Unter dem Kauribaum - Rebecca Maly - E-Book
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Unter dem Kauribaum E-Book

Rebecca Maly

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Beschreibung

Wales, 1861. Schon bald nach ihrer Festnahme wegen Wilderei wird die 17-jährige Meriel Ellis mit einem Gefangenentransport nach Australien verschifft. Der Weg in die Freiheit eröffnet sich ihr dort erst, als sie eine Zweckehe mit dem charmanten Viehtreiber Dylan Ayreheart eingeht. Das Paar zieht auf eine Rinderfarm, wo Meriel sich in ihrem neuen Leben einrichtet und genauso harter Arbeit nachgeht wie die Männer. Mit der Geburt ihrer Tochter Eira ist ihr Glück nahezu perfekt, würden ihre Gedanken nicht regelmäßig nach Wales zurückschweifen – zu ihrer großen Jugendliebe Trevor Vaughan. Als Dylan einen schrecklichen Unfall hat, muss Meriel erneut beweisen, dass sie eine Kämpferin ist – allen Widrigkeiten des Schicksals zum Trotz. Trost findet sie in dem wilden Land und in ihrer Begeisterung für die geheimnisvollen Lieder der Ureinwohner, da Musik seit jeher eine besondere Bedeutung für sie hatte. Und als es Trevor Vaughan, inzwischen ein erfolgreicher Gartenarchitekt, auf einer Expedition nach Australien verschlägt, scheint das Glück plötzlich zum Greifen nah …

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Seitenzahl: 502

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Kurzbeschreibung:

Wales, 1861. Schon bald nach ihrer Festnahme wegen Wilderei wird die 17-jährige Meriel Ellis mit einem Gefangenentransport nach Australien verschifft. Der Weg in die Freiheit eröffnet sich ihr dort erst, als sie eine Zweckehe mit dem charmanten Viehtreiber Dylan Ayreheart eingeht. Das Paar zieht auf eine Rinderfarm, wo Meriel sich in ihrem neuen Leben einrichtet und genauso harter Arbeit nachgeht wie die Männer. Mit der Geburt ihrer Tochter Eira ist ihr Glück nahezu perfekt, würden ihre Gedanken nicht regelmäßig nach Wales zurückschweifen – zu ihrer großen Jugendliebe Trevor Vaughan. Als Dylan einen schrecklichen Unfall hat, muss Meriel erneut beweisen, dass sie eine Kämpferin ist – allen Widrigkeiten des Schicksals zum Trotz. Trost findet sie in dem wilden Land und in ihrer Begeisterung für die geheimnisvollen Lieder der Ureinwohner, da Musik seit jeher eine besondere Bedeutung für sie hatte. Und als es Trevor Vaughan, inzwischen ein erfolgreicher Gartenarchitekt, auf einer Expedition nach Australien verschlägt, scheint das Glück plötzlich zum Greifen nah … 

Rebecca Maly

Unter dem Kauribaum

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2019 by Rebecca Maly

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Arrowsmith 

Lektorat: Barbara Krause 

Korrektorat: Susann Harring

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-304-5

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Prolog

„Los, aufstehen, ihr faulen Weibsbilder!“ Der Wärter ließ seinen Schlagstock am Zellengitter entlang rattern.

Das laute Klappern weckte auch die letzte Schlafende. Die Frauen fluchten und gähnten, während sie peinlich darauf bedacht waren, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzuraffen.

Auch Meriel überprüfte, ob alles noch da war. Das winzige Medaillon, das sie von ihrer Mutter bekommen hatte, und das Beutelchen mit Handwerkszeug.

„Aufstellen!“, schrie der Wärter.

Meriel richtete sich auf und zupfte das Stroh aus ihrem Zopf.

Die Frau neben ihr begann zu zittern, sie war älter als ihre eigene Mutter und klapperdürr. Schorfige Stellen an ihrem Hals verrieten, dass die Wanzen es offenbar ganz besonders auf sie abgesehen hatten oder ihre Nachbarin dem Juckreiz nicht widerstand.

„Keine Angst“, flüsterte Meriel ihr zu, dabei fürchtete sie sich selbst, wie wohl auch die anderen achtundzwanzig Frauen, die gemeinsam mit ihr die Gefängniszelle teilten. Seit Tagen schon verkündeten die Wärter, dass sich an ihrer Situation bald etwas ändern würde. Angeblich würden die Mädchen und Frauen die Freiheit schon riechen und ihrem Leben einen Sinn geben können.

Meriel mochte dieser Behauptung kaum Glauben schenken. Hatte sie doch schon seit Wochen nichts anderes gesehen als die dreckigen Gefängniswände der fünf mal sieben Schritt großen Zelle, an denen der Kalkputz nur noch zu erahnen war.

„Sie lassen uns frei!“, rief eine junge Frau, deren Verstand gerade dazu reichte, sich ihren eigenen Namen zu merken. Weil sie einen Kanten Brot gestohlen hatte, hockte sie schon seit zwei Jahren in der Zelle. Zu ihrem Unglück war sie nicht nur dumm, sondern dabei auch recht hübsch, sodass die Wärter sie regelmäßig herausholten, um ihren Spaß mit ihr zu haben. Meriel schmierte sich mit Absicht Dreck ins Gesicht und achtete darauf, dass ihre Gestalt stets so verhüllt war, wie es nur ging, um nicht ihr Schicksal teilen zu müssen.

Nun aber wischte sie sich sauber und rieb sich die Wangen, bis sie rosig waren. Eine Abordnung von vier Gefängniswärtern und zwei Fremden kam den Gang herunter.

„In einer Reihe aufstellen!“, brüllte ein feister Wächter, dem der Schweiß das fädige Haar platt an den Kopf klebte.

Meriel gehorchte, stellte sich dicht in eine Reihe mit den anderen. Dann wurde es still. Vereinzelt schniefte jemand, eine andere weinte.

Der Wächter strich noch einmal mit dem Knüppel über das Zellengitter, dann schloss er auf und ließ die beiden Fremden eintreten. Es waren ein Mann und eine Frau. Sie trug ein Klemmbrett bei sich, auf dem offenbar eine Liste steckte. Der Herr trug einen Anzug, den Hut hielt er in der Hand. Sein Gesicht war ungewöhnlich dunkel gebräunt für diese Jahreszeit und seine vornehme Erscheinung. Männer wie er verbrachten wenig Zeit unter freiem Himmel, während die einfachen Leute auf den Äckern schufteten. Er strich sich über den Schnäuzer und musterte die Häftlinge wie ein Rinderhändler auf einer Auktion das Vieh.

Gemeinsam mit seiner Begleiterin schritt er die beiden Reihen ab. Sie flüsterten, dann gaben sie ihre Entscheidungen bekannt.

„Die“, sagte der Mann und zeigte auf eine junge Frau von ungefähr achtzehn Jahren. „Und die und die und die. Du da, mach den Mund auf, zeig mir deine Zähne.“

Die Angesprochene öffnete den Mund und entblößte eine Reihe schwärzlicher Stummel. Der Mann schüttelte den Kopf.

Nach und nach wurden die Gefangenen ausgesucht. Sie waren alle jung und kräftig. Die ausgemergelten und älteren Frauen fanden keine Beachtung. Dann war Meriel an der Reihe. Die beiden sahen sie kaum an. Ausgewählt wurde sie trotzdem.

„Mein Herr, was geschieht mit uns?“, fragte sie, und ihre Stimme bebte in einer Mischung aus Angst und Hoffnung.

„Die fürsorgliche Krone schenkt euch ein neues Leben!“, sagte er und wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihr ab.

„Sind Sie hier fertig?“, fragte der feiste Wärter.

„Ja, sehen wir uns die anderen an.“

Es gab weitere Zellen mit weiteren Frauen, Dutzende, vielleicht Hunderte fristeten hier ihr Dasein.

Am nächsten Morgen wurden Meriel und die anderen ausgewählten Frauen früh geweckt. Durch das vergitterte Fenster fiel noch kein Licht herein, als sie zusammengetrieben und durch die Gänge gescheucht wurden. Meriel bekam einen Schlag mit dem Knüppel ab, nur weil sie die Letzte in der Gruppe war.

Schließlich erreichten sie einen kahlen, gefliesten Raum. Auf dem Boden standen mehrere Eimer mit Wasser, daneben lagen Seifenbrocken, und es roch nach Essig, der oft gegen Läuse eingesetzt wurde.

„Los, ausziehen und waschen, und zwar gründlich! Das ist das letzte Mal für die nächsten Wochen!“, brüllte ein Aufseher. Gleich sechs Wärter standen abwartend da. Sie waren gekommen, um die Frauen nackt und hilflos zu sehen und sich daran aufzugeilen.

Meriel hasste jeden Einzelnen von ihnen. Während sie sich aus ihrer dreckstarren Kleidung schälte, versuchte sie sich mit der Frage abzulenken, was es bedeutete, dass sie sich in den nächsten Wochen nicht würde waschen können. Sie hatten auch im Gefängnis selten die Möglichkeit. Meist mussten sie sich gemeinsam mit allen Frauen drei Eimer teilen. Vielleicht wurden sie verlegt in eine noch miesere Anstalt.

Sie rieb sich mit Wasser und Seife ein, schrubbte sich mit einer groben Bürste die Haut, dann tauchte sie den Kopf ein und wusch sich das Haar, erst mit Seife, dann goss sie Essig darüber und rieb ihn ein, dann wieder Seife.

