Adolf Hitler – Plakat, angebracht 1945durch die Alliierten an einer Hauswandin der Mülheimer Innenstadt
Glückauf, Kameraden, durch Nacht zum Licht,uns sollen die Feinde nicht kümmern.Wir hatten so manche verzweifelte Schichtund sahen die Sonne nicht schimmern.Nur einig, einig müssen wir sein,so fest und geschlossen wie Erz und Gestein.
Annie starrte fassungslos auf das sorgfältig beschriebene Stück Papier in ihrer Hand. Ihr Herz wummerte schmerzhaft, als sei gleich neben ihr eine Bombe hochgegangen. Doch Bomben fielen schon länger nicht mehr aufs Ruhrgebiet, denn seit Wochen herrschte Frieden im Deutschen Reich.
Die Detonation beim Lesen der Zeilen hatte allein in ihrem Inneren stattgefunden und sie dennoch regelrecht zerrissen. Ein taubes Gefühl drückte ihr auf die Ohren, und ihre Knie fühlten sich an, als sei mit einem Schlag sämtliche Kraft aus ihnen gewichen.
Nathan, der Mann, mit dem sie nicht nur ihren ersten Kuss, sondern auch eine Gewehrkugel geteilt hatte, trennte sich von ihr. Um sie zu schützen! Weil er miterlebt hatte, wie die Nachbarn sie wegen der Verbindung zu ihm anfeindeten.
All das stand in diesem verdammten Brief, den er ihr geschickt hatte. Er liebe sie, und genau deshalb könne er sie nicht wiedersehen. Was für ein Idiot! Und doch konnte sie ihm nicht einmal so recht böse sein.
Annies Augen brannten, sie drückte die Lider zusammen, wollte den schrecklichen Brief nicht mehr sehen!
Erschöpft neigte sie sich auf dem Bänkchen zurück, bis sie mit dem Rücken an dem Schuppen lehnte, der noch immer ihre Zuflucht inmitten von Trümmern war. Die Bergarbeitersiedlung Mausegatt hatte es zwar nicht so schlimm erwischt wie andere Stadtteile, dennoch waren die Folgen der vielen Bombardierungen verheerend.
Mit dem Zechenhäuschen der Familie Neumann ging es dennoch voran. Am letzten Wochenende hatten sie gemauert und dabei tüchtige Hilfe bekommen. Der alte Fritz Kohlhaus mochte krumm wie ein knorriger Baum sein, doch das Wissen des Mannes war Gold wert. Gegen ein gutes Dutzend Eier und ein Stückchen Schinken hatte der ehemalige Maurer ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden und oft selbst Hand angelegt. Nun war das klaffende Loch in der Wohnzimmerwand Geschichte. Der Westwind würde nicht mehr hindurchpfeifen, nicht mehr Regen, Unrat und Staub hineinwehen. Annie meinte, den noch etwas feuchten Mörtel riechen zu können. Mineralisch, säuerlich und ein wenig nach Kalk.
Die Hühner liefen gackernd durch den Garten und pickten unter den Büschen nach Insekten und heruntergefallenen Beeren. Ganz besonders hatten sie es auf die Johannisbeersträucher abgesehen, die Mutti gerade aberntete. Heute Abend würden sie einkochen, fast wie früher. Nur dass der Herd nun unter einem Wellblechdach vor dem ehemaligen Ziegenstall sein Dasein fristete.
Vati war wie immer um diese Zeit unter Tage. Die Zeche produzierte wieder, als sei der Krieg nie geschehen. Das Land brauchte Kohle, die Menschen sollten im kommenden Winter nicht frieren, er würde auch so hart genug.
Ihre Schwester Charlotte war wie jeden Morgen schon in der Dämmerung aufgebrochen.
Sie räumte Schutt. Tat kaum etwas anderes, seit der Krieg zu Ende war, als könne sie mit der harten Plackerei die Erinnerungen vertreiben. »Dienst am Volk« nannte sie es, dabei wäre ihre Hilfe daheim genauso vonnöten gewesen. Es gab so viel Unausgesprochenes zwischen den Schwestern. So vieles, was sie einander nicht erzählen konnten. Die Gräben waren einfach zu tief.
Um sich nicht zu streiten, mieden sie einander.
Auch deshalb räumte Charlotte in der Innenstadt. Wenigstens träume ich dann nicht ständig von Martin, sondern gar nicht, hatte sie gesagt. Und tatsächlich schlief sie wie eine Tote, Annie konnte das bezeugen, denn sie lag Nacht für Nacht direkt neben ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester. Charlotte legte sich hin, schloss die Augen und rührte sich dann bis zum Morgen nicht mehr. Es war regelrecht unheimlich, als legte jemand einen Schalter um.
Charlotte wirkte mit ihren siebzehn Jahren schon unendlich erwachsen. Hatte sich in den letzten Kriegstagen verlobt, nur um ihren Liebsten wenige Stunden später zu verlieren. Er war in ihren Armen gestorben. Das schnitt tief.
Charlotte war eine glühende Verehrerin Hitlers gewesen und mit dem Hass auf die Gegner des Tausendjährigen Reichs groß geworden. Deshalb verabscheute sie Männer wie Nathan zutiefst.
Der Mann, den Annie liebte, war für sie nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Feind.
Annies Gedanken drehten sich wie eine aufgezogene Spirale im Kreis und kehrten wie selbstverständlich zurück zu ihrem Amerikaner … Nein, nicht mehr meinem, korrigierte sie sich und spürte nun doch, wie die ersten Tränen liefen.
Wie konnte er nur? Hatte er sie denn in ihrer gemeinsamen Zeit so wenig kennengelernt? Hielt er sie für derart zerbrechlich?
Du wirst für immer in meinem Herzen sein, stand in der letzten Zeile.
Annie schlug mit der Faust auf den Brief und knüllte ihn mit einem Laut tiefster Verzweiflung zusammen. Dann strich sie ihn hastig wieder glatt. Er war doch das Letzte, was sie von Nathan noch hatte!
»Annie?« Mutters Ruf drang wie aus einer anderen Welt zu ihr. »Annie! Wie lange willst du denn da noch herumsitzen? Die Arbeit macht sich nicht von allein!«
»Jaja, ich komme schon.« Sie schob den Brief zurück in den Umschlag und diesen wiederum in ihre Jackentasche. Dann tupfte sie sich die Augen mit den Ärmeln trocken und zog die Nase hoch.
Rasch war ein kleiner Emailleeimer gefunden, und sie eilte los. Die Hühner flohen mit lautem Gackern, wobei das garstige Federvieh auch diese Gelegenheit nicht ausließ, um auf dem kleinsten Tier herumzuhacken.
Mutti hatte bereits eine Schale gefüllt, die mit einem Tuch abgedeckt zu ihren Füßen stand. Ihre ungehaltene Miene änderte sich sofort, als sie Annie in die Augen blickte.
»Ist etwas passiert? War die Post da? Geht es um Ernst?«
Annie schüttelte den Kopf. Ihr kleiner Bruder galt noch immer als verschollen. Vater behauptete, er befände sich in Frankreich in Kriegsgefangenschaft, doch so ganz glauben konnte sie ihm inzwischen nicht mehr.
»Nein, Nathan will … Er …« Sie schluchzte auf, konnte es einfach nicht aussprechen. Doch das musste sie auch nicht. Ihre Mutter verstand sofort.
»Was für ein Dummkopf.« Die Johannisbeeren waren vergessen. Sie nahm ihre älteste Tochter in den Arm.
