Fjordleuchten - Rebecca Maly - E-Book

Fjordleuchten E-Book

Rebecca Maly

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Beschreibung

Anno 962: Als die Großbauertochter Alva bei einem Überfall auf ihre Heimat an der englischen Südwestküste von dem brutalen Wikinger Eril Ormsson entführt wird, scheint ihr Schicksal als Leibeigene an seinem Hof in Dänemark besiegelt. Doch dann nimmt die unheimliche, alte Seherin Oddruna die junge Frau als Schülerin unter ihre Fittiche. Als Alva schließlich dem geheimnisvollen Nordmann Thorir begegnet, nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung, die sie bis ins Fjordland Norwegens führt …

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Seitenzahl: 409

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Kurzbeschreibung:

Anno 962: Als die Großbauertochter Alva bei einem Überfall auf ihre Heimat an der englischen Südwestküste von dem brutalen Wikinger Eril Ormsson entführt wird, scheint ihr Schicksal als Leibeigene an seinem Hof in Dänemark besiegelt. Doch dann nimmt die unheimliche, alte Seherin Oddruna die junge Frau als Schülerin unter ihre Fittiche. Als Alva schließlich dem geheimnisvollen Nordmann Thorir begegnet, nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung, die sie bis ins Fjordland Norwegens führt …

Rebecca Maly

Fjordleuchten

Roman

Edel Elements

Edel Elements

- ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH

© 2022 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2022 by Rebecca Maly

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Arrowsmith

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Lektorat: Sarah Heidelberger

Korrektorat: Christin Ullmann

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-448-6

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Kapitel 1

Südwestküste Englands, Anno Domini 962

Alva zuckte zusammen, als Cobbert die Ochsen mit der Weidenrute auf die Rücken schlug, dass es nur so klatschte. Die störrischen Tiere weigerten sich, ihre Hufe auf die neue Brücke über den Waelcian zu setzen, und schwitzten in ihrem Joch mehr vor Angst denn vor Anstrengung.

„Verdammt, es ist nur eine Brücke, ihr dummen Viecher“, fluchte Cobbert, mittlerweile selbst schweißgebadet. Der Knecht fürchtete den Zorn seines Herrn, des Großbauern Aldar von Rodene, der auf seinem feurigen Braunen auf der anderen Seite auf und ab ritt. Das Pferd hatte die Brust bereits voller Speichel, kämpfte gegen die harte Hand seines Herrn und pflügte mit den Hufen die Erde, als gelte es, den Grund für die nächste Saat vorzubereiten.

Es war Herbst, die Erntezeit vorüber, und die Erde lag brach, um sich für die Aussaat im Frühjahr zu erholen. Speicher und Mieten waren gut gefüllt, und wie jedes Jahr forderte die Kirche ihren Teil. So waren sie nun unterwegs zum Kloster Saint Urban, wo auch die Großbauern von Rodene ihren Zehnt abliefern mussten. Auf dem Wagen hinter Alva und ihrer Mutter Ursula türmten sich Säcke voller Getreide, Kohl und Rüben, dazu geräucherter Schinken und Käse. Eine junge Kuh war an den Leiterwagen gebunden. Die Magd Tisla, die Schafe, Ziegen und Gänse zum Kloster brachte, war schon am frühen Morgen aufgebrochen. Doch wie es schien, würde die Familie das Kloster allenfalls am Nachmittag und mit großer Verspätung erreichen.

Während die fromme Ursula die Hände zum Gebet faltete und die Heiligen um ein wenig Mitgefühl anflehte, hielt es Alva nicht länger aus, einfach nur herumzusitzen. Sie raffte den Rock ihres blauen Festtagskleides, stieg an ihrem schlafenden kleinen Bruder Rothgar vorbei und sprang vom Wagen.

„Alva, komm sofort zurück!“, ereiferte sich ihre Mutter.

„Ich will hier nicht auf ewig versauern!“, entgegnete Alva, obwohl sie genau wusste, dass sie mit ihrem Ungehorsam den Zorn der Eltern auf sich lenken würde.

Unter Cobberts verblüfftem Blick und den empörten Rufen ihres Vaters trat Alva vor die Zugtiere. Die Augen der beiden Ochsen rollten in den Höhlen. Ihr Fell, das von den Knechten für diesen besonderen Tag poliert worden war, wirkte nun wieder stumpf. Für die Tiere schien die neue Holzbrücke dem Höllenschlund gleichzukommen. Hinüber mussten sie trotzdem, und Alva sah nicht ein, dass die beiden dummen Viecher ihr den schönsten Tag des Jahres vermiesten.

Sie erinnerte sich, was sie bei dem alten, erfahrenen Knecht Rupert gesehen hatte, schob die Ärmel hoch und fasste den Tieren mit beiden Händen in die glitschigen Nüstern.

„Jetzt kommt, ihr Sturköpfe!“ Sie drückte die Finger zusammen und zog. Der schwarze Ochse kämpfte kurz gegen sie und den Schmerz in den empfindlichen Nüstern an, dann standen beide Tiere mit den Hufen auf dem Holz, und es ging zügiger weiter.

„Na also, es geht doch“, sagte Alva triumphierend und rieb ihre feuchten Finger an der breiten Stirn der Tiere trocken.

Auf der Brücke war es selbst für ein schmale junge Frau wie sie zu eng, um auf den Wagen zu steigen, und so eilte Alva voraus zum anderen Flussufer. Der Gesichtsausdruck ihres Vaters ließ den kurzen Triumph schnell in Vergessenheit geraten. Sie senkte gehorsam den Blick, während er sein Pferd neben sie lenkte. Der stoßweise Atem des Tieres hüllte sie in eine Wolke feuchter, nach Heu riechender Wärme.

„Manchmal frage ich mich, ob meine Tochter nicht doch eine Magd ist“, knurrte er und packte sie hart an der Schulter. Alva zuckte unter dem Schmerz zusammen, doch es kam kein Laut über ihre Lippen, dafür litt sie zu oft unter der Gewalt ihres Vaters. Seine Finger gruben sich eisern um ihr Schlüsselbein. Unter gesenkten Wimpern sah sie vorsichtig zu ihm auf. Sein kantiges Gesicht war gerötet, und an den Schläfen hatte der Zorn Adern hervortreten lassen, die sich als dunkles Geflecht über seinen Hals fortsetzten und dann unter dem bestickten Saum seines besten Gewandes verschwanden. Alva kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er kurz davor war, die Fassung zu verlieren.

„Verzeih, Vater“, flüsterte sie.

„Du hast dich deiner Mutter widersetzt, dafür gebührt dir eine ordentliche Tracht Prügel.“

„Ja, Herr Vater“, erwiderte Alva leise. Sie fühlte sich immer weiter schrumpfen und wünschte, sie wäre nie von dem Leiterwagen hinabgestiegen. In diesem Moment schmerzte ihr wieder der Finger, den ihr der Vater einmal in einem Zornesausbruch mit einem Krug zerschmettert hatte. Bis heute konnte sie ihn nicht richtig bewegen. Das hätte ihr eigentlich Mahnung genug gewesen sein müssen, um zu wissen, wo ihr Platz war.

„Steig auf den Wagen“, herrschte der Vater sie an, löste seinen Griff und stieß sie davon. Alva strauchelte nur kurz. Keine Prügel? Sie konnte ihr Glück kaum fassen. In demütiger Haltung drehte sie sich um und kletterte zurück auf das Gefährt.

„Und du, Cobbert, mach den Viechern Beine. Ich will nie wieder sehen, dass meine Tochter die Biester besser unter Kontrolle hat als mein erster Knecht.“

Als Antwort ließ der Mann mit zusammengepressten Lippen die Gerte auf die Rücken der Ochsen schnellen, und der Karren setzte sich wieder in Bewegung.