Die Blicke der Wärter brannten unterdessen wie kleine Glutfunken auf ihrer Haut. Obwohl sie endlich wieder sauber war, fühlte sie sich schmutzig. Den anderen Frauen erging es nicht besser.

Als die erste ihre Kleidung nahm und in den Eimer stopfte, um auch die zu waschen, schrie ein Wärter sie an, sofort aufzuhören. Dann warf er einen prall gefüllten Sack in die Mitte. Es waren Kleider aus ungefärbtem, grobem Tuch. Die Frauen stürzten sich darauf. Es wurde gekratzt und geschrien.

Die Männer lachten und genossen das Schauspiel. Meriel beteiligte sich nicht an dem Kampf. Ihr Blick begegnete dem eines hageren, pockennarbigen Wärters. Er fasste sich in den Schritt und bewegte rhythmisch die Hüften. Seine Erektion drückte sich gegen den Stoff. Meriel verschränkte die Arme vor den Brüsten und machte einige Schritt zur Seite, sodass er sie nicht mehr sah, dann wandte sie sich dem Sack mit frischer Kleidung zu. Die Frauen hatten aufgehört zu kämpfen. Es war für jede etwas da. Einen Unterschied gab es nicht. Zu den Kleidern gab es wollene Beinlinge und Decken.

Meriel zog sich an und legte sich die Decke um die Schultern.

„Weiter, marsch, marsch!“

Erneut ging es durch Gefängnisflure, dann in den Innenhof, wo die Sonne grell vom Himmel brannte und ihr in den Augen wehtat. Der Boden war schlammig und nur in der Mitte so weit abgetrocknet, dass die Erde harte, wulstige Krusten warf.

Zwei vergitterte Wagen erwarteten sie. Die Wärter teilten sie in zwei Gruppen auf und drängten je zwölf Frauen in einen Wagen. Meriel wurde von den anderen weitergeschoben und geschubst und fand schließlich einen Platz nah am Gitter, sodass sie hinaussehen konnte.

Ein kühler Wind fegte über den Platz und erinnerte an den vergangenen Winter. Während Meriel in einer dunklen Zelle gehockt hatte, war es Frühling geworden, und am Himmel jubilierten die Drosseln und Stare.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Mutter hatte jetzt bestimmt ihr Kindlein zur Welt gebracht, und sie würde ihren kleinen Bruder oder die Schwester wohl nie sehen. Sie ahnte, dass man sie weit, weit wegbringen würde.

Die Gittertüren fielen zu und wurden verriegelt. Meriel klammerte sich mit beiden Händen an die Stäbe, um etwas Halt zu finden. Sie fühlte sich, als habe man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, und nun fiel und fiel sie bis zum Aufprall.

Der Kutscher brachte die beiden braunen Pferde mit einem Peitschenknall in Bewegung. Die Gefängnistore schwangen auf, und der Wagen rumpelte hindurch. Bald schon befanden sie sich auf einer großen Straße, die in das pulsierende Herz von Cardiff führte. In den Hafen.

Kolonnen schwer beladener Fuhrwerke transportierten die Kohle walisischer Bergwerke zu den Schiffen. Mineralisch riechender Staub lag in der Luft, und in Meriels Brust machte sich ein beklemmendes Gefühl breit.

In diese Richtung gab es kein anderes Gefängnis. Sie fuhren nach Süden, und dort gab es nur Wasser. Dort mündete der schlammfarbene Taff in das dunkelgrüne Meer.

Ihre Ahnung wurde zur Gewissheit, als die vergitterten Wagen den Hafen erreichten und sich in dem dichter werdenden Verkehr immer weiter vorarbeiteten.

Meriel stand auf, die Hände noch immer fest um die Gitterstäbe gelegt. Den schneidenden Wind, der durch ihr nasses Haar wehte und eine Gänsehaut auf ihrem Kopf hinterließ, beachtete sie gar nicht. Um sie herum erhob sich ein Wald aus Masten und eingerollten Segeln, aus Reepen, Takelwerk und Seilen. Es roch nach Fisch, Unrat und Kalfater. Hier lagen die großen Überseeschiffe vor Anker.

Matrosen eilten umher, manche schwarz wie Moorboden, andere mit schmalen Augen und fremdländischer Kleidung. Sie rollten Fässer über schmale, schwingende Planken an Bord oder betätigten Kräne und Seilwinden, mit denen Bündel verladen wurden.

„Mein Herr, mein Herr“, rief Meriel dem Kutscher zu. „Bitte erhören Sie mich!“

Der Mann wandte sich mit mürrischem Gesicht zu ihr um. „Was ist denn, Mädchen?“

„Bitte sagen Sie uns, wo wir hingebracht werden.“

Andere Frauen sprangen auf und wiederholten Meriels artig vorgetragene Frage mit wachsender Verzweiflung. „Bitte, bitte, Herr. Wohin?“

Der Kutscher spuckte aus und konzentrierte sich eine Weile auf seine Pferde, die in dem immer dichter werdenden Gedränge zunehmend nervös wurden. Eines stieg sogar, als ein Handkarren voller Hühnerkäfige ganz dicht an ihm vorbeigeschoben wurde.

Schließlich wandte er sich zu ihnen um. „Das hat man euch nicht gesagt?“

„Nein, wir wissen gar nichts.“

„Ich habe doch nur etwas Essen gestohlen, für meine Kinder, meine armen Kinder!“, rief eine.

„Nach Queensland bringen sie euch“, erwiderte der Mann, kratzte sich am Kopf und schob seine Mütze zurecht. „Arbeitslager in Queensland, und dann werdet ihr dort Ehemänner finden.“

„Ehemänner?“, rief eine andere, „aber ich bin verheiratet.“

„Sagen Sie nicht mir das, Lady, ich habe das nicht zu entscheiden.“

„Queensland“, sagte Meriel ratlos. „Davon habe ich noch nie gehört. Wo liegt das?“

„Ganz im Süden, in den Kolonien, Terra Australis, Van Diemen‘s Land, da in der Gegend. In der Südsee.“

Meriel sackte zusammen und rutschte entlang der Gitterstäbe zu Boden. In ihren Ohren war ein helles Fiepen. Sie würden sie wegbringen, ganz weit weg, und sie würde nie wieder heimkehren. Entweder auf der Überfahrt sterben oder in diesem fernen Land, von dem sie nichts wusste, außer dass es eine Wüste war, wo das Empire sich all jener Menschen entledigte, die es für überflüssig hielt: Verbrecher, Bettler und Diebe.

Niemand, der dort hingeschafft wurde, kam je zurück.

In Amerika lockten Freiheit und Gold, in Australien gab es nur den Tod.

Meriel kauerte sich zusammen und weinte so sehr wie noch nie seit ihrer Gefangennahme. Sämtliche Hoffnung auf eine baldige Freilassung war dahin. Auch die anderen Frauen trauerten, eine schrie den Namen ihres Ehemanns, andere klammerten sich nur mit weit aufgerissenen Augen aneinander.

Die Kutsche hielt von einem riesigen Schiff. Es verfügte über drei Masten, die einen Schornstein überragten. Der Bug war von Wetter und Salzwasser gegerbt. Die Ladung gelöscht, ragte es weit aus dem Wasser, und die an den Spundwänden anhaftenden Seepocken und Miesmuscheln waren der Luft ausgesetzt. Matrosen schlugen besonders dicke Verkrustungen ab. Kreischende Möwen machten sich über die Reste her.

Teilnahmslos ließ Meriel über sich ergehen, dass man ihr Eisen an die Füße legte. Eine Frau nach der anderen wurde an Bord getrieben. Das Rasseln ihrer kettenbeschwerten Schritte war weithin zu hören, doch es kümmerte niemanden.

Sie wurden an Deck versammelt. Meriel blickte unter Tränen auf die Reihe weiterer Leidensgenossinnen, die über eine Rampe hinaufstiegen. Eine junge Frau sah sich mit wilden Augen um, dann sprang sie von der Rampe ins Wasser. Das trübe Wasser des Taff verschlang sie sofort. Matrosen liefen herbei, einer stocherte mit einer langen Stange bis zum Grund, doch das Mädchen tauchte nicht mehr auf. Die schweren Ketten hatten es hinabgezogen.

Meriel fühlte keine Trauer, nur leisen Neid. Vielleicht hatte sie die bessere Wahl getroffen.

Jemand stieß sie vor die Schulter, drängte sie, weiterzugehen, hin zu einer dunklen Luke, die wie ein gieriger Rachen vor ihr klaffte. Sie sah ein letztes Mal über den Hafen und die Stadt Cardiff hinweg auf die grünen Hügel in der Ferne, dann schlurfte sie den anderen hinterher in eine ungewisse Zukunft.

***

KAPITEL 1

Zehn Monate zuvor. Wales, August 1860

In Meriels Bauch krampfte wachsende Angst alles zusammen. Sie stand an einem kleinen Fenster und beobachtete, wie sich eine pechschwarze Front näherte. Die Wolken schoben sich heran wie vorrückende Soldaten. Unter ihnen versank das hügelige Land von Wales in stumpfem Grau. Blitze zuckten, und der Donner ließ die Scheibe vibrieren. Sie war wellig, das günstigste Glas, das sie bekommen hatten, um etwas Licht in die dunkle Hütte zu lassen. Die Wände bestanden aus Findlingen, Holz und Torfsoden. Breit und buckelig waren sie, und ständig musste hier und da etwas ausgebessert werden.