Annie, die nicht schon wieder weinen wollte, hatte keine Chance. Die Umarmung war entwaffnend. Die Tränen liefen und liefen einfach, wollten gar nicht mehr aufhören, bis sie dann irgendwann doch versiegten. Erst danach gab sie ihrer Mutter den Umschlag.
Sie sollte selbst lesen, was Annie einfach nicht über die Lippen kommen wollte.
Mutti überflog die Zeilen. »Was für ein ehrenwerter Idiot. Das Unheil ist doch längst angerichtet! Dann soll er gefälligst auch zu dir stehen!«
»Das finde ich auch«, schniefte Annie. »Ich habe ihn doch lieb. Aber …«, schon wieder war da dieser Brocken in ihrer Kehle, so bitter und scharfkantig, dass ihre Stimme versagte.
»Schreib ihm.«
»Aber er ist fort!«
»Ganz fort ist er nicht. Er ist in Deutschland und nicht in Amerika. Sie werden ihm die Post nachsenden. Schreib ihm, sonst werde ich es tun!«
»Ja, Mutti.« Annie rang sich zu einem erzwungenen Lächeln durch. Doch als sie sich vorstellte, wie ihre Mutter den Mann zur Schnecke machte, der ihrer Tochter das Herz gebrochen hatte, wuchs es trotz des ekligen Gefühls in ihrer Brust zu einem echten Lächeln an. »Aber erst die Johannisbeeren.«
»Er wird zurückkommen, Kindchen, ganz bestimmt. Die Kameraden oder die Obrigkeit werden ihm Flausen in den Kopf gesetzt haben. Verbrüderungsverbot und so weiter. Und wie die Männer so sind, hat er sofort Ja und Amen gesagt, statt sein eigenes Köpfchen zu benutzen.«
Dem Erdboden gleichgemacht …
Vielleicht nicht ganz. Doch jedes dritte prächtige Stadthaus und fast alle Fachwerkbauten waren dahin. Charlotte fühlte sich fast ebenso zerrissen, wie ihr Heimatort aussah. Doch während Mülheim an der Ruhr mit jedem Tag ein wenig aufgeräumter wurde, zerbrach ihr Inneres weiter, und es fiel ihr immer schwerer, sich im Leben zurechtzufinden. Charlotte hatte sich das Haar abgeschnitten, weil Martin es geliebt hatte. Weil einen Zopf zu binden sie daran erinnerte, wie er ihn früher wieder auseinandergeflochten hätte.
Der abgeschnittene Zopf lag auf Martins Grab. Nun ringelten sich flachsblonde Strähnen in ihrem Nacken, die meist allerdings so voller Staub waren, dass Charlotte aussah, als hätte die Trauer sie vorzeitig ergrauen lassen. Martin fehlte, als hätte jemand die Musik aus ihrem Leben gestohlen. Für sie gab es keine Lieder mehr, keinen Tanz, und selbst beim Gehen kam sie manchmal aus dem Takt und strauchelte.
Jeden Morgen begegnete sie anderen Aufräumtrupps. Denn die Besatzer hatten jeden Mann, der ein Parteibuch der NSDAP besaß, zu einer gewissen Menge Arbeitsstunden verpflichtet. Diese Arbeiten wurden von Soldaten überwacht. Allein schon deshalb schloss Charlotte sich dort nicht an. Es gab Alternativen, die von Freiwilligen organisiert wurden.
Hier waren es vor allem Frauen und Alte, die schufteten, um ihren Händen etwas zu tun zu geben. Die Kinder gingen wieder in die Schule oder in privat organisierte Lernkreise. Alles kehrte langsam zur Normalität zurück.
Warum gelang ihr das dann nicht? Viele Frauen hatten ihre Männer beerdigen müssen. Andere lebten nun mit an Körper und Seele gebrochenen Krüppeln zusammen oder warteten voller Hoffnung darauf, dass ihr Liebster aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte.
Es fällt mir so schwer, weil Martin und ich noch kein gemeinsames Leben hatten, dachte sie. Die anderen schon. Uns haben sie es genommen, bevor wir unser Glück miteinander teilen konnten.
Nichts hatte sie von ihm. Keinen Ring am Finger, kein Kind im Schoß, nur ein Foto und eine Haarlocke und das Versprechen, er werde sie heiraten, sobald der Krieg gewonnen war.
Neben ihr ratterten kleine Loren über hastig verlegte Schienen. Beides stammte eigentlich aus dem Bergbau. Die kleinen Wagen bestanden vollständig aus Metall. Sie wurden von Hand geschoben, am Ende ging es eine steile Holzrampe hinauf, und man musste ordentlich Schwung holen.
Von diesem Podest aus konnte der Inhalt in größere Wagen gekippt werden. Sie liefen ebenfalls auf Schienen, denen der Straßenbahn, und wurden von einer Dampflok gezogen. Der Feurige Elias ratterte, schnaufte und qualmte den ganzen Tag durch Mülheim, um herauszuschaffen, was verloren und nicht zu reparieren war.
Charlotte war überzeugt, dass sie selbst die größten Schuttberge eines Tages verschwinden lassen konnten, auch wenn sie jeden Abend mit dem Gefühl nach Hause ging, alles sähe noch genauso aus wie am Morgen.
Derzeit befreiten sie den Rathausmarkt von seiner Last, während sich im Rathaus die Besatzer breitmachten. Annie stützte die Hände in die Hüften und ließ die Schultern kreisen.
Sie fürchtete sich vor dem Tag, an dem es nichts mehr davonzuschaffen gab. Mittlerweile zweifelte sie daran, dass sich bis dahin alles irgendwie geregelt haben würde.
Ihre alte Anstellung bei der Rüstung im Essener Thyssenwerk würde nicht wiederkommen. Die Siegermächte erlaubten es nicht. Und was hätte sie dort auch gesollt? Der Krieg war verloren.
Das Deutsche Reich glich einem Krieger, dem alle Knochen im Leib gebrochen worden waren und der nun von den Geiern zerhackt wurde. Wie sollte daraus je wieder etwas Neues auferstehen, das mit Stolz seinen Kopf hob? Waffen waren nicht mehr vonnöten. Das Reich wehrte sich nicht mehr.
Die Menschen waren kleinlaut geworden, und auch Charlotte schwieg meist bei Gesprächen, besonders jenen, die früher niemand zu führen gewagt hätte.
Wer noch den alten Idealen des Tausendjährigen Reichs nachhing, tat das nunmehr still für sich.
Wie glücklich sie doch gewesen war, als alles noch seine Ordnung hatte!
Nur drei Jahre war es her, und doch schien ein ganzes Zeitalter zwischen damals und heute zu liegen. Vor drei Jahren hatte man ihr zum ersten Mal mitgeteilt, dass ihr athletisches Talent so herausragend sei, dass sie sich Hoffnungen auf nationale und sogar internationale Auszeichnungen machen könne. Von jenem Tag an hatte sie wie eine Besessene trainiert. Nichts Geringeres als Fünfkampf sollte es sein. Im BDM wurde sie von vielen sozialen Diensten befreit, um sich ganz und gar dem sportlichen Wettkampf widmen zu können. Solange sie für ihre Ortsgruppe Medaillen und Abzeichen einstrich, wurde sie wie eine Prinzessin behandelt.
Plötzlich hatte es keine Rolle mehr gespielt, dass sie nur ein Arbeiterkind war. Dass ihr Vater so tief mit der Kohle verbunden war, dass seine Haut nie ganz sauber wurde. Denn sie, Charlotte Neumann, lief schneller und sprang höher als die Sprösslinge der Beamten und Studienräte. Da konnten die noch so viel Geld oder Einfluss haben.