„Was denkst du dir nur dabei?“, fuhr Ursula ihre Tochter an, und schon brannte eine Ohrfeige auf Alvas Wange. Die Hände ihrer Mutter schienen nur zwei Aufgaben zu kennen: zu beten und zu schlagen.

„Was hat sie denn wieder angestellt?“, meldete sich nun auch Rothgar zu Wort, der erst wach geworden war, als die zornige Stimme seines Vaters ertönte. Nun richtete er sich gähnend auf seinem Lager aus Kornsäcken auf und sah sich neugierig um. Seine blonden Locken sprangen wie feine, goldfarbene Hobelspäne in alle Richtungen. Die rundlichen Wangen waren gerötet vom Schlaf.

„Deine Schwester hat wieder einmal bewiesen, dass sie keinen Anstand hat und nicht weiß, wie sich eine Frau aus unserer Familie zu benehmen hat. Vielleicht möchte sie sich doch lieber bei unseren Nachbarn als Magd verdingen. Das Talent dazu hätte sie.“

Rothgar lachte, doch Alva konnte dem Jungen nicht böse sein. Er war zu jung, um wirklich zu verstehen. Ursula verpasste ihm einen leichten Schlag auf den Hinterkopf, und der Siebenjährige verstummte abrupt.

„Und jetzt bring dein Haar in Ordnung, Mädchen!“

Die nächste Zeit verging schweigend, während Alva ihren Zopf öffnete und neu flocht. Ihr Haar war seidig, fein und so hell, dass es beinahe weiß wirkte. Leider aber war ihr Zopf stets ein wenig dünn, und kein Kamm wollte recht darin halten.

Der Karren rumpelte über einen Weg, der wechselnd aus Steinen, Holzbohlen und hin und wieder sogar nur aus schlammigen Fahrrinnen bestand. Er führte an der Küste entlang, wo der heftige Seewind beinahe jeden Tag blies und nur die genügsamsten Pflanzen wuchsen, die bereit waren, sich seiner Kraft zu beugen. Zwischen Gräsern glänzten die schwarzen Früchte der Krähenbeere. Der Ginster, der die Hügel im Frühsommer mit einem gelben Blütenmeer überzog, war um diese Jahreszeit eintönig grünbraun und ließ seine Samenkapseln im Wind rascheln.

Wo der Boden fruchtbar genug war, reichten die Wiesen bis an die Felsküste. Graue flechtenbewachsene Findlingsmauern unterteilten sie in unregelmäßige Quadrate, auf denen Schafe weideten. Das Blöken der Tiere gehörte zum Land wie der Salzgeruch des Meeres und das stete Rauschen der Brandung.

Hin und wieder konnte Alva zwischen den sanften Hügeln die graue Unendlichkeit des Ozeans ausmachen.

Was dahinterliegen mochte? Wie weit die Wellen wohl gereist waren, um schließlich an der Felsenküste zu zerschellen?

Für Alva war es unvorstellbar, dass sich jemand auf einem Boot so weit hinauswagte, dass er das Ufer nicht mehr erkennen konnte. Auch jetzt segelten kleine Fischerboote wie Spielzeuge auf der rauen See und holten ihren Fang ein. Fisch kam auf Rodene nur selten auf den Tisch. Wenn sie Glück hatten, würde es bei den Mönchen in Saint Urban heute ein Festessen geben.

Den Blick in die Ferne gerichtet, auf die Hügel mit ihren bunten Kuppen aus blühendem Heidekraut und gelb verfärbten Birken, gelang es Alva langsam, ihre gute Stimmung wiederzufinden.

Seit Monaten schon freute sie sich auf den Besuch in Saint Urban. Ihren Vater stimmte es zwar immer wieder schlecht, wenn er sah, wie viel die Mönche von seiner Wirtschaft einforderten, doch er war ein frommer Mann. Solange es dem Hof gut ging und der heilige Petrus den Bauern gutes Wetter bescherte, war der Zehnt ein geringer Preis für das Seelenheil. Und dieses Jahr war ein reiches Jahr gewesen.

Zu den Terminen, an denen die Abgaben zu entrichten waren, versammelte sich alles, was in der Region Millweard Rang und Namen hatte, in dem Kloster und der kleinen Siedlung, die daneben gewachsen war. Es gab einen Markt mit fahrenden Händlern und Gauklern, und für eine junge Frau wie Alva zahlreiche Gelegenheiten, nach Ehemännern Ausschau zu halten. Auch ihr Vater hatte vor, sich nach einer passenden Partie für sie umzusehen. Mit ihren neunzehn Jahren war sie nun alt genug, fast schon zu alt. Doch Mutter hatte es nicht anders haben wollen. Ihr fiel es schwer, ihre Älteste ziehen zu lassen. Vater war es nur recht, denn er war ein geiziger Mann, und die Aussteuer würde ihn teuer zu stehen kommen.

Alva freute sich vor allem auf den Markt, nur dort gab es Stoffe zu kaufen, die nicht jeder größere Hof selbst herstellte, feine Borten und Pelze, die von weit, weit her kamen.

Als sich ihr Gefährt schließlich in den Strom aus Karren einreihte, der auf das Kloster zustrebte, war es Nachmittag geworden.

Grau und trutzig erhoben sich die Granitsteinmauern Saint Urbans vor ihnen. Das Kloster sah aus, als sei es nicht von Menschenhand erbaut, sondern aus dem Felsen selbst gewachsen. Der Anblick ließ Alva immer ein wenig ehrfürchtig werden. Wozu Gott die Menschen befähigte, wenn sie nur fest in ihrem Glauben waren!

Sie erreichten den weiten Innenhof durch ein Tor, an dem zwei Söldner nachlässig Wache hielten.

Als einer der reichsten Freibauern hatte Aldar von Rodene gewisse Privilegien inne. Alva und ihre Familie mussten sich nicht in die lange Schlange der Gemeinen einreihen, wo sich nur ein einziger Schreiber und ein Mönch um die Eintreibung des Zehnten kümmerten. Sie fuhren direkt zu den Wirtschaftshäusern des Klosters, wo sie kurz darauf von dem Mönch Othilo begrüßt wurden. Der grauhaarige, stämmige Mann, dessen Tonsur wie poliertes Leder glänzte, war Alvas Onkel und der jüngere Bruder ihres Vaters, für den in der Erbfolge kein Platz mehr gewesen war. Die Brüder hatten ihren Groll längst begraben, seitdem der Mönch einen hohen Posten im Kloster innehatte und Aldar ihn mit üppigen Schenkungen in seinem ehrgeizigen Streben unterstützte.

Alva gab sich diesmal Mühe, ihren Eltern keinen Grund zur Klage zu geben. Gemeinsam mit ihrer Mutter und Rothgar wartete sie, bis Aldar und Bruder Othilo einander begrüßt hatten.

Der Mönch trat vor sie und gab den Verwandten seinen Segen.

„Ut in omnibus glorificetur Deus“, zitierte er das Motto seines Ordens. „Liebe Base, ich hoffe Euch ist es in den vergangenen Monaten gut ergangen. Eure Tochter ist zu einer wahren Schönheit herangewachsen! Und Rothgar, du bist schon ein richtiger Mann, du machst deine Eltern stolz, oder?“

Rothgar lächelte schüchtern. „Ich gebe mir Mühe, Onkel.“

„Wie geht es den anderen Kindern?“

„Eadgar und Tiva sind auf dem Hof bei der Amme, es geht ihnen gut.“

„Gottes Segen auch für sie.“

„Danke, Vater.“

Wie jedes Jahr würde die Familie im Gästetrakt des Klosters unterkommen. Während ein junger Novize das Gepäck schulterte, folgten Alva, Ursula und Rothgar dem Mann hinein. Die Brüder würden die Abgabe des Zehnten ohne viel Aufhebens erledigen.

