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Das Schicksal einer Krankenschwester im Kultviertel St. Pauli Svantje Claasen verbindet als Krankenschwester erfolgreich Beruf und Familie. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, meldet sie sich freiwillig an die deutsch-französische Front. Plötzlich findet sie sich auf feindlicher Seite wieder und muss fürchten, ihre Familie nie wiederzusehen. Der dritte Band der aufwühlenden historischen Saga um Krankenschwester Svantje Claasen für Fans der Serien "Call the Midwife" und "Die Charité". Rebecca Maly studierte Altskandinavistik und Runenkunde und war mehrere Jahre in Amerika und Deutschland als Drehbuchautorin beim Film tätig. Sie veröffentlichte eine Vielzahl an Romanen und wurde 2017 für "Die Schwestern vom Eisfluss" mit dem Delia-Preis ausgezeichnet.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover & Impressum
1 – Svantje war fassungslos. …
2 – Eine Woche lang …
3 – Als Svantje das Klinikum …
4 – Sie waren vor dem …
5 – Sie hatten ihm den …
6 – Karolines Freiwilligendienst …
7 – Richard saß wieder …
8 – … ich hatte mit meinem …
9 – Richard fühlte sich, …
10 – Das Feldbett vibrierte …
11 – »Wassili? Kommst …
12 – Über das weite, …
13 – Karoline hatte sich …
14 – Nachdem es mehrfach …
15 – Svantje schrie. Ihre …
16 – Sie schwebte … oder …
17 – Fassungslos starrte Raik …
18 – Ein leises Klopfen weckte …
19 – Seit über einem Jahr …
20 – Er hatte niemals wieder …
21 – Die Durchquerung des …
EPILOG
Svantje war fassungslos.
»Ich bleibe keinen Tag länger im Krankenhaus!«, wiederholte Friedrich energisch und klemmte sich die Krücken in die Armbeugen. Er ging so schnell voraus, dass Svantje ihn nicht mehr vor einem Sturz hätte bewahren können, falls er seine Kraft überschätzte.
Friedrich bleckte die Zähne. Es musste entsetzlich wehtun, doch er unterdrückte jeden Schmerzenslaut. Sie konnte es kaum mit ansehen.
»Du hast drei gebrochene Rippen, du kannst nicht mit Krücken gehen«, protestierte sie, wohl wissend, dass sie ihrem Mann kaum etwas austreiben konnte, wenn er es sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte.
Friedrich schwankte, dann tat er einen Schritt und noch einen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, er war blass, die grünen Augen glänzten fiebrig. »Es geht«, keuchte er.
Svantje trug seine Tasche und öffnete die Tür.
»Ich kann Vater nicht mit alldem alleinlassen«, verkündete er entschlossen. »Lager und Büros sind völlig verwüstet.«
»Das spielt keine Rolle, Friedrich! Dein Vater hätte beinahe seinen Sohn verloren! Du wärst fast gestorben. Was diese Gauner angerichtet haben, lässt sich wieder reparieren.«
»Womit er zweifellos bereits angefangen hat.« Er blieb stehen, schwer auf die Krücken gestützt. Svantje stellte die Tasche ab, sah ihrem Mann tief in die Augen und legte eine Hand an seine Wange. »Ich weiß, wie schwer es dir fällt, zum Nichtstun verurteilt zu sein. Aber wir haben Krieg, der Handel ruht. Du hast Zeit, gesund zu werden.«
Friedrich drückte ihre Hand. »Ja, du hast vermutlich recht. Und wenn es stimmt, was die Militärs behaupten, ist der Krieg schon in einigen Wochen vorüber. Gehen wir also nach Hause. Denn wenn du mich auch überzeugt hast, nicht in die Firma zu fahren, so bleibe ich trotzdem nicht im Krankenhaus!«
Seit seiner Einlieferung waren nur sieben Tage ins Land gegangen, doch für Svantje fühlten sie sich an wie eine kleine Ewigkeit. Neben der Angst um ihren Mann und der Sorge um ihre beiden gemeinsamen Kinder war sie regelmäßig zu ihrem Dienst als Krankenschwester im Eppendorfer Klinikum erschienen. Sie klammerte sich an Beruf und Familie gleichermaßen, denn die Welt um sie herum schien den Verstand verloren zu haben.
Krieg. Er war nun allgegenwärtig.
Während sie in einer Mietsdroschke heimfuhren, sahen sie Soldaten auf den Straßen. Junge Männer standen in langen Schlangen an, um sich freiwillig an die Front zu melden. Sie redeten sich die Köpfe heiß, die Begeisterung war ihnen anzusehen.
Am Tag nach dem Überfall auf Friedrichs Lager hatte Deutschland auch Belgien, von dem es zuvor immer hieß, es sei unbeteiligt, ein Ultimatum gestellt. Das Land hielt weder zur Triple Entente Russland, England und Frankreich noch zum Dreierbund aus Deutschem Reich, Österreich-Ungarn und Italien. Luxemburg wurde besetzt, sodass sich Deutschland fast auf ganzer Länge Frankreich gegenübersah. Am 3. August bombardierten die Franzosen Nürnberg, und am 4. marschierten deutsche Soldaten in Belgien ein.
Fast jeden Tag folgte nun eine neue Kriegserklärung. Erst erklärte Großbritannien dem Kaiserreich den Krieg, dann Österreich-Ungarn Russland.
»Heute hat Großbritannien Österreich-Ungarn den Krieg erklärt«, sagte Svantje mit einem lähmenden Gefühl in der Brust.
»Das hatte ja so kommen müssen.« Friedrich nahm ihre Hand und hielt sie fest. Drückte sie.
»Ich kann nicht mehr schlafen, nicht mehr klar denken, Liebster. Deutschland ist von Feinden umzingelt, und wir sind mittendrin. Was soll nur werden?«
»Es geht immer irgendwie weiter«, sagte er, stoisch wie ein Fels in der Brandung. Nicht zuletzt dafür liebte sie ihn. Er gab ihr Halt, wenn sie glaubte, von den Wogen davongerissen zu werden. »Wir haben doch bislang alles durchgestanden, gemeinsam.«
»Aber das waren friedliche Zeiten, nun versinkt alles in Wahnsinn.« Svantje blickte ihn lange an. »Dennoch … du ahnst gar nicht, wie viel mir deine Worte bedeuten.«
Die Kutsche hielt vor ihrem Haus. Die weiße, trutzige Fassade der kleinen Villa kam ihr wie eine Burg vor, und genau das brauchte sie jetzt. Eine Festung, die ihre kleine Familie beschützte. An einem Fenster erkannte sie zwei vertraute Gesichter. »Schau, du wirst schon sehnlichst erwartet.«
Friedrich sagte nichts, sondern winkte seinen Kindern, bevor er ausstieg. Als er den ersten humpelnden Schritt tat, nachdem er den Kutscher entlohnt hatte, flog die Tür auf, und Clemens stürmte heraus. Mit seinen fünfzehn Jahren war er ein ungestümes Abbild seines Vaters. Der Junge besaß nicht nur dessen edel geschnittenes Gesicht, sondern auch das dunkle Haar und die grünen Augen.
Auf Friedrichs Miene breitete sich väterlicher Stolz aus und überdeckte einen Moment lang die tiefen Furchen, die der Schmerz gegraben hatte. Die Blässe blieb.
»Vorsicht, Clemens, dein Vater hat Schmerzen.«
Der Junge hielt inne und sah fragend zum Vater, der ihn nur noch um einen halben Kopf überragte. Es musste merkwürdig für ihn sein, den Beschützer der Familie plötzlich schwach zu sehen. Clemens nahm Svantje den Koffer ab. »Den kann ich tragen«, sagte er und trug das Gepäckstück mühelos die Stufen hinauf.
In der offenen Tür stand Karoline. Wie schnell sie doch groß werden, dachte Svantje. Ihre Tochter war mit ihren neunzehn Jahren ein richtiges junges Fräulein. Das blonde, dichte Haar fiel ihr bis zur Hüfte und sah aus wie frisch gekämmt. Das war es sicherlich auch. Svantje war überzeugt, dass ihre Tochter die letzte Stunde mit Putz verbracht hatte.
Eitelkeit hieß Svantje nicht gut. In Karolines Alter hatte sie keine Zeit dafür gehabt, längst waren die Tage mit Arbeit angefüllt gewesen. Da die Mutter oft bis zur Abenddämmerung schuftete, wurde von der ältesten Tochter erwartet, dass sie sich neben der Anstellung im Krankenhaus um die kleinen Geschwister kümmerte, den Haushalt besorgte und Essen kochte.
Karoline kannte derlei Sorgen nicht. Im Haus der Falkenbergs gab es zwei Angestellte, die alles erledigten. Sie hatte noch nie gearbeitet, sondern die vergangenen Jahre eine Schule für höhere Töchter besucht. Nun bekam sie privaten Unterricht. Karoline wirkte noch ein wenig unentschlossen, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Einerseits war sie eine intelligente junge Frau, die jegliches Wissen in sich aufsog wie ein Schwamm, doch darin lag auch das Problem. Es gab so viele Möglichkeiten. Ihre Freundinnen von der Schule wünschten fast alle, den klassischen Weg zu gehen, träumten von Ehe und Familie. Von ihnen hatte Karoline auch ihre Begeisterung für Kleidung und Putz, denn viele der Mädchen kannten nur dieses Thema.