Aber nun? Wer dachte jetzt noch an Sport? Ihr Traum war geplatzt, der BDM ebenso aufgelöst wie die Hitlerjugend.
Charlotte belastete ihren rechten Fuß. Ja, da war er noch, der leise Schmerz, wo ein Trümmer sie nur wenige Tage, nachdem das Ruhrgebiet gefallen war, getroffen hatte. Vielleicht war doch etwas gebrochen gewesen oder ein Band gerissen. Womöglich würde sie nicht einmal dann wieder an Wettkämpfen teilnehmen können, wenn eines Tages wieder welche stattfanden.
Charlotte begann, zerbrochene Dachpfannen in eine bereitstehende Lore zu werfen. Zack, zack, zack. Sie musste nicht einmal hinsehen, so sehr war ihr die Bewegung in Fleisch und Blut übergegangen.
Ihre Hände waren mittlerweile so rau wie der Mörtel, der täglich daran rieb. Wenigstens konnte sie so mit ihrer Kraft irgendwohin.
Putzverkrusteter Backstein, ein großer Brocken. Sie ging in die Knie, hob ihn hoch, taumelte einige Schritt mit angehaltenem Atem und ließ ihre Last in die Lore fallen. Als sie sich wieder umdrehte, fiel ihr Blick auf ein verbeultes, rostiges Schild. Sie hob es hoch, wischte den Staub weg. Ein Führerporträt, darunter die Worte Sieg Heil. Wo war der Sieg nun?
Zögernd drehte sie das Schild in den Händen, strich noch einmal darüber. Als Kind hatte sie Adolf Hitler einmal getroffen. Er schien wie von einer Aura umgeben zu sein. Als stünde er unter einem besonders glücklichen Stern. Jedem hatte sie von dieser Begegnung erzählt. Ach, ach. In ihrer Brust zog sich ein Knoten enger, dann gab sie sich einen Ruck und warf das Schild fort.
»Charlotte? Charlie! Kannst du mal mitanfassen?« Das war Bertram, ein Waisenjunge von vierzehn Jahren, der tags hier ackerte und nachts unter den Loren schlief. Jeder steckte ihm etwas zu essen zu.
Nun stand er neben einem langen Eichenbalken, der nur halb aus dem Wust eines zusammengestürzten Dachstuhls herausragte. »Klar fasse ich mit an. Aber nur, wenn du Pimpf mich nicht Charlie nennst.« Das hatte nämlich Martin getan und nur er gedurft. Und auch das erst, nachdem er sich einige Knuffe dafür eingefangen hatte.
»Ich bin kein Pimpf«, protestierte Bertram und stellte sich breitbeinig hin, was besonders ulkig aussah, weil seine Beine spindeldürr waren und er verbeulte kurze Hosen trug. Die Kappe hatte er sich tief in die Stirn gezogen, darunter warf er Charlotte einen verwegenen Blick zu. Erst jetzt, wo sie ihn so vor sich sah, wurde ihr bewusst, was für ein ungeheuer tapferer Kerl er war. Die ganze Familie hatte er verloren und stand hier dennoch seinen Mann. Heulte nicht, brach nicht zusammen.
Sie sollte sich ein Beispiel an ihm nehmen.
Und noch etwas nahm sie sich vor. Wenn er sie das nächste Mal Charlie nannte, würde sie ihn nicht korrigieren.
»Los, packen wir’s an«, kommandierte sie.
Er presste seine Schulter unter das Holz. Gemeinsam drückten, ruckelten und zerrten sie, dann kam es endlich frei.
»Der is noch gut«, verkündete Bertram triumphierend. »Nur ’n büschken angesengt.«
Sie schulterten den Balken und trugen ihn aus dem Schuttberg heraus zu einem wartenden Ochsenkarren. Dieser Eichenbalken hatte noch ein zweites Leben vor sich. Würde anderen ein Dach über dem Kopf geben. Krachend fiel er auf weitere gerettete Stücke.
Nein, die verdammten Alliierten hatten nicht alles kaputt gekriegt!
Was für ein herrlicher Tag, wie im Bilderbuch war das. Und das an seinem zehnten Geburtstag!
Es machte Ernst gar nichts aus, dass er heute nicht bei seinen Eltern und den nervigen großen Schwestern sein konnte. Die Geschenke warteten, und den süßen, saftigen Apfelkuchen mit Schmand und Streuseln, den würde Mutti auch am Sonntag noch backen können.
Am Morgen war eine große Schar aufgeregter Burschen mit einem Laster aus der Stadt hinausgefahren, so früh, dass noch Nebel über dem Land lag und aus den Feldern Erdgeruch aufstieg.
Mittlerweile brannte die Sonne auf sie hinab. Schweiß rann kribbelnd unter Ernsts Mütze hervor. Die Feldflasche an seiner Seite gluckerte verdächtig leer. Mehr als die Hälfte hatte er bereits ausgetrunken.
Singen machte durstig.
Gerade waren sie mit Hoch auf dem gelben Wagen fertig, da stimmte Hans, ihr Zugführer, bereits wieder das Fahnenlied an. Ernst liebte dieses Lied. Lauthals sang er mit. Einige der Jungs waren im Stimmbruch, daher klang es manchmal ulkig, wenn ihre Töne unbeabsichtigt auf und ab sprangen. Als es dem ersten passierte, wurde er noch gehänselt, doch mittlerweile war etwas Zeit verstrichen, und bis auf die Jüngsten konnte es jeden treffen.
Unter ihren Schuhen glitt der Feldweg rasch dahin. Staubig war es. Wenn Ernst zurücksah, konnte er das Wölkchen, das ihr Zug aufgewirbelt hatte, noch lange über dem Boden stehen sehen, denn es ging kein Wind, nicht einmal ein Lüftchen.
Die Fahnen, die von den Bannerträgern vorangetragen wurden, hingen schlaff herab und sahen ein wenig traurig aus. Mittlerweile waren die Jungs wohl zu erschöpft, um sie hin- und herzubewegen. Ernst hätte liebend gern seine Hilfe angeboten, doch die Aufgabe stand ihm nicht zu, er hatte sich dieses Privileg noch nicht verdient. Dass er Geburtstag hatte, spielte keine Rolle.
Nicht übermütig werden, sagte Vati immer, und vielleicht hatte er recht. Ernst konnte sich leider nur allzu genau ausmalen, wie ihm die Fahne aus der Hand fallen würde, weil sie mit dem Gewehr zusammenstieß. Beides würde sich verheddern, Gurt mit Stoff, Stange mit Lauf. Die Fahne fiele in den Staub, und seine Freunde würden ihn auf Wochen verspotten. Nein, darauf konnte er wirklich verzichten.
Die Gewehre trugen sie heute zum ersten Mal. Auch deshalb reckten er und seine Kameraden stolz die Köpfe nach vorn, während sie im Gleichtakt zum Rhythmus ihres Liedes marschierten. Wie herrlich das aussah! Der ganze Zug ordentlich gereiht, die Gewehre gen Himmel gerichtet. Schwarz und gefährlich blitzten die polierten Läufe.
Von Weitem sahen sie bestimmt aus wie Soldaten einer richtigen Armee.
Wären da nur nicht die Pferdebremsen gewesen, die wie höllische Plagegeister über sie herfielen. Sie kamen aus den goldenen Feldern, die sich auf beiden Seiten erstreckten und den getreidigen Geruch von frisch gemahlenem Mehl verströmten. Als könnten es die raschelnden Ähren kaum erwarten, geerntet zu werden. An den Feldrändern mischte sich zarter roter Klatschmohn mit Kornblumen und Schafgarbe.