Die Gästezimmer der Mönche waren schlicht und sauber. Alva war sich sicher, dass nicht jeder Gast frische Strohsäcke zum Schlafen bekam, und Decken, in denen kaum Läuse oder Wanzen hausten. Der kleine Raum, den sie sich diesmal teilen würden, war frisch gekalkt worden, der Boden bis in den letzten Winkel gefegt. Durch ein kleines Fenster fiel Licht auf ein schlichtes Holzkreuz an der Wand. Alvas Mutter bekreuzigte sich, als sie eintrat, und Alva beeilte sich, es ihr gleichzutun.

Der Novize stellte seine Last ab. „Ich hoffe, es ist alles nach Euren Wünschen. Beim nächsten Glockenschlag wird in der Küche Essen ausgegeben. Seid unsere Gäste. Am Abend hält Vater Eusebius die Messe.“

„Vielen Dank“, entgegnete Ursula und entließ den Novizen.

Alva und ihre Mutter nutzten die wenige verbleibende Zeit, um sich einzurichten und sich nach der langen Fahrt zu erfrischen.

„Alva, hast du dir schon über deine Beichte Gedanken gemacht? Ich hoffe, du hast nicht vor, Sünden zu verschweigen. Gott sieht alles, Tochter.“

„Ja, Mutter, und nein, natürlich werde ich nichts verschweigen.“

Sie hörte diese Mahnung seit einigen Tagen beinahe ständig, und tatsächlich war die Beichte das Einzige, was sie an ihrem Besuch in Saint Urban fürchtete. Nicht weil sie Angst vor der Buße hatte, die man ihr für ihre Verfehlungen auferlegen würde, sondern weil sie genau wusste, dass es kein anderer als ihr Onkel Othilo war, der ihr die Beichte abnehmen würde. Im letzten Jahr hatte sie den Eindruck gewonnen, dass ihr Schuldbekenntnis kein Geheimnis zwischen ihr, dem Mönch und Gott geblieben war, wie es eigentlich sein sollte. Othilo hatte ihrem Vater von ihren Sünden erzählt, die er ihr fortan vorhielt, sobald sie wieder einmal seinen Zorn erregte.

Gott, da war sie sich sicher, brauchte nicht auf die zitternde Stimme einer jungen Frau zu lauschen, um zu wissen, was sie bereute. Er konnte einfach so in ihr Herz sehen, wann immer es ihm gefiel. Und auch die Strafen für ihre Sünden konnte er ihr sicherlich direkt schicken. Doch es war vermessen zu glauben, dass Gott ausgerechnet ihr, einem kleinen unbedeutenden Menschlein, seine Aufmerksamkeit zuwenden würde. Der Gedanke allein war hochmütig. Wer war sie schon? Nur eine einfache junge Frau. Gott mochte den Gebeten der Mönche und vielleicht auch den Bitten hoher Herrschaften lauschen. Aber doch sicher nicht ihr.

Im Geiste sprach Alva dennoch schnell ein Gebet, um ihre Vermessenheit zu sühnen, dann rief auch schon die Glocke zum Essen und zur Abendandacht. Ursula mahnte zur Eile und ging voraus. Alva fiel es noch immer schwer, sich den Weg zum Speisesaal zu merken. Es schien endlos viele Gänge zu geben, die allesamt schlecht beleuchtet waren. Das Kloster war immer wieder umgebaut und erweitert worden und so verschachtelt wie ein Irrgarten, nur dass sie sich in den Gebäuden nicht einmal am Sonnenstand orientieren konnte.

Die Stille war unheimlich und verlieh dem Ort zugleich etwas Erhabenes. Durch die Tür des Skriptoriums erhaschte sie einen Blick auf ein Dutzend Pulte, an denen die Mönche heilige Schriften kopierten und mit herrlichen bunten Zeichnungen versahen.

Am liebsten wäre Alva stehen geblieben und hätte sich alles angesehen, doch das gehörte sich nicht. Schon immer hatten sie die Bücher fasziniert, und sobald sich die Gelegenheit bot, bewunderte sie die Zeichen und Bilder, aus denen Gott sprach.

Sie erschienen ihr wie Magie. Lesen zu können, das wäre ein Traum gewesen. Doch nicht einmal bei seinen Söhnen hielt Rothgar es für nötig, sie darin schulen zu lassen. Für ein Mädchen wie sie gab es nur eine Möglichkeit, diesen Wunsch zu verwirklichen: Ein Leben im Kloster, das ihr der Vater niemals gestatten würde und sie selbst auch nicht wollte. Tief im Herzen wusste sie, dass ihre Frömmigkeit für ein Leben bei den Schwestern nicht ausreichte.

Im Gegensatz zu vielen anderen jungen Frauen konnte sie zählen und auch recht gut rechnen, was für komplizierte Muster am Standwebrahmen wichtig war. Mutter legte viel Wert darauf, dass ihre Töchter lernten, mehr als nur einfaches Tuch herzustellen. Und Alva machte ihre Sache gut, das musste selbst Mutter zugeben, die nur selten lobte.

In der Nähe eines kleinen Andachtsraums, der den Geistlichen vorbehalten war, waberte Weihrauchduft durch die feuchten Gänge, dann passierten sie den Säulengang eines kleinen Innenhofs und hatten ihr Ziel fast erreicht.

Die Luft in der Nähe der Küche war wärmer und schwer. Geschirr klapperte. Menschen unterhielten sich und lachten. Auf den letzten Schritten verstärkte sich der Geruch roher Zwiebeln und eines deftigen Eintopfs aus Gerste und Rüben.

Im Speisesaal trafen sich die wenigen Gäste, die im Kloster Unterschlupf gefunden hatten. Auf dem Boden waren geschnittene Binsen ausgestreut, die wohl schon eine Weile ihren Dienst versahen. Alva ging durch die platt getretenen Halme bis zur Essensausgabe, wo man ihr wie allen anderen eine Holzschüssel mit Eintopf, etwas Brot und Speck reichte. Dazu gab es einen Humpen mit Dünnbier, das säuerlich roch und seine beste Zeit sicherlich bereits hinter sich hatte. Ein Festessen würde es erst morgen geben, wenn die neue Ernte gesegnet worden war.

Alva setzte sich mit Ursula und Rothgar an eine lange Bank und aß schweigend, während sie vorsichtig ihren Blick schweifen ließ, um die anderen Gäste zu betrachten. War einer der jungen Männer womöglich bald schon ihr Ehemann?

Es waren viele bekannte Gesichter darunter. Der hagere Müller vom schwarzen Weiher aus Millweard war mit seinen beiden Söhnen gekommen, die ihren Vater nicht nur um Haupteslänge überragten, sondern sicherlich auch das Dreifache wogen. Einen so wohlbeleibten Mann wollte Alva nicht, dann lieber den blonden Tiw vom Nachbarhof, der gerne einmal Streit anfing und berüchtigt für sein hitziges Gemüt war.

„Starr nicht so“, fuhr Ursula sie an. Alva errötete und senkte beschämt den Blick auf den graubraunen Eintopf vor sich. Die Mönche hatten an Salz gespart, obwohl sie direkt an der Küste wohnten. Als Rothgar in eine rohe Zwiebel biss und der Saft in Alvas Richtung spritzte, wurde ihr plötzlich schlecht. Dennoch wagte sie es nicht, ihre Schüssel ungeleert zu lassen.

