Aufbruch und Ende - Hans Modrow - E-Book

Aufbruch und Ende E-Book

Hans Modrow

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Beschreibung

Am 13. November 1989, vier Tage nach Öffnung der Mauer, wurde Hans Modrow einstimmig von der Volkskammer zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. In 'Aufbruch und Ende', jetzt erstmals wiederaufgelegt, gibt Hans Modrow umfassend Auskunft über die 150 Tage seiner Regierung. Aus ganz persönlicher Sicht schildert und bewertet er die sich überstürzenden innen- und außenpolitischen Ereignisse und Entwicklungen, die das rasche Ende der DDR herbeiführten und den Anschluss an die Bundesrepublik beschleunigten.

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Tel.: 01805 / 30 99 99

(0,14 Euro/Min., Mobil max. 0,42 Euro/Min.)

www.buchredaktion.de

eISBN 978-3-86789-815-7

edition berolina

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

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Fax 01805 / 35 35 42

(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

© 2013 by BEBUG mbH / Edition Berolina, Berlin

© der Originalausgabe 1991 by Konkret Literatur Verlag, Hamburg

Umschlaggestaltung: Jana Krumbholz, ACDM, Berlin unter Verwendung eines Fotos von Rainer Mittelstädt (Bundesarchiv, Bild 183-1990-0124-310)

www.buchredaktion.de

Hans Modrow

Aufbruch und Ende

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

I. Die Wende zu einer besseren DDR

Der Rücktritt Erich Honeckers

Die Maueröffnung

II. Amtsantritt unter schwierigsten Bedingungen

Die Regierungsbildung

Ansätze zu einer Wirtschaftsreform

Reform des politischen Systems

Gleichberechtigte Zusammenarbeit der Koalitionsparteien

Eine wichtige Wirtschaftsberatung

Ständig im Blick: die Versorgung der Bevölkerung

Überprüfung von Amtsmissbrauch und Korruption

Zum KoKo-Bereich Schalck-Golodkowskis

Gedanken zur Wende

Tägliche Lageeinschätzung

III. Der Runde Tisch – bedeutsames Forum der Bürgerdemokratie und kritisch-konstruktiver Begleiter der Regierungsarbeit

Appell zur Mitarbeit der Opposition in der Regierung

IV. Erstmalig in Deutschland – eine Regierung der Nationalen Verantwortung

Regierung um acht neue Minister erweitert

Wichtige Gesetzesinitiativen

V. Auf der Suche nach Wegen deutschdeutschen Zusammenlebens

Das Treffen in Dresden

Hilfe aus alten Bundesländern

Zur SPD-Rolle im Vereinigungsprozess

Treffen mit Franz Vranitzky

Weltwirtschaftsforum in Davos

Arbeitsbesuche in der CSFR und in Polen

Die Beziehungen zwischen den beiden Teilen Berlins

Matthiae-Mahl in Hamburg

VI. Die Initiative »Deutschland, einig Vaterland«

VII. Der letzte Versuch

Das Treffen in Bonn

Vor der Presse

Noch einmal in Moskau

Eine schwere persönliche Entscheidung vor den Wahlen

VIII. Ein Jahr danach

IX. Nachdenken über Deutschland

Vorwort zur Neuausgabe

Seit der ersten Auflage dieses Buches ist bald ein Vierteljahrhundert vergangen. Die Ereignisse von damals sind Teil deutscher Geschichte, mit deren Bewertung deutsche Politik und Geschichtsschreibung bis heute größte Schwierigkeiten haben beziehungsweise sehr viel Missbrauch betrieben wird. Dieses Vorwort soll keine Entgegnung sein, die im Buch behandelten Tatsachen sprechen für sich. Es sollen aber einige Zusammenhänge der Zeit zusätzlich dargestellt werden und das Nachdenken über Deutschland eine späte Ergänzung erfahren.

Die 150 Tage waren eine Übergangszeit, in der beide deutsche Staaten in Souveränität miteinander umgehen mussten. Nur so konnten die Bedingungen für den äußeren Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten geschaffen werden. Als im Februar 1990 die ersten 2+4-Gespräche in Ottawa stattfanden, war Außenminister Oskar Fischer der DDR-Partner, Hans-Dietrich Genscher war der Vertreter der BRD.