»Ernst!« Moritz stieß ihn mit dem Ellenbogen an.
»Was?«
Moritz schlug zielgenau nach einer Bremse auf seiner Schulter und zerquetschte das vollgesogene Vieh. Zurück blieb ein großer Blutfleck, der sofort in den Stoff einzog.
»Verdammt!«
»Das heißt ›danke‹.«
»Du hast mir das Hemd versaut, Idiot.«
»So dankst du einem Kameraden?«
Ernst antwortete nicht. Sein Freund konnte ja nicht ahnen, wie knapp es bei den Neumanns zuging, zumindest, was die Uniformen betraf. Da knauserten seine Eltern gern, und Ernst bekam infolge bei der Inspektion einen Rüffel.
»Kannst mir nachher dein Hemd geben, schließlich hab ich Geburtstag.« Er grinste. Doch nun sah Moritz weg. Der kräftige Junge war der Sohn eines Eisenbahners und hatte den besten rechten Haken im Viertel. Ernst war stolz, ihn zum Freund zu haben. Gemeinsam mit Thomas, der direkt vor ihm marschierte, bildeten sie ein berüchtigtes Dreigestirn, das nur Flausen im Kopf hatte.
Oft wünschte Ernst sich, sein Vater wäre mehr wie der von Moritz. Laut und lustig und Parteimitglied der ersten Stunde. Damit war man wer unter Erwachsenen.
»Guck, guck! Ist es das?« Moritz reckte den Kopf, um zwischen den anderen hindurchzusehen. Sie hatten es perfektioniert, beim Marschieren zu reden und dafür immer nur kurz den Gesang zu unterbrechen.
Ernst erwischte eine Sichtlücke zwischen Schultern, Tornistern und Gewehrläufen und konnte einen Fachwerkbau mit einer großen Scheune ausmachen. Auf den Wiesen dahinter waren Zielscheiben aufgestellt. Nachdem sie tagelang geübt hatten, die Luftgewehre zu pflegen, zu laden, zu entsichern und wieder zu sichern, war es heute so weit.
»Das ist es, garantiert.«
Kurz darauf wichen die Getreidefelder Obstbaumwiesen, dann hatten sie das Gehöft erreicht.
»Der gesamte Zug: Halt!«, kommandierte ihr Scharführer. Sie nahmen sofort Aufstellung, während über ihnen Schwalben wie kleine Messerschmitt-Jagdflugzeuge durch den blauen Himmel schnitten.
»Gut marschiert, Kameraden. Erst mal Brotzeit, dann werden die Gewehre geputzt, ich will kein Staubkörnchen sehen, verstanden?«
»Jawohl, Scharführer!«, erwiderten sie im Chor.
»Heil Hitler, Kameraden, und Mahlzeit!«
»Heil Hitler, Scharführer!«
Im Schatten einzelner knorriger Eichen setzten sie sich auf die Hofplatte, die aus hühnereigroßen, rund gewaschenen Steinchen bestand.
»Da hat wohl jemand Langeweile gehabt«, feixte Moritz und wischte mit der Hand über den Belag, der hier im Fischgrätmuster angeordnet war.
Ein jeder Junge hatte nun seinen Ranzen vor sich und zerrte die Brotdose heraus. Wie die Wölfe fielen sie über ihre einfachen Schmalzstullen und Käseschnitten her. Wie immer war alles, was Mutti ihm eingepackt hatte, im Nu verputzt. Selbst die kalten Kartoffeln vom Vortag rutschten ihm, wenn auch mit etwas Widerstand, durch den trockenen Hals.
Ernst stürzte sein Trinkwasser hinunter und verschluckte sich beinahe. Moritz rülpste laut und erntete damit Begeisterungsrufe seiner Freunde. Er war noch schneller fertig gewesen.
Als Ernst nach seinem Gewehr griff, spürte er ein unangenehmes Ziehen in den Schultern. Sie hatten ordentlich Gepäck dabeigehabt und es einige Stunden geschleppt, immerhin würden sie hier übernachten. Aber nun lag der anstrengende Teil ja hinter ihnen. Was folgte, war das reine Vergnügen. Statt immer nur die Kleinkalibergewehre anzuschauen, auseinanderzunehmen, zu reinigen und wieder zusammenzusetzen, hieß es nun endlich Schießen lernen.
Und danach würde es bestimmt wieder ein großes Lagerfeuer geben, mit Stockbrot und Würstchen, und jemand würde ausgesucht werden, um eine Heldengeschichte vorzulesen. Hoffentlich nicht er.
Sorgfältig breitete Ernst ein Tuch aus, legte seine Waffe darauf, wie er es gelernt hatte, und begann, sie mit einem weiteren Tuch vom Staub des Marsches zu reinigen. Zwar war es ihm ein Rätsel, wie es sein konnte, dass die Soldaten an der Front Zeit für die ganze Putzerei hatten und trotzdem dem Feind die Hölle heißmachten, aber Fragen wie diese stellte er sich nur im Stillen.
Es war also geschehen, der verdammte Amerikaner hatte mit ihrer Schwester Schluss gemacht! Aber nun konnte sich Charlotte doch nicht so recht freuen, dass ihre List aufgegangen war. Dafür litt Annie viel zu sehr.
Die ganze Nacht über hatte sie immer wieder geweint und seinen Namen gemurmelt, sodass Charlotte selbst kaum ein Auge zubekam, obwohl sie so müde war, als drückten sie neben einem Berg aus Sorgen auch all die Steine nieder, die sie am Tag beiseitegeräumt hatte.
Um diese Jahreszeit wurde es sehr früh hell. Sobald der Himmel im Osten einen zartgelben Ton annahm, war es mit ihrer Geduld endgültig vorbei, und sie stand auf.
Annie schlief endlich. Deshalb gab Charlotte sich große Mühe, auf Zehenspitzen aus dem Winkel zu schleichen, in dem sie ihr provisorisches Lager aufgeschlagen hatten, und betrat das Haus. Das Dach war nun mit der Lkw-Plane gedeckt, die der Amerikaner ihnen bei seinem letzten Besuch mitgebracht hatte. Nur dass damals weder er noch Annie gewusst hatten, dass es ihr letztes Stelldichein gewesen war.
Vati saß am Küchentisch, vor sich eine Kanne mit Muckefuck, der mit einer Prise echten Kaffees verfeinert war. Er blickte auf und musterte sie. Er sah aus, als wäre er gerade erst von einer Schicht heimgekehrt, tatsächlich aber war es genau andersherum. Wenn Vati die Wahl hatte, nahm er immer die Frühschicht, dann war am Nachmittag noch genug Zeit für Arbeiten am Haus.
»Guten Morgen«, murmelte Charlotte, nahm sich eine Tasse und setzte sich neben ihn an den Tisch.
»Morgen, mein Mädchen.« Er schob ihr einen Korb mit Graubrot herüber. Der Geruch war hefig und säuerlich, die Kruste ein wenig zu schwarz und sicher längst weich. Aber es konnte nicht immer Muttis frisch gebackenen Stuten geben, nicht in Zeiten wie diesen.
Vati beschmierte indes unbeirrt eine Scheibe nach der anderen erst mit Schmalz, dann streute er Salz darüber und klappte eine weitere darauf, bis auf dem Teller ein ordentlicher Turm entstanden war.
Seitdem das Häuschen in Trümmern lag, nahm er kein gekochtes Essen mehr mit, sondern fuhr mittags auf, wo es in der Kantine meist Suppe gab, von der Charlotte nichts Gutes gehört hatte. Sie schmeckte mies, die verwendeten Trockenerbsen und Bohnen waren oft verwurmt. Aber sie machte satt, sagte Vati dann. »Mit genug Kohlenstaub inne Klüsen siehste die Würmer nich.«
Am Abend aßen sie dann alle gemeinsam, das war auch schön.