Mit dem letzten Schluck sauren Dünnbiers spülte sie alles hinunter und wartete mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen darauf, dass auch ihre Mutter die Mahlzeit beendete.

Gleich würden sie in die Kapelle gehen und beichten. Dann hatte Alva den unangenehmen Teil des Besuchs auf Saint Urban hinter sich. Auf den Gottesdienst, bei dem die Mönche immer so wunderschön sangen, freute sie sich, und der fröhliche, bunte Markt am nächsten Morgen würde den Höhepunkt bilden.

Heimliche Freude stahl sich in Alvas Herz. Nur noch eine Nacht, dann war es so weit.

Kapitel 2

Alva lag wach und starrte gegen die Decke des Gästezimmers. Das wenige Sternenlicht, das durch das kleine Fenster fiel, reichte aus, um zwischen den Dachbalken Welten aus Schatten und Schwärze entstehen zu lassen. Eine Weile hatte sie den unklaren Worten ihres kleinen Bruders gelauscht, der im Traum sprach. Ihr Vater atmete schwer und furzte jedes Mal, wenn er sich auf seinem Lager drehte, und ihre Mutter Ursula lag still und völlig regungslos daneben wie eine Tote.

Alva hatte das Gefühl, jeder einzelne Strohhalm hätte es darauf abgesehen, sie zu ärgern und durch den groben Leinenstoff der Matratze zu stechen.

Noch immer glaubte sie, die Kälte der kleinen Kapelle zu spüren, in der sie die letzten Stunden auf Knien verbracht und gebetet hatte. Erleichtert fühlte sie sich dadurch nicht.

Die gebeichteten Sünden waren allerdings auch nicht sehr schwer gewesen. Neid war natürlich eine davon, Zorn auf ihre Eltern und Ungehorsam in kleinen Dingen.

Ob sich jemand, der etwas wirklich Schlimmes verbrochen hatte, nach der Absolution wohl viel besser fühlte? Besser als sie jetzt, die immer noch den Eindruck hatte, Steine gegessen zu haben? Vielleicht war ihr auch nur der Eintopf schlecht bekommen, oder die Aufregung war ihr wieder einmal auf den Magen geschlagen.

Alva wälzte sich herum. Es gelang ihr nicht mehr, Freude auf den morgigen Tag aufkommen zu lassen. Stattdessen wurde sie immer unruhiger. An Schlaf war bald nicht mehr zu denken.

Schließlich stand sie auf, schlang sich den warmen Umhang um die Schultern und verließ auf Zehenspitzen den Raum, die Tür lehnte sie nur an. Der Weg zum Abort war nicht weit. Warum sie diesen widerlichen Ort aufsuchte, obwohl ihre Blase nicht allzu sehr drückte, war ihr selbst nicht ganz klar. Vielleicht musste sie sich einfach nur bewegen, hinaus aus dem stickigen Gästezimmer und unter offenen Himmel. Draußen fühlte sie sich meistens viel wohler, selbst in der kalten Jahreszeit.

Sie betrat den Innenhof durch eine kleine Tür. Krächzend flog ein weißer Vogel auf, der anscheinend in einem knorrigen Apfelbaum gesessen hatte. Fast lautlos trugen ihn die Schwingen davon. Alva sah ihm nach. Das Tier hatte wie ein Rabe geklungen, doch der kleiner werdende Schemen war eindeutig weiß.

Weiße Raben, gab es so etwas?

Sie schauderte. Es war kalt und mitten in der Nacht. Wahrscheinlich spielten ihr die müden Sinne nur einen Streich. Sie sollte sich beeilen und bald wieder unter die wärmende Decke kriechen.

Der Abort lag neben einem Kräutergarten und war nicht viel mehr als ein Bretterverschlag. Darin befand sich ein altes, halb eingegrabenes Weinfass, in dem die Mönche die Fäkalien auffingen, um im Frühjahr damit die Felder zu düngen. Glücklicherweise war das Fass vor Kurzem geleert worden, dennoch stank es in dem kleinen Verschlag erbärmlich.

Alva verrichtete so schnell wie möglich ihre Notdurft. Beinahe wäre ihr die Fibel heruntergefallen, die ihr Gewand zusammenhielt. Nicht auszudenken, wenn sie ihrer Mutter hätte beichten müssen, dass ihr das Schmuckstück abhandengekommen war. Es wieder aus dem Unrat herauszufischen, war unvorstellbar.

Alva steckte die Fibel gerade mit großer Sorgfalt fest, als plötzlich die Klosterglocken zu schlagen begannen.

Was für eine merkwürdige Zeit für das Nachtgebet, dachte sie im ersten Moment, dann wurde ihr klar, was die Glocken noch bedeuten konnten. Ein Unglück war geschehen!

Als sie die Tür des Aborts aufstieß, trug die kalte Nachtluft Schreie heran. Es roch nach Rauch.

Feuer!

Alva drehte sich um die eigene Achse – und dann sah sie es. Der Himmel glühte unheilvoll. Die Ortschaft Downshire war keine Stunde Fußweg entfernt, und sie brannte lichterloh, so hell, dass der Himmel glühte. Das war nicht nur ein einzelnes Haus oder ein Heuschober. Die ganze Ortschaft stand in Flammen!

Die Glocken läuteten immer eindringlicher, lauter und schneller. Alva konnte sehen, wie sie sich im hölzernen Glockenturm überschlugen, weil die Mönche so heftig an den Seilen rissen.

Einen Moment lang war sie wie erstarrt, dann rannte sie los. Als sie das Gästezimmer erreichte, waren die anderen schon auf den Beinen.

„Wo warst du?“, herrschte ihr Vater sie an, fasste sie grob am Arm und zog sie mit einem Ruck ins Zimmer.

„Auf … auf dem Abort“, stotterte Alva. „Es brennt, Vater, es sieht aus, als würde ganz Downshire in Flammen stehen.“

„Packt eure Sachen“, sagte er nur, während er sich eilig anzog. Alva half ihrer Mutter, während der kleine Rothgar sich zum Fenster reckte und versuchte, einen Blick auf den Brand zu erhaschen.

„Da sind Schiffe!“

„Was sagst du? Schiffe mitten in der Nacht?“ Alva schob ihn zur Seite und sah hinaus. Der fast volle Mond brach sich auf der See und ließ die Klippen wie scharfkantige Splitter aufragen. Im Osten glühte der Himmel über Downshire, und genau von dort kamen die Schiffe. Eines nach dem anderen umrundeten sie die Landzunge vor Saint Urban. Sie waren schlank und schnell. Die Segel hatten dunkle Farben, Rot und Braun und Grün. Obwohl der Wind sie antrieb, hoben und senkten sich Dutzende Ruder.

„Gott sei unserer Seelen gnädig … Nordmänner!“, keuchte Alvas Vater, der hinter sie getreten war. „Sie haben Downshire geplündert, und jetzt kommen sie hierher.“

„Aber das Kloster hat Mauern und dicke Wände! Hier sind wir sicher, Vater, oder?“

„Nichts ist vor ihnen sicher. Diese Heiden sind eine Geißel Gottes. Mit ihnen straft er seine sündigen Kinder. Schnell, wir müssen sofort von hier verschwinden!“

Alva schulterte ihr Bündel und hielt sich dicht bei ihren Eltern. Die Angst raubte ihr jeden eigenen Gedanken. Sie fühlte sich leer, wie ein Tongefäß, in dem die Schreie panischer Menschen und der Schlag der Glocken widerhallten.

