Das Lied des Paradiesvogels - Rebecca Maly - E-Book

Das Lied des Paradiesvogels E-Book

Rebecca Maly

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Beschreibung

Dies ist die Gesamtausgabe der gleichnamigen Serie "Das Lied des Paradiesvogels - Die Polynesien-Saga" von Rebecca Maly und enthält die Einzelbände 1-5. Hamburg, 1890. Die Zwillinge Thea und Daniel sind unzertrennlich. Als Daniel vom Vater auf eine Expedition in die deutschen Südseegebiete geschickt werden soll, erscheint allein der Gedanke an Trennung den Geschwistern kaum vorstellbar. Sie fassen einen Entschluss: Wenn sie gehen, dann nur gemeinsam und so schmieden sie einen gefährlichen Plan ... Auch der junge Hamburger Reeder Leopold Saarner macht sich mit dem Schiff auf den Weg nach Polynesien. Er muss auf der fernen Insel seinen unehelichen Halbbruder finden und zu seinem Vater bringen. Aber er hat eigentlich kein Interesse daran, sein Erbe zu teilen... Der in Richtung Südsee fahrende Dreimaster beherbergt die Hoffnungen, Wünsche und Ängste der Hamburger - es beginnt eine lange Fahrt in eine ungewisse Zukunft.

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Seitenzahl: 452

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Kurzbeschreibung:

Dies ist die Gesamtausgabe der gleichnamigen Serie "Das Lied des Paradiesvogels - Die Polynesien-Saga" von Rebecca Maly und enthält die Einzelbände 1-5.

Hamburg, 1890. Die Zwillinge Thea und Daniel sind unzertrennlich. Als Daniel vom Vater auf eine Expedition in die deutschen Südseegebiete geschickt werden soll, erscheint allein der Gedanke an Trennung den Geschwistern kaum vorstellbar. Sie fassen einen Entschluss: 

Wenn sie gehen, dann nur gemeinsam und so schmieden sie einen gefährlichen Plan ... 

Auch der junge Hamburger Reeder Leopold Saarner macht sich mit dem Schiff auf den Weg nach Polynesien. Er muss auf der fernen Insel seinen unehelichen Halbbruder finden und zu seinem Vater bringen. Aber er hat eigentlich kein Interesse daran, sein Erbe zu teilen... Der in Richtung Südsee fahrende Dreimaster beherbergt die Hoffnungen, Wünsche und Ängste der Hamburger - es beginnt eine lange Fahrt in eine ungewisse Zukunft.

Rebecca Maly

Das Lied des Paradiesvogels 

Gesamtausgabe

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2019 by Rebecca Maly

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-911-4

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Kurzbeschreibung:

"Das Lied des Paradiesvogels - Die Polynesien Saga" 

Hamburg, 1890. Die Zwillinge Thea und Daniel sind unzertrennlich. Als Daniel vom Vater auf eine Expedition in die deutschen Südseegebiete geschickt werden soll, erscheint allein der Gedanke an Trennung den Geschwistern kaum vorstellbar. Sie fassen einen Entschluss: Wenn sie gehen, dann nur gemeinsam und so schmieden sie einen gefährlichen Plan ... 

Auch der junge Hamburger Reeder Leopold Saarner macht sich mit dem Schiff auf den Weg nach Polynesien. Er muss auf der fernen Insel seinen unehelichen Halbbruder finden und zu seinem Vater bringen. Aber er hat eigentlich kein Interesse daran, sein Erbe zu teilen .. Der in Richtung Südsee fahrende Dreimaster beherbergt die Hoffnungen, Wünsche und Ängste der Hamburger - es beginnt eine lange Fahrt in eine ungewisse Zukunft.

Rebecca Maly

Das Lied des Paradiesvogels 1

Die Polynesien - Saga 

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Rebecca Maly

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Arrowsmith Agentur.

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Lektorat: Barbara Krause

Korrektorat: Susann Harring

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-991-6

www.facebook.com/EdelElements/

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KAPITEL 1

Hamburg 1884

Dorothea zog die schweren, dunkelgrünen Brokatvorhänge zurück. Sofort wurde der gesamte Raum mit Sonnenlicht geflutet. Sie blinzelte mehrfach, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Die Fenster reichten von der Decke bis zum Fußboden und stammten ursprünglich aus einer Orangerie, in der vornehme Herrschaften einst exotische Pflanzen aus aller Herren Länder gepflegt hatten. Nun gehörten sie hierher, als wäre es nie anders gewesen. Vater hatte sie gebraucht gekauft und für sein Fotostudio verbauen lassen.

Ihr Bruder Daniel schätzte das natürliche Licht für seine großflächige Malerei, die er im Nachbaratelier betrieb. Dort entstanden die aufwendigen Kulissen für Vaters Porträtfotografie, für die er mittlerweile weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekannt war.

Daniel bekam Dorotheas Meinung nach viel zu wenig Anerkennung. Ihm schien das nichts auszumachen. Er ging ganz in seiner Kunst auf, ganz gleich, was andere darüber dachten.

Dorothea sah sich im Atelier um. Hier musste noch viel erledigt werden, bevor die Kundschaft kam.

Im hereinfallenden Licht tanzte der Staub wie Schwärme winziger Insekten. Sie öffnete die Fenster, um ihn von einer frischen Brise vertreiben zu lassen, und musste prompt niesen.

Mittlerweile überließ Vater es ihr hin und wieder, eine Kulisse für die Porträts auszusuchen. Heute sollte eine Familie kommen: Vater, Mutter und zwei Söhne. Dorothea ging zu einem großen, eigens angefertigten Ständer, in dem die Hintergründe aufbewahrt wurden.

Daniel hatte sein ganzes Talent in die Malereien gelegt. Es gab weite Blumenwiesen, Berglandschaften, Seen, aber auch Straßenansichten und anderes. Schließlich wählte sie die Gartenansicht irgendeines Schlosses, mit geometrisch geschnittenen Hecken und Büschen, deren lineare Anordnung der Fotografie später Tiefe verleihen würde.

Auf einer Leiter stehend, befestigte sie zuerst die Leinwand, dann einen schweren Vorhang, der diese zum Teil verdeckte und so das Augenmerk auf die Familie lenken würde. Davor stellte sie einen schlanken Tisch mit einer kleinen Karaffe und zwei Stühle. Fertig.

Sie trat zurück und musterte ihr Werk. Noch ein Stückchen zurück, bis sie neben der großen Kamera ihres Vaters stand. Beinahe zärtlich strich sie über das lackschwarze Gehäuse. Sie wusste genau, wie sie damit umzugehen hatte, wie sie Nass- oder Trockenplatten einlegen musste.

In ihren Träumen war sie eine berühmte Fotografin. Doch in der Realität würde das niemals passieren. Eher würde sie die Ehefrau eines solchen und, wenn sie Glück hatte, dort die gleichen Handlangerdienste vollbringen dürfen wie jetzt.

„Irgendwann“, flüsterte Dorothea der Apparatur zu, „irgendwann.“ Dann widmete sie sich wieder ihrer Aufgabe und brachte das Atelier so weit in Ordnung, dass die Kunden kommen konnten.

Mit einem Seufzer kehrte sie dem Raum den Rücken und folgte dem Geruch von Ölfarben durch einen schmalen Flur in das Reich ihres Bruders.

Daniel saß konzentriert an seinem Schreibtisch und schien sein Werk zu bewachen wie ein Greifvogel, der seine Beute mit ausgebreiteten Flügeln schirmte.

Eine Weile sah sie ihm zu, und es wurde ihr wieder einmal klar, wie lieb sie ihn hatte. Sie hatten von jeher alles geteilt, nicht nur den Leib ihrer Mutter. Ein unsichtbares Band schien zwischen ihnen gespannt, das sie empfänglich füreinander machte.

Auch jetzt dauerte es nicht lange, bis Daniel ihre Anwesenheit spürte. „Bist du wieder neugierig, Thea?“, fragte er, ohne sich umzudrehen. Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme.

„Darf ich schauen?“

„Du kennst die Antwort.“

Außer ihr durfte niemand seine unfertigen Bilder sehen. Während sie näher herantrat, fuhr er sich grüblerisch durchs Haar. Es war von einer Farbe irgendwo zwischen Blond und Braun, störrisch und leicht gelockt, genau wie ihres. Beide waren sie von schmaler Statur, waren sogar fast gleich groß, nur ihre Augen unterschieden sich völlig. Während Daniel mit strahlend blauen zu ihr aufsah und auf ihr Urteil wartete, waren ihre eigenen von einem warmen Braun.