Wieder donnerte es, und Meriel, die bis dahin noch gehofft hatte, der Sturm verschone sie, würgte an dem Wissen, dass der kommende Winter einem nie enden wollenden Alptraum gleichen würde.

Sie hörte, wie hinter ihr Geschirr zusammengeräumt wurde. Vater und ihr Bruder Padric, der mit fast achtzehn drei Jahre älter war als sie, hatten ihr Frühstück beendet. Es war für viele Wochen, vielleicht sogar Monate, das letzte Mal, dass sie als Familie zusammen sein würden. Die Mutter stand am Herd und schlug den Männern schweigend das letzte Stückchen Speck und einen frischen Brotlaib in ein Wachstuch. Sie war schmal, und sogar durch das wollene Tuch, das sie sich umgelegt hatte, stachen die Schulterknochen hervor. Ihr blondes Haar, in dem die ersten grauen Strähnen schimmerten, reichte ihr bis zu den Hüften. Die meiste Zeit, wie auch jetzt, trug sie es zu einem langen Zopf geflochten, den sie sich aufgesteckt hatte.

Vater nahm das Päckchen, legte seiner Frau eine Hand auf den Bauch und verharrte einen Moment lang, dann wickelte er den Speck aus und legte ihn auf den Tisch. „Ihr werdet ihn mehr brauchen. Padric und ich kommen schon klar.“

„Aber Ian …“, protestierte sie. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, blickte ihr tief in die Augen und gab ihr dann einen Kuss auf die Wange. Die Mutter lächelte verhalten. Ihre Eltern waren die einzigen Eheleute, denen man ihre Liebe und die Achtung füreinander ansah, dachte Meriel wieder einmal. Auf den Dorffesten sah sie so viele Paare, die einander mit bitteren Mienen anblickten.

„Komm her, große Tochter.“

Meriel ging zu ihm. Der Vater drückte sie an sich. Sein Leib war fest, wie aus verdrehten Stahlseilen geschaffen. Er war ungeheuer stark, doch Padric wurde ihm Jahr um Jahr ähnlicher. Aus dem schlaksigen Jungen von früher war ein kräftiger Bursche geworden. Meriel umarmte auch ihn. Draußen donnerte es so laut, als würde der Himmel entzweigerissen. Sie zuckte zusammen. „Ihr könnt jetzt nicht aufbrechen!“

„Wir müssen. Die anderen warten nicht.“

Sie waren mit drei weiteren Männern aus der kleinen Ansiedlung Stonebridge verabredet, die sich über den Herbst ebenfalls als Holzfäller verdingten.

„Gott stehe euch bei“, flüsterte Meriel und drückte Padric einen Kuss auf die von Sommersprossen übersäte Wange.

Wieder krachte es. Der nächste Blitz fuhr hernieder und tauchte die ärmliche Hütte einen Wimpernschlag lang in gleißendes Blauweiß. Nun fuhr der Sturm auch ins Dach. Die Balken ächzten, und Meriel malte sich aus, wie die Steinplatten, mit denen es gedeckt war, ins Rutschen gerieten.

Doch es geschah nicht. Prasselnd und rauschend fuhr der Regen nieder. Böen pfiffen wie dämonische Geister um die Hütte. Als die Männer schließlich ihre Mäntel angezogen und die Rückentragen geschultert hatten, war das Zentrum des Sturms bereits über sie hinweggezogen.

Meriel hielt die fünfjährige Mary und den vierjährigen Carl an den Händen, als sie gemeinsam in den Hof traten.

Ihre kleine Welt sah völlig verändert aus. Vor dem Haus stand das Wasser knöcheltief. Ein Brennholzstapel war umgestürzt, und über allem lag dunstige Nässe. Noch immer fiel Regen. Meriel wagte kaum nach Westen zu blicken, schließlich tat sie es doch. Dort, wo sie dem steinigen Boden mühevoll eine Ackerfläche abgerungen hatten, lag das Korn nun platt gedrückt am Boden. Es war beinahe reif und doch verloren.

Niemand sagte etwas. Mit finsterem Blick führte Padric den Wallach Paul aus dem Stall. Er trug ein Zuggeschirr mit einem breiten, gut gepolsterten Kummet. Das Pferd, das sonst kaum aus der Ruhe zu bringen war, verdrehte ängstlich die Augen und schnaubte laut. Ketten klirrten, als es seine handtellergroßen Hufe tänzelnd hob. Paul war Vaters ganzer Stolz und das Einzige von Wert, das die Familie besaß. Nur wegen des Kaltblüters bekamen die Männer immer Arbeit im Wald.

Meriel sah den dreien nach, zwei Männer und ein Pferd, die im Regen des abklingenden Gewitters verschwanden. Sie schluckte die Tränen hinunter, die sie nicht weinen wollte. Sie musste stark sein, für Mutter, für Mary, für Carl und auch für das kleine Geschwisterchen, von dessen Existenz sie heute erst durch Vaters Geste erfahren hatte.

„Kommt, gehen wir rein, ihr habt euren Brei noch nicht gegessen“, sagte sie und führte ihre kleinen Geschwister hinein. Mary zitterte bereits, das Unwetter hatte eine plötzliche Abkühlung gebracht.

Mutter würde draußen stehen bleiben, bis sie Mann und Sohn nicht mehr sehen konnte, vielleicht sogar noch etwas länger. Meriel kannte das bereits von anderen Abschieden und wollte ihr die Ruhe geben, die sie in diesen Momenten brauchte.

Das Unwetter zog genauso schnell ab, wie es gekommen war, und machte einem trügerisch blauen Himmel Platz. Die Sonne brannte herab und trieb die Feuchtigkeit aus dem Boden. Es war schwülwarm und so unangenehm, dass sie sich sicher war, am Abend ein neues Gewitter erwarten zu können. Meriel verbrachte den halben Tag damit, das Brennholz wieder aufzustapeln. Als sie damit fertig war, lehnte sie eine lange Leiter ans Wohnhaus und sah nach, ob das Dach unter den Windböen gelitten hatte. Die Steinplatten waren alle an ihren Plätzen.

Meriel arbeitete sich um das gesamte Dach herum, dann nahm sie sich die Scheune vor, wo sie eine Platte ersetzen musste. Die Gebäude waren glimpflich davongekommen, nicht aber die Felder. Von der Leiter aus konnte Meriel das ganze Umland überblicken. Die rollenden grünen Hügel, die von einem Gitternetz aus Steinmauern in kleinere Parzellen unterteilt waren, auf denen zumeist Schafe und einige wenige Rinder grasten. Es gab windgebeugte Eichen, Nester von Ginster und Heidekraut. Eine Allee uralter Eiben säumte die ferne Zufahrt zum Anwesen der Familie Vaughan.

Die Herrschaften besaßen mehr Land und mehr Geld als alle Einwohner von Stonebridge und dem Nachbarort Wall und die Pfarrei zusammen. Meriel hatte das riesige Haus nur selten aus der Nähe und noch nie von innen gesehen, aber sie kannte die Geschichten, die man sich im Ort erzählte. Von Tanzsälen, die von Hunderten Leuchtern erhellt wurden, von Gärten, so weit das Auge reichte, von Teichen mit goldenen Fischen darin. Angeblich standen dort Häuser ganz aus Glas, die im Winter mit Öfen beheizt wurden, damit die exotischen Pflanzen darin nicht litten, während die Menschen in Stonebridge erfroren.

Meriel konnte nur staunen über eine derartige Verschwendung. Statt der heimlichen Bewunderung, mit der viele Leute aus Stonebridge ihre reichen Nachbarn bedachten, hatte sie für die Vaughans nur Verachtung über.

Meriel, die noch immer auf der Leiter stand, sah sich nach ihrer Familie um. Die beiden kleineren Geschwister hockten auf dem Kartoffelacker und sammelten Schädlinge von den Pflanzen. Nach dem Gewitter waren sie vielleicht etwas leichter zu finden.

Die Mutter war beim Getreidefeld. In dem hilflosen Versuch, das Verlorene zu retten, bemühte sie sich, die niedergedrückten Halme wieder aufzurichten. Sie hatte Stecken und dünne Zweige bei sich, die sie unter die Pflanzen schob. Wenn sie den Boden nicht berührten und es die nächsten Tage trocken bliebe, würde das Korn vielleicht noch reifen, statt zu faulen.

Meriel tat es im Herzen weh, die drei so zu sehen und nichts tun zu können. Vielleicht sollte sie fortgehen und eine Arbeit annehmen. Aber wer würde schon ein dürres Mädchen mit dreckigen Händen einstellen, wenn schon kräftige Burschen und die feine Müllerstochter keine Arbeit bekamen.

Meriel stieg von der Leiter und ging auf das Feld. Schweigend blieb sie neben der Mutter stehen. Umgeknickte Halme, so weit sie schauen konnte. Die Ähren waren noch grünlich, und auf dem Acker stand in Senken das Wasser. Es war hoffnungslos.

Mutter nahm sie an der Hand, ihre Blicke begegneten sich. Lange sahen sie einander einfach nur an. „Ich bin so froh, dass ich dich habe, mein Mädchen.“

Meriel lächelte zögernd. „Ist es wahr, dass wir noch ein Geschwisterchen bekommen?“

„Ja, auch wenn ich wünschte, dass Gott mich mit dieser Bürde verschont hätte.“

„Wie meinst du das? Ist ein Kindlein nicht immer ein Grund zur Freude?“, fragte sie irritiert.