Nordmänner! Natürlich hatte sie schon von ihnen gehört. Wer, der an der Küste lebte, hatte das nicht? Doch bislang war die Region um Millweard verschont geblieben. Sie war zu arm, und zu verstreut lagen die Höfe. Zumindest hatten die Menschen das bis dahin geglaubt. Zwar wurden landauf, landab Wachtürme gebaut und Küstensiedlungen befestigt, doch bis zu ihnen, so glaubten sie, würden die Dänen nicht kommen. Was für ein schrecklicher Irrtum.

Nun waren sie da!

Die Mönche trieben die Menschen wie verschreckte Schafe hierhin und dorthin, die Frauen und Kinder in die Kirche, die Männer zur Verteidigung auf die Mauern.

Die Mauer! Erst jetzt fiel Alva auf, wie brüchig und niedrig sie war. An vielen Stellen gab es nicht einmal Wehrgänge, auf denen sich die Verteidiger bewegen konnten. Hier und da waren Gebäude direkt an die Mauer gebaut, deren Dächer aus Stroh und Grassoden bestanden und mit der Oberkante abschlossen.

„Ich will nicht von dir getrennt sein!“, klagte Ursula in diesem Moment und griff nach dem Arm ihres Mannes. Alva wurde klar, dass ihr Vater sie zu den übrigen Frauen in die Klosterkapelle schicken wollte. Ursula flehte ihn an, es nicht zu tun, und Aldar willigte schließlich ein.

„Ich habe schlimme Dinge von anderen Überfällen gehört, sie haben die Kirchen verbrannt, für die Eingeschlossenen gab es kein Entkommen. Du hast recht, Ursula. Versteckt euch hier, und wenn sie hereinkommen, lauft um euer Leben, verlasst unter allen Umständen das Kloster! Die Dänen werden euch nicht verfolgen, sie entfernen sich nur selten von der Küste.“

Aldar küsste seine Frau auf die Stirn und fuhr Rothgar durchs Haar.

„Gott sei mit dir!“, rief Ursula ihm hinterher, als er mit den anderen Männern zum Tor eilte. „Los, suchen wir uns ein Versteck.“

Alva sah sich hektisch um. Der Innenhof war nicht allzu groß. Ein Heuwagen hätte sie gut verborgen, doch das Heu konnte schnell Feuer fangen. Ein Speicherhaus, das zum Schutz vor hungrigen Ratten auf hölzernen Stelzen erbaut worden war, schien besser geeignet. „Dort vielleicht?“

In Nu hatten sie den Hof überquert. Rothgar kletterte voran über eine kleine Leiter ins Obergeschoss. Als sie alle oben waren, begann Alva, an der grob gezimmerten Leiter zu ziehen. „Los, helft mir.“

Gemeinsam schafften sie es. So leicht würde ihnen nun niemand mehr folgen können.

Der Anblick hinab vom Speicherhaus war erschreckend. Alva konnte bis zum Meeressaum sehen, wo die Angreifer ihre Boote in die Bucht gelenkt hatten. Ohne auf die Kälte zu achten, sprangen sie von Bord und wateten durch die Brandung an den Strand.

Und wie schrecklich sie anzusehen waren! Auf ihre runden Schilde waren unheilvolle Muster und Fratzen gemalt, Metall glänzte im Licht der Dämmerung, die nun den Horizont erhellte. Ein jeder der Angreifer schien bis an die Zähne bewaffnet. Es blitzten Speere auf, Schwerter wurden mit lautem Gebrüll gereckt, und manche schienen auch Bögen mit sich zu führen. Die Mannschaften der einzelnen Schiffe formierten sich zu keilförmigen Angriffstrupps.

„Alva, komm, bete mit uns! Alva!“

Doch sie überhörte die Ermahnung ihrer Mutter, gemeinsam um Gottes Gnade zu flehen, und hätte es ohnehin nicht vermocht. Der Anblick der Heiden hatte ihr die Sprache verschlagen. Es war, als könne sie nur noch einer Zuschauerin gleich beobachten, wie der Tag, der zum schönsten des Jahres hatte werden sollen, zu ihrem letzten wurde.

„Wir werden alle sterben“, wisperte Alva, während die Nordmänner unaufhaltsam den Strand erklommen. Fackeln glommen auf, dann trudelten die ersten Brandpfeile durch die Luft. Wie Leuchtkäfer erhellten sie die Dämmerung. Der Anblick war von einer tödlichen Schönheit, wie die Gemälde leidender Heiliger in der Kapelle. Es zog einem das Herz zusammen.

Die Mönche rannten mit Wassereimern umher, um die aufflackernden Brände im Kampf zu ersticken. Noch fanden die meisten Pfeile kein Ziel und verloschen schnell im schlammigen Boden des Innenhofs, doch bald würden die Schützen näher sein und besser treffen.

Die Angreifer vom Strand hatten nun beinahe die Mauer erreicht. Die Kämpfer auf dem Wall schossen Pfeile auf sie ab, doch bislang waren nur zwei Nordmänner gefallen und nicht wieder aufgestanden.

Plötzlich löste sich ein Hüne aus der vordersten Keilformation. Weder durch seinen eigenen Schild noch durch die seiner Kameraden geschützt, reckte er einen langen Speer gen Himmel, als wolle er das Schicksal herausfordern. Die anderen Krieger feuerten ihn an, brüllten wie eine ganze Dämonenschar.

Nun schießt doch! dachte Alva, doch auch die Männer auf der Mauer schienen zu gebannt von dem Schauspiel, um dem Todesmutigen einen Pfeilhagel entgegenzusenden.

Der Hüne holte aus, riss den Arm weit zurück, dann flog der Speer. Die Nordleute sahen ihm nach, während er einen weiten Bogen beschrieb. „Odin!“, schrie der Werfer, und ehe das Geschoss sein Ziel erreichte, nahmen die anderen Krieger den Ruf auf.

Alva wunderte sich, dass er nicht auf die Verteidiger gezielt hatte. Der Speer flog mehrere Mannslängen zu hoch über die Mauer, senkte sich dann in seiner Bahn abwärts und blieb in der Außenwand der Kapelle stecken. Der Schaft zitterte eine Weile, als würde das Gotteshaus versuchen, den Angriff abzuschütteln, dann regte er sich nicht mehr. Alva kann es vor wie ein düsteres Omen. Ihr Schicksal war besiegelt, Saint Urban verloren, bevor es gefallen war. Ein Mönch, der alles beobachtet hatte, versuchte verzweifelt, den Speer mit einem Rechen aus der Wand zu schlagen, doch er steckte eine Handspanne zu hoch. Er sprang, dabei pendelte das Holzkreuz mit dem Heiland vor seiner Brust, doch den Speer erreichte er trotzdem nicht.

Ein weißer Schemen huschte vorbei, wendete, strich auf Alva zu und über sie hinweg. Raues Rabenkrächzen, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. „Habt ihr den Vogel gesehen?“, fragte sie mit zitternder Stimme und sah sich nach Mutter und Bruder um, doch die waren ins Gebet vertieft, ihre Stimmen zu einem eintönigen Singsang verflochten.

Die Nordmänner griffen die Mauern an. Alva konnte sie aus ihrer Position nun nicht mehr sehen. Aber was sie hörte, war schauerlich. Waffenklirren, Schreie, Menschen in Todesqualen.

Der Morgen brachte noch einen weiteren Schrecken. Aufgeregte Rufe von den Kämpfern, die das Tor schützten, kündigten das Unheil an. Reiter näherten sich über den Hauptweg von Osten. Ein Teil der Krieger, die Downshire überfallen hatten, griffen das Kloster offenbar von Land aus an. Sie ritten auf Pferden, die sie in der Ortschaft erbeutet hatten, und sie waren viele.

„Wir sind verloren“, flüsterte Alva mit leerer Stimme, doch niemand hörte mehr auf sie. Ihre Mutter kniete mit Rothgar zum Gebet, beide hielten die Augen geschlossen und die Hände zusammengekrampft.