Dennoch erkannte sich Svantje in der Willenskraft und dem Wissensdurst ihrer Tochter selbst wieder, und sie hoffte, dass Karoline eines Tages einen Weg einschlagen würde, der ihr ein selbstbestimmtes und sinnvolles Leben ermöglichte.
Svantjes eigenes Leben hatte bereits im Alter von zwölf Jahren völlig anders ausgesehen. Damals war sie mit der Mutter und dem sechs Monate alten Bruder Piet nach Hamburg gekommen. Der Vater verdiente als Hilfsarbeiter in einer Werft kaum genug, um seine Familie durchzubringen, und so war Svantje mit einem Handkarren losgezogen, um Wasser zu verkaufen, das sie aus einem Brunnen schöpfte. Erst als die Mutter ebenfalls eine Arbeit fand, war genug Geld vorhanden gewesen, damit Svantje wieder zur Schule gehen konnte.
Sie war froh, dass ihren Kindern dieser Erfahrung erspart blieb, andererseits verstanden die beiden nicht, wie privilegiert sie tatsächlich waren.
Karoline zupfte am Rüschensaum ihres Ärmels. Das veilchenfarbene Kleid war ihr ganzer Stolz. Zögernd umarmte sie den Vater und hielt ihm die Tür auf.
»Mein wunderschönes Mädchen«, sagte der und strich ihr über die Wange. Svantje wurde das Herz leicht. Da war er, der vollkommene Moment, während die Welt drumherum im Chaos des Krieges versank.
Eine Stunde später saßen sie gemeinsam an der Kaffeetafel. Friedrich blätterte mit fiebrigem Blick durch die aktuelle Zeitung. Zwischen ihm und Svantje lag die gefaltete Ausgabe vom 5. August. Clemens reckte sich, um den riesig gedruckten Titel auf den Hamburger Nachrichten zu entziffern. »Was steht da, Mama?«
»Lies doch selbst«, erwiderte sie und reichte ihm das drei Tage alte Blatt.
»Welten…brand«, murmelte er. »Und was bedeutet das?«
»Na, dass die Welt brennt, du Hanswurstgesicht.«
»Karoline! Ich möchte nicht, dass du so mit deinem Bruder sprichst«, tadelte Svantje. Das Wort aus dem Mund ihres Sohnes zu hören hatte sie innerlich zusammenfahren lassen. Weltenbrand. Sie ahnte, dass es nicht nur ein reißerischer Aufmacher war, sondern eine Ankündigung dessen, was sie alle erwartete.
»Aber die Welt brennt doch gar nicht, und unsere Soldaten werden diese Franzosen im Handumdrehen besiegen«, protestierte Clemens, drückte den Finger auf die Seite und las weiter: »Hier steht: ›Kurz nach 7 Uhr erschien der englische Botschafter Goschen auf dem Auswärtigen Amt, um den Krieg zu erklären und seine Pässe zu fordern.‹ Das verstehe ich nicht. Wofür braucht er denn den Pass, um Krieg zu führen?«
Friedrich musterte seinen Sohn mit schwerem Blick. »Zum Ausreisen, Junge. Ein Botschafter ist dazu da, den Frieden zwischen den Ländern zu bewahren. Doch im Krieg wird er nicht mehr gebraucht. Also will er jetzt seinen Pass, um nach Hause zurückkehren zu können.«
»Ach so.« Clemens runzelte die Stirn und grinste schief. »Dann hätte er wohl besser nicht den Krieg erklärt, wenn er länger bleiben wollte.«
Friedrich musste trotz des ernsten Themas schmunzeln, ging aber auf den Scherz seines Sohnes nicht ein. »Ich denke nicht, dass Herr Goschen eine Wahl gehabt hat.«
Sein Blick traf Svantjes, und sie gaben einander still ein Versprechen: dass sie alles dafür tun würden, um ihre kleine Familie zu beschützen.
Es würde ein heißer Tag werden, aber noch stieg stickige Feuchte aus den Fleeten und wehte vom Hafen durch enge Straßenzeilen. Nachtwächter löschten die Gaslaternen, und das Grau der Nacht machte dem gelblichen Schimmer des heraufziehenden Morgens Platz.
Raik hatte sein Haus früh verlassen. Seine Frau lag sicher noch in den Federn, und sein Ziehsohn Jonte redete vielleicht im Traum. Das tat er oft, besonders seitdem er seine Lehrstelle bei einem Möbeltischler begonnen hatte. Früher hatte Raik manchmal Stunden damit verbracht, an Jontes Bett zu sitzen und zuzuschauen. Er war richtig vernarrt in den Jungen, der mit seinen beinahe sechzehn Jahren nun langsam zum Mann heranreifte. Wie so oft hatte Raik auch heute die Zeit gefunden, ihn einige Augenblicke im Schlaf zu beobachten und ihm das dunkle Haar aus der verschwitzten Stirn zu streichen.
Das Familienleben war auch nach zwölf Jahren ein hohes Gut für ihn. Zwar mangelte es ihm nicht an leiblichen Kindern, doch er hatte noch nie mit ihnen zusammengelebt und tat es auch jetzt nicht.
Seit vielen Jahren führte er eine leidenschaftliche Affäre mit Hilde Degen, geborene Harkenfeld, die im Augenblick sein viertes Kind in sich trug. An dieser Liaison hatte auch seine Ehe mit der Witwe Johanna Stade nichts ändern können. Obgleich er Johanna verehrte, blieb die Anziehungskraft, die Hilde auf ihn ausübte, ungebrochen.
Doch seine erste, aber unerwiderte Liebe war Svantje gewesen. Keine hatte jemals an sie heranreichen können, nicht einmal seine Ehefrau.
Er lebte also weder mit seinen leiblichen Kindern zusammen noch mit der Frau, die einst den größten Platz in seinem Herzen besetzte. Und doch hatte er sich bis vor wenigen Tagen einen glücklichen Mann genannt.
Nun lag der Krieg wie ein Schatten über allem, auch wenn Hamburg selbst noch unberührt war. Raik zog die Schultern hoch, schob die Hände in die Hosentaschen und lief schneller. Längst waren die Zeiten vorbei, als er jeden Morgen und Abend auf eine Fähre angewiesen gewesen war, die ihn auf die andere Hafenseite zur Werft in Steinwerder brachte. Der Tunnel unter der Elbe war 1911 eröffnet worden.
Raik erreichte die Landungsbrücken. Morgensonne schimmerte rötlich auf dem Kuppelbau, unter dessen Dach es in die Tiefe ging. Schon bald würden sich die Arbeiter hier dicht an dicht drängen, doch er war so früh unterwegs, dass er nur fünf andere vor sich hatte. Leichtfüßig trabte er die Treppe hinunter und strich beiläufig über die Zierkacheln an den Wänden. Der Aufzug, mit dem Automobile, Fuhrwerke und Handkarren in die Tiefe transportiert wurden, ratterte und quietschte. Die Fahrzeuge hatten ihn vom ersten Tage an fasziniert, doch in den langen Tunnelröhren war vor allem ihr Gestank gegenwärtig. Raik hätte den Mief liebend gerne gegen Pferdeschweiß und Mist getauscht, das roch zwar auch nicht gut, aber es zog einem nicht die Lungen zusammen.
Die hellen Kacheln des Tunnels hatten unter der Decke Ruß angesetzt, der immer seltener entfernt wurde. Der einstige architektonische Stolz der Stadt wurde mit den Jahren zu etwas Gewöhnlichem.
In regelmäßigen Abständen waren in Kopfhöhe große Zierkeramiken angebracht, viele zeigten Fische und erinnerten den Vorbeilaufenden daran, dass sich über ihm gewaltige Wassermassen befanden. Riesige Frachtkähne, Schaufelraddampfer, Jollen, schwerfällige Barken und elegante Segler zogen über ihnen dahin. Der Elbtunnel war eine Meisterleistung der Ingenieurskunst und flößte Raik großen Respekt ein. Für ihn war der Bau eines der Wunderwerke Hamburgs.
Schnellen Schrittes überholte er einige andere Arbeiter und eine ältere Frau mit einer schwer beladenen Kiepe auf dem Rücken. »Moin, Frau Wede«, grüßte er und tippte sich an die Kappe. Sie winkte ihm, und schon war er vorbei. Die Witwe Wede kannte er bereits seit Jahren. Niemand machte bessere Pasteten und Teigtaschen. Sie bereitete sie in der Nacht vor und verkaufte sie dann am Morgen vor den Werken an die Arbeiter. Zwar war nur wenig Fleisch in der Füllung, aber sie waren gut und würzig und machten satt.
Auf der anderen Seite erklomm er zügig die Stufen, nahm immer zwei auf einmal. An der Oberfläche empfing ihn grelle Morgensonne. In der Luft hing der scharfe Geruch von erhitztem Stahl. Hämmer dröhnten. Gewaltige, dampfgetriebene Sägen sorgten für ein monotones, gleichbleibendes Hintergrundgeräusch.
Zwei große Werke und einige kleine lagen zwischen der Harkenfeld-Werft und dem Ausgang des Elbtunnels.