Dorothea legte ihrem Bruder die Hände auf die Schultern. Unter ihren Fingern konnte sie seine Verspannung spüren. „Wie lange kauerst du denn schon hier?“

„Weiß nicht“, nuschelte er, weil er das Kinn in die Hand stützte und beinahe grimmig auf die winzige Porträtmalerei starrte.

„Du warst nicht beim Frühstück, hast du überhaupt etwas gegessen?“ Sie wusste, dass er es nicht getan hatte. „Irgendwann bist du so dünn, dass dich der Wind einfach davonweht.“

„Musst du gerade sagen, Bohnenstange“, gab er zurück und drückte ihre Hand. „Hast ja recht, gleich esse ich was. Ich muss nur eben …“

„Jaja. Das sagst du doch immer. Darf ich mal schauen?“

„Hast du doch schon“, meinte er lächelnd, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit einem Stöhnen zurück. Anscheinend merkte er jetzt erst, dass er schon viel zu lange in derselben Haltung dagesessen hatte.

Fasziniert betrachtete Dorothea das winzige Abbild eines jungen Mannes. Schwarzhaarig und dunkeläugig blickte er ihr scheinbar forsch entgegen. Sein Gesicht war gebräunt, und die Uniform ließ auf einen Seemann schließen.

Daniel reichte ihr ungefragt eine große Lupe, die er benutzte, um Details zu malen. Dorothea beugte sich konzentriert vor. Nun konnte sie das verschmitzte Lächeln auf dem jugendlichen Gesicht erkennen.

„Du bist ein Künstler, Brüderchen. Wie abenteuerlustig dieser Mann aussieht. Man meint, ihn sofort kennenzulernen, und ich habe den Eindruck, ich würde ihn vom ersten Moment an mögen.“

Daniel lachte. „Oh, das würdest du auch.“ Er zeigte ihr eine Fotografie, viermal so groß wie sein Porträt.

„Das ist er? Du hast ihn wirklich gut getroffen, aber lass Vater nicht sehen, dass du nur Fotografien erstellst, damit sie dir als Gedächtnisstütze dienen.“

„Wenn du mich nicht verrätst?“

„Niemals, bei mir ist dein kleines Geheimnis sicher. Versprochen.“

Er küsste ihr die Hand und stand auf. „Komm, lass uns etwas essen, Thea, ich sterbe vor Hunger.“

***

Leopold Saarner ging hektisch im Flur auf und ab. Er konnte es nicht mehr ertragen, wie seine Mutter schrie.

Am liebsten wäre er weggelaufen oder hätte sich die Ohren zugehalten. Seit Tagen ging das nun so.

Im Hause Saarner schlief niemand mehr. Verschiedene Ärzte gaben sich die Klinke in die Hand. Jeder von ihnen machte das gleiche betretene Gesicht. Jeder, bis auf einen Quacksalber, der für die Wunderheilung Unsummen verlangte. Dass Vater ihn nicht die Treppe hinuntergestoßen hatte, überraschte Leopold, er hätte es fast selbst getan.

Seine Nerven lagen blank, waren bis zum Zerreißen gespannt. Er konnte nicht mehr warten, wollte sich nicht mehr ohnmächtig fühlen angesichts der Leiden seiner geliebten Mama. Er hatte zu Gott gebetet, was er sonst nie tat, hatte die Ärzte angefleht, irgendetwas zu tun.

Nun war er einfach nur noch müde.

Für Mama gab es keine Rettung mehr, das war ihm mittlerweile völlig klar. Warum aber ließ das Schicksal oder Gott sie vor dem unausweichlichen Tod derart leiden?

Sie war eine so herzensgute, wunderbare Frau. Sie hatte nichts falsch gemacht, sich nie etwas zuschulden kommen lassen, außer vielleicht, ihrem Ehemann nur ein einziges Kind geboren zu haben. Aber das warf Vater ihr nicht vor.

Sie lebte ein vorbildliches Leben, war immer tüchtig, engagierte sich sogar in einem Komitee für Waisenkinder aus dem Gängeviertel, in dem die Armen wohnten.

Und nun litt sie, wie kein Mensch leiden sollte. Nicht einmal den schlimmsten Verbrechern wünschte Leopold eine derartige Pein.

Die Bauchschmerzen hatten vor drei Tagen wie aus heiterem Himmel begonnen und sich bald zu Krämpfen und Koliken ausgewachsen. Sie waren erst noch erträglich gewesen. Leopold erinnerte sich noch gut an Mamas Scherze, sie habe sich beim Kaffeekränzchen an zu viel Sahnetorte den Magen verdorben. Am Abend des ersten Tages riefen sie dann doch einen Arzt. Er gab ihr ein Abführmittel und für später Laudanum, damit sie schlafen konnte.

Sie schlief nicht, niemand tat das.

Mittlerweile half kein Laudanum mehr und auch sonst nichts.

Leopold durchmaß den langen Flur mit großen Schritten, als ihm auf einmal klar wurde, dass er schon seit einer ganzen Weile nichts mehr von ihr gehört hatte.

Schlagartig wurde ihm die Brust eng. War der Moment, den er so gefürchtet und zugleich in einem stillen Winkel seines Herzens herbeigesehnt hatte, etwa gekommen?

Schnell war er bei der verschlossenen Schlafzimmertür seiner Eltern. Als er die Hand auf die Klinke legte, hörte er sie. Mutter sprach leise und mit vom Schreien heiserer Stimme. Sie lebte!

Als Vater ebenso leise antwortete, trat er zurück, um das Zwiegespräch seiner Eltern nicht zu belauschen.

Die beiden hatten um ein wenig Zeit für sich gebeten, nachdem Vater und Sohn die ganze Nacht hindurch gemeinsam bei ihr ausgeharrt hatten. Rastlos nahm er seine unermüdliche Wanderung durch den Flur wieder auf.

Als es an der Haustür klingelte, schrie Mutter gellend auf. Leopold zuckte zusammen, dann eilte er hinab ins Erdgeschoss, um zu öffnen. Es war der Pastor der Gemeinde. Ein alter, gebrechlicher Mann, den Leopold bereits aus Kindertagen kannte. Schon damals war sein Schädel kahl, die Haut faltig und der üppige Bart grau gewesen.

Mittlerweile musste er fast achtzig Jahre alt sein. Warum starb er nicht statt der Mutter, warum durfte er doppelt so lange auf der Erde verweilen wie sie?

„Herr Erpenbek, gut, dass Sie kommen konnten.“

Draußen regnete es in Strömen, der Schirm des Pastors war triefnass.

Erpenbek schien es nichts auszumachen. Er sah Leopold mitfühlend an – mit diesem Gesichtsausdruck, den alle aufsetzten, die oft mit der Trauer anderer umgehen mussten. Der Pfarrer gab ihm die regennasse Hand und legte ihm zugleich die Linke auf die Schulter. „Meine aufrichtige Anteilnahme, Herr Saarner.“

„Sie ist doch nicht tot!“, schoss es aus Leopold heraus. „Noch nicht“, setzte er leiser nach.

„Ich werde ihr Trost spenden.“ Er trat ein und ließ sich aus dem Mantel helfen. „Was ist denn nur geschehen? Ich sah Ihre Mutter doch noch vergangenen Sonntag im Gottesdienst. Wir haben danach kurz geplauscht, es ging ihr gut.“

„Die Ärzte meinen, es sei der Darm. Etwas sei gerissen oder verschlungen. Ihr Körper vergifte sich nun selbst.“

„Der Blinddarm“, meinte Erpenbek wissend. „Er hat schon viele gute Menschen vor ihrer Zeit zu Gott gerufen.“

Wieder hallte Mutters Schrei durchs Haus. Erpenbek hörte es zum ersten Mal und wurde schlagartig blass. Gleich einem düsteren Omen begannen auf der Straße Hunde zu bellen.

„Eilen wir uns“, sagte der Pastor und umklammerte das Treppengeländer.

Leopold stieg vor ihm hinauf, musste aber bei jeder dritten Stufe innehalten, um auf den Pastor zu warten. Wenn er weiterhin so trödelt, ist Mutter tot, bevor er sie gesegnet hat, dachte er grimmig.

Leopold klopfte und trat mit dem Pastor ein. Vater sah auf, er hielt Mamas Hand, und seine Wangen waren nass vor Tränen. Als er den Gast bemerkte, wandte er sich ab, um Fassung zu gewinnen.