„He, ihr da!“, rief plötzlich jemand.

Alva beugte sich vor. Ein junger Novize mit ascheverschmiertem Gesicht hielt einen Stapel Eimer vor sich. „Gott hilft nur denen, die sich nicht aufgeben. Wir brauchen jede Hand!“

„Wir kommen.“ Alva schüttelte ihre Mutter an der Schulter, was sie wohl in keiner anderen Situation gewagt hätte. „Die Mönche brauchen unsere Hilfe, das Kloster brennt!“

Ihre Mutter schien wie aus einem Traum zu erwachen. Sie entdeckte den Novizen mit den Wassereimern und bekreuzigte sich hastig.

„Kommt, gute Frau!

„Ja, ja, natürlich!“

Gemeinsam setzten sie die Leiter wieder ein. Alva stieg zuerst hinab, und es war, als würde sie mit einem Schlag zurück ins Leben gerissen. Alles schien plötzlich viel näher. Ihre Lunge füllte sich mit dem beißenden Qualm brennender Gebäude. In den Ställen brüllte das Vieh. Pferde wieherten, verwundete Männer schrien ihre Qualen hinaus. Über allem hing noch immer schrilles Glockengeläut, das den ohrenbetäubenden Lärm in einen ungleichmäßigen Rhythmus zwang. Alva fasste zwei der Eimer, die der Novize einfach in dem festen Glauben zurückgelassen hatte, dass sie bei den Löscharbeiten helfen würden, und rannte los. Ursula und Rothgar folgten ihr mit wenig Abstand.

An einem nahen Brunnen wurde ein Eimer nach dem anderen hinaufgezogen, die Mönche arbeiteten zusätzlich zur Kurbel mit mehreren Seilen, doch sie kamen kaum nach. Alva stellte ihre leeren Eimer ab, griff dafür zwei volle und lief zu dem Feuer, das ihr am nächsten war. Es war ein Wohnhaus nicht weit vom Tor. Eine Frau stand auf einer Leiter und benutzte einen Rechen, um das brennende Stroh vom Dach zu ziehen. Funken über Funken wirbelten empor in den dunklen Nachthimmel. Alva schüttete Wasser in die auflodernden Flammen. Schwarze Ascheflocken waren überall. Durch das Rauschen des Feuers konnte sie Waffenklirren hören. Es kam ganz aus der Nähe.

„Hierher, hierher! Sie brechen gleich durch!“, schrie jemand. Doch alle verfügbaren Männer waren bereits auf ihren Posten. Es war niemand mehr da, der dem Ruf zur Verteidigung des schmiedeeisernen Tores hätte folgen können, hinter dessen Streben nun die fremde Streitmacht zu erkennen war.

Alva versuchte, alles auszublenden, das nicht Teil ihrer Aufgabe war. Sie rannte wohl zum achten Mal zurück. Die leeren Eimer schlugen gegen ihre Beine. Zurück am Brunnen hieß es erneut warten.

Die Angreifer auf ihren Pferden ritten wiederholt ganz nah ans Tor und versuchten, Ketten darin zu verankern. Alva entdeckte ihren Vater. Todesmutig stach er mit einem Speer durch die Gitterstäbe des Tores auf die Reiter ein und brachte einen von ihnen zu Fall. Das verwundete Pferd wälzte sich nun auf der anderen Seite in seiner Pein und behinderte die Angreifer.

Alva empfand Mitleid für das Tier, doch sein quälender Todeskampf verschaffte den Verteidigern kostbare Zeit. Die Eimer waren voll, sie hetzte los.

Immer wieder kämpfte sie sich durch Qualmwolken, die mit jedem Mal dichter wurden. Ihre Lunge brannte bald, und auch die Arme und Schultern schmerzten, doch weiter, immer weiter hieß es Wasser schöpfen und Feuer löschen.

Wie viel Zeit vergangen war, seit sie das Speicherhaus verlassen hatten, wusste sie nicht mehr zu sagen. Mittlerweile war der Morgen vorüber. Die Sonne strahlte vom Himmel herab, getrübt durch einen grauen Schleier aus Asche, und noch immer gaben die Angreifer nicht auf.

Als Alva sich erneut mit schweren Schritten zum Brunnen durchkämpfte, kam sie an einigen Leichen vorbei, die von den Mönchen, die sich um die Verwundeten kümmerten, einfach dort abgelegt worden waren. Den Lebenden galt ihre einzige Aufmerksamkeit, die Seelen der Toten waren nun in Gottes Hand.

Etwas ließ Alva innehalten. Sie wusste nicht genau, was es war. Das Stückchen Stoff eines braunen Wamses, das unter einem Toten hervorragte?

Mit einem dumpfen Schmatzen fielen ihr die Eimer aus der Hand auf den aufgewühlten Boden.

„Vater?“, stotterte sie.

Alva sah sich panisch um. Sie war allein. Niemand war da, um ihr zu helfen. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Arm eines Toten und zerrte ihn zur Seite. Der Unbekannte schien wie mit dem Boden verwachsen, doch schließlich sackte er zur Seite und gab den Blick auf das Gesicht des Darunterliegenden frei. Der rotblonde Bart war blutdurchtränkt. Das so vertraute Antlitz Aldars von einem Axthieb entzweigeschlagen. In der Schulter klaffte eine weitere Wunde. Vater war tot!

Alva stolperte zurück, fiel über ihren Rocksaum und landete rücklings im Schlamm. Eine Welt – ihre Welt – schien zu zerbrechen. Warum hatte sie es nicht gespürt, als er starb?

Alva sah sich um, dorthin, wo ihre Mutter gerade mit dem Bruder am Brunnen wartete. Sie wollte schreien, ihr zurufen, herzukommen. Doch alles, was sie zustande brachte, war ein trockenes Aufschluchzen, das ihrer brennenden Lunge den letzten Atem raubte und ungehört im Kampflärm unterging.

Verzweifelt reckte sie die Hand.

Eine höhere Macht ließ Ursula den Kopf wenden. Ihre Blicke trafen sich, und die Zeit schien sich zur Unendlichkeit zu dehnen. Dann packte Alvas Mutter Rothgar am Arm, zerrte ihn herum und begann zu rennen.

Genau in diesem Moment gab es einen schrecklichen Knall. Mit einem metallischen Knirschen barst das Tor aus den Fugen und riss einen Teil des Mauerwerks mit sich. Alles ertrank in Staub und Schreien, dann sprengten Reiter in den Hof, als hätte sich ein Höllenschlund aufgetan.

Alva rappelte sich langsam auf, viel zu langsam, um noch wegrennen zu können. Die Nordmänner machten mit ihren gewaltigen Schwertern alles und jeden nieder. Der Widerstand der Verteidiger am Tor brach binnen Augenblicken. Die Bogenschützen auf der Mauer mussten hilflos mitansehen, wie sich Freund und Feind im dichten Rauch mischten. Alvas Mutter lief nun schneller, doch dem Reiter, der im vollen Galopp hinter ihr herpreschte, konnte sie nicht entfliehen.

„Mutter! Nein!“

Das Schwert bohrte sich in ihren Rücken, sie prallte gegen die Schulter des Pferdes und geriet unter seine Hufe. Rothgar, die Hand der Mutter entrissen, kauerte sich zusammen und schrie aus Leibeskräften.

Alva hatte das Gefühl, wie Lots Frau im Alten Testament zur Salzsäule zu erstarren. Sie sah, wie der Reiter kehrtmachte, weil er den Schrei des Jungen gehört hatte. Das blutige Schwert in seiner Rechten blitzte auf, und Alva hätte sich am liebsten die Augen zugehalten, doch sie konnte nicht. Salzsäulen hatten keine Hände, keine Arme, kein Leben in sich. Und so stand sie einfach nur da und sah zu, wie der Krieger ausholte und Rothgar zur Seite kippte.