In aller Kürze die Kette der Ereignisse, die hier zu betrachten wäre: In Malta trafen sich Bush und Gorbatschow am 2. und 3. Dezember 1989 und sprachen über die internationale Lage, auch über die deutsche Frage. Am 4. Dezember informierte Gorbatschow im Politisch Beratenden Ausschuss des Warschauer Vertrages die Spitzen der Parteien und der Staaten in Moskau über dieses Treffen. Der Zerfall des Bündnisses war spürbar, aber ich wollte mich damit noch nicht abfinden. Gerade drei Wochen in der Verantwortung, ging es doch um Stabilität und Ansehen der DDR – für ein schon vereinbartes Gespräch mit Bundeskanzler Kohl in Dresden. Ich bat Valentin Falin, ein Gespräch mit Gorbatschow in der Pause des Treffens zu vermitteln, was dann auch stattfand. Zwei Dinge waren das Ergebnis dieser Unterredung. Mit Valentin Falin wurde eine Meldung über das Gespräch beraten, um die deutsche und internationale Öffentlichkeit zu informieren, und wenige Tage später erklärte Gorbatschow im Plenum des ZK der KPdSU, die DDR sei der wichtigste Verbündete der UdSSR und ein wichtiger Partner im militärischen Bündnis.

Am 9. und 10. Januar tagte der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Sofia, und die sowjetische Seite fordert den Rat auf, sich einer gründlichen Reform zu unterziehen, mit dem Kernstück eines Marktes auf Dollar-Basis. Da wurde erkennbar, eine eigenständige Deutsche Demokratische Republik hat mit dieser sowjetischen Politik keine Perspektive mehr. Die nächste Phase der 150 Tage konnte nicht mehr Umgestaltung einer sozialistischen DDR sein, es würde von nun an um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gehen.

Es begann die Arbeit an der Initiative für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Was noch heute als Flucht nach vorn bezeichnet wird, war eine Konzeption, die nicht als Taktik gegen den Wandel des Rufs von »Wir sind das Volk« zum »Wir sind ein Volk« entstanden ist. Es war die Ausdeutung und sollte die Fortsetzung einer Politik sein, die von der Vertragsgemeinschaft zur Konföderation und in die Föderation eines deutschen Bundesstaates mit militärischer Neutralität führt.

Beim Treffen in Moskau am 30. Januar begrüßte Gorbatschow diese Konzeption und bekundete die Zustimmung der sowjetischen Seite. Er sagte, man habe im kleinen Kreis über die deutsche Frage gesprochen, und ihre Überlegungen wären unseren sehr ähnlich. Wie ich heute weiß, fand dieses Treffen am 26. Januar statt. Die Teilnehmer waren Ryshkow, Schewardnadse, Jakowlew, Krjuschkow aus dem Politbüro, Falin, der Sekretär des ZK und die Berater Achromejew, Tschernjajew, Schachnasarow, Fjodorow. Der abgesteckte Kurs lautete, wie Gorbatschow in seinen Erinnerungen schreibt:

- Die Wiedervereinigung Deutschlands sei unvermeidlich;

- Die UdSSR soll die Initiative zu einer Konferenz der »sechs« ergreifen, also die vier Siegermächte und die beiden deutschen Staaten;

- Die Verbindung zur Führung der DDR sei aufrechtzuerhalten;

- Unsere Politik in der deutschen Frage müsste enger mit Paris und London koordiniert werden;

- Achromejew müsse den Abzug unserer Streitkräfte aus der DDR prüfen.

Das war ein Kurs, dem jegliche Vorbereitung fehlte und der nicht von gemeinsamer Haltung getragen war. Falin ging von einer stärkeren Einbindung der DDR aus und Ryshkow verhielt sich weitgehend abwartend. Im Weiteren werden Eigenmächtigkeit, Unfähigkeit und das Verlassen der sowjetischen Interessen durch Gorbatschow sichtbar. Hatten wir uns am 30. Januar noch darauf geeinigt, wie es in der Konzeption zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten heißt, »Militärische Neutralität von DDR und BRD auf dem Weg zur Föderation«, wurde am 9. Februar diese Position in den Gesprächen mit dem Außenminister der USA Baker bei einem kurzfristig angesetzten Besuch in Moskau von Gorbatschow aufgegeben.