„Der Herr Pastor Erpenbek ist gekommen“, sagte Leopold leise und strich seiner Mutter über die Wange. In den letzten Tagen war sie um Jahre gealtert. Ihr blasses Gesicht von tiefen Furchen gezeichnet. Er dachte schon, dass sie ihn gar nicht wahrgenommen hätte, doch dann hielt sie plötzlich seine Hand fest. Aber ihr Griff war kraftlos und löste sich fast augenblicklich wieder.

Leopold sank neben dem Bett auf die Knie und schmiegte ihre Hand an seine Wange.

„Mein Junge“, sagte sie schwach. „Komm her.“

„Mama, spar dir deine Kräfte.“

„Komm“, flüsterte sie und seufzte tief.

Er lehnte sich so weit vor, dass sein Ohr ganz dicht über ihrem Mund war. „Versprich mir etwas.“

„Alles.“

„Hör auf deinen Vater, er ist ein guter Mann, und er will nur das Beste für dich. Es wird ein Tag kommen, an dem du etwas erfahren wirst, was dich vielleicht wütend machen wird. Aber denke daran, dass wir dich lieben. Wenn ich deinem Vater verzeihen kann, dann musst du es auch, schwöre es mir.“

Leopold verstand nicht, wovon sie sprach, konnte nicht einmal vermuten, worauf ihre Worte abzielten. War es etwas, was er ihr schwören konnte, ohne überhaupt zu ahnen, worum es ging? Ihr flehender Blick war deutlich. Er musste es tun. Gerade, als er ihr versprechen wollte, Vater alles zu verzeihen und immer ein gehorsamer Sohn zu sein, krümmte sie sich. Krämpfe durchliefen ihren Körper, als würde sie von einer gewaltigen Kraft durchgeschüttelt.

Leopold war wie erstarrt. Vater schob ihn zur Seite und drückte Mutter an sich, wiegte sie in den Armen wie ein kleines Kind und machte leise, beruhigende Geräusche.

Ihre Schreie verebbten zu einem Wimmern. Fast unmerklich bedeutete sie dem Pastor, zu ihr ans Bett zu treten.

Leopold wich zurück, bis er mit dem Rücken gegen einen Kleiderschrank stieß. Geräusche und Stimmen traten in den Hintergrund. Sein Kopf fühlte sich plötzlich merkwürdig leicht an. Ein dumpfer Druck lag auf seinen Ohren, als wären sie mit Watte vollgestopft, und dann war da nur noch dieses hohe Fiepen, das sich gleich einem Schrei in ihn hineinfraß.

Seine Knie wurden weich, doch nein, er durfte keinesfalls ohnmächtig werden.

Der Pastor hielt die Bibel in der einen Hand und hatte Mutter die andere auf die Stirn gelegt. Sein Mund bewegte sich, doch die Worte drangen nicht bis zu Leopold durch.

Gebannt beobachtete er, wie die Krämpfe langsam nachließen, seine Mutter immer ruhiger wurde. Dann öffnete sie die Augen noch ein letztes Mal, wie um sich von ihnen zu verabschieden. Sie strahlte nun großen inneren Frieden aus. Dann erschlaffte ihr Körper, und Daniel glaubte zu spüren, wie die Seele ihren Körper verließ.

Er meinte sie dort schweben zu sehen, ein helles Licht nur, das für einen Augenblick aufblitzte.

Endlich löste sich Leopold aus seiner Starre. Noch immer in der Stille gefangen, ging er zum Fenster, zerrte die Vorhänge zurück und riss es auf.

Die hereinströmende Luft schien Mutters Seele mitzunehmen und draußen in der Weite der Natur in eine unendliche Freiheit zu entlassen.

Fort. Sie war fort.

***

Deutsches Protektorat – Papua-Neuguinea

Der Weg vor ihm war knochentrocken. Baptiste klopfte dem Pferd mit den Fersen in die Seiten, doch die Stute schnaubte nur und legte die Ohren an. Es war brütend heiß, und in der windstillen Luft sirrten die Fliegen. Die Hufe wirbelten Staub auf, der sich hinter ihm wie eine Armee von Geistern aufrichtete.

Mutter Naian hatte ihm viele Geschichten erzählt, von Toten, die in der Welt umhergingen, weil sie den Weg ins Jenseits nicht fanden. Tote, die weit fort von der Heimat auf den Plantagen gestorben waren.

Unter der gleißenden Sonne fiel es ihm schwer, daran zu glauben. Geister, das war etwas für lange Nächte und nebelige Morgen.

Noch einmal versuchte er, die Stute anzutreiben. Sie legte die Ohren an, ließ die Zähne hörbar aufeinanderschlagen und trottete dann zügiger.

Hier grasten noch Rinder links und rechts des Weges, doch nicht allzu weit vor ihm ragte ein gleichförmiger Hain aus Kokospalmen auf. Die dunkelgrüne Wand verhieß endlich Schatten, das musste doch auch sein widerspenstiger Gaul kapieren!

Schon von Weitem konnte er die Arbeiter singen hören. Unermüdlich kletterten sie die hohen Stämme hinauf und drehten die Nüsse ab. Andere schleppten sie in Tragekörben zu einem Ochsenkarren, der beinahe fertig beladen war. Baptiste hatte seinen Zieheltern versprochen, auf der Plantage nach dem Rechten zu sehen. Das kam ihm noch immer etwas seltsam vor, war seine Haut doch beinahe genauso dunkel wie die der Arbeiter.

Endlich tauchte er in den Schatten der Palmwedel ein. Er lehnte sich im Sattel zurück, und die Stute wurde langsamer. Im gemütlichen Schritt erreichte er schließlich den Ochsenkarren und stieg ab. Die Zügel band er an einen Busch, dann ging er zu Fuß weiter. Zwischen den Palmen wuchs üppiges Gras, während es woanders schon verdorrt war. Dafür sorgten hier die Kanäle, welche die Palmen mit Wasser versorgten.

Hier war die Luft auch gleich angenehmer.

Baptiste folgte einem kleinen Trampelpfad. Er schwitzte in seinen Schuhen und hätte sie am liebsten ausgezogen. Die Arbeiter waren alle barfuß. Als er sie erreichte, hockten sechs von ihnen im Schatten auf dem Boden und teilten ein karges Mittagsmahl aus frischen Kokosnüssen und Kochbananen, die sie in der Asche eines kleinen Feuers gegart hatten.

Der Geruch weckte Erinnerungen an die bescheidene Hütte am Meer, wo er geboren worden war, an seine Mutter Naian und an die Wellen, deren Klang ihn wie ein zweiter Herzschlag begleitet hatte.

Auch er hatte als Kind oft tagelang nichts anderes zu essen bekommen als Kochbananen und hin oder wieder einen winzigen gebratenen Fisch, der zu klein war, um verkauft zu werden. Die Armut, in der sie leben mussten, hatte er nie bewusst wahrgenommen. Er wusste nur, dass er keinen Vater wie die anderen Kinder hatte, der auf das Meer hinausfuhr und Fisch fing. Sein Vater war nur eine Geschichte, die seine Mutter traurig machte, mehr nicht.

Sobald die Männer ihn bemerkten, hielten sie inne. Doch Baptiste war keiner der gewöhnlichen Aufseher, die regelrecht gefürchtet wurden. Die sechs hatten keine Angst vor ihm, obwohl sein Wort mehr galt als das der anderen Angestellten.

Aber das war Baptiste nur recht. Er hatte genauso wenig wie sie vergessen, dass er in derselben kleinen Siedlung in der Bucht zur Welt gekommen war.

Einige der Arbeiter waren seine besten Freunde. Für sie machte es keinen Unterschied, dass Baptiste der Bastardsohn eines Weißen war. Solange niemand etwas gegen seinen Vater sagte, war alles gut.

„Wie läuft es mit der Ernte, Baku?“, fragte er.

Der Angesprochene stand auf. Er war im gleichen Alter wie Baptiste, aber einen Kopf kleiner. Sie waren zusammen in die Missionsschule gegangen und – soweit er sich erinnern konnte – stets gute Freunde gewesen.

„Gut, wir haben bei Morgengrauen angefangen und sind nun fast fertig. Das dort ist der vierte und letzte Wagen.“

„Sehr gut, die Hitze ist heute übel, gebt acht, dass ihr genug Pausen macht.“

Er wusste, dass die Männer das nicht gerne hörten. Keiner von ihnen würde Schwäche eingestehen. „Es ist niemandem gedient, wenn einer von euch vom Baum fällt.“

Solche Unfälle geschahen bedauerlicherweise fast jedes Jahr. Baptiste war selbst bereits einmal abgestürzt und hatte Glück gehabt, war mit nur einem gebrochenen Arm davongekommen. Das lag bereits Jahre zurück, dennoch meinte er hin und wieder, sein Arm sei seitdem ein wenig schief.