Meriel hatte liebevolle Eltern. Sie wusste noch, dass andere Kinder in der Schule sie darum beneideten. Denn Meriel und Padric waren nie grün und blau geschlagen worden, und der Vater hatte die Rute nur dann zur Hand genommen, wenn sie es wirklich verdient hatten.

„Komm, gehen wir ein Stückchen, Tochter. Du bist schon fast selbst eine Frau und nun alt genug, um solche Dinge zu verstehen.“ Ihre Stimme war kühl geworden, als läge ein plötzlicher Frosthauch in der Luft.

Meriel folgte ihr zu einer Findlingsmauer, die den Acker begrenzte. Dort setzten sie sich.

„Du warst zu jung, um es zu verstehen, Tochter, aber im Jahr nach deiner Geburt und auch zwischen dir und Padric habe ich Kinder bekommen.“

Meriel erinnerte sich schwach an eine Wiege, in die sie nicht hineinsehen konnte, weil sie noch zu klein war, und an ein Kindchen im Wickeltuch. Da sie die Erinnerungen nicht einordnen konnte, hatte sie diese schließlich mit ihren jüngeren Geschwistern in Verbindung gebracht. Jäh wurde ihr die Bedeutung von Mutters Worten bewusst.

„Was ist geschehen?“, fragte sie flüsternd.

„Es waren harte Zeiten, wir haben gehungert. Und obwohl dein Vater mir immer etwas von seiner kargen Kost abgezweigt hatte, versiegte meine Milch. Ich konnte sie nicht ernähren. Wir waren hilflos. Sie wurden von Tag zu Tag weniger. Am Anfang haben sie noch geweint vor Hunger. Wir sind von Haus zu Haus gezogen, zu jedem, der eine Kuh oder Ziege im Stall hat, aber sie gaben uns nichts oder hatten selber nicht genug. Als die Kindchen dann aufgehört haben zu weinen, wussten wir, dass es nicht mehr lange dauert, bis Gott sie zu sich holt.“

Sie barg das Gesicht in den Händen, zog die Schultern hoch und weinte so still, dass Meriel es nur an ihren Bewegungen merkte. Nicht wissend, wie sie sie trösten sollte, legte sie ihr einen Arm um die Mitte. Es tat ihr so unendlich leid. Um die Mutter und auch um die Geschwister, die sie niemals kennengelernt hatte.

„Ich sollte dieses Kind nicht bekommen“, sagte Mutter schließlich leise.

Als sie sich aufrichtete, war ihr Gesicht aschfahl. Mit langsamen, zitternden Bewegungen strich sie sich die Tränen von den Wangen.

Ihre Worte erschreckten Meriel. „Du hast doch keine Wahl.“

Mit leerem Blick wandte sie sich ihr zu. Es war, als stünde Nebel in ihren blaugrauen Augen.

„Doch, die habe ich. Wir Frauen kennen Mittel und Wege …“

„Nein, nein, das darfst du nicht, hörst du!“

„Ach, mein Mädchen. Warum soll ich mich und das Kindchen quälen? Es wird im Februar kommen, wenn der Hunger am größten ist. Wir werden für uns selbst nicht genug haben. Denke an die kleine Schwester und den kleinen Bruder, die du schon hast, Meriel.“

Die Mutter schien ihren Entschluss gefasst zu haben. Doch in Meriel wehrte sich alles gegen die Vorstellung, dass sie absichtlich ein Kind verlieren wollte.

„Nein, nein, das lasse ich nicht zu!“, sagte sie wütend und ballte die Hände zu Fäusten. In ihrer Brust schien ein wildes Feuer zu lodern.

„Versprich mir, dass du es nicht tust, Mama. Ich finde einen Weg!“

„Sieh dich doch um, Kind. Die Weizenernte ist dahin. Die Kartoffeln sind voll mit Käfern und Maden. Mit Glück wird sie gerade so für uns selbst reichen. Das Geld, das die Männer heimbringen werden, brauchen wir, um Schulden abzubezahlen und vielleicht noch für Saatgut und Mehl.“

Meriel sah ihre Mutter beschwörend an. „Mit Gottes Hilfe, ich werde dafür sorgen, dass wir keinen Hunger haben müssen.“

Die Mutter schüttelte ihren Kopf. Unbewusst berührte sie ihren Bauch und zog ihre Hand gleich darauf wieder fort, als verbiete sie sich, für die Frucht ihres Leibes Gefühle zu hegen.

„Mama, ich schwöre es“, sagte Meriel mit pochendem Herzen, wild entschlossen, es ihr zu beweisen.

Zwei Wochen später

Sie hatten den Weizen geschnitten, der weder reifte noch ganz trocken wurde, und ihn Bündel für Bündel aufgerichtet. Und an einem heißen Tag war es endlich so weit. Sie konnten dreschen. Dazu hatten sie eine Stelle im Hof sorgfältig gereinigt, bis nur noch fester Lehm übrig war, der kaum ein Sandkörnchen verlor.

Meriel ging mit einem Handkarren auf das Feld und belud ihn hoch mit Garben. Mit der Heugabel wuchtete sie mehr und mehr der Bündel hinauf. Vom Hof klang der stete Rhythmus der Dreschflegel zu ihr hin. Selbst die Kleinen halfen mit. Sie wussten, wie wichtig dieser Tag war. Sie mussten so viel Korn einbringen und dreschen wie möglich, denn schon kündigte sich wieder ein Wetterwechsel an.

Meriel drückte soeben die Garben auf dem Handkarren fest, damit sie weitere aufladen konnte, als sie neben sich eine Bewegung wahrnahm. Dort hockte ein Kaninchen. Keine zwei Schritt von ihr entfernt, nagte es an einigen trockenen Halmen. Offenbar nahm es sie gar nicht wahr.

Die Kaninchen schienen keinen Hunger zu kennen. Dieses sah sogar regelrecht fett aus. Meriels Gedanken überstürzten sich. So ein Tier wäre ein wahres Festessen. Wenn sie es doch nur erwischen könnte!

Mit angehaltenem Atem, die Heugabel mit beiden Händen gefasst, drehte sie sich so langsam um, wie sie nur konnte. Schweiß rann ihr über die Stirn. Das Kaninchen hörte auf zu kauen, sah sie einen Moment lang irritiert an. Die Nase wackelte langsam auf und ab.

Meriels Muskeln waren aufs Äußerste gespannt. Jetzt nur nichts falsch machen!

Das Kaninchen wandte sich wieder dem Futter zu und nahm eine ganze Ähre zwischen die Pfoten. Da stieß Meriel zu. Die scharfen Zinken der Heugabel bohrten sich durch den kleinen Leib und tief in den Boden darunter. Das Kaninchen zuckte und stieß einen erschreckend menschlichen Schrei aus, der Meriel eine Gänsehaut über den Körper jagte. Hastig sah sie sich nach einem Stein um, mit dem sie seinem Leid ein Ende machen konnte. Doch das war gar nicht nötig. Es war tot.

Ungläubig, dass es ihr tatsächlich gelungen war, zog Meriel die Heugabel aus ihrer Beute und hob sie auf. Das Fell war weich und warm. Die Augen, die sie eben noch neugierig gemustert hatten, verloren bereits ihren lebendigen Glanz. In Meriel rangen unterschiedliche Gefühle miteinander. Da war unbändige Freude, weil sie ein Festessen erbeutet hatte, und zugleich die Schuld, dieses kleine Leben auf dem Gewissen zu haben. Sie befühlte den flauschigen Leib. Ja, das war ein fettes Kaninchen. Vorsichtig sah sie sich noch einmal um, dann schob sie es unter die Garben. Es war den Bauern verboten, auf dem Pachtland Wild zu erlegen. Niemand durfte sie dabei sehen.

Meriel begann ein Lied zu summen, dann sang sie leise, während sie den Karren fertig belud und zurück zum Dreschplatz fuhr.

Am Abend schmerzten ihnen allen die Arme und der Rücken. Mary saß schon ganz schief auf ihrem Stuhl, und der kleine Carl weinte vor Müdigkeit. Auch Meriel hatte sich gesetzt, nachdem sie den Tisch gedeckt hatte.

Dann war es endlich so weit. Die Mutter trug eine tönerne Kasserolle herein, aus der es herrlich duftete. Nun vergaß auch Carl seine Müdigkeit. Die Augen weit aufgerissen, starrte er wie gebannt auf das Festmahl, das vor ihm aufgetischt wurde.

Es war an Meriel, jedem etwas aufzutun. Sie sparte nicht, obwohl Mutter sie mahnend ansah. „Jeder soll sich satt essen“, sagte sie entschlossen. Niemand protestierte. Gemeinsam aßen sie den gesamten Topf leer und kratzten die Reste mit einem alten Brotkanten aus.

Als Meriel später auf ihrer Strohmatratze lag, konnte sie nicht einschlafen. Durch ein kleines offenes Fenster, das sie im Winter mit einem Holzbrett und Lumpen zustopften, trieb kühler Wind hinein. Es roch erdig und ein wenig feucht, nach gemähtem Gras und überreifen Pflaumen, die neben ihr auf einem Darrgestell trockneten. Meriel hatte diesen winzigen Raum für sich. Hier gab es außer ihrem schlichten Lager, das aus einem strohgefüllten Sack und einigen Rupfendecken bestand, nicht viel mehr. Mutters Aussteuertruhe stand hier und ihre eigene, die weitgehend leer war.