Vor dem Werkstor warteten bereits drei hoch beladene Pferdewagen. Sie lieferten, was bei Harkenfeld nicht selbst hergestellt wurde. Tonnenweise Niete und Bolzen, gegossene Metallteile und Planken.
Raik drückte sich an ihnen vorbei und wandte sich nach rechts. Vorbei an der gewaltigen Halle 1, vorbei an Schiffsskeletten aus Stahl. Sein Reich befand sich in Halle 2, nur ein Sechstel so groß wie die benachbarte. Das Tor stand bereits auf. Holzduft umfing ihn wie eine freundliche Umarmung.
»Ah«, seufzte er und ließ seinen Ranzen von der Schulter gleiten. Der enthielt neben seinem besten Kleinwerkzeug frisches Brot, ein Stück Käse, Speck und zwei Äpfel. Genug, um auch den anstrengendsten Tag zu überstehen.
Raik war einer von drei Meistern, die in Halle 2 Dienst taten. Sie fertigten Kapitänsbrücken, Taljen und Blöcke, überarbeiteten Masten und Bäume, stellten Einzelteile her und statteten Kojen mit hochwertigen Möbeln und Maßanfertigungen aus. Raik liebte diese Arbeit, denn jedes Schiff war ein klein wenig anders. Die Holzarbeiten mussten stets angepasst und individualisiert werden. Seitdem er seinen Meistertitel besaß, konnte er die eintönigeren Aufgaben an Gesellen und Helfer abgeben.
An diesem Morgen war es in der Halle überraschend still. Dabei fingen viele Kollegen früh an, da sich der Bau in der Sommersonne schnell aufheizte.
Raik winkte einen Jungen zu sich, den er vor einigen Monaten von der Straße aufgelesen und als Helfer eingestellt hatte. Die Entscheidung hatte er nicht bereut. Dafür, dass er ein Dach über dem Kopf bekommen hatte, ackerte der zehnjährige Klaas von früh bis spät und versuchte zu helfen, wo er konnte. Raik steckte ihm ein Stück Rührkuchen zu, das vom Vortag übrig war. »Da hest du.«
»Dank ok, Meester«, nuschelte er und biss gierig hinein. Der Junge hatte Augen wie der Julihimmel, Sommersprossen und blonde, dichte Locken, die seinen Kopf aussehen ließen, als wüchsen dort Hobelspäne.
Raik sah zu, wie Klaas Bissen um Bissen herunterschlang und dabei kaum eine Pause machte. Es war, als würde er in einen Spiegel sehen, der ihn viele Jahre zurücktrug. Auch er hatte auf der Straße gelebt, bis ihm das Schicksal in Svantjes Vater einen guten Samariter gesandt hatte. Dem Alten verdankte er alles. Seinetwegen war er kein Gauner geworden, sondern ging ehrlicher Arbeit nach.
»Wo sind alle?«
»Oh.« Klaas fuchtelte mit einer Hand.
»Schluck erst mal, Jung«, sagte Raik schmunzelnd.
Der wischte sich mit dem dreckigen Ärmelsaum über den Mund. »Weten Se nich Bescheed? Olav geiht nu Russen erschießen und Derk ok.«
»Die haben sich freiwillig gemeldet? Twee Gesellen? Und sind zu feige, mir das ins Gesicht zu sagen?«
»Hebben se wirklich nix vertellt?« Der Junge runzelte die Stirn und aß das letzte Stückchen Kuchen, dann leckte er sich die Finger. »Vielleicht hatten se Schiss, Meester. Die weten ja, wie Se zum Krieg stehen. Jeder weet hier, dass se mit den Sozialisten bei den Franzosen waren.«
»Um mit unseren Brüdern eine friedliche Lösung zu suchen.«
»Dass Se deFranzlüü Brüder nennen, sollten Se aber keenen hören lassen.«
Raik tat so, als wolle er Klaas eine Kopfnuss verpassen. Der duckte sich und lachte. Er hatte den ehemaligen Straßenjungen noch nie lachen gehört, und so bekam diese Situation trotz ihrer Schwere etwas Heiteres.
Gemeinsam mit anderen Gewerkschaftlern und Vertretern der Sozialistischen Partei war Raik knapp fünf Wochen zuvor nach Paris gereist, um eine friedliche Lösung für den schwärenden Konflikt zwischen den Ländern zu suchen, eine, die von der linken Arbeiterschaft getragen wurde. Doch es war alles umsonst gewesen, die nationalistischen Kräfte hatten gesiegt.
Tage nach dem Attentat von Sarajevo waren die Menschen in allen Großstädten des Kaiserreichs auf die Straße gegangen, um für den Frieden zu demonstrieren. Hunderttausende. Auch Svantje und ihr Friedrich waren dort gewesen. Das war nach Raiks Rückkehr aus Paris. Sie hatten sich nur kurz gesehen, dann trennten sich die Gruppen von Bürgern und Arbeitern wieder. Das war auch gut so gewesen, denn Raik und seine Jungs waren nach Auflösung der Kundgebung noch mit den Nationalisten aneinandergeraten. Als Feiglinge und Vaterlandsverräter waren sie beschimpft worden, hatten es erst eine Weile erduldet und den Bürschchen dann bewiesen, dass die linke Arbeiterschaft ordentlich austeilen konnte.
Was hätte er nur dafür gegeben, wenn die Staatsoberen ihre Großmachtsfantasien statt mit Haubitzen mit Fäusten ausgetragen hätten.
»Un wat nu, Meester?«
Raik zog sich die Kappe vom Kopf und schlug sie gegen den Oberschenkel. »Jetzt schauen wir, wie wir de Arbeid auch ohne diese beiden Dööskoppen gestemmt bekommen.«
Der Krieg mit Belgien war von der Obrigkeit als eine Nebensache abgetan worden. Nicht mehr als ein Scharmützel, ein Fliegenschiss verglichen mit der erwarteten Konfrontation mit Frankreich. Sie sollten durchmarschieren, kaum auf Widerstand stoßen, die Grenze überwinden und rasch Geländegewinne machen, bevor sie auf die massiv befestigten Städte trafen. Frankreich sollte bezwungen werden, bevor der Krieg mit Russland erst richtig begonnen hatte, damit das Kaiserreich sich nicht in einem Zweifrontenkrieg aufrieb. Wäre es nach dem Schlieffen-Plan gegangen, hätten sie jetzt bereits vor Paris gestanden. Aber dort waren sie nicht. Tatsächlich waren sie noch nicht einmal in Frankreich.
Ohne sein Pferd anzuhalten, nahm Richard eine Röhre aus seiner Satteltasche, zog eine Karte aus gewachstem Papier heraus und rollte sie auf dem Mähnenkamm seines Wallachs auseinander. Sie befanden sich auf einer schnurgeraden Straße irgendwo im kaum besiedelten Nirgendwo Belgiens. Eichen säumten in regelmäßigen Abschnitten beide Straßenseiten. Die Felder waren abgeerntet, das Gras sommertrocken, gelb und kurz, die Begleitgräben sauber und ausgeräumt. In der Luft schwirrten Fliegen, träge taumelten Schmetterlinge umher, Bremsen plagten Männer und Pferde.
Hier konnte vermutlich nicht einmal eine Maus einen Hinterhalt legen.
Sie waren bislang kaum auf Widerstand gestoßen, so weit hatte sich der Plan Schlieffens immerhin als richtig erwiesen.
Richards Dragoner bildeten gemeinsam mit Pionieren die Vorhut. Ständig sandte er Kundschafter aus, und stets kehrten sie ohne beunruhigende Meldungen zurück. Noch. Richard fühlte sich, als bohrten sich Blicke wie Nadelstiche in seinen Rücken. Sein Wallach blieb ruhig, alle anderen Pferde ebenfalls. Das hieß, bis auf die ständig schlagenden Schweife und zitternden Flanken, mit denen sie versuchten, die Stechinsekten abzuwehren. Die Dragoner, anfangs schweigsam, plauderten nun, als befänden sie sich auf einem Ausritt.
»Das ist kein Sonntagsausflug, Männer«, mahnte Richard, rollte seine Karte zusammen und trabte an, bevor er sie ganz im Futteral verstaut hatte.
Die neue, feldgraue Uniform kratzte, wo sich Schweiß im Kragen festgesetzt hatte. Im leichten Sitz rieb er sich den Nacken. Das Pferd passierte Feldgeschütze, die flammend in der Sommersonne glänzten, da sie brandneu waren. Zu glänzend, zu neu, dachte Richard. Am Abend würde er Weisung geben, sie zu tarnen. Spätestens wenn sie nicht mehr gut sichtbar über offene Felder zogen, konnten sie es sich nicht mehr leisten, Spiegelsignale an den Feind zu senden.
Von dem sogenannten Feind hatte er bislang allerdings kaum etwas gesehen. Belgien war neutral gewesen, bis das Deutsche Kaiserreich den Krieg erklärt hatte. Der Durchmarsch war eine Notwendigkeit, um Frankreich so hart wie möglich zu treffen. Die Zivilbevölkerung floh, und soweit es die Meldungen zeigten, gab es auch seitens der Armee keinen nennenswerten Widerstand.
Während viele seiner Dragoner sich bereits in Frankreich sahen, erwartete Richard bald eine Änderung. Solange es von Belgien keine Kapitulation gab, würden sie kämpfen. Und sie mussten es bald tun. Richard ging davon aus, dass sich die belgische Armee nicht kampflos zurückziehen würde, sondern für eine große Gegenoffensive sammelte.