Von nun an ist auch die Verbindung und partnerschaftliche Beratung mit der Führung der DDR beendet. Mit meiner Regierung bleiben die notwendigen diplomatischen Beziehungen, mit der Regierung de Maiziere wird im Rahmen der Übergabe der DDR an die BRD verhandelt und der Weg für ein vereintes NATO-Deutschland freigemacht. Noch vor dem 3. Oktober 1990 sind die Reste der NVA Teil der Bundeswehr und die übernommene Militärtechnik wird in ihrem Wert auf »Null« gerechnet.

Wenn Gorbatschow sich nach seiner Amtszeit ablehnend zur Erweiterung der NATO in Richtung Osten äußert, vergisst er zu sagen, wer eigentlich Raum für diese Entwicklung gegeben hat.

Hier wäre auch die Situation im Obersten Sowjet der UdSSR im 2+4-Prozess zu beachten. Im Februar 1991 bat der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Valentin Falin um eine Konsultation – es gab Schwierigkeiten bei der Bestätigung des Vertrages im Parlament. Viele Abgeordnete, vor allem Militärangehörige, meinten, dass ohne einen Friedensvertrag, der alle Interessenfragen der Sowjetunion regelt, den Weg zu einer deutschen Großmacht verhindert und Freunde und Waffengefährten des militärischen Bündnisses vor Verfolgung schützt, die Sowjetunion keine Siegermacht des Zweiten Weltkrieges mehr sein würde. Wir verständigten uns in Moskau auf eine Formel, die in der Erklärung des Obersten Sowjets bei der Ratifizierung des Vertrages auch enthalten war. Es darf keine politisch-juristische Verfolgung gegen die Amtsträger der DDR geben und die Menschenrechte sind gegenüber den Bürgern der DDR einzuhalten. Eine Klausel, die von der BRD nie beachtet wurde. Mehr als 100.000 Verfahren wurden eingeleitet, Prozesse geführt und beispielsweise Strafrenten eingeführt, die gegen Menschenrechte bis heute verstoßen.

Dem 2+4-Vertrag wurde im März 1991 im sowjetischen Parlament zugestimmt, die russischen Truppen verließen Deutschland, und mit der BRD hat die NATO die stärkste militärische und wirtschaftliche Rüstungsmacht der EU in ihren Reihen.

Der innere Prozess der Vereinigung wurde rechtlich über den »Einigungsvertrag« geregelt. Ausgehandelt wurde er unter zwei Vertretern einer Partei, Innenminister Schäuble und Staatssekretär Krause von der CDU. Krause, der ein Bundesminister wurde, war aber bald wegen krimineller Vergehen nicht mehr zu halten. Die Gier nach persönlichen Vorteilen war zu groß und das Eintreten für die Interessen der Bürger der DDR zu gering.

Was vertraglich »Beitritt über Artikel 23 des Grundgesetzes« hieß, erwies sich schon bald als Übergabe der DDR an die BRD. Schäuble sprach im Herbst 1989 berechtigt von großen Übersiedlerzahlen in die BRD. Ein politischer Fakt ist es schon, wenn heute nur noch 14,3 Millionen Bürger auf dem Gebiet der alten DDR leben, wo damals über 16 Millionen ihre Heimat hatten.

Der Innenminister der BRD Kinkel fordert 1991 die Delegitimierung der DDR und der Finanzminister Waigel sorgte mit Hilfe der Treuhand für die Deindustrialisierung des nun östlichen Teil Deutschlands.

Nicht die von Kohl versprochenen »blühenden Landschaften« sind entstanden, sondern eine Region, die in der EU unter zurückgeblieben eingestuft wird und bis 2019 entsprechende Fördermittel erhält. Schon heute fordern die neuen Länder eine Verlängerung der Förderung, denn der Rückstand wird auch 30 Jahre nach der Vereinigung noch nicht aufgeholt sein.

Im März 2013 wurde im Deutschen Bundestag der »Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur« diskutiert. Dabei wurde völlig ignoriert, dass die Probleme im Prozess der Verständigung zwischen Ost- und Westdeutschen eher größer als kleiner geworden sind.

Wenn im Jahre 2010 noch immer mehr als 50 Prozent der Ostdeutschen meinten, die DDR hätte »mehr gute als schlechte Seiten gehabt«, dann gibt es doch einen großen Unterschied zwischen einer Selbst- und einer Fremdwahrnehmung auf die DDR.