Er wandte sich an Arnoldo, einen alten Arbeiter, unter dessen faltiger Haut sich sehnige Muskeln wölbten. Er schaffte noch fast genauso viel wie die Jüngeren, aber es fiel ihm nicht mehr so leicht. Seine Füße waren knotig und verformt von den zahllosen Stämmen, die er hinaufgestiegen war. Baptiste hatte seinen Ziehvater überzeugen können, den erfahrenen Erntehelfer zum Vorarbeiter zu machen. So musste er weniger schwer schuften und behielt sein Ansehen.

Nun koordinierte er für seinen Trupp, wann und wo geerntet wurde.

„Arnoldo, wie sieht es mit der Kopra aus? Ist das geriebene Kokos gut verpackt? Morgen soll wieder ein Schiff gehen.“

„Die Frauen nähen heute die Säcke zu“, meinte er und strich sich über den kahlen Schädel, auf dem nur noch einzelne graue Haare sprossen. „Ich denke, heute Abend, sobald es nicht mehr so heiß ist, können wir alles zum Hafen bringen.“

„Sehr gut. Dann will ich euch nicht weiter aufhalten.“ Er wandte sich noch einmal an Baku. „Sehen wir uns nachher?“

Sein Gegenüber grinste nur breit. Das war Antwort genug. Baptiste schulterte einen der Körbe, die bis zum Bersten mit grünen Nüssen gefüllt waren, und trug ihn zum Ochsenkarren. Das Gewicht auf den Schultern war vertraut. Früher hatte er darauf bestanden, auf der Plantage zu schuften wie alle anderen auch. Und auf gewisse Weise vermisste er die Arbeit hier.

Polternd fielen die Nüsse in den Karren. Baptiste griff nach einer bereitliegenden Machete und schlug einer Nuss die Spitze ab. Das Wasser darin war angenehm erfrischend. Den süßen und ein wenig mineralischen Geschmack würde er wohl niemals leid.

Die Stute war mittlerweile eingeschlafen. Als er sich ihr näherte und sie losband, gähnte sie mehrfach.

Er führte sie zu einem Bewässerungsgraben und ließ sie saufen, was er eigentlich sofort hätte machen sollen. Das Tier trank lange und geräuschvoll.

Schließlich stieg Baptiste wieder in den Sattel und ritt durch die gesamte Anpflanzung. Immer im wohltuenden Schatten der Kokospalmen und mit dem Rascheln der Wedel in den Ohren.

Je tiefer er in die Palmenhaine eindrang, desto grüner wurde es. Der Boden war mit dichter Vegetation bedeckt. An den Stämmen der alten Palmen rankten Schlingpflanzen hinauf. In der feuchten, warmen Luft wurde der Duft der Pflanzen so intensiv, dass er beinahe greifbar war.

Bedauerlicherweise gefiel die Windstille auch den Plagegeistern, und so wurden Ross und Reiter von zahllosen Fliegen und Stechinsekten umschwirrt.

Baptiste sah bei jeder Erntegruppe nach dem Rechten, genau wie er es seinem Oheim versprochen hatte. Auf der Plantage schufteten über einhundert Menschen. Fast jeder Bewohner der kleinen Siedlung in der Bucht, der alt genug dazu war. Das war schon so gewesen, als er auf die Welt gekommen war, und würde sich vermutlich auch nicht ändern. Die Jungen fingen mit zwölf Jahren als Erntehelfer an, die Mädchen je nachdem, ob sie sich noch um kleinere Geschwister kümmern mussten, etwas später. Den Frauen und Alten oblag es, die Nüsse aufzuschlagen, das Mark herauszukratzen und zu trocknen.

Als von der Küste der Klang von Kirchenglocken herübertrieb und die dritte Stunde des Nachmittags meldete, kehrte Baptiste der Anpflanzung endgültig den Rücken. Für heute hatte er seine Pflicht getan.

Die Stute schlug von allein den Pfad zum Dorf ein. Er führte über den Rücken einer kleinen Erhebung und ermöglichte einen Blick auf die Hütten aus Holz und Sagopalmblättern, die sich perfekt dem grünen Dschungel anpassten. Im Halbrund verlief er um eine Bucht aus weißem Sand. Korallenbänke ließen die Wellen weiter draußen gischtend brechen, bevor sie beinahe schon sanft an den Strand rollten und ihre ewige Reise beendeten.

Vorsichtig setzte die Stute einen Huf vor den anderen. Der steile Pfad war trotz der Hitze schlammig, und sie rutschte immer wieder aus. Baptiste nahm seinen Hut ab und fächelte sich Luft zu.

Gleich neben der Siedlung gab es einen weiten Platz, der fast zu jeder Tageszeit der brennenden Sonne ausgesetzt war. Von hier oben sah er gleißend weiß aus. Dort trocknete das Fleisch der Kokosnüsse, in feine Fasern zerrieben, zu Kopra. Ein leicht zu transportierender Rohstoff, aus dem im fernen Europa mit großen Mühlen das Öl herausgepresst wurde. Tonnen davon trockneten dort unten.

Plantagen gab es auf Papua Dutzende, und fast jede stellte Kopra für die Neuguinea-Kompagnie her. Dieser Zusammenschluss von deutschen Händlern hatte sich auf der Inselgruppe breitgemacht und beanspruchte ein riesiges Protektoratsgebiet. Kaiser-Wilhelms-Land. Gerüchten nach sollte es vielleicht bald Kolonie des Deutschen Kaiserreichs werden, aber noch war der Hunger nach Überseegebieten nicht groß genug. Baptiste hatte nur eine vage Vorstellung von dem Herkunftsland seines Vaters, doch es musste ein wahrer Wunderort sein, voller Menschen und Maschinen und technischer Neuerungen. Er hatte in Büchern von Dampfmaschinen gelesen, die sogar Wolle spinnen konnten, und die großen Frachtschiffe mit ihren stählernen Rümpfen mit eigenen Augen gesehen.

Seine eigene Welt kam ihm daher klein und rückständig vor, obwohl er nie eine andere besucht hatte.

Neben dem Platz für die trocknende Kopra gab es Unterstände aus Palmwedeln und dünnen Holzgestängen. Dort saßen die Frauen und Männer, die zu alt für die Plantagenarbeit waren. Sie spalteten die angelieferten Nüsse und kratzten das Fleisch heraus. Er grüßte im Vorbeireiten. Seine Mutter Naian war nicht dort, also lenkte er das Pferd zu ihrer Hütte. Sie stand in einem kleinen Garten, umgeben von gelblich blühenden Manioksträuchern, üppigen Bananenstauden sowie einer hoch aufragenden Papaya, und war ganz aus Holz. Die Wände bestanden aus dünnem Flechtwerk, das sich mit einigen Handgriffen entfernen ließ. In besonders heißen Nächten fiel auch der Sichtschutz, damit die Meeresbrise die Schlafenden kühlen konnte.

Baptistes Onkel hatte die Hütte gebaut, nachdem Mutter sich geweigert hatte, einen alten Witwer aus dem Nachbarort zu heiraten.

Wie immer erwachte in Baptistes Brust ein leises Ziehen, sobald er sich seinem alten Zuhause näherte. Der Geruch des Kochfeuers war vertraut, genau wie die Muster der Flechtwände.

Das stete Meeresrauschen übertönte die Hufgeräusche seines Pferdes, und so bemerkte Naian nicht, dass sie Besuch bekam. Sie saß im Schatten einiger Bananenstauden auf dem Boden und briet kleine Fische über einem Feuer aus Treibholz. Der Duft ließ Baptiste das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Er stieg ab und ging näher, dann hielt er wenige Schritt von ihr entfernt inne. Er würde gerne hier bei ihr wohnen, und doch respektierte er den Wunsch seines Vaters.

Vor vierzehn Jahren war er auf einer seiner Reisen um die Welt hergekommen und hatte dafür gesorgt, dass Baptiste nicht in der ärmlichen Siedlung, sondern bei Weißen auf einer Plantage aufwuchs. So war er als Mündel zu den Oudebooms gekommen. Es war eine Gelegenheit, die nur wenige Bastardkinder bekamen. Und er war seinem Vater dankbar.