Vier Kundschafter kehrten in einem gemütlichen Galopp zurück. Die Pferde sollten geschont werden, solange es möglich war. Richard machte sich keine Illusionen. In einer offenen Feldschlacht wären sie Kanonenfutter.
Die Männer salutierten. Ihr Bericht war kurz. In zwei Kilometern würden sie auf ein Dorf treffen. Es gab mehrere Bauernhöfe, von Mensch und Vieh keine Spur. Dort würden sie Quartier nehmen und die Pioniere die Überquerung eines kleinen Flüsschens für den Hauptteil der Armee vorbereiten.
Es dämmerte, als sie den Ort erreichten. Richard ritt mit seinen Dragonern an den zugewiesenen Platz, teilte Aufgaben ein und kümmerte sich dann selbst um sein Pferd, auch wenn er es nicht musste. Die Soldaten bauten Zelte auf, viele beschlossen, in der lauen Augustnacht darauf zu verzichten und unter dem spätsommerlichen Sternenhimmel zu schlafen.
Schließlich betrat Richard das verlassene Wohnhaus, das ihm und vier anderen Männern des Stabs als Quartier zugeteilt worden war. Um neun war Lagebesprechung, bis dahin hatte er Zeit.
Zögernd nur betrat er das fremde Heim, das die Eigentümer in aller Hast verlassen hatten. Die gute Stube sah nicht anders aus als eine deutsche. Es roch nach Herdfeuer, angebratenen Zwiebeln und Speck. Die Menschen hatten ihr Heim so verlassen, wie sie es wiederfinden wollten. Richard betrachtete Fotografien auf einem Kaminsims. Ein junges Paar, das scheu in die Kamera lächelte. Daneben dasselbe Paar, die Gesichter ernster, vom Leben gezeichnet, aber glücklich. Die Frau hielt einen Säugling auf dem Arm, vor ihnen aufgereiht standen drei Kinder, die Tochter mit einem Puppenwagen, der ältere Sohn mit einem Welpen an der Leine.
Draußen begannen jämmerliche Schreie. Richard zuckte zusammen, seine Schultern verkrampften, die Hand ging zur Waffe. Dann erinnerte er sich wieder, dass die Pioniere Schweine gefunden hatten, die von den Bauern in einem nahen Erlenbruch versteckt worden waren.
Sie würden gut essen heute Abend.
Die Schreie ebbten einer nach dem anderen ab. Wenn nur ein paar Schweine fehlten, nachdem die Armee durchgezogen war, konnten sich die Bauern glücklich schätzen. Noch war der Krieg jung und die Soldaten nicht verroht.
Richard sah sich in dem Haus um, während an den Fenstern Schwalben vorbeizischten wie kleine rauchfarbene Geschosse. Er entdeckte das Elternschlafzimmer, jenes, in dem alle Kinder die Nächte verbrachten, und schließlich ein sehr kleines, dem der Geruch des Alters anhaftete. Er lud sein Gepäck ab und riss das Fensterchen auf. Hier würde er schlafen. Er kannte den Stab nicht und erlaubte sich den Luxus, ein Zimmer zu wählen, das er nicht teilen musste. Er setzte sich auf das schmale Bett. Gestärkte Spitzenwäsche, ein Nähkorb daneben. Vermutlich hatte hier die Großmutter ihren Platz gehabt.
Den Blick aus dem Fenster gerichtet, nahm Richard sein Schreibzeug hervor und dachte an seine Heimatstadt Hamburg.
Er zögerte, dann schrieb er:
Verehrter Freund Arnd,
Arnd war ein falscher Name, doch er wagte nicht, den richtigen zu verwenden. Wassili und er hatten sich schon Monate zuvor auf diese kleine Finte geeinigt.
Von draußen hörte er seine Männer scherzen und tief lachen, ein wenig unsicher vielleicht, nervös. Darüber trug der Sommerwind den Duft von Erde, Heu und, heimlich darunter verborgen, Schweineblut herein. Der metallische Atem des Krieges schickte einen Vorboten.
Nun finden wir uns auf den unterschiedlichen Seiten eines Spiegels. Ich fürchte, es wird für eine lange Zeit so bleiben, und wünsche Dir alles Gute. Der Besuch bei Deinen Verwandten kam genau zum rechten Zeitpunkt, meine ich. Hoffentlich nutzt Du die Gelegenheit, länger zu bleiben und alte Bande zu vertiefen.
Das Schicksal findet mich im Norden von Belgien, in einem winzigen Örtchen, dessen Name Dir nicht geläufig sein wird. Noch fliehen Volk und Armee vor uns, doch ich fürchte und ersehne zugleich den Tag, an dem wir auf den Feind treffen. Schon jetzt zermürbt es mich. Die Ungewissheit ist schlafraubend, die Männer sind gereizt, und mit jedem Kilometer werden sie unaufmerksamer, da hilft all mein Mahnen nichts …
Ein Geräusch, so leise, dass er es kaum hörte und es mehr wie ein Zupfen in seinem Bauch zu spüren war, ließ ihn innehalten. War das ein Schuss? Ein ferner Kanonenschlag? Richards Hals war plötzlich ganz trocken. Er stand auf, trat ans Fenster und sah nur Feld um Feld. Er schluckte. Dachte an Wassili, den Russen, einen Mann, dem wider allen Anstands sein Herz gehörte.
Ein weiteres Hindernis war zwischen ihnen erwachsen. Zusätzlich zur Heimlichkeit, zusätzlich zur Widernatur ihrer Empfindungen. Nun waren sie auch noch Feinde, denn Deutschland und Russland waren im Krieg. Was konnte noch hinzukommen? Falls das Schicksal noch eine weitere Feindseligkeit ersinnen könnte, sie würden sie zu spüren bekommen, das war gewiss.
Richard faltete den angefangenen Brief zusammen, packte sein Schreibutensil und verstaute es. Noch einmal sah er aus dem Fenster und spähte nach Feindesbewegungen, doch das Land war wie ausgestorben. Still, zu still, selbst die Schwalben schwiegen.
Der Angriff kam am frühen Morgen. Schüsse aus dem Hinterhalt. Wachposten fielen, bevor überhaupt klar war, woher die Waffen abgefeuert wurden.
Richard, bereits dabei, sein Pferd zu satteln, zurrte hastig die Gurte fest und ritt mit zwanzig Dragonern los. Als er sich dem Flüsschen näherte, an das der Bauernhof angrenzte, war alles in wildem Aufruhr. Sechs tote Pioniere lagen im Gras, zwei weitere bluteten, saßen aber aufrecht. Einer war schlohweiß, stotterte und wies mit ausgestrecktem Arm auf die andere Uferseite. Dort flüchteten vier Männer zu Fuß. Zwei Pioniere waren ihnen auf den Fersen. Auf dem frisch gepflügten Feld erschwerten die Erdschollen den Lauf.
Ehe Richard den Befehl geben konnte, preschten seine Männer bereits durch die Furt, das Ufer hinauf und im vollen Galopp hinter den Flüchtigen her. Säbel blitzten in der aufgehenden Sonne. Blutrot.
Eine Falle, schoss es Richard durch den Kopf. Er sah seine Männer schon in Sperrfeuer geraten. Sie waren vor belgischen Heckenschützen und französischen Sondereinheiten gewarnt worden. Doch es geschah nichts. Die Reiter überholten die Pioniere, wurden von ihnen angefeuert und verkürzten die Distanz zu den Flüchtenden blitzschnell.
Als Richards Wallach die Uferböschung hinaufsprang, fächerten die Reiter auf und griffen an. Es war ein wildes Hacken und Stechen. Kein einziger Schuss fiel.
Als Richard den Schauplatz erreichten, machten seine Männer Platz. Ihre Wangen waren gerötet, in den Augen blitzte eine Mordlust, die er so noch nie an ihnen bemerkt hatte. Zwischen den Hufen beinahe panischer Pferde lagen die verrenkten Körper von vier Belgiern. Der Kleidung nach zu urteilen Zivilisten.
Richard sprang aus dem Sattel. »Gelände sichern«, rief er, nicht erwähnend, dass die Männer seine Order nicht abgewartet hatten. Er drehte einen der Toten um und schrak zurück. Vierzehn, fünfzehn Jahre vielleicht. Sommersprossen, kindliche Züge, ein dünnes Bärtchen aus einzelnen Haaren, halber Flaum noch. Zu seinen Füßen lag ein Junge, der niemals erwachsen werden würde. In seiner Schulter klaffte ein blutiger Spalt, im Arm ein weiterer.
Auch die anderen Kämpfer nur Kinder. Das waren keine Franc-tireurs, Mitglieder des französischen Freikorps oder belgische Partisanen, vor denen sie gewarnt worden waren.
»Als hätten sie heimlich die Gewehre ihrer Väter genommen«, sagte ein Dragoner erschüttert. Er hielt seinen Säbel noch in der Hand. Von der Klinge tropfte Blut auf die taufeuchte Erde.
Vielleicht war genau das geschehen. Jugendlicher Leichtsinn, der nicht einsehen wollte, dass die Erwachsenen die Höfe dem Feind kampflos überließen. Richard fühlte betäubende Kälte in sich einkehren. Er begrüßte sie, denn sie würde ihm helfen zu ertragen, was in den nächsten Wochen und Monaten auf sie zukam.