Es dürfte nicht falsch sein, noch immer von einer »Zweiheit« in Deutschland bei der Betrachtung des Standes der Vereinigung auszugehen. Die Rentenpunkte sind trotz aller Regierungsversprechen nicht angeglichen und Löhne sind nach Gesetz und Tarif in Ostdeutschland um 20 Prozent geringer. Die Lebenserinnerungen der neuen Bundesbürger werden als »Ostalgie« verunglimpft, wenn sie nicht der staatlichen Vorgabe eines Kampfes gegen »Verklärung und Verharmlosung« entsprechen. Wer sich noch daran erinnert, dass Helmut Schmidt, der Bundeskanzler der BRD und Erich Honecker, der Vorsitzende des Staatsrates der DDR auf der Konferenz in Helsinki im Jahr 1975 nebeneinander saßen, wo die neue Ostpolitik von Brandt/Bahr und später Kohl als richtig betrachtet wurde und beide Seiten dafür in Verantwortung sah, dem dürften doch eigentlich keine Vorwürfe gemacht werden, wenn er nicht zur Einseitigkeit in den Betrachtungen bereit ist. Wenn Teilung nicht mehr fortgeschrieben werden soll, könnte mancher Blick in den Einigungsvertrag von Nutzen sein. Hier wird betont, dass die DDR trotz langer Teilung einen Beitrag für die deutsche Nationalkultur eingebracht habe, die nun auch europäische Kultur verkörpert. Zur Kultur gehören auch Bücher, die aber in Millionen Exemplaren zur Vernichtung auf Müllhalden gebracht wurden. Zur Kultur gehören Kunstwerke, die zu Tausenden in Depots lagern. Zur Kultur gehört der Respekt vor den Lebensleistungen der Menschen der DDR und ein Klima, in welchem gegenseitige Achtung wächst. Die Liste der Probleme, die zu lösen sind, ist lang, es ist höchste Zeit sie abzuarbeiten und zu überwinden.

Möge die Neuauflage dieses Buches ein Beitrag zur notwendigen Nachdenklichkeit über deutsche Geschichte sein.

I. Die Wende zu einer besseren DDR

Über den Herbst 1989 ist in den letzten Monaten manches geschrieben und gesprochen worden. Die Zahl derer, die sich heute darauf berufen, Träger und Mitgestalter gewesen zu sein, wird immer größer. Und an Politikern, die die demokratische Umwälzung in geschickter Weise für sich nutzen oder gar missbrauchen, mangelt es nicht.

Natürlich war der Herbst 1989 Ergebnis verschiedener Entwicklungen – der Bürgerbewegungen, die schon frühzeitig begannen, des Wirkens der Kirchen für Begegnung und Dialog, des Massenexodus aus der DDR im Sommer des Jahres. Hier gab es unterschiedliche Motive, es gab verschiedene Einflüsse und auch gegensätzliche Ziele, wenn ich nur an die Mitglieder der Bürgerbewegungen und an jene denke, die das Land verließen.

Die Bürgerbewegungen wirkten schon lange unter dem Dach der Kirche für eine demokratische Umwälzung in der DDR. Verantwortliche Männer der Kirche übertrugen ihr Verständnis von der »Kirche im Sozialismus« auch auf die Unterstützung für die Bürgerbewegungen wie die »Initiative Frieden und Menschenrechte« und später das »Neue Forum«. Sie wollten kritischer Wegbegleiter sein und mithelfen, neue demokratische Spielräume zu schaffen.

Die vielen Tausende, die im Sommer über Ungarn das Land verließen, hatten bereits mit der DDR gebrochen und suchten die von westlichen Medien immer wieder ganz genau beschriebenen Wege in die BRD. Der Sommer 1989 machte zweierlei deutlich: Die absolute Unfähigkeit der Führung um Erich Honecker, Schlussfolgerungen aus der entstandenen politischen Situation zu ziehen, und den inneren Zerfall des Warschauer Vertrages, der mit der Öffnung der ungarischen Grenze nach Österreich besonders sichtbar wurde.