Charlotte sah zu, wie er erst die Brote in einer Dose verstaute und dann eine Kanne mit Kräutertee und ein Einmachglas voll Roter Bete danebenstellte. »Ich muss los.«
Er erhob sich, packte alles in eine abgewetzte Ledertasche.
»Und was ist mit Mutti? Ist sie noch gar nicht auf?«
»Es geht ihr nicht gut. Du kannst ja heute zu Hause helfen, sie würde sich bestimmt freuen.« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern erhob sich, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ging.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, stützte Charlotte das Gesicht in die Hände und schloss kurz die Augen. Sie wollte die leeren Plätze am Tisch nicht sehen, da zog sich alles in ihr zusammen. Als würde sie mit lauter Gespenstern frühstücken.
In Haus und Anbau war es still. Draußen gaben die Hühner kleine, freundliche Laute von sich und scharrten im Boden. Vati musste sie bereits herausgelassen haben.
Plötzlich hatte Charlotte es eilig. Sie wollte fort sein, wenn die anderen aufstanden.
Ja, natürlich würde Mutti sich freuen, wenn sie bliebe, besonders, wenn sie sich tatsächlich die Erkältung eingefangen hatte, die derzeit in der Siedlung umging.
Aber sie konnte nicht … noch nicht.
Annie würde sich schon kümmern. Auf ihre Schwester war in dieser Hinsicht stets Verlass.
Charlotte trank ihre Tasse leer und schmierte sich eine Scheibe Graubrot mit Margarine, auf die sie etwas Salz streute. Seit Martins Tod hatte alles seinen Geschmack verloren. Doch Essen musste sein, sie brauchte ihre Kraft. Brot, Fett und Salz, das reichte, damit sie durchhielt.
Die Sonne schob sich soeben über den Horizont und sandte ihre wärmenden Strahlen voraus, als Charlotte auf die Straße trat und sofort in ein ordentliches Marschtempo verfiel.
Es tat gut zu gehen, die Bewegung vertrieb die letzte Müdigkeit. Charlotte ließ die Arme mitschwingen, weil so auch die Schultern locker wurden. Ach, was vermisste sie den BDM-Sport und alles, was damit zu tun hatte … Die Turniere, die Feste … die Treffen mit Martin, der genauso begeistert davon gewesen war wie sie.
Wenn er Ruderwettkämpfe bestritt, einzeln oder in der Mannschaft, hatte sie oft am Ufer gestanden und ihn angefeuert. Zuerst noch in Mülheim an der Ruhr, später auch in Duisburg auf der Regattabahn an der Kruppstraße, wo in einem ausgekiesten See 1935 eine erstklassige Sportstätte entstanden war.
Zu jenem Zeitpunkt waren sie längst ein Paar gewesen.
Charlotte begann zu laufen, ein zügiger Trott, doch die Erinnerungen folgten ihr, ließen sich nicht so leicht abschütteln. In ihrer Kehle begann es zu kribbeln. Tränen schlichen sich an. Nicht weinen!
Charlotte rannte los.
Annie grub mit Harke und Spaten im Gemüsebeet.
Sie wollten den Mangold vereinzeln und dann auch noch frisch aussäen. Endivie für Vatis geliebtes Endivien-Durcheinander, dann noch Buschbohnen, Radieschen und Möhren. Hoffentlich wurde der Herbst lang und warm, damit sie lange ernten konnten. Solange sie ordentlich Kartoffeln und Bohnen bekämen, würden sie nicht hungern. Und Bohnen, ach, davon war jedes Eckchen voll. Überall ragten Stecken mit den bunt blühenden Winden auf, und auch die Buschbohnen gediehen, sogar im Vorgarten. In diesem Jahr war dort kein Platz für Rasen und hübsche Blumen übrig.
Annie klaubte einige fette Engerlinge aus dem Boden. Die wabbeligen weißen Biester würden hier keinen Schaden mehr anrichten.
»Putt, putt, putt!«, rief sie die Hühner heran, die sofort losrannten. Wie lustig sie aussahen, wenn sie mit riesigen Schritten angelaufen kamen und dabei jegliche Eleganz verloren, mit der sie sonst geschäftig herumstolzierten. Annie warf ihnen ihre Beute hin, und mancher Engerling erreichte nicht einmal den Boden.
Seitdem sie vor einigen Jahren gesehen hatte, wie eine Henne eine Maus erwischte, sie blitzschnell tötete und fraß, sah sie die Tiere mit anderen Augen.
Die Hühner blieben und stürzten sich auf die frisch aufgebrochene Erde, sobald Annie mit dem Spaten einen Abschnitt gelockert hatte. »Na, dann will ich in den nächsten Tagen auch ordentlich Eier sehen, Mädels«, sagte sie.
Annie stürzte sich wieder auf die Arbeit, und bald war sie mit den Gedanken nicht mehr beim Gemüse, sondern bei Nathan.
Fünf Briefe an ihn hatte sie begonnen und vor zwei Tagen schlussendlich auch einen abgeschickt.
Drei Versuche waren an ihren Tränen gescheitert. Die Tinte war an so vielen Stellen unleserlich geworden, dass sie einen weiteren kostbaren Bogen Papier nutzen musste.
Schließlich schrieb sie mit ausgestreckten Armen, da war er trocken geblieben. Sie hatte eine Balance gesucht, wollte nicht so jämmerlich klingen, wie sie sich fühlte, und ihn trotzdem wissen lassen, wie es um sie stand. Denn ja, sie hatte ihn wirklich lieb gewonnen, das sollte er wissen.
Mutti, die sie überhaupt erst zu dem Brief angestiftet hatte, drückte ihr ein Foto in die Hand, das sie vor einem Jahr gemacht hatten. Es zeigte die ganze Familie, alle fünf Neumanns.
»Zerschneide es, Annie«, hatte sie gesagt und ihre Tochter aufmunternd angesehen.
»Was? Nein, es ist doch unser einziges.« Annie hatte es selbst aus den Trümmern gerettet.
Doch ihre Mutter ließ nicht mit sich verhandeln. Sie hatte darauf bestanden und Annie erklärt, dass ein Foto genau das war, was einen Mann zu überzeugen vermochte. Er würde es angeblich immer wieder ansehen, bis er schließlich nicht mehr anders konnte, als zu ihr zurückzukehren. »Du bist so hübsch auf dem Foto, er muss es einfach bekommen!«
Schließlich war es Mutti gewesen, die die Schere ansetzte und die Annie auf der Fotografie, die ganz am Rande stand, von ihrer Familie trennte.
Nun war der Brief abgeschickt, und Annie konnte nur hoffen, dass die Post ihn auch zustellen würde. Das war ein ebenso großes Vabanquespiel wie zu spät ausgesäter Kohl.
Annie stieß den Spaten in die Erde, trat auf das Ende, kippte den Placken ab und stieß das Blatt zum Auflockern einige Male hinein. Den Rest besorgten die Hühner mit Schnäbeln und Krallen.
Seitdem der Brief in der Post war, ging es Annie etwas besser. Sie hatte alles getan, was in ihrer Macht stand. Nun würde das Schicksal – und natürlich die Post – entscheiden, wie es mit ihr und Nathan weiterging.
Annie arbeitete sich an der Erde ab. Es tat gut, ihren Frust auf diese Weise loszuwerden. Denn neben ihrem Herzeleid war da noch das Gefühl lähmenden Stillstands, das sie plagte.