»Es waren vielleicht nur Jungen, aber diesen Jungen ist es gelungen, sechs unserer Männer zu erschießen. Hiermit!« Er riss eine alte, rostige Flinte aus toten Fingern. »Hiermit!«, wiederholte er zornig und hielt die Waffe so nah, dass die Soldaten zurückwichen.
»Verstanden, Herr Rittmeister.«
»Was?«
»Die Männer waren nachlässig.«
»Es war ein verdammtes, blutiges Lehrstück für uns. Sehen wir zu, dass wir kein weiteres erleben müssen.«
Eine Woche lang war Svantje daheimgeblieben, um bei Friedrich zu sein und ihn zu umsorgen. Zwar war er nicht derart eingeschränkt, dass ihm nicht auch die Hausangestellten hätten helfen können, doch Svantje fühlte sich einfach wohler damit, an seiner Seite zu sein. Sie hätte ihn beinahe verloren. Jede Nacht träumte sie davon, wie sie ihn gefunden hatte, halb totgequetscht unter dicken Balken. Erst in jenem Moment war ihr wirklich klar geworden, wie sehr sie Friedrich liebte und dass sie ihn brauchte wie die Luft zum Atmen. Sie wollte bei ihm sein, den Kopf auf seine Brust legen und sein kostbares Herz ganz vertraut schlagen hören, seiner Stimme lauschen, ihn berühren. Sich immer wieder versichern, dass er noch da war.
Es war nun zwei Wochen her, dass Unbekannte, getrieben von übereifriger nationaler Gesinnung, Friedrichs Lagerhaus und Büro verwüstet hatten.
Während sein Vater eine erfolgreiche Reederei betrieb, hatte sich der Junior auf den Handel mit Luxusgütern spezialisiert, die er ohne Zwischenhändler aus Russland einführte. Als sich die politische Lage in den vergangenen Monaten zuspitzte, hatte er versucht, neue Vertriebspartner zu finden, doch seine Bemühungen kamen zu spät. Die Vermummten hatten Büroräume verwüstet und versucht, Papiere in Brand zu stecken und die Lagerbestände zu vernichten, indem sie Kisten und Bündel in das Fleet warfen, das hinter dem Gebäude verlief. Friedrich überraschte sie bei ihrem Tun und hätte darüber beinahe sein Leben verloren.
Begraben unter schweren Holzregalen fand Svantje ihn schließlich und befreite ihn. Es war ein Wunder, dass er noch lebte. Wäre das Regal nur etwas anders gestürzt, hätte es seinen Schädel zertrümmert.
Es würde Monate dauern, bis er wieder ohne Krücken und Stock gehen konnte. Auch wenn Svantje es ihm niemals sagte, sondern nur dachte, wenn sie ihn ansah, ihm tief in die Augen blickte: Der Krieg würde ihn ihr nun nicht mehr nehmen können. Friedrich war kampfuntauglich, er würde keine Waffe in die Hand nehmen, niemanden töten müssen.
Noch fraß die Mobilmachung nur die jungen Männer von der Straße, doch der Krieg war gierig und würde seine Arme bald auch nach älteren strecken.
Friedrich würde er nicht bekommen.
Gemeinsam waren sie in das Büro der Falkenbergs gefahren. Svantje hatte geholfen, halb verbrannte Akten durchzusehen und Ordnung im Chaos zu schaffen, während Vater und Sohn über ihre Zukunft berieten.
Für eine Weile würde es keinen Osthandel mehr geben, Friedrichs Geschäftszweig stand still, wie gelähmt. Auch der Fernhandel litt. Sein Plan, russische Güter über neutrale Länder einzuführen, war dahin. Belgien war nun ebenfalls Kriegsschauplatz, und über Norwegen zu importieren wurde seit dem Kriegseintritt Großbritanniens schwierig. Die britische Seeblockade ließ allenfalls noch kleine Fischerboote und Frachtschiffe passieren.
Bald würden die Menschen keine Seiden und Pelze mehr brauchen, sondern Dinge des täglichen Bedarfs. Die Wirtschaft Europas, bis vor wenigen Wochen eng verflochten, traf nun überall auf Grenzen und Blockaden.
Vater und Sohn diskutierten nächtelang, doch einfache Lösungen präsentierten sich nicht. Sie mussten für eine Weile mit dem auskommen, was das Lager hergab. Die Preise stiegen schon jetzt, und da es sich bei den Beständen ausschließlich um Luxusgüter handelte, sah auch Svantje kein Problem darin, den Kunden mehr Geld für ihre Käufe abzunehmen.
Als sie nun nach einer Woche zu Hause wieder zur Klinik ging, kam ihr die Stadt verändert vor. Die Euphorie des schnellen Sieges war gekommen wie ein Sturm und genauso schnell vergangen. Auf den Litfaßsäulen drängten sich neue Plakate in den Vordergrund. Neben Werbung und Konzertankündigungen hingen Propagandadrucke, die junge Männer aufriefen, sich freiwillig zu melden, um an der Front Heldentaten zu vollbringen.
Svantje las sie mit einem Widerwillen, der an Übelkeit grenzte. Das flaue Gefühl verschwand erst, als sie das Klinikum betrat und der vertraute Geruch von Reinlichkeit in ihre Nase drang. Seife, Lauge und Essig.
Sie zog sich um und ging in das Büro von Doktor Schawacht, ihrem Vorgesetzten und Förderer. Sie hatten schon vor über zwanzig Jahren während der Choleraepidemie zusammengearbeitet, und Svantje konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn er irgendwann die Klinik verließ und sie nicht mehr jederzeit auf seinen klugen Rat vertrauen konnte.
Mittlerweile sah man ihm das Alter an. Sein üppiger Vollbart war nun schlohweiß, die Brillengläser über die Jahre immer dicker geworden. Komplexe Operationen überließ er nun Jüngeren, weil er seiner Sehkraft und manchmal auch seinen Händen nicht mehr vertraute. Andere Männer wären zu stolz gewesen, es einzugestehen, doch das war nie seine Sorge gewesen. Für ihn stand das Wohl seiner Patienten immer an erster Stelle.
»Frau Falkenberg, ein Licht geht auf, wenn Sie hereinkommen«, sagte er charmant und erhob sich langsam.
»Die Freude ist ganz meinerseits, Doktor. Macht der Rücken wieder Probleme?«
»Wenn nur das Alter nicht wäre.« Er lachte, und um seine Augen sprossen tausend Fältchen. »Geht es Ihrem Mann besser?«
»Den Umständen entsprechend. Es sind keine Komplikationen zu erwarten.«
»Gut, gut. Sie haben gefehlt, es gibt einige Entwicklungen, die ich mit Ihnen besprechen möchte, setzen Sie sich.«
»Mit Verlaub, erst kümmere ich mich um Sie.«
»Ich hätte nicht darum gebeten.«
Svantje blickte zur Tür, sie war geschlossen, weder Stimmen noch Schritte waren zu hören. Wenn sie es vermeiden konnte, wollte sie nicht in einer vermeintlich verfänglichen Situation gesehen werden.
Sie trat um den großen Schreibtisch herum, umarmte den Doktor, verschränkte dann ihre Hände über seiner Wirbelsäule und drückte mit kurzen, kräftigen Impulsen zwei Wirbel zurück. Ein praktischer Handgriff, den sie vor einigen Wochen von einer anderen Schwester gelernt hatte. Im Rücken des Doktors knackte es vernehmlich. Er stöhnte auf und musste sich dann einen Moment lang an ihr und seinem Schreibtisch abstützen. »Sie sind ein Engel.«
»Ich habe Ihnen wehgetan.«
»Nur kurz.« Er ließ die Schultern kreisen, drehte vorsichtig den Oberkörper und setzte sich dann. »Das macht mir für die nächsten zwei Tage das Leben leichter.«
»Und damit ist nicht nur mir gedient.« Svantje lächelte und bot ihm an, den Handgriff jederzeit zu wiederholen, wenn es nötig war.