Hinweise und Signale aus Bezirken und Kreisen, aus der eigenen Partei wurden von der Führung ignoriert. Als die Ereignisse sich dann überschlugen, reagierte die Führung kopflos. Ihre Konzeptions- und Sprachlosigkeit resultierte aber nicht aus Machtkämpfen. Dazu fehlte vor allem Egon Krenz wirkliche Entschlossenheit. Es ging eher um Einfluss und die freundschaftliche Nähe zu Erich Honecker, der noch heute versucht, die Handlungsunfähigkeit der Parteiführung mit seiner Krankheit zu begründen. Aber das ist Selbstbetrug. Krenz erklärte die verfahrene Lage mit einem Zwangsurlaub, der ihm als dem eigentlichen Stellvertreter des Generalsekretärs von Honecker verordnet worden war. Und Günter Mittag schwieg, da er sich nie zu eigenen politischen Entschlüssen durchringen konnte. Den »führenden Genossen« ging es um die Erhaltung ihrer Macht. Sie wollten die Realitäten einfach nicht zur Kenntnis nehmen und waren deshalb auch unfähig, eine wahre Lageeinschätzung und konzeptionelle Vorschläge zur Überwindung dieser schweren Krise im Politbüro vorzulegen.

In völliger Verkennung der Situation glaubte Erich Honecker, mit den Feierlichkeiten zum 40-jährigen Jubiläum der DDR die politische Stabilität des Landes sichern zu können: Treffen der alten Kampfgefährten des antifaschistischen Widerstands, Fackelzug der Jugend, Festveranstaltung und festlicher Empfang – und überall eine Rede des geliebten und geachteten Generalsekretärs und Vorsitzenden des Staatsrates. Das alles sollte die gewaltigen Probleme im Lande übertönen und die alte Ordnung wiederherstellen. Ausländische Gäste, vor allem Michail Gorbatschow, stellten den internationalen Rahmen dafür dar.

Dieses Szenarium wurde voll durchgespielt, aber es funktionierte kaum noch im Sinne seiner Initiatoren. Der Fackelzug der Jugend wurde zu einer Demonstration für Perestroika und Glasnost, und die Worte Michail Gorbatschows, »wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, hatten Signalwirkung.

Trotz Einladung zu allen Festlichkeiten nahm ich nur am Treffen der Widerstandskämpfer teil. Hier konnte ich Menschen begegnen, denen ich hohe Achtung zollte und mit denen ich mich durch meine frühere politische Tätigkeit auch persönlich verbunden fühlte. Außerdem war eine kurze Beratung Erich Honeckers mit den Ersten Sekretären der SED-Bezirksleitungen nach dem Treffen angesagt. Das war nicht unwichtig für mich, da ich gehört hatte, dass mein Auftreten Ende September in Stuttgart Unwillen in Berlin ausgelöst hatte. Allein der Besuch bedeutete für die Parteiführung fast eine Rebellion. Denn Volkskammerpräsident Horst Sindermann hatte gerade erst Horst Ehmke mit einer Delegation des Bundestages ausgeladen, weil im Vorfeld des Besuches die Haltung der DDR-Führung zum Flüchtlingsstrom in die BRD kritisiert worden war. Da ich darauf bestanden hatte, die Einladung des SPD-Vorstandes Baden-Württemberg anzunehmen, bestätigte das Sekretariat des ZK der SED die Reise. Das geschah, wie man mir dann im Apparat des ZK bedeutete, in der stillen Hoffnung, dass ich »schon ins offene Messer laufen« werde. Man erwartete wohl einen offenen Konflikt mit den sozialdemokratischen Partnern und Probleme bei den Begegnungen mit den Medien in der Bundesrepublik. Sicher gab es mit Ulli Maurer, dem Landesvorsitzenden der SPD, und mit Dieter Spöri streitbare Debatten, aber auch ausreichenden Konsens, um weitere Begegnungen und Zusammenarbeit zwischen den regionalen Leitungen der SED Dresden und der SPD Baden-Württemberg zu vereinbaren. Herta Däubler-Gmehlin kam im Auftrag von Hans-Jochen Vogel nach Mannheim zum Empfang des Oberbürgermeisters, um persönliche Gedanken in dieser so komplizierten politischen Situation auszutauschen.

Wenige Tage zuvor war Harry Tisch als Vorsitzender des FDGB in Stuttgart. Er hatte die Fragen der Journalisten nach seiner Einschätzung der Ausreisewelle mit der Bemerkung abgeschmettert, dass er sich an der Schlammschlacht nicht beteiligen wolle. Das zeigte, dass Harry Tisch und mit ihm das Politbüro den Ernst der Lage nicht zur Kenntnis nehmen wollten.