„Dann bring mich auch um! Bring mich um!“, schrie Alva von plötzlichem Hass und schierer Verzweiflung erfüllt.

Der Nordmann hörte sie nicht, sah sie aber wohl und trieb sein schweres Zugpferd an. Tellergroße Hufe brachten die Erde zum Beben.

Alva stand einfach da und sah ihren Tod näherkommen. Der Heide hatte seinen Bart zu zwei Zöpfen geflochten. Ein Kettenhemd bedeckte seine breite Brust. In den Ausschnitten seines Helms lagen die Augen im Dunkeln. Das Blech war mit Blutspritzern bedeckt.

Erst im letzten Moment regte sich etwas in Alva. Sie wollte nicht sterben. Nicht so. Sie würde nicht wie ein Schaf zur Schlachtbank trotten!

Der Däne holte mit seiner Axt aus, Alva ließ sich auf die Knie fallen und spürte den Luftzug der Klinge, die ihren Kopf verfehlte und nur einen Fetzen aus ihrem Umhang riss.

Der Däne schrie etwas und riss an den Zügeln. Die großen Hufe des Ackergauls gruben sich in den Boden, und er rutschte einige Schritte über den Schlamm, bevor er wendete und erneut angaloppierte. Alva sprang auf, warf dem Angreifer einen Eimer entgegen und schlug dem Pferd den zweiten vors Maul. Das Tier scheute, und wieder ging der tödliche Axthieb an Alva vorbei. Doch jetzt hatte sie keine Waffe mehr.

Verzweifelt riss sie ihr winziges Essmesser aus dem Gürtel und hielt es dem Nordmann entgegen. Der lachte nur schallend und holte erneut mit seiner Axt aus. Der Schlag traf Alva an der Schulter, und die Wucht riss sie zu Boden. Doch da war kein Blut. Entweder hatte er schlecht gezielt oder sie absichtlich mit dem stumpfen Ende geschlagen.

Der Reiter umkreiste sie. Aus ihrer Perspektive ragte er beinahe bis zum Himmel, die zottigen Beine des Pferdes waren wie Säulen. Breite Hufe spritzten ihr Dreck ins Gesicht, und der Reiter lachte noch immer. Seines Sieges vollends gewiss, spielte er mit ihr wie eine Katze mit einer halbtoten Maus.

Doch Alva hatte noch etwas Wut im Körper, die gerade ausreichte, um einen allerletzten Angriff zu versuchen. Ihr Messer konnte dem Krieger nichts anhaben, aber der ungeschützte Pferdebauch war direkt über ihr.

Sie schnellte vor, darauf gefasst, das arme Tier schreien zu hören, doch sie hatte nicht mit der Schnelligkeit des Reiters gerechnet. Er stieß ihr den Fuß in den Bauch und schlug zugleich ihre Hand mit dem Axtstiel zur Seite.

Alva fiel, und diesmal war ihr Unterleib ein einziger Hort des Schmerzes. Sie krampfte, wollte sich übergeben, doch selbst dafür fehlten ihr die Kraft und der Atem.

Der Reiter sprang vom Pferd und beugte sich zu ihr hinab. Das Messer hatte sie längst verloren.

Sie versuchte wegzukriechen, doch er fasste sie an ihrem langen weißblonden Zopf, zerrte sie zurück und dann auf die Beine. Grob packte er erst ihre Brüste und ihren Hintern, dann drehte er musternd ihren Kopf, als wäre sie ein Stück Vieh. Er quetschte ihre Wangen, bis sie den Mund öffnete, und roch an ihrem Atem, dann gab er ein zufriedenes Grunzen von sich.

Hätte Alvas Unterleib nur nicht so schrecklich geschmerzt, dann hätte sie ihm die wüstesten Verwünschungen an den Kopf geworfen. So blieben ihr nur ihre eigene Stille und ein Bittruf in Gedanken: Hab Erbarmen, Gott!

Warum hatte er zugelassen, dass die Heiden über die Christen siegten? Warum musste ein unschuldiger Junge wie ihr Bruder sterben, warum ihre Mutter, die so gottesfürchtig war wie keine andere Frau, die Alva kannte?

Sie schluchzte. Ein Zittern kam über ihren Leib. Ihre Zähne klapperten, während der kleine Innenhof in schwarzem Rauch und den Jubelschreien der siegreichen Angreifer ertrank.

Der Däne verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen und schlug ihr die Faust vor die Schläfe.

Schmerz, Schwärze und dann nichts mehr.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen

Alva kam nur langsam zu sich. Fremde Stimmen und der Klang von Schritten auf knirschendem Kies weckten sie.

Ihr war kalt. Im Halbschlaf versuchte sie, nach ihrer Decke zu greifen und sich besser zu wärmen, doch sie konnte sich nicht bewegen.

Als sie auch unter sich Kies knirschen spürte, wurde ihr langsam bewusst, wo sie sich befinden musste und dass sie nicht nach einer Nacht voller Albträume im heimischen Rodene erwacht war. Dies war nicht ihr Strohlager, weder daheim auf dem Hof noch im Gästezimmer der Mönche.

Langsam kehrten die Erinnerungen zurück, und mit ihnen kamen ohnmächtige Trauer und Schmerz.

Der hünenhafte Däne mit den zwei Zöpfen im Bart hatte sie also nicht getötet. Warum denn nicht? Warum musste sie als Einzige von jenen, die nach Saint Urban gereist waren, überleben? Die Bilder der vergangenen Nacht zogen vor ihrem inneren Auge vorüber. Vater tot. Mutter und Bruder blutüberströmt.

Was sollte nun mit ihr passieren? Würde man sie in die Sklaverei verkaufen? Denn zweifellos war sie fortan eine Leibeigene.

Alva lag am Strand, so viel wusste sie. Die Brandung war ganz nah, Wellen leckten über den Kies. Hin und wieder schlugen große Brecher an die Küste, sodass der Grund unter ihr bebte. Viele Menschen waren hier versammelt. Sie unterhielten sich in der fremden Sprache der Dänen. Es roch nach Lagerfeuern.

Alva versuchte, etwas zu sehen. Ihr Gesicht lag im Sand, die Körnchen verklebten ihr Mund und Nase und brannten ihr in den Augen. Sie drehte sich auf die Seite und versuchte dabei, so gut es ging den Schmerz zu ignorieren, der jede Bewegung zur Qual machte. Ihr Kopf tat weh, und ihr Bauch fühlte sich an, als würden darin brennende Schlangen miteinander ringen. Sie weinte und blinzelte, bis die Tränen den Sand aus ihren Augen gewaschen hatten. Langsam setzte sich ein verschwommenes Bild zusammen.

Der Morgen dämmerte, färbte den Himmel blassgelb und zeichnete die schaumige Gischt in weichen Tönen. Sie war also lange ohnmächtig gewesen. Einen halben Tag und die ganze Nacht. Am liebsten wäre Alva nie wieder aufgewacht, doch Gott hatte anders entschieden. Offenbar würde sie noch eine Weile leben müssen.

Alva erschien die friedliche Stimmung am Strand wie blanker Hohn. Krieger, die gestern noch durch das Blut unschuldiger, frommer Menschen gewatet waren, lagerten in kleinen gemütlichen Gruppen um Feuer, die fast völlig heruntergebrannt waren. Die meisten waren schon wach und unterhielten sich ruhig oder bereiteten Essen zu. Als wären sie ganz normale Menschen und keine dämonische Geißel aus dem Abgrund der Hölle, die Gott über England geworfen hatte. Über einen Pfad, der zum Kloster führte, kamen einzelne Männer herunter. Sie waren mit Säcken und Kisten beladen, die sie in verschiedenen Haufen aufschichteten. Sie plünderten also noch immer. Auch Alva lag inmitten von Diebesgut, das wurde ihr jetzt klar.