Die vergangenen Jahre hatte sie jeden einzelnen Tag gewünscht, Hitlers Regime würde endlich in die Knie gehen. Es war wie ein Fixpunkt gewesen, auf den sich all ihre Hoffnung konzentrierte. Als würden sich mit der Kapitulation sämtliche Probleme in Luft auflösen.
Wie naiv das gewesen war, wurde ihr erst nach und nach bewusst. Das Land, und ganz besonders das Ruhrgebiet, lag in Trümmern. Mülheim würde nicht einfach aufspringen, sich mit einem tapferen Lächeln den Staub von den Knien klopfen und dann wieder aufrichten, als sei nie etwas geschehen.
Es gab fast keine Schulen mehr, ein Drittel der Häuser war zerstört, die Menschen waren geflohen oder wohnten wie die Ratten in ihren eigenen Kellern. Viele Kinder hielten sich noch immer in Landverschickungsheimen auf, weil es nichts gab, wohin sie zurückkehren konnten. Alles war kaputt.
Die Besatzer hatten Wichtigeres zu tun, als sich um Schulunterricht zu sorgen. Natürlich gab es einen Erlass, dass die Schulen so schnell wie möglich wieder geöffnet werden sollten, aber es gab auch einen weiteren, laut dem all diejenigen aus dem Lehrkörper zu entfernen waren, die als große Nationalisten bekannt waren. Das eine ging nicht gut mit dem anderen zusammen, was zu einem heillosen Durcheinander führte. Neue Lehrpläne sollten erstellt werden, am besten gestern, neue Unterrichtsräume mussten her. Dabei fehlte es ohnehin schon an allen Ecken und Enden.
Zum Glück gab es Frau Nierhaus. Sie half Annie noch immer, sich auf ihr Abitur vorzubereiten. Mit etwas Glück würde es im nächsten Jahr dann endlich so weit sein.
Morgen sollte Annie ihre Lehrerin an einer anderen Adresse treffen als üblich. Die ältere Dame hatte ein großes Geheimnis daraus gemacht, warum. Sie solle sich ordentlich anziehen, das war alles, was Annie wusste.
Was hatte die Nierhaus nur vor?
Charlotte war tags zuvor schon einmal hier gewesen. Mit einem halben Dutzend anderer Mädchen war sie aus Mülheim angereist, um sich als Arbeiterin vorzustellen.
Wie aufgeregt sie gewesen war, als der Bus vor den gewaltigen Werkshallen anhielt. Schier endlos reihten sie sich auf der Fläche einer Kleinstadt aneinander. Überall rumste und stampfte es, wo gewaltige Hämmer ihrem Schmiedewerk nachgingen, als seien dort die Riesen aus alten germanischen Sagen am Werk. Aus Schloten stieg schwarzer Rauch auf und zog wie abgeknickt mit dem Wind. Charlotte blickte ergriffen die schnurgerade Reihe von Backsteingebäuden entlang. Das war sie also, die Waffenschmiede des Reiches! Der Ort, der Essen den Beinamen Kanonenstadt eingebracht hatte.
Hart wie Kruppstahl wollte Hitler die deutsche Jugend sehen, und hier war Charlotte nun! Wenn sie auch nicht wie die Jungs in den Krieg ziehen konnte, so würde sie doch an der Heimatfront ihren Dienst tun.
Als sie das Büro betrat, fühlte sie sich dennoch klein. Die Bewerbung verlief schnell. Ein krummer, glatzköpfiger Mann erfragte Alter, Schulbildung und Vorkenntnisse. Tippte alles auf eine kleine Karteikarte und händigte ihr dann einen vorläufigen Werksausweis aus. Kein einziges Mal hatte er ihr in die Augen gesehen, sondern erst auf ihren Busen und beim Hinausgehen vermutlich auch auf den Hintern. Sie war noch einmal stehen geblieben, um zu fragen, ob sie in einer bestimmten Halle arbeiten könne. Er hatte nur genickt, noch etwas auf ihrem Ausweis vermerkt und sie dann mit einer Geste davongescheucht, als sei sie ihm lästig.
Nun war es der zweite Tag im Werk und ihr erster Arbeitstag. Den Eltern hatte sie nichts gesagt, die wussten nur, dass ihre Tochter sich auf die Suche nach einer Anstellung begeben wollte, nachdem ihre Schule ausgebombt worden war. Das Wo verschwieg sie aus gutem Grund. Sie hätten es ihr verboten.
Charlotte hoffte, dass Vati und Mutti ihre Meinung ändern würden, sobald sie ihr erstes Gehalt heimbrachte. Denn alles wurde immer teurer, und eine weitere volle Lohntüte würde Linderung schaffen.
Mit hastigen Schritten ging es über blank gefegtes Kopfsteinpflaster. Charlotte meinte, es vibriere unter ihren Füßen. Das stete Stampfen und Schnarren, das aus den Werkshallen drang, setzte sich auch in Mauer und Stein fort, als würde ein Körper unter dem Schlag eines gewaltigen Herzens erbeben.
Hier war es! Dies war die Halle, in der Martin arbeitete.
Sie hielt inne, zwang sich, ruhiger zu atmen, dann trat sie durch das große, offene Tor in die Werkshalle ein.
Angeblich würde sie das Büro sofort finden, hatte der Glatzköpfige behauptet. Doch ihr erster Blick fiel auf die endlosen Reihen von Oberlichtern, durch die der helle Schein der Morgensonne auf ein Gewirr von Fließbändern, Stahlkolossen, stampfenden Kolben, Rohren und Gestänge fiel.
Schienen führten aus der Halle hinaus. Auf flachen Wagen mit Eisenreifen stapelten sich immer gleiche Teile, glänzend geschliffen.
Charlotte konnte nichts, was sie hier sah, mit Namen benennen, und doch machte sie der Anblick ganz ergriffen.
Wohl fünfzig Männer arbeiteten an verschiedenen Stationen, betätigten Hebel und Spulen. Auch unter der Hallendecke verlief eine Art Schienennetz, flankiert von Stahlseilen, mit denen sich gewaltige Haken bewegen ließen.
An vielen Stellen trat Dampf aus, der sich unter der Decke sammelte, als gäbe es hier drinnen ein eigenes Wetter. Es roch nach Feuer und heißem Metall, nach dem Leder der Treibriemen und Schmierfett.
»Hierher, Mädchen«, rief plötzlich jemand. Eine dralle Mittfünfzigerin, angetan mit Stiefeln und einer schweren Lederschürze, winkte ihr zu. »Tach auch, ich bin Helga!« Sie streckte ihr eine rußschwarze Pranke hin.
Charlotte schlug ein. »Neumann, Charlotte.«
»Na, denn kommma mit, Neumann, Charlotte, se ham schon jesacht, dass wir neue Mädels kriegen.« Die Arbeiterin wartete ihre Reaktion nicht ab, sondern lief zu einem kleinen Bau, der sich in der gewaltigen Halle wie ein Schuhkarton mit Fensterchen ausnahm, eher ein Pförtnerhaus als ein Büro.
Charlotte sah über die Schulter zurück in das Gewirr der Maschinen. Irgendwo dort musste auch Martin sein. Zwar hatte sie vor allem seinetwegen versucht, hier eine Anstellung zu bekommen, doch nun, da sie hier war, wollte sie Teil dieses gewaltigen eisernen Herzens sein!
»Die Neue ist da«, verkündete Helga im selben Moment, als sie die Tür aufzog.
»Kannstse gleich einarbeiten«, schallte es heraus.