Der Tag, an dem sie ihn weggebracht hatten, war dennoch ein immer wiederkehrender Albtraum, der ihn besonders in schwülen Vollmondnächten plagte. Als Kind hatte er nicht verstanden, warum sie ihn festhielten, warum seine Mama weinte und zugleich lächelte, als Vater ihn aufs Pferd hob. Von seinen starken Armen umfasst, ging der Ritt zur Plantage. Margarete und Ingmar Oudeboom waren zwei deutsche Auswanderer, deren Ehe kinderlos geblieben war. Sie erklärten sich bereit, Baptiste so zu erziehen, wie es sonst Weißen vorbehalten war. Er bekam einen eigenen Lehrer, Musik- und Reitunterricht. Dennoch zog ihn seine Seele immer wieder hierher, an genau diesen Ort. Als fließe in seinem Blut mehr von einer Papua als von einem Weißen.

„Habe ich doch gespürt, dass du da bist“, sagte Naian plötzlich und riss ihn aus seinen Gedanken.

Langsam wandte sie sich um, und ihre Miene war ganz Freude und Glück. Sie hatte ein rundliches Gesicht, obwohl sie eine kleine, zarte Frau war. Ihr Haar besaß noch immer den glänzend schwarzen Ton eines jungen Mädchens, und ihre Augen kannten kein Alter, besonders dann nicht, wenn ihr einziger Sohn zu Besuch kam.

„Woher wusstest du, dass ich hier bin?“, fragte Baptiste und ging zu ihr, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben.

„Großvater hat es mir verraten“, sagte sie leichthin.

„Das ist Unsinn, er ist schon seit elf Jahren tot.“

„Tot, aber nicht fort. Er wacht über uns, auch über dich, mein sturer Junge.“

Er verzog den Mund, mochte es nicht, wenn sie ihn noch immer einen Jungen nannte, obwohl er schon neunzehn Jahre alt war. Noch weniger mochte er es, wenn sie ihre Geistergeschichten erzählte. Das war Unsinn. Aber was wusste sie schon? Sie war nur einige Jahre zur Schule gegangen. Ihr Wissen war anderer Natur als seines, aber ebenso unerschöpflich wie das der Bücher im Lesezimmer der Plantage.

Er setzte sich im Schneidersitz neben sie. Auch im Sitzen überragte er sie noch um einen Kopf.

„Ich kann deinen Magen knurren hören“, sagte sie und sah ihn beinahe schon besorgt an. „Geben die feinen Leute dir nicht genug zu essen?“

„Mutter ...“ Baptiste seufzte. „Bis ich hier war, hatte ich gar keinen Hunger. Aber wenn ich dein Essen rieche, vergesse ich alles.“

„Ah … bist also doch noch mein Sohn.“

„Immer.“ Es würde sich nie etwas ändern zwischen ihnen. Nie. Auch wenn es vieles gab, was er gerne an ihr ändern würde. Zum Beispiel, dass sie nicht immer wie eine Wilde halbnackt herumlief. Auch jetzt trug sie über der bloßen Brust nur einige Ketten, ein Beutelchen mit einem kleinen Messer darin und eine Girlande aus weißen Blüten, die schon ein wenig welk waren, aber noch immer einen intensiven süßen Duft verströmten.

Um die Hüften trug sie einen Rock aus Pflanzenfasern. Sie hatte ihn selbst angefertigt, wie all ihre Kleidung. Mama weigerte sich fast immer, die Kleidung der Europäer zu tragen, außer wenn sie sich in der Mission etwas dazuverdiente. Ihrer Meinung nach war alles schmutzig und stank schnell. Von dem Waschmittel bekam sie auch noch Ausschlag.

Baptiste hielt das für Unsinn, an den sie nur glaubte, weil sie stur war. Doch diese Sturheit hatte er von ihr geerbt, und so redeten sie sich oft stundenlang die Köpfe heiß, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

Als sie ihm nun wortlos einen Bambusspieß mit einem gebratenen Fisch reichte, war an eine Diskussion oder gar Streit nicht mehr zu denken. Genussvoll zupfte er etwas von dem weichen Fleisch ab und schob es sich in den Mund. Es war saftig und scharf gewürzt.

Baptiste blickte hinaus aufs Meer, das unablässig neue Wellen an den Strand warf. Weit draußen waren Einbäume auszumachen, die zwischen den verstreuten bewaldeten Inseln klein wie Spielzeuge wirkten.

In diesem Moment konnte er sich nicht vorstellen, je von hier wegzugehen, dabei ersehnte er oft nichts anderes als genau das. Er wollte die Welt umsegeln, wie sein Vater, fremde Städte sehen und Länder, in denen es so kalt war, dass das Wasser gefroren vom Himmel fiel und man sich in die wärmsten Felle hüllen musste.

„Gehst du bald fischen?“, brach Naian das Schweigen, und er merkte erst jetzt, dass sie für sich selbst nur einen winzigen Fisch und ein paar Muscheln behalten hatte.

„Wenn das Wasser so warm ist, kommen die großen Fische nicht mehr nah genug in die Bucht.“

„Deshalb sind die anderen hinten bei der Schildkröteninsel.“ Dort gab es eine besondere Strömung, die kühleres Wasser nach oben trug und mit sich die großen Raubfische wie Thun und Bonito.

„Ich gehe noch heute und bringe dir alles!“, versprach er. „Hier, ich war doch nicht so hungrig.“

Er reichte ihr den halb aufgegessenen Fisch, und sie nahm ihn, ohne zu fragen. Sie wusste, dass er ihn geschafft hätte, aber Baptiste würde nachher in seinem anderen Zuhause noch einen gedeckten Tisch vorfinden.

„Es ist ein Frachtschiff gekommen, schon gestern“, sagte Mutter. Baptistes Herz tat einen aufgeregten Satz. „Gestern schon? Hat er … Gibt es einen Brief für mich?“

„Ach, Baptiste“, seufzte sie. „Nur weil dein Vater einmal hier war seit deiner Geburt, heißt es nicht, dass er ständig nur an seinen Bastardsohn in der Ferne denkt.“

„Sag so etwas nicht! Er hat mir geschrieben.“

„Vor zwei Jahren! Ich bin mir sicher, er hat noch andere Kinder, daheim von seiner Ehefrau, und dazu in jedem dritten Hafen eines. Deine Zukunft ist hier! Nicht da drin!“ Sie tippte ihm an die Schläfe. Er wich ihr zornig aus und war mit einem Satz auf den Beinen.

„Baptiste, ich habe es nicht so gemeint.“

„Ich geh fischen!“

„Baptiste!“

***

KAPITEL 2

„Nimm meine Kamera“, rief Vater, während Daniel missmutig zurück ins Fotostudio ging, um die Apparate auszutauschen.

Dorothea stand mit klopfendem Herzen neben ihm. Sie hatte Vater noch immer nicht gefragt, dabei wollte sie sich gar nicht ausmalen, nicht mitzudürfen.

„Vater?“, sagte sie leise und legte eine Hand auf seinen Unterarm. Viel zu oft behandelte er seine Tochter wie Luft, doch jetzt musste er ihr zuhören und ihr gewogen sein, denn Thea hatte einen Plan, der nicht schiefgehen durfte.

„Vater, hören Sie mich an, darf ich Daniel begleiten? Bitte erlauben Sie es mir, bitte!“

Er wandte langsam den Kopf und sah sie an, als sei sie ein Hund, der überraschend einen besonderen Trick gezeigt hatte.

„Was sagst du?“

„Ich möchte meinen Bruder begleiten. Bitte erlauben Sie es, es ist mein Geburtstagswunsch.“ Der war in vier Tagen, ihr Achtzehnter, und sie legte keinen Wert auf eine Feier oder Geschenke. Ein Fünkchen Freiheit war alles, was sie sich ersehnte.

Vater schüttelte unwirsch den Kopf. „Das ist nichts für eine Frau. Er wird den ganzen Tag umherfahren und zweimal in Gasthöfen übernachten müssen. Kein Ort für hübsche junge Damen aus gutem Hause. Elisabeth hat außerdem gesagt, dass du deine Handarbeiten sträflich vernachlässigst.“

„Ich nehme sie mit, versprochen. Es ist doch Frühling, so schönes Wetter. Die Gasthöfe machen mir nichts aus. Daniel ist ja bei mir. Außerdem erzählt Mutter mir bei jeder Gelegenheit, wie Sie früher gemeinsam Ausflüge und Reisen unternommen haben und wie sehr sie das genossen hat.“

Vater besaß dunkle, buschige Augenbrauen, und er hatte es zur Kunst perfektioniert, seine Stimmungen damit auszudrücken. Nun zog er sie kritisch zu einer geraden Linie zusammen.