Nicht mehr und nicht weniger bin ich als der Leuchter und das Fässchen Wein neben mir. Den Mann, dem sie nun gehörte, entdeckte sie nicht, dabei war er selbst unter den Nordleuten ungewöhnlich groß.

Alva versuchte, ihre Position zu ändern, sodass sie die Schiffe sehen konnte. In der kleinen Bucht lagen über ein Dutzend vor Anker. Zwei waren auf den Strand gezogen worden. Die Köpfe von Ungeheuern zierten den Bug. Die Gefährte waren ungewöhnlich schlank, mit Rudern an den Seiten und einem einzelnen Mast in der Mitte, der bei einigen umgelegt war.

Die Schiffe wurden bereits mit Beutegut beladen. Es schien, als würden sie heute noch aufbrechen.

Mit der Erkenntnis brandete erneute Angst durch Alva.

Wo würde man sie hinbringen? Würde sie ihre Heimat je wiedersehen? Wenn sie einen Fluchtversuch wagen wollte, dann musste es bald geschehen, am besten sofort!

Wenn die Dänen nicht auch den Hof in Millweard überfallen hatten, lebte ein Teil ihrer Familie noch. Ihre beiden kleinen Geschwister waren mit der Amme zurückgeblieben. Alva würde sich um sie kümmern können, wenn es ihr nur gelang zu entkommen.

Von neuer Kraft beseelt, versuchte sie, ihre Hände in den Fesseln zu bewegen. Sie waren geschwollen und beinahe taub. Als sie die Zähne zusammenbiss und es mit Gewalt versuchte, schoss der Schmerz wie zwei Blitze durch ihre Arme bis in die Schultern. Alva keuchte.

Schritte näherten sich, ehe der Schmerz vollständig abgeebbt war, und sie wurde von hinten gepackt und hochgerissen. Die erneute Pein raubte ihr beinahe den Atem. Verschwommen nahm sie das Gesicht des Kriegers wahr, der sie gefangen genommen hatte. Sein Atem stank nach Wein und Zwiebeln, sein Bart rieb ihr durchs Gesicht.

„Aufgewacht, Liebchen“, feixte er in ihrer Sprache.

„Lass mich los.“

„Sicher nicht“, sagte er mit leichtem Akzent, „so eine hübsche Frau lasse ich mir nicht entgehen.“ Er fasste sie an den Schultern und drehte sie so, dass sie ihn ansehen musste. Alva reichte ihm gerade bis zur Schulter, und so starrte sie auf seine Brust mit dem glänzenden Kettenhemd, auf dem sich an einzelnen Stellen stumpfe Flecken zeigten. Dreck, Rost oder Blut.

Der Hüne fasste ihr Kinn und zwang ihren Kopf hoch. Seine Augen waren von einem stählernen Grau und so kalt und erbarmungslos wie die See. „Wie nennt man dich, Mädchen?“

„Alva.“

„Eine Elfe? Eher eine Wildkatze oder ein Schneefuchs.“ Er lachte und zog dabei ihren langen hellblonden Zopf nach vorn.

„Ich bin Jarl Eril Ormsson. Du gehörst mir, und du wirst noch früh genug merken, wie viel Glück du hattest.“

Er drehte sie an den Schultern um, und sie biss die Zähne aufeinander, um vor Schmerz nicht wieder laut aufzuschreien.

„Denen da war das Glück weniger hold“, erklärte er und wies auf eine Gruppe Gefangener, die sich eng aneinanderdrängten. War einer von ihnen ihr kleiner Bruder? Nein, sie musste sich geirrt haben, Rothgar war tot.

„Was … Was passiert mit ihnen?“, fragte Alva stotternd und musste sogleich an die Geschichten denken, die man sich über die plündernden Dänen erzählte. Sie beteten düstere Götter an und opferten ihnen Menschen. Deshalb hatten die Mönche von Saint Urban verboten, dass auch nur ein einziger heidnischer Händler seine Waren auf dem Markt feilbot. Die Fremden mussten sich taufen lassen, bevor sie mit Christen Geschäfte machten.

„Sie werden nach Dubh Linn gebracht und dort auf dem Sklavenmarkt verkauft. Du aber wirst mit mir heimkommen. Ich habe einen großen Hof nahe Odins Vi auf Fyn. Ich bin ein wohlhabender Mann, und man singt Lieder über meine Tapferkeit.“

Wenn man es denn Tapferkeit nennen mag, hilflose Frauen und Mönche zu erschlagen, dachte Alva, wandte sich ruckartig um und spuckte ihren Entführer an. „Mörder!“

Die Verblüffung stand dem Hünen ins Gesicht geschrieben. Er wischte sich langsam mit dem Handrücken über die Wange, packte zugleich mit der anderen Alva an der Kehle und holte zum Schlag aus.

Alva erwachte von einem reißenden Schmerz im Gesicht und dem Eindruck von Bewegung.

Eril hatte sie sich wie einen Sack Getreide über die Schulter geworfen. Zusätzlich beladen mit einer kleinen Kiste kämpfte er sich durch die Brandung. Wellen leckten gischtend zu ihr hinauf, während über ihnen Möwen kreisten. Es klang, als würden sie die Gefangenen mit ihrem Geschrei verspotten.

Alvas Kleid war bereits von dem eisigen Salzwasser durchtränkt, ihre Beine hingen bis zu den Knien im Wasser. Sie versuchte, dem Griff ihres Peinigers zu entkommen, doch seine Arme waren stark wie Taue und Eisen.

„Halt still, sonst ersäuf ich dich“, knurrte er.

Alva gehorchte. So sehr sie sich nach dem Tod sehnte, ein Ende in den eisigen Fluten der See wollte sie nicht finden.

Bald lag die Brandungszone hinter ihnen, und das Meer wurde ruhiger. Alva sah nichts außer Erils Rücken, Wasser und Gischt, bis sie das Schiff erreichten. Der Däne ließ sie mitsamt seiner anderen Last unsanft an Bord fallen und kehrte ihr dann den Rücken zu.

„Beweg dich nicht vom Fleck“, rief er und lief dann wieder in Richtung Strand zurück.

Alva setzte sich mühsam auf und sah sich um. Das Schiff war größer als alle, die sie bis dahin gesehen hatte. Zwei junge Männer, kaum älter als sie, waren mit an Bord.

Sie warfen ihr verstohlene Blicke zu, widmeten sich aber rasch wieder einem seltsamen Spiel mit markierten Stäben. Der Einsatz war klar, jeder hatte einen kleinen Stapel Beutegut neben sich, für das sicher mehr als ein Menschenleben bezahlt worden war. Auch dies waren Mörder, kindliche junge Männer mit weichen Wangen. Der eine hatte seine Waffen neben sich. Axt und Schwert. Alva zog die Beine an, kauerte sich ganz klein zusammen und versuchte, sich zu wärmen. Ihr Rock war fast vollständig durchnässt, und der eisige Herbstwind presste ihn eng an ihren Leib. Bald zitterte sie ohne Unterlass. Als Eril wieder zum Schiff zurückkehrte, schlugen klappernd ihre Zähne zusammen. Der Däne musterte sie abschätzig, machte sich an der Ladung des Schiffes zu schaffen und kehrte mit einer groben Wolldecke wieder, die er ihr überwarf.