»Wir haben drängendere Probleme, Frau Falkenberg. Die britische Seeblockade.« Er beugte sich vor, musterte sie unter buschigen Brauen und sprach leise weiter. »Meine Annahme war falsch. Die Arzneimittel werden nicht knapp, weil sie an der Front benötigt werden – es gibt sie einfach nicht mehr. Viele unserer Tabletten und Ampullen kommen von der Firma Borroughs Wellcome & Company. Davon wird nichts mehr eingeführt. Nichts! Die Behörden rationieren die Vorräte streng, wir bekommen derzeit keine Antwort auf unsere Anfragen.«
Svantje überschlug im Kopf, wie viel sie gemeinsam mit den Doktoren Schawacht und Grahmer beiseitegeschafft hatte. Aus einer Befürchtung des erfahrenen Arztes heraus hatten sie schon vor Monaten begonnen zu hamstern und einen geheimen Vorrat angelegt. Wenn die Anzahl der Patienten nicht sprunghaft stieg, würden sie fast ein Jahr damit auskommen, und so lange sollte der Krieg angeblich gar nicht dauern. »Gottlob haben Sie zu handeln gewusst.«
Er tat ihre Worte mit einer raschen Handbewegung ab. »Ich habe mit unserem hauseigenen Apotheker gesprochen. Es fehlt dennoch an allem. Sie importieren keine Chinarinde mehr, Opium, Rhabarber, Aloe – nichts.«
»Eventuell hat mein Schwiegervater in seinem Lager noch etwas, er betreibt einen Import mit allerlei Exotika.«
»Und er würde an das Klinikum verkaufen?«
»Wenn ich ihn darum bitte.«
»Aber das löst unser Problem auf Dauer nicht. Es müssen Alternativen her, Frau Falkenberg. Die Apotheker müssen sich auf heimische Heilpflanzen und ihre Handwerkskunst rückbesinnen. Reinsubstanzen und synthetische Mittel haben für viele Jahre die Natur ersetzt. Ich weiß, dass Sie dazu für Ihr Buch geforscht haben.«
»Geforscht nicht, ich habe nur nach einfachen Mitteln gesucht, für die arme Bevölkerung. Tees und Extrakte, mit denen sie ihre Leiden lindern können, ohne Geld aufzuwenden.«
»Und genau das brauchen wir. Ich stelle Sie unserem Apotheker Herrn Helmstedt vor. Er sagt selbst, dass er sich in den vergangenen Jahren viel zu sehr auf vorgefertigte Präparate verlassen hat. Geben Sie ihm eine Liste mit Büchern, die haben Sie ja sicherlich, und dann können Sie sich Ihrer eigentlichen Aufgabe widmen.«
»Ich? Aber warum ich? Wird er denn mit einer Frau zusammenarbeiten wollen?«
Doktor Schawacht lachte zum ersten Mal an diesem Tag. »Seine rechte Hand ist seine Frau, und die Tochter kommt ihr nach. Gottlob ist er ein fortschrittlicher Geist. Von Ihnen wünsche ich mir, alle Abteilungen zu besuchen und sich genaue Listen geben zu lassen, was in nächster Zeit benötigt wird und was sich einsparen und ersetzen lässt. Dann arbeiten wir gemeinsam mit dem Apotheker einen Plan aus, welche Mittel in welcher Reihenfolge herzustellen sind.«
Svantje schwieg. Sie verkniff sich die Frage, warum diese Aufgabe ihr zufallen sollte, denn sie kannte die Antwort. Sie wusste genau, was in ihrem geheimen Versteck gelagert war, und konnte entsprechend genau koordinieren, was Priorität hatte. Sie fühlte sich von dem Vertrauen geehrt, doch dann dachte sie mit neuer Bestürzung an die nächsten Monate. Doktor Schawacht verteilte seine eigenen Aufgaben nach und nach an Grahmer und sie. Er hielt also trotz des Krieges an seinem bereits länger gefassten Plan fest. »Sie wollen wirklich in den Ruhestand.«
»Ich bin fast siebzig, Frau Falkenberg. Irgendwann ist es genug, sosehr ich meinen Beruf liebe. Ich bin müde.«
»Das verstehe ich, auch wenn ich es nicht hören möchte.«
»Ich habe auch später noch jederzeit ein offenes Ohr für Sie, und in Doktor Grahmer habe ich einen engagierten und fähigen Nachfolger.«
»Das stimmt«, sagte sie leise. Dennoch bedauerte sie die Entwicklung. Schon als Schwesternschülerin hatte sie bewundernd zu Doktor Schawacht aufgesehen. Er hatte sie stets unterstützt und gefördert. Sie zweifelte nicht daran, dass es noch schwerer gewesen wäre, ihren medizinischen Ratgeber zu veröffentlichen, hätte er kein gutes Wort eingelegt und sogar das Vorwort geschrieben.
Nun sollte es also ausgerechnet in der größten aller Krisen ohne ihn gehen. Sie nahm sich fest vor, ihn nicht zu enttäuschen und sich seines Vertrauens würdig zu erweisen. Gemeinsam mit Doktor Grahmer würden sie es schaffen.
»Ein Geschenk von einem Geschäftskunden«, sagte Walter gut gelaunt und stellte einen großen Karton vor den Kindern ab. Erst dann begrüßte er Hilde mit einem Kuss auf die Wange.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Wirst du sehen. Sie packen sicher sofort aus.« Er legte ihr den Arm um die Mitte. Ihr jüngerer Sohn Johann stieß einen begeisterten Schrei aus und reckte ein kleines Artilleriegeschütz in die Höhe, zwei Blechpferdchen schaukelten in den Geschirren.
Hilde schluckte. Ich werde nichts sagen, ich werde nichts sagen, ich werde nichts sagen, wiederholte sie still und rang sich ein Lächeln ab, um ihren Jungen nicht zu enttäuschen.
Durch ihre Familie verlief ein tiefer Graben. Walter befürwortete den Krieg, verdiente die Werft der Harkenfelds, die er de facto zur Hälfte leitete, doch sehr gut daran.
Hilde hingegen war jegliche Gewalt zuwider. Davon hatte es in ihrem Elternhaus schon genug gegeben. Zwar hatte ihr Vater sie nur selten geschlagen, doch die Familie kompromisslos beherrscht und seine Tochter benutzt wie eine Figur im Schachspiel.
Auch Jahre nachdem er unter der Erde lag, reichte sein Schatten noch weit. All seine Kinder waren typische Harkenfelds, ihr älterer Bruder Richard konnte ebenso stur und herrisch sein, wenn er ein Ziel verfolgte, wie auch Hilde und ihr jüngerer Bruder Florian, der die Werft nun mit Walter als Berater leitete. Der Jüngste kam am meisten nach dem Vater, und Hilde hoffte insgeheim, er würde sich noch ändern.
»Du kennst meine Meinung«, sagte sie leise. Während Walter mit einem kindlichen Ausdruck im Gesicht zusah, wie sein jüngerer Sohn sich von dem einundzwanzigjährigen Bruder Heinrich dabei helfen ließ, Schachtel um Schachtel auszupacken und die kleine Armee zu einer Schlachtformation zusammenzusetzen.
»Es gibt sogar Flugzeuge«, rief Johann aus. Er war eigentlich zu alt für dieses Spielzeug, aber die perfekten Miniaturen schlugen ihn in den Bann. Er reckte Hilde den Doppeldecker entgegen und hielt in der anderen Hand ein Panzerschiff, wie es in der Werft gebaut wurde. Jetzt verstand sie, warum Walter dieses umfangreiche Geschenk bekommen hatte.
Sie seufzte, strich sich über den Bauch. »Ich setze mich ins Wohnzimmer, Kinder, ich habe müde Beine.«
»Danke«, flüsterte Walter ihr zu, und sie wusste genau, worauf er sich bezog. Sie hatte Johann die Überraschung nicht kaputt gemacht, indem sie gegen das martialische Spielzeug wetterte oder es ihm gar verbot.
Mit schweren Schritten schlurfte sie durch den Flur. Jeder Junge wünschte sich derzeit solches Spielzeug. Der Krieg war längst in den Kinderzimmern angekommen. Es war normal. Wie sollte sie rechtfertigen, es ihm wegzunehmen? Außerdem war er ein Junge, und die spielten nun einmal mit Soldaten und Kriegern. Sie musste an ihren Bruder Richard denken, wie er als Kind Überfälle auf ihre kostbare Puppenstube gemacht hatte, auf seinem Steckenpferd sitzend und einen Ritter in der Hand.
Wenn ihre Eltern nicht hinsahen, und das hatten sie selten getan, war auch Hilde einer von den wilden Rittern gewesen. Mit Holzpferd und kleinem Schwerter hatte sie sich an Richards Seite gestellt und wilde Kriegsschreie ausgestoßen, bis die Kinderfrau aufgeregt angerannt kam.
Sie schmunzelte, während sie sich in ihren Sessel fallen ließ.
Doch das Lächeln verging ihr, als sie wieder an Richard dachte, wie er heute war. Sie sah ihn nun ohnehin sehr selten, und jetzt hatte ihn der Krieg verschluckt. Sie wusste nicht viel. Sein Regiment war mitten in der Nacht per Zug an die Grenze gebracht worden. Nun kämpfte er irgendwo in Belgien oder auch schon in Frankreich. Sie zweifelte nicht daran, dass er ein guter Soldat war und ein hervorragender Stratege, doch eine Gewehrkugel konnten diese Eigenschaften nicht aufhalten.
War das Nächste, was sie von ihm hören würde, womöglich eine Todesnachricht?
In einigen Tagen würden die ersten Kriegsversehrten von der Front zurückkehren. Niemand wusste, wie viele sie schicken würden und wie schwer sie verwundet waren. An den Frontabschnitten gab es sogenannte Verbandsplätze, an denen die Männer erstversorgt wurden. Im sicheren Hinterland wurden außerdem angeblich mehr und mehr Lazarette eingerichtet.
»Schicken sie uns die Soldaten direkt von der Front oder aus den Lazaretten, Frau Falkenberg?«, wollte eine Schwesternschülerin wissen, die gemeinsam mit Svantje Betten in einen freigeräumten Nebentrakt schob. Der kleine Saal war bislang als Lagerort für altes Gerät und Mobiliar genutzt worden, nun richteten sie ihn als ersten Krankensaal für Kriegsversehrte ein. Es ging zu wie in einem Bienenstock. Mittlerweile war alles herausgeschafft worden, und zwei Mädchen wischten den Boden auf Hochglanz.