Sie sah ihn flehentlich an und drückte seinen Arm. Offenbar wurde ihm langsam klar, wie wichtig es ihr war, denn seine sonst so gestrenge Miene wurde weicher. „Weiß deine Mutter schon von euren Plänen?“

„Nein, und eigentlich weiß Daniel es auch noch nicht“, gestand sie, während in ihrem Bauch ein wildes Kribbeln erwachte. Ihr Bruder würde sicher nichts dagegen haben. Sie unternahmen, seit sie sich erinnern konnte, immer alles gemeinsam.

„Dann solltest du sie beide zuerst fragen, und wenn sie nichts einzuwenden haben, will ich nicht so sein.“

„Danke, danke, danke“, jubelte Thea und reckte sich, um ihrem Vater einen Kuss auf die bärtige Wange zu geben. „Das werde ich Ihnen nie vergessen.“

Zwei Stunden später saß Thea neben Daniel auf dem Kutschbock von Vaters kleinem, geländegängigem Einspänner und hielt die Zügel in der Hand. Ihr Bruder ließ sie immer fahren, sobald die Eltern nicht dabei waren.

Im flotten Trab ging es aus der Stadt hinaus. Die Straßen mit ihren Kopfsteinpflastern, Fuhrwerken und Handkarren lagen längst hinter ihnen. Der Weg bestand nun bloß noch aus platt gefahrener Erde und Kieselsteinen, mit denen tiefere Löcher aufgefüllt waren. Von beiden Seiten neigte sich Gras auf den Weg, staubig vom aufgewirbelten Dreck. Auch im Trab versuchte der braune Wallach noch, daran zu zupfen.

Hier duftete es bereits nach Blumen und aufgebrochener Erde. Wenn sie über die Schulter zurückblickte, konnte sie die Stadt noch sehen. Hohe Verladekräne ragten wie seltsame Tiere zwischen den Häusern hervor, und über den Dächern hing gelblich-grau der Rauch unzähliger Herdfeuer.

Daniel seufzte und musste grinsen, als die Kutsche in ein Schlagloch rumpelte und die kräftige Federung sie beide auf und ab hüpfen ließ. Dann brach er das andächtige Schweigen, in das sie seit ihrem Aufbruch verfallen waren. „Ich verstehe immer noch nicht, wie du das wieder geschafft hast.“

Thea sah konzentriert auf die gespitzten Pferdeohren, während sie an einer Gabelung nach links abbog. Dann wandte sie den Kopf, sah ihren Bruder triumphierend an und meinte nur: „Ich habe so meine Geheimnisse.“

„Meine Schwester, die Geheimniskrämerin. Verrate sie mir, dann erfüllt Vater mir vielleicht auch meine Wünsche.“

Thea wusste genau, worauf er anspielte.

„Ich dachte, wir sagen uns alles“, hakte er nach.

„Alles?“

Er nickte ernst, der leise Spott war ihm nicht entgangen, doch er zog es vor, ihn zu ignorieren.

Thea wollte ihn nicht länger auf die Folter spannen. „Schau mal unter die Decke.“ Sie gestikulierte hinter den Kutschbock, wo immer einige Wolldecken parat lagen, um sich bei Bedarf gegen den Fahrtwind zu schützen. Skeptisch wandte sich Daniel um. Er hatte noch immer schlechte Laune, weil Vater ihm diesen Auftrag erteilt hatte. Er sollte bäuerliche Sujetfotografien machen, die ein Verlag als Postkarten und Frühlingsgrüße zu drucken gedachte.

„Das glaube ich jetzt nicht!“, stieß Daniel hervor, legte ihr einen Arm um die Schulter, zog sie an sich und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

„Ich will ja nicht drei Tage mit einem fürchterlich gelaunten Bruder verbringen.“

Fassungslos hob Daniel die Decke zur Gänze an. „Du hast wirklich meine Staffelei eingepackt? Und den großen Satz Pinsel?“

„Fertig bespannte Rahmen konnte ich leider nicht auf die Kutsche schummeln. Aber dort ist eine Rolle Leinwand, Holz und deine kleine Werkzeugkiste. Papier ist auch da und Aquarellfarben, falls du lieber ...“

„Thea, Thea, Halt.“

Seine Stimmung kippte, sie konnte es hören, aber noch mehr spürte sie es. „Du hast an alles gedacht, nur an eines nicht. Ich werde keine Zeit haben. Vaters Liste mit gewünschten Motiven ist schon jetzt kaum zu schaffen. Zum Malen werde ich nicht kommen … leider.“

„Aber ich kann doch die Fotografien anfertigen.“ Sie grinste breit. „War dir das denn nicht klar?“

„Du?“

„Natürlich ich. Wir haben doch schon öfter meine Bilder für deine ausgegeben.“

„Aber doch keine ganze Serie!“ Sein Protest klang schwach, denn er war längst überzeugt. Ihm war fast jede Trickserei recht, wenn er dafür drei Tage mit Malen verbringen konnte.

„Dann ist es abgemacht?“ Sie streckte ihm die Hand hin. Ihre Wangen brannten vor Aufregung. Als er einschlug, stieß sie einen Jubelschrei aus. Das Pferd galoppierte erschrocken los, Daniel griff ihr in die Zügel und verhinderte im letzten Moment, dass ihre kaum begonnene Reise im Entwässerungsgraben endete.

Es war Mittag, als sie ihr erstes Ziel erreichten. Gemeinsam hatten sie sich für eine pittoreske bäuerliche Landschaft entschieden. Felder rollten in sanftem Auf und Ab auf den Horizont zu. Entlang schmaler Gräben wuchsen Lilien in die Höhe, reihten sich alte, knorrige Kopfweiden. Es gab einen kleinen Weiher und grasende Rinder mit glänzendem Fell. Das war das Bild, nach dem Daniel gesucht hatte. Sie spannten das Pferd aus und banden es so an, dass es fressen konnte.

Thea half ihrem Bruder dabei, einen Rahmen zu bespannen. Sie hielt die zurechtgeschnittene Leinwand stramm, während er sie mit vielen kleinen Nägeln befestigte. Schnell strich er sie mit einer Grundierung ein, die in Sonne und leichter Brise hoffentlich schnell trocknete. Dann schulterte er die Kamera, und sie gingen los.

In der Nähe waren einige Bauern dabei, ein Kartoffelfeld von Unkraut zu befreien. Männer und Frauen arbeiteten Seite an Seite und schwangen ihre Hacken. Kinder mit Flechtkörben sammelten die herausgerissenen Unkräuter ein und häuften sie am Rand des Feldes auf.

Thea hielt einen kleinen schwarzen Rahmen hoch, um den Bildausschnitt zu bestimmen.

„Schau, die beiden Mädchen“, sagte sie und wies auf zwei Kinder, vielleicht vier und sechs Jahre alt, die am Bach Kräuter sammelten. Während der Korb des kleineren Mädchens voller gelb-weißer Blütenköpfe war, zupfte das ältere Pfefferminz und Melisse.

„Perfekt“, sagte Daniel und schien zu bereuen, dass er seine Staffelei nicht mitgebracht hatte.

„Warte hier, ich werde die Eltern suchen und fragen, ob ich fotografieren darf.“

Für ein paar Münzen waren die Leute schnell bereit, für Thea Modell zu stehen. Daniel verabschiedete sich bald, um sich seiner Leinwand zu widmen, während Thea Motiv um Motiv auf die Platinen bannte.

Die Mädchen mit ihren Körben voll blühender Kräuter. Die Bauern bei der Vesper. Zwei starke Burschen, die einen Zaunpfosten ersetzten. Eine hübsche junge Bäuerin mit flachsblondem Haar und einem roten Kopftuch, die an eine Weide gelehnt verträumt auf ein Stückchen Papier sah, das ein Liebesbrief sein könnte. Und dann noch die ganze Familie bei der Arbeit und der treue Ackergaul, der einen kleinen Jungen auf sich reiten ließ.

Genau solche Bilder wollte der Verlag, der Vater beauftragt hatte. Romantik, Naturverliebtheit, das ursprüngliche Leben auf Papier gebannt, damit Städter wehmütig seufzen konnten, wenn sie sie betrachteten.

Hätte Thea völlig selbst bestimmen können, wäre ihre Wahl auf den alten Bauern mit dem gebeugten Rücken gefallen. Seine Haut war faltig wie alte Borke, die Augen trüb und doch unendlich weise. Solche Menschen wollte sie porträtieren. Männer und Frauen, deren Gesichter Geschichten erzählen konnten und nicht nur hübsch anzusehen waren und die Vorstellungen der Kunden erfüllten.

Es war später Nachmittag, als sie alles einpackte und sich die schwere Kamera mitsamt Stativ auf die Schulter wuchtete.