Außerdem die Darre, denn in diesem Zimmerchen wurde es von allen am wärmsten. Es war ein Gestell mit mehreren Etagen, auf denen von Frühjahr bis Herbst Verschiedenstes trocknete. Es begann mit Kräutern wie Brennnessel, Melisse und Minze, dann folgten die ersten Früchte: Himbeeren, Walderdbeeren, Brombeeren. Über das Jahr wandelten sich die Düfte, und jeder Monat besaß seinen eigenen Charakter. Erbsen, Bohnen, Hagebutten, Apfelscheiben und schließlich Nüsse. Meriel oblag es, dafür zu sorgen, dass die Ernte gleichmäßig trocknete, sich die Feuchtigkeit nicht staute oder das Dörrgut gar zu schimmeln anfing.

Vieles davon verkauften sie auf dem Markt. Nur die Reste und das, was zum Verkauf nicht taugte, behielten sie für sich.

Es war nie genug. Nie genug wie heute, da sich Meriels Bauch angenehm voll anfühlte und es darin leise gluckerte. Wenn sie so nur jeden Abend einschlafen könnte! Zumindest ohne Hunger, das wäre schon ein Fortschritt.

Die Lösung war ebenso so simpel wie schwierig. Sie müsste häufiger ein Kaninchen fangen. Das Glück, noch eines mit der Heugabel zu erwischen, war unwahrscheinlich, aber wenn sie eine Falle bauen könnte, oder gleich mehrere! So würde es gehen, so könnte sie ihr Versprechen gegenüber Mutter einhalten, für genügend Essen zu sorgen.

Die Nacht verstrich weitgehend ohne Schlaf, während Meriel in Gedanken durchging, was sie alles für ihr Vorhaben benötigte. Sie erinnerte sich daran, dass Vater im Vorjahr Schlingen benutzt hatte, um einen Marder zu erwischen, der ihren Hühnern nachstellte. Sie bestand aus nichts mehr als einer Haselrute, mehreren Stöckchen und einer Schlinge. Meriel hatte zugesehen, wie er sie aufstellte. Es war leicht.

Das kann ich auch!, dachte sie entschlossen und schlief endlich ein.

***

KAPITEL 2

Mit einer erstklassigen Lupe ausgerüstet, beugte sich Trevor ganz dicht über die Flechte. Das sonst unscheinbare graugrüne Gewächs, das die Steine der Findlingsmauer überzog, hatte Fruchtkörper ausgebildet. Unter dem Vergrößerungsglas konnte er ganz genau die Form erkennen. Sie sahen aus wie winzige Trompeten mit einem Kranz blutroter Körnchen.

Mit einem kleinen Messer trennte er vorsichtig ein Stückchen Flechte vom felsigen Untergrund. Trevor war derart vertieft in seine Entdeckung, dass er die sich nähernden Schritte viel zu spät bemerkte. Er zuckte erschrocken zusammen und wollte sich umdrehen, als etwas durch die Luft sauste. Abwehrend hob er die Hände.

Der erste, triefnasse Matschklumpen traf ihn mitten im Gesicht, der zweite schmetterte ihm die Lupe aus der Hand.

Gelächter erklang.

Die MacCoy-Brüder, Darren und George, hielten sich die Bäuche und lachten so laut und hämisch, wie sie nur konnten.

Trevor stand einen Augenblick lang nur da, die Hände zu Fäusten geballt, während ihm Schlamm von der Wange tropfte. In seiner Brust hämmerte sein Herz so sehr, dass es wehtat. Er hasste diese Kerle! Hasste sie!

Sie hatten es schon seit zwei Jahren auf ihn abgesehen. Bislang war er jeder Konfrontation aus dem Weg gegangen. Meist musste er nur abwarten, bis sie die Lust an der Quälerei verloren, dann ließen sie ihn in Ruhe.

Heftig atmend wischte sich Trevor mit einem Ärmel den Dreck aus dem Gesicht und wandte seinen Blick zum Boden. Dort, zu seinen Füßen, lag das, was von seiner Lupe übrig war. Und plötzlich veränderte sich etwas in ihm. Der Anblick des zertrümmerten Glases öffnete ein Tor, riss es auf, um seine mühsam im Zaum gehaltenen Gefühle freizulassen.

Trevor dachte nicht mehr nach. Es spielte keine Rolle, dass die anderen zu zweit waren und er allein. Es spielte keine Rolle, dass er verlieren würde.

Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf die beiden. Die Zeit schien sich zu dehnen. Er sah dem kleineren Darren an, dass er mit allem gerechnet hatte, nur nicht mit einem Angriff. Seine Augen weiteten sich erschrocken.

Trevor traf ihn mit der Faust an der Wange, als George ihn auch schon an der Jacke vom Jüngeren wegzog und ihm das Knie in den Bauch rammte.

***

Als Trevor aufstand, waren die anderen längst fort. Seine Kleidung war schlammverkrustet und zerrissen, von seinem Kinn rann noch immer etwas Blut, wo er beim Sturz auf einen Stein geschlagen war.

Schwankend strich er Hose und Jacke glatt, betastete sein Gesicht. Es tat weh. Sein Auge war geschwollen, und er konnte nur noch schemenhaft sehen. Trevor fluchte, was er sonst nie tat, und sah sich um, ob die MacCoys wirklich abgehauen waren. Sie hatten ihn ordentlich verprügelt, aber wenigstens hatten sie auch etwas einstecken müssen. Beim nächsten Mal überlegten sie es sich vielleicht zweimal.

Trevor kniete sich auf den Boden und sammelte sein kleines Messer und die Stücke der zerbrochenen Lupe ein. An einem der Splitter schnitt er sich in die Handfläche. Es brannte teuflisch.

Die Hand zur Faust geballt, damit der Schnitt geschlossen blieb, machte er sich auf den Heimweg.

Es war früher Nachmittag, als Trevor schlurfenden Schrittes den weiten Innenhof erreichte. Rechts von ihm erstreckten sich die Stallungen, in dem der Vater seine edlen Pferde hielt und wo überdacht zwei gute Kutschen standen. Hinter den Stallungen wurde Hundegebell laut, ein Chor von sechs verschiedenen Tieren. Bell und Ann hörte Trevor aus dem Stimmgewirr heraus. Sie gehörten ihm, sehnige Windhunde mit schmalen Pfoten, einer langen Schnauze und großen, intelligenten Augen.

Er wollte schon zu ihnen gehen, als ihm der Schimmel auffiel, der auf einer kleinen Weide graste. Und dann erinnerte er sich wieder. Für heute hatte sich sein Bruder zum Besuch angekündigt, und er hatte es vergessen. Morgan studierte in London Rechtswissenschaften und kam nur wenige Tage im Jahr hierher. Eigentlich hatte er sich auf den Besuch gefreut, auch wenn Morgan ein schlimmer Besserwisser war.

Unschlüssig blieb Trevor stehen und sah das Wohnhaus hinauf. Es war ein prächtiger Backsteinbau mit hohen Fenstern und Verzierungen aus Sandstein, die grau und verwittert waren. Obwohl es sein Zuhause war, kam ihm das Gemäuer düster und auch ein wenig einschüchternd vor, besonders an Tagen wie diesem, wenn am Himmel schwere Wolken zogen und die Hügel und Bäume aussehen ließen, als wären sie aus Zinn gegossen.

Er blickte an sich hinab. Auf der Hose war an den Knien der Schlamm getrocknet, sein zerrissener Ärmel schlackerte in einer Windbö um sein Handgelenk. Nein, so konnte er nicht an der festlich gedeckten Tafel seiner Eltern erscheinen.

Er schlug einen anderen Weg ein. Vorbei an Haupthaus und Stall, folgte er verlegten Sandsteinplatten. Sie führten zu einem kleinen Häuschen, das ursprünglich für den Verwalter des Anwesens errichtet worden war. Einen Verwalter gab es längst nicht mehr, dafür wohnte dort nun Onkel Samuel, der unverheiratete Bruder seines Vaters. In der Familie hielten ihn viele für einen seltsamen Kauz, dabei war er einer der angesehensten Gartenarchitekten des Königreichs.

Manchmal fühlte sich Trevor ihm verwandter als seinen eigenen Eltern.

Als kleiner Junge war er ihm hinterhergelaufen. Alles, was der große Mann tat, faszinierte ihn. Bei Onkel Samuel gab es immer etwas zu entdecken. Sei es in seinem Gewächshaus, das im Winter sogar beheizt wurde, oder in den Beeten, wo er exotische Pflanzen kultivierte, die er von seinen weiten Reisen mitbrachte.

Trevor hatte die Tür erreicht und blieb stehen. Das Haus bestand aus Fachwerk, das auf einem breiten Sockel aus Feldsteinen errichtet worden war. Wilder Wein rankte eine Wand hinauf, unauffällig, aber sorgsam beschnitten. Onkel Samuel ließ keine Pflanze und keinen Baum einfach wachsen, bei ihm hatte alles seine Ordnung und vermittelte dabei doch so viel Natürlichkeit wie auf einem Gemälde eines guten Landschaftsmalers.

Trevor atmete tief durch und klopfte. Mittlerweile tuckerte und schmerzte es an immer mehr Stellen seines Körpers. Die Jungs hatten ihn wirklich ordentlich erwischt. Es würde unmöglich zu verbergen sein, dass er sich geprügelt hatte.