Charlotte hatte kaum einen Blick auf den Mann hinter dem Schreibtisch geworfen, der halb hinter dicken Büchern und Plänen verschwand, als sie auch schon wieder aus dem Büro heraus war. Nur den Zettel, den sie bei ihrer Anstellung erhalten hatte, war sie losgeworden.
»Morgen geht es eine Stunde eher los, Mädchen, die Schicht beginnt um sieben.«
»Es tut mir leid, das wusste ich nicht. Mir wurde gesagt, dass …«
»Schon gut, Kleine. Hast alles richtig gemacht.«
Charlotte hatte das Gefühl, mehr und mehr zu schrumpfen. Helga war eine resolute, laute Person mit einer harten Schale. Auch wenn sie ihr gegenüber nicht herablassend oder unfreundlich war, war ihre rohe Art doch abschreckend.
Nein, das war etwas ganz anderes als daheim oder beim BDM.
In der Werkshalle bewunderte niemand Charlotte für ihre weizenblonden Haare oder ihre Leistung auf dem Sportplatz. Hier war sie nur ein Mädchen, dem selbst der einfachste Handgriff noch beigebracht werden musste.
Sie wurde in eine Umkleide geführt, wo Helga ihr ein Kopftuch, eine Kittelschürze und Handschuhe aushändigte. »Da liegt ein Stift. Schreib dein Kürzel hinein und halte dein Zeug stets selbst in Ordnung.«
»Ja, natürlich.«
Sie zog sich um und steckte sich die Handschuhe ins Schürzenband, wie sie es bei Helga sah.
Nach wenigen Minuten in der Fertigungshalle brummte Charlotte bereits der Kopf. Stahlwolle, Gewinde, Hülsen, Treibladung … vor ihr lag ein Durcheinander aus Einzelteilen, die geglättet und auf Fehlstellen überprüft werden mussten, bevor sie zusammengesetzt wurden. Gerade als Charlotte sagen wollte, dass sie sich das nicht zutraue, grinste Helga breit. Sie hatten sich einen Scherz mit ihr erlaubt. »Du würdest uns alle in die Luft jagen, Mädchen.« Nun lachten auch die drei anderen anwesenden Frauen.
»Deine Aufgabe ist es nur, die frisch gezogenen Rohre für die Mörser auf dem Wagen abzuholen und sie einzeln auf Grate und Fehlstellen zu untersuchen. Die kleinen Sachen schleifst du selbst ab, bei größeren muss jemand anderes ran.« Helga schlug ihr auf die Schulter. »Traust du dir das zu, Kleine?«
Charlotte nickte schnell und konnte ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken. »Ja, ich denke, das kann ich.«
Kurz darauf war es dann so weit. Sie hielt zum allerersten Mal in ihrem Leben das Rohr eines Mörsers in den Händen.
Bislang kannte sie nur Fotografien und hatte sich die Waffe größer vorgestellt. Größer und beeindruckender.
Sobald Helga außer Sicht war, stellten sich die anderen drei vor. Claudia, Heidrun, Mia, kurz für Maria. Allesamt waren sie in Charlottes Alter und schienen patente junge Fräuleins, die ihren Dienst an der Heimatfront mit Begeisterung ausübten.
Heidrun war ziemlich rundlich, mit einem lustigen Gesicht voller Sommersprossen und einem kleinen, herzförmigen Mund. Claudia sah aus, als würde sie nie lachen, tat es zu Charlottes Überraschung aber doch. Nur Mia konnte sie nicht einschätzen. Das Mädchen hatte ein spitzes Gesicht mit einer noch spitzeren Nase, die ihr etwas Vogelhaftes verlieh. Der Blick aus haselbraunen Augen war wie nach innen gekehrt, als sei sie ständig in Gedanken.
Charlotte wuchtete ein Rohr vor sich auf den Tisch und begann, wie es ihr gezeigt worden war, die Ränder auf Gussnähte abzutasten.
»Die Handschuhe!«, mahnte Mia genau in dem Moment, als ihr Zeigefinger den ersten Metallgrat fand, der ihr prompt in die Kuppe schnitt.
»Verdammt!« Sie zuckte zurück und sog sofort an der kleinen Wunde. Blut, Metallgeschmack, Ruß.
»Schlimm?«
»Nee«, nuschelte Charlotte und hätte sich am liebsten für ihre eigene Dummheit geohrfeigt. Gleich darauf zog sie die Handschuhe an. Der Finger schmerzte und nässte. Auf dieses Lehrgeld hätte sie gerne verzichtet.
»Hast du dich selbst gemeldet, oder gab es wieder einen Aufruf?«, erkundigte sich Claudia.
Charlottes Herz tat einen unerwarteten Hüpfer, kaum war der Gedanke an Martin in ihrem Kopf. »Ein … ein Freund hat mich auf die Idee gebracht«, sagte sie und versuchte, dabei zumindest so auszusehen, als würde sie gewissenhaft ihrer neuen Arbeit nachgehen.
In Wahrheit war ein Feuer in ihren Wangen erwacht, als glühte gleich neben ihr ein Hochofen.
»Von hier?« Mia beugte ihren Kopf mit dem spitzen Gesicht vor, als versuche sie, mit der Nase etwas aufzupicken.
»Den kennst du eh nicht«, mischte sich gleich darauf Claudia ein. »Das ist hier wie eine eigene kleine Stadt. Wenn Schicht ist, wimmeln die Menschen herum wie Ameisen.«
»Und wenn doch?«, blieb Mia dran.
Charlotte verschluckte sich an den Worten, noch ehe sie ausgesprochen waren. Krumm und schief rutschten sie ihr nur mühsam durch den Hals. »Von hier, er ist hier in der Halle beschäftigt.«
Nun sahen sich alle um, als würde der Unbekannte sich wie durch Zauberhand hervortun, wenn sie es sich nur genug wünschten. Doch die Halle mit ihren bestimmt einhundert Metern Länge kam Charlotte so riesig vor, dass es unmöglich sein würde, Martin zu finden.
»Martin heißt er, im zweiten Lehrjahr zum Dreher.«
»Der Große?« Mia schlug sich eine Hand auf den Mund, wurde erst rot und dann schlagartig blass, als ihr klar wurde, dass sie einer möglichen Konkurrentin gegenübersaß.
»Groß ist er, strahlend blaue Augen …«
»Das muss der Glaefke sein.« Auch Claudia grinste. Die Mädels mussten über ihn gesprochen haben. Charlotte wurde heiß, unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her und versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, während ihre Gedanken durcheinanderirrten.
Er war also wirklich hier. Aber jedes Mädchen schien ihn zu kennen. In ihrem Mund breitete sich ein bitterer, fauliger Geschmack aus, als hätte sie auf eine ranzige Nuss gebissen. War sie auf Martins charmante Art hereingefallen und er in Wahrheit ein Frauenheld?
Was bezweckte er damit, seine Mädchen hier zu versammeln? Dass er auf diese Weise womöglich für Unterstützung der Heimatfront warb, war ein schwacher Trost.
Am liebsten hätte sie von einem Moment auf den anderen alles hingeschmissen. Dann hielt sie inne und sah auf, die Streben unter der Decke entlang, wo sich Rauch und Wasser sammelten. Lampenschein durchdrang den Nebel wie eine schnurgerade Reihe kleiner Monde. Die Werkshalle war wirklich gewaltig. Sie würde Martin aus dem Weg gehen und dennoch dem Vaterland dienen können.
Zwar hatten sie sich erst zweimal getroffen, dennoch tat ihr diese binnen weniger Augenblicke gefällte Entscheidung weh.
Sie fühlte Mias Blick auf sich ruhen und versuchte, die feinen Nadelstiche zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Arbeit. Wenngleich es einfache Handgriffe waren, so war doch ein jeder ungewohnt.