Für mich tat sich in der Begegnung mit den Medien der BRD ein besonderes Problem auf. Da ich seit Jahren von ihnen als »Hoffnungsträger« gehandelt wurde, galt mir eine Aufmerksamkeit, die weit über das Treffen mit der SPD-Führung von Baden-Württemberg hinausging und natürlich auch etwas mit der Sprachlosigkeit der SED-Führung zu tun hatte. Zur Vorbereitung des Stuttgarter Treffens hatte Hermann Axen noch mit mir gesprochen, ohne sich dabei zu den eigentlichen brennenden Fragen zu äußern und ohne auf meine Fragen einzugehen. Er empfahl mir, die Medien möglichst zu meiden. Von Pressekonferenzen wurde mit Entschiedenheit abgeraten. Meine Position war eine andere. Mir schien es erforderlich, den Dialog zu suchen und der Sprachlosigkeit entgegenzuwirken.

Heute ist mir bewusst, dass ich das starke Interesse der Medien in der BRD an meinem Besuch noch entschiedener hätte nutzen müssen, um meine kritische Position zur Politik der Parteiführung deutlich zu machen. Für Erich Honecker war schon meine Aufforderung zum gründlichen Nachdenken, zu notwendigen Schlussfolgerungen zu viel. Am 3. Oktober kritisierte er mein Verhalten: zum Nachdenken bestehe auf unserer Seite kein Anlass. Seine Rede zum 40. Jahrestag der DDR werde die richtige Antwort schon geben. Diese Rede ging dann so entschieden an der Wirklichkeit vorbei, dass sie die schon angespannte Lage nur noch mehr belastete. Viele Mitglieder der eigenen Partei waren schockiert über so viel Realitätsferne. Danach verstärkten sich daher auch die inneren Auseinandersetzungen in der SED selbst.

Die ersten Oktobertage spiegelten die Zerrissenheit der DDR wider. In den festlichen Veranstaltungen trafen sich jene, die Staat und Gesellschaft noch trugen, auf den Volksfesten in Städten und Gemeinden waren Hunderttausende, die zu diesem Zeitpunkt noch die real existierende DDR mehr oder weniger akzeptierten, und an den Abenden vereinigten sich Zehntausende mit der Forderung nach einer grundlegenden Umgestaltung der DDR. Darunter waren viele junge Menschen, die sich von der Bevormundung in der Gesellschaft freimachen wollten, ohne schon konkrete Vorstellungen über einen neuen demokratischen Weg zu haben.

Eine bestimmende Rolle spielten in diesen Tagen Berlin, Leipzig und Dresden. Das äußere Erscheinungsbild der Ereignisse war ähnlich, aber die Inhalte und Abläufe waren doch unterschiedlich. In Dresden war der Höhepunkt von Konfrontation und Gewalt gleich am Anfang. Die Haltung der Partei- und Staatsführung in der Ausreisefrage – »Wer die DDR verlässt, egal über welchen Weg, darf es nicht als Staatsbürger der DDR tun« – führte zu der unsinnigen Entscheidung, die drei Züge mit Übersiedlern aus der Prager Botschaft der BRD über Dresden zu leiten. Damit sollten hoheitsrechtliche Interessen der DDR gewahrt werden. Kein Protest und keine Forderung an den Verkehrsminister Arndt, eine andere Entscheidung herbeizuführen, halfen. Er versicherte, dass er alle nur denkbaren Schritte unternommen habe, aber ohne Erfolg. Die Durchfahrt der Züge durch Dresden war nicht zu verhindern, zumal es einen Umstand gab, auf den mich Otto Arndt in der Auseinandersetzung aufmerksam machte: die überfüllten Züge standen bereits an der Grenze. Eine Rückfahrt nach Prag hätte Panik auslösen können. Ebenso konnte aber auch ein von Tausenden von Menschen erzwungener Halt der Züge in Dresden für viele Übersiedler lebensgefährlich werden.