Schritte wurden laut, und dann öffnete Onkel Samuel auch schon die Tür. Er war ein großer Mann mit schütterem, ergrauendem Haar; ein üppiger rotblonder Bart bedeckte seine Wangen.

„Sag meiner Schwägerin, ich bin in ein paar Minuten da. Wenn sie nicht warten kann, sollen sie ohne mich Tee trinken, ich …“ Er stockte. Seine üppigen Brauen zogen sich zusammen, und er musterte Trevor aus nachdenklichen grau-grünen Augen. „Wie siehst du denn aus?“

Trevor ließ die Schultern hängen. „So kann ich Mutter nicht unter die Augen kommen.“

Onkel Samuel fasste ihn an der Schulter und zog ihn hinein. „Nein, das kannst du wirklich nicht, Bürschchen. Geh dich waschen, ich kümmere mich um den Rest.“ Er zog Trevor ins Haus und ließ ihn im Flur allein zurück, noch bevor er etwas erwidern konnte.

Trevor zog seine verschlammten Schuhe aus und folgte glatt polierten, dunklen Dielen durch den Flur. An den Wänden hingen botanische Zeichnungen und Skizzen. Die meisten hatte Onkel Samuel selbst angefertigt, andere waren ihm zu Studienzwecken von anderen Gartenarchitekten überlassen worden. Trevor überkam immer etwas Ehrfurcht, wenn er sie betrachtete.

Im Badezimmer angekommen, offenbarte der Spiegel das ganze Ausmaß der Prügelei. Trevor lehnte sich vor und musterte sein zugeschwollenes Auge mit der geplatzten Braue, selbst der Augapfel war gerötet, doch das war nur zu erkennen, wenn er mit den Fingern die geschwollenen Lider auseinanderzog.

Er goss Wasser in eine Waschschüssel, zog auch Jacke und Hemd aus und wusch sich gründlich. Als er mit einem Lappen voller Seife sein Gesicht abrieb, brannte es an vielen Stellen, die er vorher gar nicht bemerkt hatte. Er goss das schmutzige Wasser aus dem Fenster und füllte die Schüssel erneut. Dieses Mal tupfte er nur die Verletzungen vorsichtig ab, darauf bedacht, die Blutungen zu stillen. Er strich sich das Haar zurück. Nass sah es nicht mehr braun, sondern fast schwarz aus. Der rötliche Schimmer, den er und sein Bruder von Vaters Seite vererbt bekommen hatten, war nicht zu sehen.

Trevor fühlte sich etwas besser. Er setzte sich auf einen Hocker und drückte sich ein kühles Tuch auf das geschwollene Auge, als sein Onkel mit einem Bündel unter dem Arm zurückkehrte. Die Tür zum Bad hatte Trevor offen stehen lassen, und so kam er direkt zu ihm.

„Es war gar nicht so leicht, deiner Frau Mutter aus dem Weg zu gehen. Aber ich denke, die Haushälterin hat mir das Richtige mitgegeben.“

„Danke, Onkel, das werde ich Ihnen nicht so bald wiedergutmachen können.“

„Ach, Junge, mach dir da mal keine Gedanken.“ Er legte ihm die Kleidung hin und sah ihn aufmerksam an. „Wie geht es dir?“

„Besser, halb so wild“, erwiderte Trevor schnell. Hastig zog er das Hemd an und darüber eine Weste. Während er sie zuknöpfte, entdeckte Onkel Samuel die zerbrochene Lupe, von der nur noch die Fassung aus Messing übrig war.

Trevor zuckte innerlich zusammen, senkte den Blick. Vater hätte ihn nun geschlagen, doch es passierte nichts.

Der Onkel legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und ging, ohne ein Wort zu verlieren, aus dem Bad.

„Es tut mir leid!“, rief Trevor ihm nach. In seinem Inneren schien sich der Magen zu einer kleinen, festen Kugel zusammenzuballen. In diesem Moment wäre ihm sogar eine Tracht Prügel lieber gewesen als das Schweigen Onkel Samuels. Er musste zutiefst enttäuscht von ihm sein.

Am liebsten wäre Trevor aus dem Haus geschlichen, zum Pferdestall, und wäre mit den Hunden und seiner Stute losgezogen, doch das kam nicht infrage. Auch wenn er gerne weggelaufen wäre, war es nicht seine Art, feige das Feld zu räumen. Mochten die anderen ihn auch für seltsam halten, feige, das war er nicht.

„Bist du fertig?“, tönte es aus dem Flur. Trevor zog hastig die mitgebrachte, saubere Hose an, strich sich noch einmal das Haar glatt und verließ das Bad.

Onkel Samuel trug nun auch Sonntagsstaat. Einen dezent gestreiften Anzug sowie eine Weste. Seine schwarzen Schuhe glänzten frisch poliert. Den Zylinder hielt er noch in der Hand. Auf den Spazierstock, mit dem Trevor ihn sonst oft sah, wollte er anscheinend verzichten.

„Nun mach nicht so ein Gesicht, mein lieber Neffe, von einer Prügelei geht doch nicht gleich die Welt unter.“ Er hielt ihm ein ledernes Etui hin. Trevors Herz tat einen Satz. Er ahnte, was sich im Inneren befand.

„Nein, das kann ich nicht annehmen“, sagte er schnell. „Ich habe es nicht verdient.“

„Du wirst es dir verdienen. Ich habe noch zweihundert Stecklinge, die gesetzt werden müssen. Sie brauchen Sorgfalt und nicht die Grobheit des alten Esels, den dein Vater als Gärtner eingestellt hat.“

„Ja, ich mache alles, was Sie wünschen, Onkel.“

„Schon gut, lass das nicht deinen Vater hören. Er hat es nicht gerne, wenn seine Sprösslinge in der Erde wühlen wie die Bauern.“ Er lachte laut und kehlig und trat aus dem Haus.

Trevor konnte sein Glück kaum fassen. Was als Strafe oder Bezahlung gedacht war, erschien ihm wie ein Privileg. Endlich würde er selbst so arbeiten dürfen wie sein Vorbild.

„Haben sich diese MacCoy-Jungs wieder über dich lustig gemacht?“

„Ja. Ich habe zu spät gemerkt, dass sie da waren. Sie haben sich angeschlichen und dann …“

„Was dann geschah, ist unwichtig und bald wieder vergessen. Du hast doch etwas entdeckt, nicht wahr?“

Trevor nickte eifrig, er sah das Gewächs noch ganz genau vor sich. Die ledrig gekräuselten Blättchen und die roten Fruchtkörper. „Es war eine Flechte, die ich vorher noch nie gesehen hatte.“

„Dann werde ich dir nachher helfen, sie zu bestimmen. Flechten sind besonders interessante Gewächse. Pflanze und Pilz zugleich. Sie verdienen unser Studium. Bis dahin bewahre Schweigen über deinen Fund.“ Er legte ihm die Hand auf die Schulter, dann betraten sie gemeinsam das Herrenhaus.

Im Flur kam ihnen die Haushälterin Rosie mit hektischen Trippelschritten entgegen. Sie war eine hagere Frau Anfang Fünfzig, die sich mit Leib und Seele für die Ordnung im Haus der Familie Vaughan einsetzte. Trevor hatte sie noch nie beim Müßiggang erlebt. Als Kind war Fräulein Rosie ihm geradezu unheimlich vorgekommen. Sie schlief nie.

„Da sind Sie ja endlich. Die Herrschaften erwarten Sie schon.“

„Wir eilen, Fräulein“, sagte Onkel Samuel und legte seinen Hut ab, dann folgten sie ihr in den Speisesaal. Trevor ging etwas hinter ihm, in der Hoffnung, seine Blessuren würden so nicht gleich auffallen.

Doch es war vergebens.

Seine Eltern, die bis dahin am Tisch gesessen hatten, musterten ihn mit strenger Miene. Vaters Blick versprach, dass sein Zuspätkommen noch Folgen haben würde. Sein Bruder stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster und fuhr nun herum.

„Na endlich, Brüderchen“, sagte er und war mit wenigen Schritten bei Trevor. „Na, du bist ja ein richtiger Mann geworden! Hast dich um ein Mädchen geprügelt, was?“ Er stieß ihn spielerisch vor die Brust und traf dabei genau auf eine Prellung.

Der Schmerz nahm Trevor einen Moment lang den Atem. Er presste die Zähne aufeinander, wollte sich nichts anmerken lassen. Morgan zwinkerte ihm zu, natürlich hatte er ihn durchschaut. Dann zog er ihn an sich und drückte ihn. Überrascht stellte Trevor fest, dass sein Bruder ihn nicht mehr um einen, sondern nur noch um einen halben Kopf überragte. Dennoch war Morgan ungleich stärker als er. An der Universität war er einem Ringerclub beigetreten, und scheinbar hatte er seine Begeisterung für die sportliche Ertüchtigung auch nach zwei Jahren noch nicht verloren.

Trevor überlegte gerade, ob er ihn darum bitten konnte, ihm einige Tricks und Kniffe beizubringen, als seine Mutter zu ihnen trat. Sie war eine üppige Frau, deren Wangen stets rosig schimmerten. Ihre langsam, aber stetig wachsende Leibesfülle ließ sie jünger aussehen. Während andere Damen ihres Alters über eingefallene Wangen und Falten klagten, zog sie umso mehr die Blicke der Männer auf sich. Nun schimmerten Tränen in ihren Augen.