Daheim in Vaters Studio durfte sie beides nicht einmal getrennt voneinander hochheben. Als drohe sie bei ein wenig körperlicher Anstrengung sofort zu zerbrechen.

Zugegeben, heute Abend würde sie sicher eine schmerzende Schulter haben.

Vorerst aber genoss sie es, das Gewicht zu spüren, das auf ihr lastete. Sie trat schwerer auf, ihre Beine fühlten sich an, als würden sie bei jedem Schritt eine besondere Verbindung mit dem Boden eingehen.

Wenn doch nur jeder Tag so sein könnte wie der heutige, dachte sie wehmütig, während sie einem kleinen Pfad durch eine Wiese folgte. Sie würde diesen Ausflug als einen wunderbaren Traum verstehen, an den sie sich auch in vielen Jahren noch erinnern würde. Ein Fünkchen Freiheit, das sie sich ergaunert hatte.

Die Erwartungen ihrer Eltern waren klar. Sie sollte lernen, eine gute Gesellschafterin zu sein und einen Haushalt zu führen, um dann einen Ehemann zu finden, der ihnen zusagte.

Mutter und Vater hatten dazu eine feste Meinung. Zwar schadete es nicht, wenn eine Frau ein wenig rechnen konnte und sich bildete. Aber nur damit sie in der Haushaltsführung kein Geld verschwendete und ihrem Mann abends eine angenehme Unterhalterin war.

Thea verbannte die Gedanken an ihre unabwendbare Zukunft. Sie wollte sich an diesem so perfekten Tag nicht die Stimmung verderben.

Mittlerweile wurde die Kamera doch ganz schön schwer. Aber sie hatte es fast geschafft. Auf der kleinen Kuppe konnte sie bereits den Einspänner ausmachen und daneben Daniel mit seiner Staffelei. Er sah aus der Entfernung sehr schmal aus. Oft vergaß er bei der Arbeit an seiner neuesten Schöpfung das Essen. Die Hose schlackerte ihm um die Beine, die Ärmel seines weißen Hemdes hatte er hochgekrempelt, die Jacke lag achtlos hingeworfen hinter ihm im Gras.

Als sie stehen blieb, um zu verschnaufen, wurde er ihrer gewahr. Er legte seine Palette zur Seite und war mit wenigen flinken Schritten bei ihr.

„Gib her!“

Ehe sie antworten konnte, hatte er schon die Kamera geschultert und lief neben ihr her.

„Du siehst glücklich aus, Daniel Klawitt.“

„Du auch, Schwesterherz.“

„Wir sollten das viel öfter machen“, seufzte sie.

Er schwieg. Beide wussten sie, dass es nur ein schöner Traum war. Daniel lehnte Stativ und Kamera an den Einspänner, dann traten sie gemeinsam vor seine Leinwand. „Wundervoll“, rief Thea aus. Kein anderes Wort fiel ihr dazu ein.

Nur schemenhaft zeichnete sich eine Szenerie aus knorrigen Kopfweiden ab. Sie wirkten wie uralte, graue Männer, die vom Frühling überrascht worden waren. Daniel hatte die Wiese in einem blendenden Grün ancholoriert und in den Himmel dramatische Wolken gemalt. „Als würden zwei Jahreszeiten miteinander ringen“, sagte sie.

„Genau das wollte ich abbilden, ich hätte es nicht besser beschreiben können.“

„Reicht dir dein Entwurf?“

„Ich denke schon, ich habe mir alles eingeprägt und kann es daheim fertig malen.“

„Wenn du keinen Käufer findest, dann hätte ich es gerne.“ Sie lehnte sich an ihn. „Als Erinnerung an heute.“

„Dann soll es dir gehören.“ Er begann zusammenzupacken. „Hast du genug Bilder gemacht?“

„Ja, ich denke, sie werden Vater zusagen. Morgen müssen wir dann ein hübsches Dorf finden oder zumindest einen Bauernhof oder eine alte Mühle.“

„Da habe ich schon eine Idee.“

Thea setzte sich auf einen von der Sonne gewärmten Findling und grub ihre Hände ins Gras, während Daniel das Pferd anspannte.

Sie hätte den Moment am liebsten festgehalten, doch er würde wie alles Schöne viel zu schnell vergehen.

***

Zwei pechschwarze Pferde zogen die Kutsche mit dem Sarg über den Ohlsdorfer Friedhof. Grell und unwirklich schien die Sonne auf die Trauerprozession herab, bis blühende Kastanienbäume ein wenig Schatten boten.

Leopold schien es, als wolle das Wetter sie verhöhnen. Bleischwer fühlten sich seine Beine an, während er hinter dem glänzenden Mahagonisarg seiner Mutter herging, der über und über mit Rosen und weißen Lilien geschmückt war, die einen süßlich moderigen Geruch absonderten.

Vater ging an seiner Seite, aufrecht und gefasst. Er hatte schon am frühen Morgen getrunken und damit für sich die richtige Medizin gefunden, den Tag zu überstehen. Leopolds Befürchtung, er wäre zu betrunken und würde Mutter auf ihrem letzten Weg blamieren, bewahrheitete sich nicht. Er hatte sich unter Kontrolle, wie immer.

Viel zu schnell erreichten sie die frisch ausgehobene Grube. Die Kutsche hielt an und mit ihr die Prozession von über hundert Menschen, die Mutter das letzte Geleit geben wollten. Sargträger in Uniform gingen in Stellung, als es Leopold wie ein Ruck durchfuhr.

„Bitte“, sagte er leise und schob einen der Männer zur Seite. Dessen leisen Protest ignorierte er. Der Träger würde schon nicht um seinen Lohn fürchten müssen.

Konzentriert passte er sich dem Gleichschritt der anderen an, trat an die linke Seite des Wagens, und als der Kutscher ein Zeichen gab, schloss er die Hände um den blankpolierten Messinggriff und hob den Sarg an. Er war überraschend schwer.

Seine Erinnerung sandte ihm ein Gaukelbild seiner Mutter, ihre schmale, zarte Statur, und seine Gedanken schlugen absurde Wege ein. Hatte man die Toten vertauscht? Trug er womöglich gerade einen fettleibigen alten Mann zu Grabe?

Die Illusion wurde so überwältigend, dass er kurz davor war, in den Sarg zu schauen.

Dann kehrte sein Schmerz zurück, und mit ihm klärte sich sein Verstand. Das Holz war schwer. Mahagoni. Mutter lag wirklich darin, und er trug sie zu ihrer letzten Ruhestätte. Er würde eine Handvoll Erde auf sie werfen, wie damals bei der Bestattung von Onkel Friedrich. Sie würde bald unter zwei Metern davon liegen. Unwiederbringlich. Unter einer tonnenschweren Last.

Seine Beine bewegten sich gleichmäßig mit denen der anderen Träger. Als sei er Teil einer Apparatur. Vorbei ging es an der wartenden Trauergesellschaft, die am Grab Aufstellung genommen hatte. Leopold hörte, wie sein Name geflüstert wurde, als sie erkannten, wer dort den Sarg trug.

Er wünschte nichts mehr, als sich neben den anderen Trägern einzureihen und mit ihnen in den Hintergrund zu treten. Doch von ihm, dem einzigen Sohn der Toten, wurde anderes erwartet.

Zitternd trat er an die Seite seines Vaters, der mit geballten Fäusten dastand und erfolglos gegen die Tränen ankämpfte.

Die folgende halbe Stunde verging quälend langsam, dennoch drang von der Zeremonie wenig zu ihm durch. Die Worte des Pastors rauschten wie Wind an ihm vorbei, während er sich vorstellte, wie es nun weitergehen würde. Das Haus war leer ohne Mutter. Sie hatte es eingerichtet, sich um alles gekümmert, was es behaglich machte. Vater und er hatten nur darin gewohnt, beinahe wie Gäste. Ohne sie schien das Haus verlassen und irgendwie grauer, als würde ihr auch das Gemäuer hinterhertrauern.

Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. Schwer wie Blei war seine Berührung. Dann trat er vor, nahm eine kleine Schaufel und warf Erde in das Loch. Leopold hatte gar nicht mitbekommen, wie der Sarg hinabgelassen wurde, doch als jetzt die Krumen darauf fielen, zuckte er zusammen.

Dann war er an der Reihe. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Vortreten, Schaufel aus der Hand seines Vaters nehmen, Erde und … Er konnte es nicht. Erdgeruch vermischte sich mit dem der Lilien.