Da die Entscheidung nicht mehr rückgängig zu machen war, wurden alle Anstrengungen zur Sicherung des Hauptbahnhofs unternommen, um das Schlimmste zu verhüten. Die dafür erforderlichen Maßnahmen wurden zwischen den jeweiligen Führungsstäben der zentralen Ministerien abgestimmt und von ihnen angewiesen. Da die Medien ausführlich über die bevorstehenden Ereignisse in Dresden berichteten, kamen Bürger aus allen Teilen des Landes an diesem Abend in unsere Stadt, um – wenn nötig auch mit Gewalt – die Züge zu stoppen oder während der Fahrt aufzuspringen. Die Volkspolizei hatte aus dem Bezirk Halle bereits Unterstützung erhalten, sah sich jedoch allein außerstande, den Ansturm auf den Hauptbahnhof zu verhindern, um die sichere Durchfahrt der Züge ohne Gefährdung von Menschenleben zu gewährleisten. Der Bezirkschef der Volkspolizei hatte deshalb den Hauptstab der NVA um Unterstützung ersucht, bat mich aber gleichzeitig, die Bereitschaft des Verteidigungsministers Heinz Kessler zur Hilfeleistung einzuholen. Heinz Kessler hat nach Prüfung der Lage durch seinen Stab auch eine entsprechende Weisung erteilt. Es kam zum Polizeieinsatz von Armeeangehörigen, aber nicht zum Einsatz von Waffen.

In diesen dramatischen Abend- und Nachtstunden vom 4. zum 5. Oktober stand Gewalt gegen Gewalt. Zum Glück ist es dabei zu keinen Menschenopfern gekommen, auch wenn es Übergriffe gab, die in ihrer Schärfe nicht hätten sein dürfen. In dieser Nacht ist am Gebäude des Hauptbahnhofs ein Schaden von rund einer halben Million Mark entstanden. Aufgrund meiner Absprache mit Verkehrsminister Arndt sind dann keine weiteren Züge mehr über Dresden geleitet worden.

An den folgenden Abenden des 5., 6. und 7. Oktober haben Dresdner Bürger und Bürgerbewegungen Demonstrationen durchgeführt, gegen die erneut Polizeikräfte zum Einsatz kamen, weil sie vom zentralen Einsatzstab als »nicht angemeldet« gewertet wurden. In diesen Tagen hatte ich noch kein klares Verständnis dieser Ereignisse. Auf jeden Fall schloss ich einen Einsatz der Kampfgruppen, die zwar von der Volkspolizei ausgebildet, aber nur mit Zustimmung der Partei einsetzbar waren, in meinen Überlegungen völlig aus. Es durfte keine Konfrontation zwischen Bürgern geben. Das Vorgehen von Sicherheitskräften gegen die abendlichen Demonstrationen sollte nach meinem damaligen Verständnis ein Untergraben der politischen Stabilität des Landes verhindern. Das war der Grund, warum ich zunächst nicht alles mir Mögliche unternahm, um mich den von den zentralen Stäben befohlenen Eingriffen der Sicherheitskräfte entgegenzustellen und das damit verbundene Provozieren der Demonstranten zu beenden.

Gleichzeitig erkannte ich jedoch auch, dass Ruhe nur ohne Anwendung von Gewalt wiederhergestellt werden konnte. Da die Demonstranten Gewaltlosigkeit zum Prinzip ihrer Aktionen erhoben hatten, konnte und musste ein Weg gesucht und gefunden werden, um Gewaltlosigkeit zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften herzustellen.

Am 8. Oktober ergriffen die Vertreter der Kirche die Initiative dazu. Landesbischof Hempel und Superintendent Ziemer suchten eine Absprache mit Oberbürgermeister Berghofer. Sie wollten vermittelnd mit den Tausenden von Bürgern sprechen, die auf der Prager Straße versammelt und von Polizeikräften eingekesselt waren. Wolfgang Berghofer bat um meine Meinung und Unterstützung in dieser Situation. Für mich bot sich damit eine Chance, Gewaltlosigkeit zu erreichen und das Vertrauen der Vertreter der Kirche zu rechtfertigen. In diesem Sinne informierte ich auch den Chef der Bezirksbehörde der Volkspolizei und forderte ihn auf, nach den Verhandlungen des Bischofs die Demonstration friedlich aufzulösen. Die Dresdner Entscheidung eröffnete in diesen Tagen erstmals den Weg zu Gewaltlosigkeit und leitete den Dialog ein. An diesem Abend wurde spontan die »Gruppe der Zwanzig« von Dresdner Bürgerinnen und Bürgern gebildet, die später eine wichtige Rolle im Dialogprozess der Bürgerbewegungen und bei den Begegnungen mit Oberbürgermeister Berghofer spielte.