„Mein armer, armer Junge! Was haben die dir nur angetan?“ Vorsichtig strich sie ihm über die Wange.

„Es ist nichts“, wiegelte er schnell ab.

Jetzt war auch der Vater da, und in Trevor spannte sich alles an. Der Hausherr war ein kühler Mann, der seinen Gefühlen nur selten freien Lauf ließ.

„Lass ihn, Bridget, er ist kein kleiner Bengel mehr. Es ist nicht gut für ihn, wenn du ihn verhätschelst. Mich interessiert nur eines: Hast du gewonnen?“

Trevor wusste, dass er besser sagte, was der Vater hören wollte. Aber er war ein schlechter Lügner, also schüttelte er den Kopf.

Der Vater schlug ihm ohne Vorwarnung ins Gesicht. Mutter zuckte zusammen, doch Trevor rührte sich nicht. Er hatte nichts anderes erwartet.

„Das passiert nicht noch einmal“, fuhr er ihn an. „Ich habe keine Memmen gezeugt, sondern Männer. Und nun essen wir.“

Trevors Wange brannte wie Feuer, als er sich schweigend neben Morgan an die festlich gedeckte Tafel setzte.

***

KAPITEL 3

Oktober

Der Großteil der Kartoffelernte war verdorben. Käfer und Maden hatten die Pflanzen geschädigt und die angefressenen Knollen waren bei dem feuchten Wetter noch im Boden verfault.

Meriel hatte im Kartoffelkeller nach dem Rechten gesehen und im Licht einer flackernden Kerze jede einzelne Knolle geprüft, nachdem ihr ein fauler Geruch aufgefallen war. Von dem wenigen, was sie besaßen, hatte sie vier weitere aussortieren müssen. Eine Knolle war nur zur Hälfte faul, die würden sie heute noch essen. Meriel legte ein paar in ihren Korb, tat noch eine Steckrübe sowie eine Zwiebel hinzu und öffnete dann ein hölzernes Schränkchen, in dem ihr Geheimnis aufbewahrt wurde. An Schnüren aufgereiht hingen darin gepökelte Kaninchen und eine Ente. Sie schnitt eine Keule von dem fetten Vogel und lächelte. Den Stolz auf ihren guten Einfall und sein Gelingen zeigte sie nicht vor den anderen, aber hier unten gestand sie sich ein kleines Lächeln zu.

Ja, sie hielt ihr Versprechen. Wenn sie es nur gut genug machte, würden sie trotz der Missernte nicht hungern müssen.

Meriel stieg mit dem Korb und ihrem Licht die Treppe hinauf. Der Keller war in den Lehmboden unter das Haus getrieben worden und nahm nur ein Drittel der Fläche ein. Hier war es stets feucht und kühl, genau richtig, um Vorräte zu lagern und Flachs und Wolle zu bearbeiten. Die Stufen unter ihren Füßen knarrten. Sie waren ausgetreten und glatt.

Meriel brachte den Korb in die Küche, wo ihre Mutter bereits das Feuer im Herd schürte. Mit einem Haken entfernte sie einen Eisenring aus der Platte, sodass der große Kessel eingesetzt werden konnte. Heute würde es, wie an vielen anderen Tagen, Suppe geben.

„Hier“, sagte Meriel leise und stellte ihre Fracht ab.

„Schon wieder? Aber das ist doch nicht nötig, Kind.“

„Ich werde mehr holen, sorge dich nicht. Ich werde noch einmal die Fallen kontrollieren.“

„Ist es denn schon dunkel genug? Du weißt, wenn dich jemand sieht …“

„Mich wird niemand sehen. Ich werde einen Sack mitnehmen und Zunderholz suchen. Du weißt, dass ich vorsichtig bin.“

„Ich bin deine Mutter, ich sorge mich nun mal“, sagte sie und drückte Meriels Hand. „Nun geh, möge Gottes Segen dich begleiten.“

Sie erwiderte nichts. Die Worte hatten einen schalen Beigeschmack, wie trübes Wasser. Sie war eine Diebin, nichts anderes. Und der Herrgott würde wohl kaum gutheißen, was sie tat. Andererseits … war es nicht ihre Pflicht, fürsorglich zu sein?

Ihre Geschwister spielten auf dem elterlichen Bett mit Puppen aus Lumpen. Sie waren so sehr darin vertieft, dass sie nicht merkten, wie Meriel stehen geblieben war und ihnen einen Moment lang zusah. Dann zog sie ihre Pantinen an, hängte sich einen graugrünen Filzmantel um die Schultern und trat hinaus.

Es war dunkel. Vom letzten Licht angestrahlt, zogen vereinzelte, gräuliche Wolken über den Himmel, und über den Hügeln ging soeben der Mond auf. In einer Woche würde er in vollem Glanze stehen, jetzt reichte sein Schein gerade so aus, dass Meriel losziehen konnte. Auf dem ehemaligen Kartoffelacker waren die ersten Fallen ausgelegt. Eine nach der anderen war leer und unberührt. Die Kaninchen und Tauben besuchten das Feld kaum noch, seit es abgeerntet war. Hier gab es nichts mehr zu holen, und die alten Wildpfade wiesen keine frischen Spuren auf.

Enttäuscht sammelte Meriel die Schlingen ein. Es würde wohl doch nicht so einfach werden, wie sie es sich erträumt hatte.

Auch auf den anderen Feldern war nichts in den Fallen, bis auf eine unglückliche Ratte, die von einem kleinen Raubtier bereits halb aufgefressen worden war.

Meriel überlegte kurz, ob sie für den Marder eine Schlinge legen sollte, doch soweit sie wusste, waren sie nicht essbar, und einen Pelz zu verkaufen wäre viel zu auffällig.

Sie schlich weiter, eine Hecke entlang, die den Pachtgrund der Familie begrenzte.

Zögernd hielt Meriel inne. Trotz der Kühle der heraufziehenden Nacht wurde ihr plötzlich heiß. Schweiß bedeckte ihre Hände, dann hatte sie ihren Entschluss gefasst. Vorsichtig sah sie sich noch einmal um, dann schob sie sich zwischen den dichten Ginsterbüschen hindurch, bemüht, keinen Laut zu machen.

Hinter den Sträuchern war noch eine Findlingsmauer zu überwinden, dann war sie endlich auf der anderen Seite. Hier erstreckten sich schier endlose Weiden. In der Ferne machte sie einige Rinder aus, die unter einer Eiche ruhten. Ein Käuzchen schrie, ansonsten war es beinahe unheimlich still. Das Summen und Zirpen der Sommernächte war herbstlichem Schweigen gewichen.

Nun bin ich schon einmal hier, da kann ich mich auch umsehen, dachte Meriel bei sich und lenkte ihre Schritte tiefer in unbekannte Gefilde. Dies waren die Ländereien der Familie Vaughan. Leute, von denen Meriel bislang nur gehört hatte. Im Dorf gab es viel Tratsch über ihren Reichtum.

Da würden sie doch sicher nicht merken, wenn ihnen einige Kaninchen fehlten, oder?

Anfang November lud der Hausherr oft zu einer Treibjagd. Auch Meriel war schon zusammen mit Vater und Bruder und fast allen anderen Einwohnern von Stonebridge durch den Wald und die Hecken gezogen und hatte Tiere mit Schreien und Pfiffen den Jägern zugetrieben. Die Pfade hatte sie sich gut eingeprägt.

Meriel machte an einigen Eichen halt und sammelte Eicheln, denn so hätte sie eine Ausrede, falls sie erwischt wurde. Menschen, die so arm waren, dass sie Eichelbrei essen mussten, würden doch sicher nicht von ihnen angezeigt werden, oder? Von den Vaughans hatte bestimmt noch niemand den bitteren Brei gekostet.

Meriel hingegen aß ihn fast jeden Winter. Dazu wurden die Nüsse getrocknet und zerrieben. Den Brei wässerte man, um ihn weniger bitter zu machen. Sie verzog bei der Erinnerung an den Geschmack den Mund.

Nun war der Boden ihres Leinensacks bedeckt und die Schlingen darunter nicht mehr sichtbar.

Dort! Eine Bewegung! Auf einer kleinen Kuppe, nahe an einem Haselgebüsch gelegen, hockten gleich mehrere Kaninchen und fraßen vom taubedeckten Gras. Meriel schlich näher, blieb stehen, wenn die Tiere lauschend die Ohren hoben, dann schlich sie wieder ein Stück weiter. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Überall auf der Kuppe waren große Ein- und Ausgänge. Vielleicht bestand diese Kaninchenburg schon seit Jahrzehnten. Es musste Dutzende Tiere geben, wenn nicht mehr.

Schließlich flüchteten die Tiere. Schnell wählte Meriel vier Tunneleingänge aus und befestigte die Schlingen tief in den Gängen, sodass sie nicht zufällig entdeckt werden konnten. Dann hieß es warten.

Sie suchte sich ein Versteck, zehn Schritt entfernt. Dort hockte sie sich hin, wickelte sich fest in ihren graugrünen Filzmantel, der an vielen Stellen verschlissen war, und lauschte.

Langsam zog der Mond über das Firmament. Sternschnuppen huschten vorbei, und auf den Gräsern bildete sich Reif. Meriel konnte den Eiskristallen beim Wachsen zusehen. Ihre Aufregung schwand, niemand würde um diese Uhrzeit zufällig hier vorbeikommen und sie bemerken. Sie war sicher. Mit dem Gefühl von Sicherheit kehrte die Müdigkeit zurück, und sie nickte ein.