Während sie die ersten Betten hereinschoben, spannten andere Seile, um anschließend mit Tüchern einen Behandlungsbereich abzutrennen.
»Die Medikamentenschränke dorthin!«, rief Svantje, ließ das Krankenbett stehen und eilte zum Hausmeister und seinem Helfer, die gerade einen großen, abschließbaren Metallschrank hereinschleppten. Svantje hatte das Gefühl, überall zugleich sein zu müssen, dabei hing es nicht allein an ihr, die Vorbereitungen zu treffen. Doktor Grahmer war genau in diesem Moment dabei, in zwei Nebenräumen Behandlungszimmer einzurichten, und Doktor Schawacht hatte es übernommen, Medikamente für diesen Bereich einzuteilen und die fehlenden aus ihrem Geheimvorrat zu ergänzen.
»Oberschwester?«
Sie fuhr herum. Die nächsten Betten kamen. Sechzig Stück insgesamt. »Dorthin. Beginnen Sie hinten links, und so eng wie möglich stellen. Drei zu jeder Seite, der Mittelgang bleibt frei.«
Der Hausmeistergehilfe tippte sich an die Stirn, und los ging die Prozession von Betten, Paravents und kleinen Tischen. Es war heiß an diesem Augusttag, und die schwüle Luft, die durch die offen stehenden Fensterflügel hereinströmte, brachte kaum Linderung. Svantje wischte sich die Stirn ab, dann zupfte sie ein zusammengefaltetes Zettelchen aus der Schürze. Die Liste darauf war schier unendlich.
»Katharina!« Sie winkte die Schwesternschülerin zu sich. Das Mädchen von knapp fünfzehn Jahren war im ersten Lehrjahr. Sie war zart wie eine Elfe und wirkte, als würde ein laues Lüftchen sie bereits davontragen können. Die äußere Erscheinung passte kaum zu dem energischen, zupackenden Geist, der sie in Zukunft zu einer hervorragenden Krankenschwester machen würde. »Was soll ich tun, Frau Falkenberg?«
»Wir gehen in die Wäschekammer. Bring einen Wagen mit, vielleicht schaffen wir es in ein paar Gängen. Schau hier, das fehlt noch.« Sie zeigte ihr die Liste. Mit gerunzelter Stirn überflog Katharina die Aufstellung der benötigten Laken, Handtücher, sterilen Binden und vielem mehr. »Das ist eine Menge.«
»Und dabei wird es nicht bleiben. Ab jetzt werden sie jede Woche Verwundete von der Front schicken.«
Es war Nachmittag geworden, als Svantje mit einem Stapel Bücher unter dem Arm die Kellerflure des Klinikums betrat. Trotz der angenehmen Kühle brach ihr der Schweiß aus. Svantje verharrte einen Moment und lehnte sich an die Wand. Einen Augenblick nur verschnaufen und die Gedanken sammeln. Ihr verspätetes Mittagessen hatte sie so überhastet heruntergeschlungen, dass es sich anfühlte, als habe sich der letzte Bissen in ihrem Hals verkeilt.
Minuten später klopfte sie an eine Tür.
»Herein«, klang eine angenehme Tenorstimme. Sie hörte Gläser klirren. Doktor Helmstedt stand an einem langen, gekachelten Tisch, auf dem komplizierte Glasapparaturen aufgebaut waren. Mehrere bläuliche Flammen erhitzten Flüssigkeiten. Der Apotheker war ein schlanker Mann in der Mitte seiner Jahre. Von seinem dünnen Haupthaar lenkte ein gepflegter, dunkler Backenbart ab. Um seinen schmalen Mund waren tiefe Falten eingegraben, als würde er ihn beständig vor Konzentration anspannen.
»Herr Helmstedt, entschuldigen Sie meine Verspätung.«
»Das macht doch nichts. Schwester Falkenberg, nehme ich an? Sie haben dort oben sicher alle Hände voll zu tun.«
Er streifte dunkelbraune, feste Handschuhe ab und nahm den Bücherstapel entgegen. Durch eine schmale Brille überflog er die Buchrücken. »Die kann ich wirklich gut gebrauchen.«
»Das freut mich.« Svantje betrachtete neugierig die Apparaturen. »Einige habe ich mehrfach gelesen.«
Der Apotheker gab ihr die Hand. »Ich freue mich, Sie hierzuhaben, Doktor Schawacht war des Lobes voll. Er sagte, Sie seien in unser kleines Komplott eingeweiht und würden mir auch hin und wieder assistieren?«
»Gern, sooft es meine Zeit zulässt. Die Herstellung von Arzneimitteln interessiert mich wirklich sehr. Besonders jene, die einfach zu machen und für die Ärmsten der Bevölkerung besonders wichtig sind.«
»Dann sind Sie hier genau an der richtigen Adresse. Meine Tochter ist mir sonst eine unerlässliche Hilfe. Sie werden Sie noch kennenlernen. Eine patente junge Frau, wie Sie. Ich habe sie losgeschickt, um Salbenfett zu bestellen. Bis dahin würde ich mich über Ihre Hilfe freuen.«
Mit leiser Aufregung schlüpfte Svantje in einen hingehaltenen Kittel, während der Apotheker sie in eine rege Fachplauderei verwickelte.
Doktor Schawacht hatte recht gehabt. Doktor Helmstedt war ein Kollege nach ihrem Geschmack. Noch nie hatte ein Vorgesetzter sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit auf Augenhöhe behandelt. Es würde eine Freude sein, mit ihm zusammenzuarbeiten und von ihm zu lernen.
Der Krieg war nach nur drei Wochen zur Gewohnheit geworden, und das erschreckte Richard mehr als die wenigen Auseinandersetzungen, an denen seine Dragoner bislang teilgehabt hatten. Sie verdienten allenfalls die Bezeichnung Scharmützel. Die belgische Armee zog ab, bevor sie echten Feindkontakt hatten. Einmal waren sie in einem Waldstück auf eine Nachhut getroffen. Es kam zu einem kurzen Feuergefecht, in dem die Dragoner ein Pferd verloren und ein Mann kampfuntauglich geschossen wurde. Die Belgier verloren zwei Männer, zwei weitere wurden gefangen genommen. Eine Brücke brannte vor ihren Augen nieder, außerdem mehrere noch nicht abgeerntete Getreidefelder.
Nun rückten sie in der Stadt Löwen ein. Die belgische Armee hatte sich am Vortag zurückgezogen. Die Garde Civique war angeblich aufgelöst worden, die Waffen hatte die Armee nach Antwerpen mitgenommen.
Es war der 20. August, als Richard die Stadt mit seinen Dragonern und weiteren Verbünden erreichte. Löwen war ein hübscher kleiner Ort mit liebevoll gepflegten Wohnhäusern, gekehrten Gehwegen und kleinen Geschäften. Doch über allem lag der Atem der Furcht.
Die Bürger, die sich geweigert hatten, ihre Heimat zu verlassen, verbargen sich. Sie lugten hinter zugezogenen Gardinen hervor oder drückten sich in schmalen Gassen herum. Überall an Häuserwänden und Alleebäumen waren Bekanntmachungen angeschlagen. Darauf stand in drei Sprachen, dass jeder Bürger, der trotz Verbot eine Waffe trug, sofort erschossen würde.
Richard versuchte, seinen Gedanken keine Gelegenheit zu geben, unbequeme Pfade zu beschreiten. Er wollte nicht darüber nachdenken, was diesen unbescholtenen Leuten widerfuhr, wollte sich nicht vorstellen, wie sein Leben aussähe, wenn der Krieg nicht nach Löwen, sondern nach Hamburg gekommen wäre, und tat es doch die ganze Zeit.
Er wandte sich im Sattel um und sah zurück. Seine Dragoner ritten in Reihe zu vieren. Ob die Offiziere im Stab genauso dachten wie er? Oder die einfachen Soldaten? Er versuchte, in den Gesichtern zu lesen. Einige plauderten, lachten gar, doch die meisten schienen eine Maske der Gleichgültigkeit zu tragen, hinter der sie ihre kostbaren Gefühle verwahrten.
Sie nahmen auf einem großen Feld vor der Stadt Quartier. Pferde und Männer waren gut versorgt, Plünderungen unter Strafe verboten.
Täglich strömten nun Tausende weitere Soldaten in die Stadt, während sich der Großteil der ersten Armee, wie im Schlieffen-Plan vorgesehen, eilig weiter gen Westen bewegte. Jeden Morgen und jeden Abend ritt Richard mit anderen Offizieren in die Stadt, um Befehle einzuholen und die neuesten Kriegsentwicklungen zu erfahren.
Auf dem Rückweg am Morgen des 25. lenkte Richard sein Pferd durch den Ort, in dem mittlerweile fünfzehntausend deutsche Soldaten Quartier genommen hatten. Eine nervöse Unruhe lag über den Straßen und Gassen. Müßiggang tat den Soldaten nicht gut, die sich die Zeit mit Würfeln und Kartenspiel vertrieben. Jeder erwartete, dass es bald weiterging.