In der Vergangenheit ist in diesem Zusammenhang immer wieder die Frage nach meiner Verantwortung für die Staatssicherheit, d. h. nach der sogenannten Befehlsgewalt, gestellt worden. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Die Ereignisse um den 40. Jahrestag der DDR trugen einen sehr komplexen politischen Charakter. Da wurden wie üblich Ehrenbanner an Arbeitskollektive überreicht, Sonderobjekte in Betrieb genommen, Neubauten ihrer Bestimmung übergeben, Volksfeste veranstaltet, zahlreiche ausländische Delegationen empfangen und viele Aktivitäten mehr. Die abendlichen Demonstrationen standen dazu im Gegensatz. Sie waren Ausdruck des wachsenden Widerstands gegen die undemokratischen Verhältnisse, des Unmuts und der Empörung über die schlechte Versorgung und auch über die gewaltsame Auflösung der Protestumzüge.

In diesen Tagen gehörte es zu meiner Verantwortung, die komplizierte politische Lage einzuschätzen und täglich mit den jeweils Verantwortlichen zu beraten. Das waren die für politische Arbeit Verantwortlichen in der Partei, der Vorsitzende des Rates des Bezirkes und die Vertreter der Volkspolizei sowie der Leiter der Staatssicherheit im Bezirk. Beraten wurden Fragen der politischen Gestaltung, des Ablaufs und der Ordnung bei den vielfältigen Veranstaltungen im Bezirk zum 40. Jahrestag der DDR. Und es wurden Informationen über die Demonstrationen jeweils vom Abend davor entgegengenommen. Da die Befehle für die Einsätze bei Demonstrationen von den Berliner Stäben kamen, war es mein Bemühen, immer wieder auf die Notwendigkeit hinzuweisen, Zurückhaltung zu üben, um Konflikte zu vermeiden. Es war doch bereits zu erkennen, dass eine politische Lösung notwendig war, um eine Eskalation zu verhindern.

Dass am 8. Oktober ein Gespräch zwischen Demonstranten und Vertretern der Kirche und auch des Staates möglich wurde, dafür waren unsere politische Einflussnahme und die Bereitschaft der Demonstranten zu Gewaltlosigkeit ausschlaggebende Faktoren. Es machte aber auch eine Änderung im Verhalten der Polizeikräfte sichtbar, ihre Bereitschaft, die Bürgerbewegung zu tolerieren. Jetzt wird immer so getan, als hätte sich jeder, der bei der Staatssicherheit, jeder, der bei der Armee, jeder, der in der SED war, gegen den Demokratisierungsprozess gestellt, als hätte allein die Bürgerbewegung das alte Regime weggeschwemmt. Das ist ja der Unterschied zu Rumänien, wo die bewaffneten Kräfte sich gegen das Volk gestellt und ein Blutbad angerichtet haben. In der DDR waren dagegen auch in diesen Bereichen schon viele bereit, den Prozess der Umgestaltung mitzutragen.

Was ich in diesen Tagen zunächst nicht überblickte und erfasste, war die große Zahl der willkürlichen Festnahmen durch die Polizei. Erst in einer Versammlung im Staatsschauspiel wurde ich damit durch einen Erlebnisbericht konfrontiert. Daraufhin habe ich die sofortige Herstellung der Rechtslage von den dafür Verantwortlichen gefordert.

Mein Verhalten und das von Wolfgang Berghofer standen in diesen Tagen und in den nachfolgenden Wochen im Gegensatz zu der Politik, die in Berlin vertreten wurde. Von dort wurde die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit gefordert. Honecker glaubte noch immer an eine kurze Episode. Krenz hoffte, mit einer Erklärung der Parteiführung den stark angewachsenen Druck in der Partei abfangen und sich damit doch noch an die Spitze der Bewegung stellen zu können.

Wolfgang Berghofer und ich sahen das ganz anders. Wir wollten den Dialog und suchten einen Konsens mit den Bürgerbewegungen für eine demokratische Umwälzung im Zeichen der Perestroika.

So wurde die »Gruppe der Zwanzig« in die Tätigkeit der Stadtverordnetenversammlung einbezogen. Das geschah nicht ohne Vorbehalt von beiden Seiten und nicht ohne Misstrauen. Dennoch, es wurde gewagt, und noch bevor die »Runden Tische« aufkamen, wurde in Dresden mit Dialog und Zusammenarbeit begonnen.