Ein Rascheln ließ sie auffahren. Es kam aus dem Bau. Mehr stolpernd als rennend lief sie zu ihrem Fang. Ein Kaninchen quiekte. Es hatte sich in der Schlinge verfangen und zerrte panisch daran. Meriel löste den Pflock, mit dem sie ihre Falle im Boden befestigt hatte, und zog ihre Beute heraus. Mit einer schnellen Bewegung brach sie dem Tier das Genick und stopfte es in ihren Beutel. Die Falle legte sie erneut aus, aber sie würde nicht länger hier warten, sondern in der folgenden Nacht zurückkehren.

Mit einem Hochgefühl im Herzen trat sie den Heimweg an. Dies war ein perfekter Ort, um einen Wintervorrat zusammenzubekommen!

***

Drei Tage später

Trevor hatte den Vormittag damit zugebracht, Mathematik, Latein und Griechisch zu lernen. Nun summte ihm der Kopf von all den Vokabeln und Formeln.

Sein Lehrer war endlich fort, und auch er sehnte sich danach, das Anwesen zu verlassen. In den vergangenen Tagen war das Wetter regnerisch und kühl gewesen und Trevor ans Haus gefesselt. Seine Mutter wünschte ihn meist in ihrer Nähe, seit der Vater geschäftlich unterwegs war und der Bruder zurück zum Studium in der Stadt.

Heute würde er der aufdringlichen Fürsorge entfliehen, das hatte er sich fest vorgenommen. Trevor rüstete sich in der Küche mit Proviant aus, dann machte er sich auf in die Stallungen. Er sattelte seine Stute, befreite seine beiden Windhunde aus dem Zwinger und nahm auch zwei Frettchen mit. Die Kiste mit den kleinen Wieseln und die restliche Ausrüstung fanden ebenfalls Platz auf dem Pferderücken.

Der Stallknecht wünschte ihm eine erfolgreiche Jagd, Trevor stieg in den Sattel und ritt davon. Endlich!

Als die Außenmauern des weitläufigen Gartens hinter ihm lagen, fühlte er sich endlich frei. Er reckte die Arme zu den Seiten, während sein Pferd in ruhigem Galopp dahin lief. Die Hunde jagten einander in wildem Spiel über Stock und Stein.

Trevor wusste schon genau, wohin er wollte. Er kannte alle größeren Karnickelbauten auf dem Anwesen, und der Onkel hatte ihn gebeten, einen bestimmten zu bejagen, da die vielen Tunnel bereits die Mauer der Weide zum Absacken brachten. Trevor war es nur recht. Auch wenn Vater und Bruder seine Freude an dieser Form der Jagd belächelten, hielt ihn das nicht davon ab. Mit Frettchen zu jagen galt als Sport der einfachen Leute, aber ihm gefiel die Zusammenarbeit der verschiedenen Tiere.

Schließlich erreichte er den Bau, band sein Pferd so an, dass es grasen konnte, und machte sich an die Arbeit. Er sah sofort, dass er nicht genug Netze dabei hatte, um alle Ausgänge des gewaltigen Tunnelsystems zu verschließen. Also würden die Hunde viel zu tun bekommen. Die beiden Windhunde saßen mittlerweile still im Gras und beobachteten ihn aufmerksam bei der Arbeit. Sie schienen zu ahnen, dass sie ihre Kräfte noch brauchen würden.

Als Trevor alle Netze mit Pflöcken befestigt hatte, holte er die Frettchen. Die beiden Tiere waren handzahm, und er jagte schon seit zwei Jahren mit ihnen. Er redete ihnen leise zu, während er sie aus der Kiste nahm, streichelte sie, bis sie sich wieder an ihn gewöhnt hatten, und setzte sie dann vor zwei unverschlossene Ausgänge. Sofort nahmen die Frettchen Witterung auf und verschwanden in den Tunneln.

Dann geschah eine ganze Zeit lang nichts.

Trevor stand mittig vor dem Bausystem, während die Hunde auf leisen Pfoten umherschlichen. Im Gegensatz zu ihm konnten sie die Frettchen und ihre Beute unter der Erde hören. Er beobachtete die Hunde, ihre vor Aufregung zitternden Flanken, den Glanz in ihren Augen, woran er Freude festzumachen glaubte.

Sicher waren sie genauso froh, der Enge des Zwingers zu entkommen, wie er den Mauern seines Elternhauses. Es war, als löse sich eine Kette von seiner Brust. Seit er mit dem blauen Auge heimgekommen war, hatte Mutter Bridget ihn kaum noch allein gelassen. Ihre stete Sorge spannte sich wie eine Kuppel über ihn, engte ihn ein und zwang ihn in ewig gleiche Bahnen. Seit Tante Margret zu Gast war, wurde er sogar von beiden Glucken verhätschelt.

Diesen Nachmittag hatte er sich davongestohlen. Nur einen knappen Brief hatte er zurückgelassen, dass er das Abendessen vermutlich ausfallen lassen würde.

Die Hunde erstarrten in ihren Bewegungen, und aus Trevors Kopf schwand jeder überflüssige Gedanke. Dann ging alles ganz schnell. Ein graubrauner Schemen schnellte aus dem Bau. Beide Hunde nahmen die Verfolgung des Kaninchens auf, hetzten es in irrsinnigen Zickzacklinien über das Feld. Dann fasste die schwarz-weiße Hündin Bell zu. Trevor pfiff, und die Hunde rannten zu ihm zurück.

„Brave Bell“, lobte er, nahm der Hündin die Beute ab und brach dem Kaninchen das Genick.

Bevor sie zur Ruhe kamen, schoss das nächste Tier aus dem Bau, an der Pfote hing das weiße Frettchen und ließ sich mitschleifen. Trevor war sofort da. Die Hunde hetzten bereits dem dritten hinterher.

Onkel Samuel hatte recht gehabt, dies war ein lohnender Ort. Es waren so viele Nager hier, dass sie die Weide nicht mehr für die Pferde nutzen konnten, die sich wegen der Tunnel und Gänge schnell die Beine brechen könnten. Trevor würde noch einige Male wiederkommen, bis der Bestand dezimiert war, dann würde er die Tunnel verschließen und die eingebrochene Findlingsmauer wieder aufrichten. Vater würde sicher wollen, dass es der Stallknecht und einige Helfer erledigten, doch Trevor gefiel die Vorstellung, etwas Sinnvolles zu tun. Eine Arbeit, deren Ergebnis er sehen und berühren konnte, wie eine Mauer aus Feldsteinen. Am liebsten hätte er jetzt schon angefangen, doch damit hätte er die Jagd verdorben.

Eine Bewegung gleich vor ihm. Ein Kaninchen floh aus einem der Tunnel, die er mit einem Netz abgedeckt hatte, und verfing sich darin. Mit zwei Sätzen war er da, schneller noch als die Hunde, und einen Augenblick später war es tot.

Trevor strich mit leisem Bedauern über das seidige Fell, das den warmen Körper umhüllte. Ihm tat es leid um jedes Tier, das er tötete. Doch hier kam das Ende schnell. Es war nicht wie bei den Fuchs- oder Hirschhatzen, die sein Bruder so liebte. An ihnen hatte Trevor nie Freude gefunden, auch wenn es natürlich immer ein Ereignis war, in großer Gruppe auszureiten und mit den Pferden über Stock und Stein zu galoppieren und so manches Hindernis im Sprung zu überwinden. Das gefiel ihm, doch der Anblick der Hunde, die schließlich die noch lebende Beute in Stücke rissen, stieß ihn ab.

Am späten Nachmittag war es Zeit aufzubrechen. Die Hunde waren unkonzentriert und müde geworden. Die gescheckte Bell lag ausgestreckt auf der Seite und hechelte.

Die Beute konnte sich sehen lassen. Neun Kaninchen verstaute Trevor auf dem Pferd, er sammelte seine Netze ein und versuchte die Frettchen mit abgeschnittenen Kaninchenpfoten zu locken. Das wildfarbene kam schließlich heraus und zerrte ein totes Beutetier mit sich. Das weiße Frettchen blieb verschollen.

Er versuchte es mit den Hunden, die schließlich vor einem bestimmten Eingang anschlugen. Trevor legte sich flach auf den Boden und lugte hinein, aber er sah nichts. Er musste also graben. Mit dem Spaten arbeitete er sich eine Armlänge tiefer hinein und hoffte, dass der kleine Marder sich nicht weiter nach unten in den Bau absetzte. Der weiße war eigentlich immer der zahmere von beiden. Aber auch ihm war zuzutrauen, dass er seine Beute lieber für sich behielt und in der Sicherheit des Baus auffraß.

Schließlich legte er sich auf den Bauch und streckte den Arm in den Bau. Fell. Dort war Fell. Er wusste sofort, dass der erschlaffte, schon ausgekühlte kleine Körper nicht der eines Kaninchens war.

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, dann fasste er zu und zog das Frettchen zu sich. Als er ihn fast draußen hatte, ging es nicht mehr weiter, er hing fest. Schnell fand er den Grund. Um den Hals lag eine Schlinge, die sich fest zugezogen hatte. Er riss sie aus der Verankerung und zerrte seinen toten kleinen Jagdgefährten heraus. Dann spülte eisige Wut durch seine Adern.

Ein Wilderer!



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