Richard hatte die anderen zum Feldlager zurückkehren lassen, während er die Zeit nutzen wollte, um sich ein wenig umzusehen. Nun saß er im Sattel und blickte zum beeindruckenden Turm der Kirche Sint-Pieter hinauf. Der gotische Prachtbau strahlte in der Spätsommersonne fast weiß, als könne ihm der Krieg nichts anhaben, als berühre ihn das Treiben auf den Plätzen und Straßen nicht. Richard hielt vor dem westlichen Portal. Es war mächtig wie eine Festung, doch durch die filigranen Steinbögen zugleich leicht und erhaben.
Er machte sein Pferd an einem Geländer fest, bat einen Soldaten achtzugeben und trat durch die schwere Tür ein. Im Inneren sah er zum ersten Mal mehrere Dutzend Bürger Löwens auf einmal. Sie saßen auf den Bänken und beteten still. Richards Gegenwart wurde sofort bemerkt. Feindselige Blicke trafen ihn, und er wurde sich seiner Uniform nur allzu bewusst. Richard versuchte, die Ablehnung nicht an sich heranzulassen, und ging am Seitenschiff entlang, betrachtete die bunten, meterhohen Glasfenster. Das Hauptschiff ragte so weit hinauf, dass er sich klein und unbedeutend fühlte. Blicke vertrieben ihn aus der Nähe des Altars.
Schließlich entzündete er vier Kerzen. Eine für seinen verstorbenen Vater, mit dem er sich nie versöhnt hatte, eine für seine Schwester Hilde, eine für die Soldaten, denen er in nächster Zeit auf dem Feld gegenüberstehen musste, und eine für Wassili.
Er wartete auf ein Zeichen, irgendetwas, das ihm bewies, vor Gott zu sündigen, doch es geschah nichts. Er warf Münzen in den Opferstock, sog ein wenig von dem kühlen Weihrauchduft ein und wandte sich dann zum Gehen.
Draußen empfing ihn gleißendes Licht. Mit zusammengekniffenen Augen lief er die Treppenstufen hinunter und zu seinem Wallach, der das Metallgitter ableckte, an dem er angebunden war, als plötzlich Schüsse erklangen. Das Pferd sprang erschrocken zur Seite, Richard zuckte zusammen, und in die Soldaten auf dem Platz kam Bewegung. Sie machten sich gegenseitig auf den Schuss aufmerksam, doch noch blieb alles ruhig. Vielleicht hatte jemand übermütig seine Waffe abgefeuert, oder es war ein Signal gewesen.
Richard nahm die Zügel kurz und schwang sich in den Sattel. Dann lauschte er wie die anderen. Hoffentlich würde alles ruhig bleiben. Hier waren zu viele Soldaten, zu viele Zivilisten. Wenn sich nur einer falsch verhielt, drohte eine Katastrophe.
Sein Wunsch wurde nicht erhört, denn nun erhob sich ein lang gezogener Schrei. Jemand litt, vielleicht einen Häuserblock entfernt, Qualen. Richard hoffte noch immer auf einen Unfall, vielleicht beim Reinigen einer Waffe.
Wieder Schüsse, eine Salve diesmal.
Womöglich eine standrechtliche Erschießung? Nein. Die Schüsse gingen weiter, nun unregelmäßig. Befehle wurden gebrüllt. Die Soldaten auf dem Platz eilten an die Waffen, Spielkarten landeten achtlos auf dem Boden.
Richard gab seinem Pferd die Sporen. Er musste zu seiner Einheit! »Aus dem Weg!«, schrie er, als das Gedränge immer dichter wurde, und zwang sein Pferd vorwärts. Es stieß gegen Soldaten, riss den Kopf hoch, zwängte sich in Lücken, wo eigentlich keine waren.
Sein Herz pochte schmerzhaft, die graue Felduniform klebte an seiner Haut, als er endlich die Straße vor sich sah. Er hätte mit den anderen Offizieren zurückreiten sollten.
Er galoppierte an, hetzte den Wallach über rutschiges Kopfsteinpflaster. Bald hatte er das Zentrum hinter sich. Immer wieder verstopften Soldatenlager kleinere Plätze. Niemand schien genau zu wissen, was vor sich ging.
Dann kamen ihm plötzlich Infanteristen entgegen, die verwundete Kameraden trugen. Sie bluteten stark, einer sah aus, als sei er bereits tot.
Der vorderste Mann signalisierte Richard mit erhobener Hand, durchzuparieren. »Herr Rittmeister, da ist kein Durchkommen.«
Richard lenkte sein tänzelndes Pferd neben ihn. »Was ist geschehen?«
»Heckenschützen, überall. Wir haben fast zwanzig Mann verloren. Angeblich rücken die Belgier aus Antwerpen vor, und zur gleichen Zeit greift die Bürgerwehr hier aus dem Hinterhalt an.«
Von wegen die haben all ihre Waffen abgegeben, fluchte Richard in Gedanken. Seine Ahnung war richtig gewesen. Er hasste es, in diesem Punkt recht zu behalten. »Wo komme ich raus?«
Der Mann wies auf eine Gasse. »Da ist es bislang ruhig, aber wer weiß, wie lange es so bleibt?«
»Danke, Soldat.«
Richard erreichte die Gasse. Sie glich einem Hohlweg, auf beiden Seiten zweistöckige Wohnhäuser. Richard beschattete die Augen und versuchte zu erkennen, ob eines der Fenster offen stand. Lauerte hier ein weiterer Heckenschütze? Zivilisten waren auf der Gasse keine zu sehen. Aber welcher Einwohner von Löwen wäre denn auch so leichtsinnig, sich in einer besetzten Stadt hinauszuwagen, wenn soeben Schüsse gefallen waren?
Mittlerweile knallte es in erschreckender Regelmäßigkeit. Der Himmel war voller Tauben und Spatzen, die panische Kreise zogen. Von irgendwo trieb beißender Rauchgeruch heran. Die Lage eskalierte immer weiter, und er war noch immer hier und nicht bei seinen Männern.
Richard drückte seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Der Wallach sprengte erschrocken los, hinein in die schmale Gasse. Bewegungen hinter den Fenstern. Dicht duckte er sich über den Pferdehals. Etwas huschte ganz knapp an seinem Gesicht vorbei, der Wallach zuckte, strauchelte, keuchte und lief dann mit angelegten Ohren weiter. Um eine Kurve noch, die Hufe rutschten über Pflaster, dann war er hinaus und im Freien.
Erst jetzt richtete Richard sich wieder auf und bemerkte das Blut warm und glitschig über seine Rechte laufen. Japsend rang er nach Atem, seine Lunge schmerzte.
Richard sah über die Schulter, doch da fielen schon die nächsten Schüsse.
Der Krieg war erst wenige Wochen alt, und schon kamen die ersten Soldaten heim. Svantje saß gemeinsam mit zwei Doktoren, einer Schwester und mehreren Helferinnen auf der Ladefläche eines kleinen Lkw. Zu ihren Füßen das Nötigste, mit dem sie die Männer versorgen wollten.
Svantje stierte in Gedanken versunken vor sich hin. Die Straßen, durch die sie fuhren, sahen aus wie eh und je, solange man nicht genauer hinsah. Denn dann bemerkte man die Propaganda, die von jeder Litfaßsäule schrie. Die Häuser waren mit Flaggen geschmückt, mal riesig, mal eine Kette kleiner Wimpel. Jeder wollte den anderen übertreffen, als hinge es von der Flaggengröße ab, wie patriotisch jemand war.
Der Wagen tuckerte an einer Gruppe Studenten vorbei, die kämpferische Lieder sangen. Ihre jungen, fast kindlichen Gesichter waren gerötet von Eifer und Begeisterung.
Die ehrenamtlichen Helferinnen winkten ihnen gut gelaunt zu, bekamen Kusshände zugeworfen. Sie waren erst seit wenigen Tagen im Krankenhaus. Drei Freundinnen, die angefeuert von nationaler Begeisterung ihren Teil im Krieg leisten wollten, weil sie ihren Brüdern und Liebsten nicht an die Front folgen konnten. Zumindest noch nicht.
Von der Front kamen längst nicht nur gute Nachrichten. Während die deutschen Armeen wie geplant über Belgien nach Nordfrankreich zogen, machten die Franzosen weiter südlich Geländegewinne und erbeuteten das 1871 verlorene Elsass-Lothringen zurück. Zudem kam die russische Mobilmachung weit schneller voran als angenommen. Zwar stand in den einheimischen Zeitungen nichts davon, doch durch Friedrichs Verbindungen wusste Svantje, was im Ausland berichtet wurde. Von Gräueltaten deutscher Soldaten war da die Rede, von Vergewaltigungen, massenhaft erschossenen Zivilisten, Plünderungen und Brandstiftung.
Die Berichte lösten bei den Briten einen Aufruhr aus. Tausende verpflichteten sich, um gegen die barbarischen Deutschen zu kämpfen. War all das nur Propaganda, um die Bevölkerung auf einen langen Krieg einzustimmen, oder enthielten die Berichte doch auch Wahrheit?
Svantje wusste es nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die eigenen Soldaten binnen Wochen derart verrohten, aber andererseits überstieg es grundsätzlich ihre Vorstellungskraft, dass irgendjemand solche Verbrechen verüben konnte, ganz gleich welcher Nationalität oder Rasse. Dass es hin und wieder Verbrecher in einer Bevölkerung gab, das war klar, aber Hunderte Männer? Gar Tausende?
Ende der Leseprobe