Leopold zögerte, dann steckte er die Schaufel zurück in den kleinen Haufen Erde. Still, so still war es. Niemand schluchzte oder räusperte sich. Der Gesang der Vögel hingegen schien ihm unendlich laut. Mama hatte sie immer gefüttert, das ganze Jahr hindurch, nicht nur im Winter.

Leopold schluckte, doch seine Kehle war wie zugeschnürt, dabei hätte er ihr gerne noch etwas gesagt.

Als er sich gerade abwenden wollte, bemerkte er eine winzige gelbe Feder auf der zertrampelten Wiese. Er hockte sich hin, nahm sie in die Hand und ließ sie dann zu ihr hinabfallen. Taumelnd sank sie auf den Mahagonisarg.

***

Baptiste sträubte sich innerlich ein wenig gegen die Zeremonie. Seine Zieheltern hätten sie ihm mit Sicherheit verboten, immerhin war er getauft worden, und das hier war Sünde und Teufelswerk. Und sein Vater? Was würde sein Vater dazu sagen?

Aber er war nicht hier, er war eigentlich nie da, wenn in seinem Leben etwas Wichtiges geschah. Dies hier war wichtig, zumindest für den Teil von ihm, der Sohn seiner Mutter war. Naian war stolz auf ihn, das sah er ihr an. Sie trug ihr Festgewand, aufwendig verwebte, gefärbte Fasern aus Palmenblättern und Baumrinde, die ein Muster zeigten, das über Generationen in der Familie weitergegeben wurde. Auch Baptiste trug heute ausnahmsweise keine Hose, sondern einen knappen Schurz aus Baumrinde. Bestickte Bänder schmückten seine Oberarme, weitere Bänder mit Rautenmuster seine Handgelenke und Unterschenkel.

Die meisten Leute der Siedlung besaßen dichtes, schwarzes und fast immer krauses Haar, das sie mit Bändern und Hauben herrichteten und lang wachsen ließen.

Baptistes Haar war dunkel, doch nicht kraus, außerdem war es recht kurz. Sein Freund Baku hatte ihm geholfen, Bastbänder darin zu befestigen.

Je mehr Zeit verstrich, desto richtiger fühlte es sich an. Die Dorfältesten stimmten einen rhythmischen Gesang an, während Baptiste vor einigen geschnitzten Holzstatuetten Opfergaben ablegte. Einen frischen Fisch, einen bunten Vogel, dessen Kopf schlaff herunterhing, und eine gerade ausgetriebene Kokosnuss, die eine weite Reise über das Meer gemacht hatte und trotzdem sicher angekommen war.

Und mit einem Mal fiel es ihm nicht mehr schwer, seine Ahnen um Schutz auf dem Meer und um gute Jagd zu bitten.

Dann war es so weit. Unter den Anfeuerungsrufen der ganzen Dorfgemeinschaft schob er sein Auslegerkanu den Strand hinunter ins Wasser. Baku, der ebenfalls sein erstes eigenes Kanu geschnitzt hatte, folgte ihm, und sie lieferten sich ein Rennen bis zur Wasserlinie. Es war Schwerstarbeit. Immer wieder hielten kleine Spülsäume die rasante Fahrt auf. Jetzt nur nicht straucheln, nicht fallen. Was wäre das für eine Blamage?

Gleichzeitig erreichten sie die Brandung. Wellen schlugen hart gegen die Spitzen ihrer Kanus, zerrten an den Auslegern. Es durchfuhr Baptiste wie ein Blitzschlag, als er sah, wie sich eine der Befestigungen löste, die den schmalen Ausleger fixierten.

Bitte, bitte, halte, bis wir weit genug weg sind, dachte er und versprach den Ahnen ein weiteres Opfer, wenn sie ihm diese Peinlichkeit ersparten.

Immer stärker musste er gegen die Brandung ankämpfen, dann war er hindurch und sprang in sein Boot. Er ließ Baku den Vorsprung, fuhr nicht geradeaus, sondern ein wenig seitlich, um den Druck von der Befestigung zu nehmen.

Hinter der ersten kleinen Korallenbank hielten sie inne und sahen zurück. Die Leute am Strand jubelten ihnen zu. Baptiste reckte triumphierend das Paddel. Das herabtropfende Wasser glitzerte in der Sonne wie Perlenschnüre.

Er atmete auf. Der erste Teil der Prüfung war geschafft. Mit langsamen, tiefen Paddelschlägen näherte er sich Baku. „Warte mal“, rief er.

Sein Freund wandte sich ihm grinsend zu. „Was ist, machst du schon schlapp?“

„Ich nicht, aber ich fürchte, mein Kanu. Du hast nicht zufällig Bast dabei? Schau mal.“ Beschämt wies er auf die Stelle, wo der Bogen am Ausleger ansetzte. Beides war mit einer Nut ineinandergefügt und mit Bast umwickelt, der allerdings bei dem wilden Rennen über den Strand mit dem Muschelsand fast durchgerieben worden war. Vor lauter Anspannung hatte Baptiste nicht daran gedacht, das Boot schräg zu halten, damit der Ausleger in der Luft blieb.

„Nein, mein Freund, ich habe kein Bast oder Seil dabei, nur das, mit dem mein Lendenschurz festgemacht ist, und das bekommst du nicht. Da musst du schon die Ahnen bitten, dir zu helfen.“

Baptiste rutschte auf den Knien weiter vor und ruckelte an der Verbindung. Noch hielt sie, auch wenn bereits lange Fasern herausgerissen waren. Er würde wohl auf sein Glück vertrauen müssen.

„Können wir weiter?“

„Jaja, sofort.“ Sie würden einen ganz besonderen Fang heimbringen müssen. Baptiste kniete sich auf sein Kanu und tauchte das Paddel tief ein. Die Geister sollten sehen, dass es ihm ernst war.

Bald war er gleichauf mit Baku, sie paddelten wie ein Mann. Paddelten und suchten dabei das Wasser nach einem verräterischen Schatten ab. Aus dem Augenwinkel sah Baptiste unter sich eine bunte Unterwasserwelt vorbeiziehen. Korallen, Langusten, die wie kleine Kriegertrupps über den Boden zogen, bunte Doktorfische und Scharen silbriger Kalmare. An anderen Tagen hätte jedes dieser Wesen genügt, aber nicht heute, nicht an diesem besonderen Tag.

„Da, da, auf deiner Seite!“, rief Baku plötzlich. Dann sah Baptiste sie auch. Eine Schildkröte, schwer wie zwei Männer.

Sie schien zu spüren, dass sie es auf sie abgesehen hatten. Blitzschnell tauchte das Tier ab und brachte sich mit einigen Flossenschlägen außer Reichweite.

Baptiste entfuhr ein saftiger Fluch, und er nahm die Verfolgung auf. Haken schlagend hielt die Schildkröte auf tiefere Gewässer zu. Wenn sie die erst einmal erreicht hätte, wäre es aus, dann würden sie womöglich bis zum Abend brauchen, um wieder eine zu entdecken.

Schon brannte ihm der Schweiß in den Augen, und seine Arme begannen zu schmerzen, doch so schnell gab er nicht auf. Baku war dicht hinter ihm. Eigentlich war es seine Beute, denn er hatte sie zuerst gesehen.

„Nun hol sie dir, Baptiste!“, schrie Baku.

Seine Aufregung stieg ins Unermessliche. Er würde nur eine Chance haben. Eine einzige.

Noch einmal legte Baptiste alle Kraft in die Paddelschläge, dann war es so weit. Die Schildkröte tauchte auf, um Luft zu holen. Reckte ihren groben, mit Seepocken übersäten Kopf durch die Wellen, und genau in diesem Moment sprang er. Das Boot rutschte unter ihm weg, die Zeit schien einen Augenblick lang stillzustehen. Dann tauchte er ein, schoss vor und rammte die abtauchende Schildkröte mit der Schulter. Schmerzhaft kratzten die Seepocken über seine Haut. Er wusste, dass er blutete, noch ehe er das verräterische Rot unter Wasser sehen konnte.

Mit beiden Armen umklammerte er die Schildkröte und riss sie nach hinten. Er musste kräftig mit den Beinen treten, um aufrecht zu bleiben und das Tier ebenso in dieser Position zu halten. Baptiste hatte sich auf einen heftigen Kampf eingestellt, immerhin war die Schildkröte doppelt so schwer wie er und besaß vier kräftige, paddelartige Füße, wohingegen er nur ein wenig Wassertreten konnte, weil seine Arme den Panzer umklammerten.

Doch die Schildkröte kämpfte nicht. Vielmehr schien es, als habe sie all ihren Lebenswillen in dem Moment verloren, als Baptiste sie sich gegriffen hatte.