Eine Weile erledigte jede am Tisch ihre Aufgabe schweigend, dann folgten harmlose Plaudereien über die neuste Mode, die trotz Kriegswirtschaft noch zu kaufen oder leicht nachzuschneidern war, gefolgt von Tratsch, den Claudia aufgeschnappt hatte und der irgendeine Industriellenwitwe betraf, die Charlotte nicht kannte.
Als die Sonne so hoch stand, dass die Strahlen senkrecht durch die verstaubten Oberlichter fielen und sich die Lichtkegel wie weiße Säulen ausnahmen, läutete plötzlich eine Glocke. Charlotte zuckte zusammen.
Mia lachte. »Du Dummerchen, das ist kein Fliegeralarm, sondern die erste Pausenglocke.«
»Die erste?«
»Die Maschinen stehen nie still, deshalb geht immer nur ein Teil der Arbeiter in Pause. Wir können uns aussuchen, wann, weil unsere Arbeit nicht getaktet ist. Mein Magen knurrt. Was sagt ihr, Mädels?«
Alle sprangen auf. Nur Charlotte blieb sitzen. »Ich mache später«, sagte sie. In den vergangenen Stunden war ihr das Geschnatter der anderen zu viel geworden, und die versuchten erst gar nicht, sie zum Mitgehen zu überreden. Vermutlich, weil sie so gleich ungestört über ihre neue Mitstreiterin herziehen konnten.
Charlotte tat das mit einem Achselzucken ab. Sie hatte noch fünf Metallrohre auf ihrem Tisch, und die würde sie bearbeiten. Sie drehte das nächste in den Händen, fühlte nach Graten, nahm dann eine Feile und entfernte sie so weit, dass sie mit den Handschuhen keinen Widerstand mehr spürte.
Sie wollte gerade das Rohr zu den fertigen stellen, als ihr klar wurde, dass sie nicht mehr alleine am Werktisch war.
»Du hast es wirklich gemacht.« Martin stand neben dem Handwagen mit den Rohren, eine Tasche unter dem Arm, aus der ein leichter Kaffeegeruch bis zu ihr drang.
Sein Blick war so intim wie eine Berührung, und Charlotte fehlten schlagartig die Worte. Sie starrte nur, als sähe sie einen Geist. Einen sehr attraktiven Geist. Sein ebenmäßiges Gesicht mit der hohen Stirn und den großen blauen Augen war wie eine Offenbarung.
»Seit wann bist du hier?«, fragte er und stellte die Tasche auf der Werkbank ab.
»Acht«, erwiderte sie.
»Hast du schon Pause gemacht?«
»Nein.« Sie kämpfte um jedes Wort. Warum fiel es ihr so schwer, mit ihm zu sprechen? Hier in der Halle fühlte sie sich fremd und ungeschickt. Dies war sein Ort. Er bewegte sich wie ein Fisch im Wasser, während sie an der Oberfläche schwamm und ihre ganze Konzentration benötigte, um nicht unterzugehen.
»Schade, ich bin gerade zurück.«
Charlotte fühlte sich dämlich, weil sie noch immer saß, während er stand, aber ihre Knie waren weich wie Butter. Ob sie überhaupt aufstehen konnte?
»Das ist wirklich schade«, brachte sie heraus und lächelte.
»Wollen wir nachher gemeinsam zurückfahren?«
»Sehr gerne.«
»Gut.« Er legte seine Hand auf ihre. Ganz kurz nur. »Ich freue mich.«
»He, Martin, lass die Mädchen in Ruhe«, rief ein Arbeiter plötzlich. Er lief ganz in der Nähe vorbei und tippte dabei auf sein Handgelenk.
»Ich bin spät dran«, sagte Martin.
»Nicht, dass du Ärger bekommst.«
»Ich hole dich ab«, versicherte er schnell und drückte noch einmal ihre Hand, dann drehte er sich um und eilte mit schnellen Schritten davon.
Obwohl die Arbeit neu und ungewohnt war, kroch die Zeit ab Mittag nur noch dahin. Charlotte konnte den Feierabend kaum erwarten. Und nun war es endlich so weit. Schnell hatte Charlotte ihr Zeug beisammen und stand nun wieder neben ihrem Arbeitsplatz, Kittel und Handschuhe waren sorgfältig aufgehängt.
In der Aufregung hatte sie vergessen, mit Martin einen Treffpunkt auszumachen, und konnte nun nur hoffen, dass er sie zuerst hier suchen würde.
»Kommst du?«, rief Mia irritiert.
»Wir sehen uns morgen«, erwiderte sie ohne eine Erklärung und winkte ungelenk. Mittlerweile fühlten sich ihre Arme schwer wie Blei an.
Unsicher sah sie sich in der weiten Halle um. Maschinen, deren Funktionen sie nicht einmal erraten konnte, erhoben sich meterhoch und verschmolzen in der diesigen Luft zu einem Wald aus Kolben, Rohren und Hebeln. Daraus strömten Arbeiter hervor, weit mehr, als sie vermutet hatte.
Ihre Schritte waren schwer, die Schultern hingen ein wenig herab, müde waren sie allesamt, wie der Vater und seine Kumpel nach der Schicht. Dennoch hellten sich ihre Gesichter auf, wenn sie Charlotte bemerkten. Ein hübsches Fräulein an diesem Ort, das musste für sie sein wie ein funkelndes Licht, wo man keines erwartete.
Charlotte fühlte sich unangenehm berührt, also drehte sie sich um und tat so, als sei sie noch mit ihrer Tasche beschäftigt.
Dann war Martin endlich da. Sie wusste es, ohne ihn zu sehen. Etwas in ihr konnte spüren, wie er näher kam. Ein wildes Flattern erwachte in ihrer Brust, und sämtliches Selbstbewusstsein, das sie sonst mutig und gar etwas vorlaut machte, verkroch sich in einen fernen Winkel.
»Ich hoffe, ich habe dich nicht warten lassen.«
»Nein, ich bin gerade erst fertig geworden.«
Da war er wieder, der Blick aus seinen strahlend blauen Augen, der sie alles andere vergessen ließ. Ein Lächeln schlich sich in seine Mundwinkel, als er ihre Tasche nahm. »Komm, gehen wir.«
Sie gab sich einen Ruck und hakte sich bei ihm unter. So nah war sie ihm bislang noch nicht gekommen. Es war ungeheuer aufregend, und sie hätte sich am liebsten noch enger an ihn geschmiegt.
Seiner Arbeitskleidung entströmte ein metallischer Geruch, vermischt mit Leder, Ruß und ein wenig Schweiß. Keinesfalls unangenehm, besonders, da sie von ihrem letzten Treffen wusste, wie fein er sich herausputzen konnte.
Das Werksgelände war voller Menschen. Wahre Ströme aus Arbeitern ergossen sich aus den Hallen, und allesamt wollten sie zu den Straßenbahnen und Omnibussen, die sie nach Hause bringen würden.
»Hat dir die Arbeit gefallen?«, erkundigte sich Martin.
»Ja, sie geht mir gut von der Hand, und ich fühle mich nützlicher, als wenn ich die Schulbank drücke.«
»O ja, das geht mir genauso.« Er grinste. »Es kann allerdings eintönig werden. Doch das Reich braucht jede helfende Hand.«
»Du hast sicherlich mehr Abwechslung?«
»Hauptsächlich bohre und stanze ich derzeit, aber als Lehrling schicken sie mich regelmäßig auf neue Stationen, damit ich den gesamten Prozess lerne.«
Ende der Leseprobe